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der ganze Artikel im PDF Format - Hinterland Magazin

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Bisher unveröffentlichter Auszug aus Mike Davis’ neuem Buch<br />

Ein Drittel <strong>der</strong> Weltbevölkerung lebt in mehr als 200 000 Slums und<br />

elenden Megacities: Eine Bestandsaufnahme. Von Mike Davis<br />

illustration: matthias weinzierl


Noch nie zuvor in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit lebten mehr Menschen in Städten. Zentraler Ausgangspunkt<br />

von Davis’ Studie Planet of Slums, die Anfang des Jahres bei Verso erschienen ist und <strong>im</strong><br />

Herbst <strong>im</strong> Verlag Assoziation A auf deutsch erscheinen wird, ist <strong>der</strong> Bericht von UN-Habitat von 2003 zur<br />

Entwicklung riesiger Mega-Citys mit Slumansiedlungen ungeheuren Ausmaßes. Mike Davis untersucht<br />

in seinem ambitionierten Buch die Zukunft einer gänzlich von Ungleichheit geprägten, äußerst spannungsgeladenen<br />

städtischen Welt. Wie schon in seinen Büchern City of Quartz zu Los Angeles o<strong>der</strong> Die<br />

Geburt <strong>der</strong> Dritten Welt trägt er eine Vielzahl von Informationen und Prognosen zusammen, bewertet<br />

und polarisiert. Hier eine kleine Zusammenfassung seiner Slumtypologie<br />

Die klassischen Slums des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts waren<br />

bekanntermaßen kleine und pittoreske Orte und<br />

die Reformer waren sich <strong>im</strong> allgemeinen mit Charles<br />

Booth, dem Dr. Livinstone <strong>der</strong> Elendsquartiere<br />

von London, darüber einig, dass je<strong>der</strong> Slum charakteristischerweise<br />

aus einem Amalgam von baufälligen<br />

Häusern, Überfüllung, Krankheiten, Armut<br />

und Laster besteht. Für die Liberalen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

war natürlich die moralische Komponente<br />

entscheidend, und so<br />

wurde <strong>der</strong> Slum in erster Linie<br />

als Ort betrachtet, an dem<br />

ein unverbesserliches und<br />

verwil<strong>der</strong>tes gesellschaftliches<br />

Residuum<br />

in unsittlicher und<br />

häufig aufrühreri-<br />

„2005: Eine Milliarde<br />

Slumbewohner“<br />

scher Pracht verrottet.<br />

Vierzig<br />

Jahre später definierte<br />

das neu<br />

gegründete<br />

Arbeitsministerium<br />

in den USA in <strong>der</strong><br />

ersten „wissenschaftlichen“Untersuchung<br />

über das<br />

Mietshausleben in Amerika<br />

mit dem Titel The<br />

Slums of Balt<strong>im</strong>ore, Chikago,<br />

New York, and Philadelphia<br />

(1894) Slum <strong>im</strong>mer noch als „ein<br />

Gebiet schmutziger Seitenstraßen, bewohnt von<br />

einer verwahrlosten und kr<strong>im</strong>inellen Bevölkerung.“<br />

Die Autoren des UN-Habitat-Berichts enthalten sich<br />

solcher viktorianischen Verleumdungen, behalten<br />

aber an<strong>der</strong>erseits die klassische Definition von<br />

Slum als überfüllte, ärmliche beziehungsweise<br />

informelle Unterkunft ohne angemessenen Zugang<br />

zur Trinkwasserversorgung sowie sanitäre Abwassereinrichtungen<br />

und mit ungesichertem Wohnstatus<br />

bei. Doch selbst wenn man diese eingeschränkte<br />

Definition zugrundelegt, gab es laut<br />

Schätzungen <strong>der</strong> UN Wissenschaftler 2001 mindes-<br />

tens 921 Millionen Slumbewohner und 2005 mehr<br />

als eine Milliarde: Das entspricht etwa <strong>der</strong> Weltbevölkerung<br />

von 1844, als sich <strong>der</strong> junge Engels das<br />

erste Mal in die ärmlichen Straßen von St. Giles<br />

und <strong>der</strong> Old Town, <strong>der</strong> Altstadt von Manchester,<br />

wagte.<br />

Seit 1970 hat sich <strong>im</strong> Grunde durch den neoliberalen<br />

Kapitalismus <strong>der</strong> berüchtigte Slum von Tom-all-<br />

Alone’s in Bleak House von Dickens exponentiell<br />

vermehrt. Die Anzahl <strong>der</strong><br />

Slumbewohner, die in den entwickelten<br />

Industrielän<strong>der</strong>n<br />

nur 6 Prozent <strong>der</strong> Stadtbevölkerungausmachen,<br />

liegt in den<br />

Städten <strong>der</strong> am<br />

stärksten unterent-<br />

wickelten Län<strong>der</strong><br />

bei schockierenden<br />

78,2 Prozent;<br />

das entspricht<br />

einem vollen Drittel<br />

<strong>der</strong> Stadtbevölkerung<br />

auf <strong>der</strong><br />

Welt. Laut UN-Habitat<br />

leben prozentual<br />

gesehen in Äthiopien<br />

(erstaunliche 99,4 Prozent<br />

<strong>der</strong> städtischen<br />

Bevölkerung) und <strong>im</strong> Tschad<br />

(ebenfalls 99,4 Prozent) die<br />

meisten Slumbewohner, gefolgt von<br />

Afghanistan (98,5 Prozent) und Nepal (92 Prozent).<br />

Bombay ist mit 10 bis 12 Millionen illegalen<br />

Besetzern (auch in <strong>der</strong> deutschsprachigen Fachliteratur<br />

häufig als Squatter bezeichnet) und Bewohnern<br />

von Armenvierteln weltweit die Hauptstadt<br />

<strong>der</strong> Slums, gefolgt von Mexico City und Dhaka mit<br />

jeweils 9 bis 10 Millionen, danach kommen Lagos,<br />

Kairo, Karachi, Kinshasa-Brazzaville, São Paulo,<br />

Shanghai und Delhi mit jeweils 6 bis 8 Millionen.<br />

Es gibt wahrscheinlich mehr als 200 000 Slums auf<br />

<strong>der</strong> Erde mit einer Bevölkerungzahl von ein paar<br />

hun<strong>der</strong>t bis zu mehr als einer Million Menschen.<br />

Die fünf großen Metropolen in Südasien - Karachi,<br />

stadt. land. wohnen<br />

Die Slum-Charts:<br />

Bombay,<br />

Mexico City,<br />

Dhaka,<br />

Lagos,<br />

Kairo,<br />

Karachi,<br />

Kinshasa-Brazzaville,<br />

São Paulo,<br />

Shanghai<br />

Delhi<br />

41


42<br />

stadt. land. wohnen<br />

Mumbai [Bombay], Delhi, Kolkata [Kalkutta] und<br />

Dhaka - haben allein etwa 15.000 unterschiedliche<br />

Slumviertel mit einer Gesamtbevölkerung von über<br />

20 Millionen.<br />

Obwohl einige Slums bereits eine lange Geschichte<br />

haben - die erste Favela von Rio de Janeiro,<br />

Morro de Providencia, wurde um 1880 gegründet -<br />

sind die meisten Megaslums erst nach 1960 entstanden.<br />

Ciudad Nezahualcóyotl zum Beispiel hatte<br />

1957 nicht mal 10.000 Bewohner; heute hat dieser<br />

arme Vorort von Mexico City drei Millionen Einwohner.<br />

Das wildwuchernde Mashiet Nasr außerhalb<br />

von Kairo war ursprünglich eine provisorische<br />

Bauarbeitersiedlung, die in den 1960-er Jahren<br />

den Vorort Nasr City bauten, und Karachis riesiger<br />

am Berg gelegener Slum von Orangi/Baldia,<br />

dessen Bevölkerung sich aus musl<strong>im</strong>ischen Flüchtingen<br />

aus Indien und Afghanen aus dem Grenzgebiet<br />

zusammensetzt, wurde 1965 gegründet. Villa<br />

El Salvador, eine <strong>der</strong> größten „Barriadas“ von L<strong>im</strong>a,<br />

wurde 1971 mit finanzieller Unterstützung <strong>der</strong><br />

peruanischen Militärregierung gebaut und hatte<br />

innerhalb weniger Jahre eine Bevölkerung von<br />

mehr als 300 000.<br />

Wohnstrategien <strong>der</strong> Armen<br />

Überall in <strong>der</strong> „Dritten Welt“ ist die Wahl des<br />

Wohnorts eine schwere Entscheidung zwischen<br />

sich wi<strong>der</strong>sprechenden Interessenlagen. Die Armen<br />

in den Städten stehen vor einer komplizierten Auf-<br />

„Vom Rand ins Zentrum o<strong>der</strong><br />

retour: Karussell<br />

des Elends“<br />

gabe, wenn sie zwischen Wohnkosten, Mietsicherheit,<br />

Wohnqualität, Arbeitsweg und manchmal persönlicher<br />

Sicherheit abwägen müssen, um das<br />

Beste für sich herauszuholen. Für einige Menschen,<br />

dazu gehören auch viele Bürgersteigbewohner,<br />

ist ein Ort in <strong>der</strong> Nähe einer Arbeitsstelle wie<br />

zum Beispiel einem Erzeugermarkt o<strong>der</strong> einem<br />

Bahnhof sogar wichtiger als ein Dach über dem<br />

Kopf. An<strong>der</strong>e nehmen für ein Stück Land, das sie<br />

umsonst o<strong>der</strong> für wenig Geld bekommen können,<br />

elendlange Anfahrtswege vom Standtrand ins Zentrum<br />

auf sich. In einer wesentlich genaueren Analyse<br />

stellt <strong>der</strong> Wohnungsexperte Ahmed Sol<strong>im</strong>an<br />

vier Grundstrategien <strong>der</strong> Armen in Kairo bei ihrer<br />

Wahl einer Unterkunft vor. Erstens, falls dem<br />

Zugang zu zentral gelegenen Arbeitsmärkten höchste<br />

Priorität eingeräumt wird, kann <strong>der</strong> Haushalt in<br />

Betracht ziehen, eine Wohnung zu mieten; die<br />

Mietshäuser bieten Zentralität und eine sichere<br />

Wohnsituation, sind aber teuer und es besteht<br />

keine Hoffnung, sie eventuell zu kaufen. Die zweite<br />

Option ist eine zentral gelegene aber informelle<br />

Unterkunft: in diesem Fall handelt es sich um<br />

„einen sehr kleinen Raum o<strong>der</strong> einem Schlafplatz<br />

auf dem Dach in einer Umgebung mit schlechter<br />

Wohnqualität und einer niedrigen Miete, o<strong>der</strong><br />

sogar kostenlos, mit gutem Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten,<br />

aber ohne jede Hoffnung auf eine gesicherte<br />

Wohnsituation.“ Die dritte und billigste<br />

Wohnlösung ist die Besetzung von öffentlichem<br />

Grund, normalerweise in den wüstennahen<br />

Außenbezirken von Kairo meistens mit entsprechen<strong>der</strong><br />

Umweltbelastung; weitere Nachteile sind<br />

die sehr hohen Kosten für den Weg zur Arbeit und<br />

die Vernachlässigung <strong>der</strong> Infrastruktur durch die<br />

Regierung. Die vierte Lösung, die schließlich von<br />

den meisten Armen in Kairo bevorzugt wird, ist<br />

<strong>der</strong> Kauf eines Grundstücks in riesigen teils informellen<br />

Erschließungsgebieten (häufig auf<br />

Land, das Beduinen o<strong>der</strong> Bauerndörfern<br />

abgekauft wurde) mit einem legalen Besitztitel<br />

aber ohne offizielle Baugenehmigung.<br />

Obwohl weit entfernt von jeglicher Arbeitsmöglichkeit,<br />

sind solche Grundstücke sicher<br />

und erhalten normalerweise nach einer weitgehenden<br />

Mobilisierung <strong>der</strong> Gemeinde und<br />

politischen Verhandlungen städtischerseits<br />

eine gewisse Grundversorgung.<br />

In <strong>der</strong> „Ersten Welt“ unterscheidet man logischerweise<br />

zwischen zwei Urformen, nämlich<br />

den, einem „Donut“ ähnelnden, amerikanischen<br />

Städten, wo sich die arme Bevölkerung<br />

in den heruntergekommenen bzw. aufgegebenen<br />

Stadtkernen und innenstadtnahen Vororten<br />

konzentriert beziehungsweise den, einer<br />

„Untertasse“ ähnelnden, europäischen Städten, wo<br />

sich zugewan<strong>der</strong>te und arbeitslose Bevölkerungsteile<br />

in von <strong>der</strong> Außenwelt abgeschnittenen Hochhauswohnsiedlungen<br />

am Stadtrand zusammendrän-


gen. Die amerikanischen Armen leben sozusagen<br />

auf dem Merkur und die europäischen Armen auf<br />

dem Neptun o<strong>der</strong> Pluto. Die Slumbewohner <strong>der</strong><br />

„Dritten Welt“ halten die unterschiedlichsten städtische<br />

Orbits besetzt mit <strong>der</strong> größten Konzentration<br />

in niedrig bebauten Peripherien.<br />

Häufig haben sich ehemalige Bürgerviertel,<br />

wie die ehemals mo<strong>der</strong>nen<br />

„Campos Eliseos“ in São Paulo<br />

o<strong>der</strong> Teile von L<strong>im</strong>as kolonialem<br />

Stadtbild, vollständig in Slums verwandelt.<br />

In Algiers berühmtem<br />

Küstenbezirk Bab-el-Oued haben<br />

beispielsweise die einhe<strong>im</strong>ischen<br />

Armen die Stelle <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />

<strong>der</strong> „Colon“, <strong>der</strong> Siedler, eingenommen.<br />

Auch wenn das weltweit vorherrschende<br />

Muster die Vertreibung<br />

<strong>der</strong> Armen aus den Stadtzentren ist,<br />

entsteht ähnlich wie in den USA in<br />

einigen Städten <strong>der</strong> „Dritten Welt“<br />

eine Segregation <strong>der</strong> postkolonialen<br />

Mittelklasse, die aus dem Stadtkern<br />

in bewachte Vororte und sogenannte<br />

„Randstädte“ flieht. Im Fall von<br />

Kingston wohnen schon seit langem ein Viertel<br />

von einer Million armen Menschen in <strong>der</strong>, von Kr<strong>im</strong>inalität<br />

geschüttelten aber kulturell dynamischen<br />

Stadtmitte, in Downtown Kingston, während die<br />

Mittelklassen in Uptown leben. In L<strong>im</strong>a war diese<br />

Entwicklung sehr viel früher eingetreten: bereits<br />

nach dem großen Erdbeben 1940 begannen die<br />

Mittel- und Oberklassen das historische Zentrum<br />

zu verlassen; mit dem harten Durchgreifen gegen<br />

den Straßenverkauf 1996 begann dann, wie es<br />

hieß eine von <strong>der</strong> Regierung geführte „Reconquista“<br />

des, den Arbeiterklassen <strong>der</strong> Anden gehörenden<br />

Gebietes. In Johannesburg sind die meisten<br />

Firmenbüros und teuren Geschäfte <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong><br />

letzten Jahre in die weißen Vororte abgewan<strong>der</strong>t.<br />

Mit seiner Mischung aus verslumten Mietwohnblocks<br />

und Mittelklasse-Appartmentkomplexen hat<br />

sich das innerstädtische Geschäftszentrum, früher<br />

einmal die Finanzhauptstadt des gesamten Kontinents,<br />

zum Mittelpunkt des informellen Handels<br />

und afrikanischer Mikrounternehmen entwickelt.<br />

Ungenehmigte Stadtrandurbanisierung<br />

Die Mehrheit <strong>der</strong> armen Städter weltweit lebt nicht<br />

mehr in den Innenstädten. Seit 1970 ist <strong>der</strong> größte<br />

Teil <strong>der</strong> urbanen Weltbevölkerung in den Entwikklungslän<strong>der</strong>n<br />

von Slumgemeinden an <strong>der</strong> Peri-<br />

pherie <strong>der</strong> Städte absorbiert worden. Die „horizontale<br />

Ausdehnung“ armer Städte ist häufig ebenso<br />

erstaunlich wie ihr Bevölkerungswachstum: 1988<br />

war beispielsweise in Karthoum das erschlossene<br />

Stadtgebiet 48 mal größer als 1955. Die suburba-<br />

„Urbanizaciones piratas:<br />

Wohnen in Piraten<br />

-Siedlungen“<br />

nen Zonen von vielen armen Städten sind heute<br />

eigentlich <strong>der</strong>art riesig, dass man nochmal über<br />

den Begriff Peripherie nachdenken sollte. In Lusaka<br />

bewohnen beispielsweise zwei Drittel <strong>der</strong> Stadtbevölkerung<br />

die umliegenden Außenbezirke, dass<br />

ein Stadtforscher meinte, „diese Siedlungen werden<br />

als ‚peri-urban’ bezeichnet, sind aber in Wirklichkeit<br />

die eigentliche Stadt und nicht die Peripherie.“<br />

In den wildwuchernden Städten <strong>der</strong> „Dritten Welt“<br />

ist demnach die „Peripherie“ ein hochgradig relativer,<br />

zeitspezifischer Begriff: <strong>der</strong> heutige Stadtrand,<br />

angrenzende Fel<strong>der</strong>, Wald o<strong>der</strong> Wüste können<br />

morgen schon Teil eines dicht besiedelten metropolitanen<br />

Stadtkerns sein. Mit <strong>der</strong> Ausnahme von<br />

Ostasien, wo beachtliche Bestände vom Staat<br />

gebauter Wohnungen an <strong>der</strong> Peripherie existieren<br />

(wie in Pekings alten Industrievororten Shijingshan,<br />

Fengtai und Changxiandian), hat die Stadtrandentwicklung<br />

in Urbanisierungsgebieten <strong>der</strong><br />

„Dritten Welt“ zwei Hauptformen angenommen:<br />

illegale Besetzersiedlungen und - um den,<br />

best<strong>im</strong>mte Assoziationen weckenden, kolumbianischen<br />

Ausdruck zu benutzen - „Urbanizaciones<br />

piratas“. In beiden Fällen entstehen „Slumlandschaften“<br />

mit einem hohen prozentualen Anteil<br />

selbstgebauter, min<strong>der</strong>wertiger Unterkünfte und<br />

schlechter Infrastruktur. Die ungenehmigten Parzel-<br />

stadt. land. wohnen<br />

43


44<br />

stadt. land. wohnen<br />

lierungen dieser „Urbanizaciones piratas“ werden<br />

häufig fälschlicherweise als Besetzergemeinden<br />

bezeichnet, sind jedoch <strong>im</strong> Grunde etwas völlig<br />

an<strong>der</strong>es.<br />

Besetzen heißt Landbesitz ohne Kaufvertrag o<strong>der</strong><br />

Titel. „Kostenloses“ Land am Stadtrand ist häufig<br />

als das wun<strong>der</strong>bare Gehe<strong>im</strong>nis <strong>der</strong> Urbanisierung<br />

in <strong>der</strong> „Dritten Welt“ bezeichnet worden: eine riesige<br />

nicht vorgesehene Subvention für die ganz<br />

Armen. Doch Besetzen kostet <strong>im</strong> voraus.<br />

Besetzer sind sehr häufig dazu<br />

gezwungen, beträchtliche<br />

Bestechungsgel<strong>der</strong> an<br />

Politiker, Gangster o<strong>der</strong><br />

die Polizei zu bezahlen,<br />

um Zugang zu<br />

Grundstücken zu<br />

„Lebensraum<br />

und die Rechte<br />

<strong>der</strong> Rechtlosen<br />

ausdehnen“<br />

bekommen, und<br />

zahlen möglicherweisesolche<br />

informellen<br />

„Mieten“ in<br />

Form von Bargeld<br />

und/o<strong>der</strong><br />

Wählerst<strong>im</strong>men<br />

über Jahre hinaus<br />

weiter. Dazu<br />

kommen extrem<br />

hohe zusätzliche<br />

Kosten wegen <strong>der</strong> fehlenden<br />

Verkehrsanbindung<br />

und <strong>der</strong> Entfernung zum<br />

Stadtzentrum. Besetzungen haben<br />

als politisches Geschehen durchaus <strong>im</strong>mer<br />

wie<strong>der</strong> Schlagzeilen gemacht. Zwischen 1960 bis in<br />

die 1980ger Jahre hinein fanden in Lateinamerika<br />

ebenso wie zu an<strong>der</strong>en Zeitpunkten in Ägypten,<br />

<strong>der</strong> Türkei und Südafrika massive Landbesetzungen<br />

statt, die häufig von radikalen Gruppierungen,<br />

aber auch hie und da von populistischen Nationalregierungen,<br />

wie in Peru in den Siebzigern und<br />

Nicragua in den Achtzigern, unterstützt wurden.<br />

Abhängig vom Wohlwollen <strong>der</strong> Bevölkerung wurden<br />

normalerweise unerschlossene Gemeindegrundstücke<br />

o<strong>der</strong> Län<strong>der</strong>eien eines einzelnen<br />

Großgrundbesitzers (<strong>der</strong> in manchen Fällen später<br />

entschädigt wurde) besetzt. Die Repression durch<br />

den Staatsapparat stellt den Willen und die Ausdauer<br />

<strong>der</strong> Landbesetzer häufig auf eine harte<br />

Probe. „Es ist nicht ungewöhnlich,“ schrieb ein<br />

Forschungsteam von <strong>der</strong> UCLA, <strong>der</strong> Universität von<br />

Los Angeles, über Caracas in den 1970ern, „dass<br />

eine Besetzer-Sieldung, die über Nacht gebaut<br />

wurde, am nächsten Tag von <strong>der</strong> Polizei abgeris-<br />

sen wurde und in <strong>der</strong> darauffolgenden Nacht wie<strong>der</strong><br />

aufgebaut wurde, wie<strong>der</strong> zerstört wurde und<br />

wie<strong>der</strong> aufgebaut wurde, bis die Behörden <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung müde wurden.“ Die meisten<br />

Besetzergemeinden sind allerdings das Ergebnis<br />

eines Vorgangs, den <strong>der</strong> Soziologe Asef Bayat am<br />

Beispiel Teherans und Kairos als „das stille Vordringen<br />

<strong>der</strong> einfachen Leute“ beschreibt: quasi<br />

eine langsame, nicht auf Konfrontation ausgelegte,<br />

Infiltration von Grundstücken am Stadtrand<br />

o<strong>der</strong> Freiflächen zwischen Häusern. Im<br />

Gegensatz zum „Brecht’schen<br />

Klassenkampf und Wi<strong>der</strong>stand“<br />

<strong>der</strong> armen Bauern, woran<br />

bekanntlich die Studien<br />

von James Scott erinnern,<br />

sind diese Kämp-<br />

fe <strong>der</strong> städtischen<br />

Armen „nicht nur<br />

defensiv“, son<strong>der</strong>n<br />

laut Bayat „verdeckt<br />

offensiv“, weil sie<br />

unermüdlich darauf<br />

abzielen, den<br />

Lebensraum und die<br />

Rechte <strong>der</strong> Rechtlosen<br />

auszudehnen.<br />

Besetzt wird heute<br />

eigentlich in erster Linie<br />

wertloser städtischer Grund,<br />

meistens in unsicheren o<strong>der</strong><br />

extrem marginalen Lagen wie<br />

Schwemmebenen, Hügeln, Sumpfgebieten<br />

o<strong>der</strong> auf fauligen Fel<strong>der</strong>n. So schreibt die<br />

Stadtökonomin Eileen Stillwaggon: „Im Grunde<br />

eignen sich Besetzer unverpachtbares Land an,<br />

Land, das so wenig Wert besitzt, dass niemand<br />

Interesse hat, entsprechende Eigentumsrechte geltend<br />

zu machen.“ In Buenos Aires liegen beispielsweise<br />

die meisten <strong>der</strong> „Villas de emergencias“ (was<br />

man am treffendsten mit Notunterkünften übersetzt),<br />

die vor allem von illegalen bolivianischen<br />

und paraguayanischen Immigranten bewohnt werden,<br />

entlang <strong>der</strong> stinkenden Uferböschungen des<br />

stark verschmutzten Río de la Reconquista und Río<br />

de la Matanza. „Durch das stehende Wasser und<br />

das unbehandelte Abwasser,“ schreibt <strong>der</strong> Geograph<br />

David Keeling von einem Besuch in einer<br />

typischen „Villa“ am Río Reconquista, „entsteht ein<br />

ungeheurer Gestank, und die gesamte Gegend ist<br />

voller Ratten, Mosquitos, Fliegen und an<strong>der</strong>er<br />

Insekten.“ Die „Villas“ werden nur toleriert, weil<br />

<strong>der</strong>artig verseuchte Grundstücke in einer Wirtschaftsflaute<br />

vorübergehend wertlos sind.


Aber flaches Land am Stadtrand, auch in <strong>der</strong><br />

Wüste, hat durchaus einen Marktwert, und so entstehen<br />

heute die meisten Siedlungen am Stadtrand<br />

für Menschen mit niedrigem Einkommen eigentlich<br />

über einen unsichtbaren Grundstücksmarkt. Diese<br />

ungenehmigten Grundstücksparzellierungen sind<br />

nicht durch Landbesetzungen entstanden: das Land<br />

wechselte tatsächlich durch legale Verkäufe den<br />

Besitzer. Illegal ist <strong>im</strong> Grunde die Parzellierung.<br />

Diese Siedlungen bezeichnet man besser als extralegal<br />

und nicht als illegal. Familien mit niedrigem<br />

und mittlerem Einkommen, beziehungsweise des<br />

unteren Mittelstands, die aus dem formellen Wohnungsmarkt<br />

ausgeschlossen wurden, kaufen<br />

Grundstücke von Unternehmern, die unerschlossenes<br />

Land aufkaufen und dann, ohne die gesetzlichen<br />

festgelegte Einteilung in Zonen, Parzellierungsvorschriften<br />

o<strong>der</strong> Versorgungsstandards zu<br />

beachten, aufteilen. Die verkauften Grundstücke<br />

haben normalerweise nur untersten Versorgungsstandard,<br />

das heißt häufig kaum mehr als einige<br />

Straßen und Wasserentnahmestellen.<br />

Diese Form <strong>der</strong> ungenehmigten Urbanisierung ist<br />

<strong>im</strong> Grunde die Privatisierung von Besetzungen. Im<br />

Gegensatz zu klassischen Besetzern, haben die<br />

Bewohner dieser ungenehmigten Parzellierungen<br />

entwe<strong>der</strong> einen legalen o<strong>der</strong> de facto Besitztitel für<br />

ihr Grundstück. Im Fall eines legalen Besitztitels ist<br />

<strong>der</strong> Verkäufer normalerweise ein Spekulant, ein<br />

„Latifundista“ o<strong>der</strong> ein Großbauer, eine Landgemeinde<br />

(beispielsweise ein mexikanisches „Ejido“)<br />

o<strong>der</strong> ein, auf dem Gewohnheitsrecht basierendes,<br />

Gemeinwesen (wie ein Beduinenstamm o<strong>der</strong> Dorfrat).<br />

Manchmal ermuntern die Landbesitzer - wie<br />

David Keeling es <strong>im</strong> Fall eines „Asentamiento“ in<br />

einem Vorort in Buenos Aires beschrieben hat -<br />

die Bewohner sogar, eine Besetzung zu organisieren,<br />

weil sie cleverer Weise davon ausgehen, dass<br />

<strong>der</strong> Staat möglicherweise gezwungen sein wird,<br />

ihnen eine Entschädigung zu zahlen, sowie die<br />

infrastrukturelle Erschließung zu garantieren.<br />

Im zweiten Fall eines De-facto-Besitzanspruchs ist<br />

das Land normalerweise in Staatsbesitz, aber die<br />

Siedler haben eine Besitzgarantie von einem einflussreichen<br />

Politiker, Stammesführer o<strong>der</strong> Verbrecherkartell<br />

(zum Beispiel den Triaden, die in<br />

Hongkong die größten Immobilienmakler <strong>im</strong> informellen<br />

Grundstücksgeschäft sind) gekauft. Ein<br />

an<strong>der</strong>es offenkundiges Beispiel sind die „Dalals“<br />

von Karachi, die Akhtar Hameed Khan, <strong>der</strong><br />

Begrün<strong>der</strong> des bekannten Orangi-Pilotprojekts, als<br />

„Privatunternehmer“ beschreibt, „die gelernt haben,<br />

geschickt mit unseren geldgierigen Politikern und<br />

Bürokraten zu kollaborieren und sie zu manipulieren.<br />

Durch ihre kostspielige Schirmherrschaft<br />

sichern die ‚Dalals’ den Besitz von Grundstücken<br />

auf staatlichem Land, erkaufen quasi den Schutz<br />

vor Vertreibung und schaffen eine Wasserversorgung<br />

und Verkehrsanbindung.“<br />

Unsichtbare Mieter<br />

In <strong>der</strong> Regel tendiert sowohl die wissenschaftliche,<br />

als auch nicht wissenschaftliche Literatur dazu,<br />

Besetzungen zu romantisieren, und dabei die Mieter<br />

außer Acht zu lassen. Tatsache ist, dass Vermietung<br />

weltweit <strong>im</strong> Slumleben ein fundamentales<br />

und Uneinigkeit schaffendes gesellschaftliches Verhältnis<br />

ausdrückt. Es ist die wichtigste Möglichkeit<br />

für arme Menschen in den Städten, ihren Anspruch<br />

(formell o<strong>der</strong> informell) zu Geld zu machen, und<br />

das häufig in einem Ausbeutungsverhältnis gegenüber<br />

noch ärmeren Menschen. Die Einglie<strong>der</strong>ung<br />

informeller Wohnmöglichkeiten in das Warensystem<br />

führte schnell zu verschiedenen Formen von<br />

Untervermietungen: In älteren Barackensiedlungen<br />

wurde angebaut und die Hütten auf den ungenehmigt<br />

parzellierten Grundstücken zu Mehrfamilienhäusern<br />

ausgebaut. In Kairo beispielsweise kaufen<br />

die etwas begüterteren Armen Land ohne Baugenehmigung<br />

von Bauern und die weniger begüterten<br />

besetzen städtische Grundstücke; die Ärmsten<br />

<strong>der</strong> Armen wie<strong>der</strong>um mieten bei den Besetzern.<br />

Am Beispiel México wird das beson<strong>der</strong>s deutlich.<br />

Trotz des Modellgesetzes für die „Colonias proletarias“,<br />

mit dem man den Erwerb von Grundbesitz<br />

durch Auswärtige, „Geschäftemacherei“ und die<br />

Spekulation mit billigem Wohnraum zu verhin<strong>der</strong>n<br />

versuchte, erlaubte die Regierung unter Lopez Portillo<br />

(1976-82) den Slumbewohnern, ihren Grundbesitz<br />

zu Marktpreisen zu verkaufen. Eine Folge<br />

dieser Reform war die Herausbildung einer Mittelklasse<br />

in einigen ehemaligen armen „Colonias“ in<br />

guter Lage; eine an<strong>der</strong>e Folge war <strong>der</strong> Anstieg von<br />

kleinbürgerlichem Grundbesitz. Wie die Soziologin<br />

Susan Eckstein bei ihrer Rückkehr in die „Colonia“,<br />

die sie vor 15 Jahren das erste Mal untersuchte,<br />

feststellte, hatten etwa 25 bis 50 Prozent <strong>der</strong><br />

ursprünglichen Landbesetzer kleine „Vecinidades“<br />

(Nachbarschaften) für zwei bis 15 Familien gebaut,<br />

die sie ärmeren Neuankömmlingen vermieteten.<br />

Sie schreibt: „Im Grunde gibt es einen zweigeteilten<br />

Wohnungsmarkt, <strong>der</strong> die sozioökonomischen<br />

Unterschiede unter den ‚Colonos’ wi<strong>der</strong>spiegelt.“<br />

Außerdem stellte sie in <strong>der</strong> Bevölkerung eine<br />

„sozioökonomische Verschiebung nach unten“ fest,<br />

stadt. land. wohnen<br />

45


46<br />

stadt. land. wohnen<br />

„seit ich das letzte mal hier war... Die ärmere Mieterschicht<br />

hat an Größe zugenommen.“ Auch wenn<br />

es einige langjährige Bewohner zu erfolgreichen<br />

Vermietern gebracht hatten, bestand für die neuen<br />

Mieter weit weniger Hoffnung auf eine ähnliche<br />

sozioökonomische Mobilität wie bei <strong>der</strong> vorherigen<br />

Generation, damit war die „Colonia“ an sich<br />

nicht länger „ein Slum <strong>der</strong> Hoffnung“.<br />

Mieter sind normalerweise wirklich die unsichtbarsten<br />

und machtlosesten unter den Slumbewohnern.<br />

Sind sie von Sanierung und Räumung betroffen,<br />

haben sie <strong>im</strong> Allgemeinen kein Recht auf Ent-<br />

„Millionen von Aushilfskräften und<br />

verzweifelten Bauern“<br />

schädigung o<strong>der</strong> Umsiedlung. Im Gegensatz zu<br />

den Mietshausbewohnern Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

in Berlin o<strong>der</strong> New York, die zusammenhielten<br />

und sich gegen ihre Hausbesitzer, die sogenannten<br />

Slumlords, solidarisierten, fehlt den heutigen<br />

Mietern in Slums bezeichnen<strong>der</strong>weise die<br />

Macht, Mieterorganisationen aufzubauen o<strong>der</strong> Mietstreiks<br />

zu organisieren.<br />

Der Stadtrand als Parialand<br />

Der Stadtrand ist die gesellschaftliche Aufprallzone,<br />

wo die Zentrifugalkräfte <strong>der</strong> Stadt mit <strong>der</strong> <strong>im</strong>plosionsartigen<br />

Abwan<strong>der</strong>ung vom Land kollidieren.<br />

So ist <strong>der</strong> riesige verarmte Vorort Pikine in Dakar<br />

nach Meinung des Forschers Mohamadou Abdoul<br />

das Produkt des Zusammentreffens von „zwei<br />

enormen demographischen Zuwan<strong>der</strong>ungsströmen,<br />

die nach 1970 einsetzten: nämlich <strong>der</strong> Zuzug <strong>der</strong><br />

Bevölkerungsteile, die aus den Arbeitervierteln und<br />

Barackensiedlungen von Dakar - häufig durch das<br />

Militär - vertrieben worden waren und <strong>der</strong> Exodus<br />

<strong>der</strong> Menschen aus den ländlichen Gebieten.“ Am<br />

Stadtrand von México City, Buenos Aires und<br />

an<strong>der</strong>en lateinamerikanischen Städten ist es ganz<br />

normal, dass die Barackensiedlungen <strong>der</strong> vom<br />

Land neu Zugewan<strong>der</strong>ten neben den mit Mauern<br />

umgebenen Vororten <strong>der</strong> Mittelklassependler entstehen,<br />

die vor <strong>der</strong> Kr<strong>im</strong>inalität und Unsicherheit<br />

in <strong>der</strong> Innenstadt fliehen.<br />

Auch viele Umwelt verschmutzende,<br />

Giftmüll produzierende und<br />

häufig illegale Industriebetriebe<br />

wan<strong>der</strong>n an die schwer kontrollierbare<br />

Peripherie ab. Der Geograph<br />

Hans Schenk stellt fest, dass die<br />

urbanen Randbezirke in Asien ein<br />

regulatorisches Vakuum darstellen,<br />

eine Grauzone, wo „Darwin die<br />

Oberhand über Keats gewonnen<br />

hat“, und ohne Konzession produzierende<br />

Unternehmer und korrupte<br />

Politiker <strong>im</strong> Großen und Ganzen<br />

von gesetzlichen Vorschriften und<br />

staatlichen Kontrollen unbehelligt<br />

bleiben. Der Großteil <strong>der</strong> kleinen<br />

Klei<strong>der</strong>-Sweatshops in Peking liegt<br />

zum Beispiel versteckt in einem<br />

Archipel von noch teilweise landwirtschaftlich<br />

geprägten Dörfern<br />

und Barackensiedlungen am südlichen<br />

Stadtrand. Auch in den<br />

Außenbezirken von Bangalore können<br />

die Unternehmer aufgrund mangeln<strong>der</strong> staatlicher<br />

Aufsicht äußerst profitabel billige Arbeitskraft<br />

abschöpfen. Millionen von Aushilfskräften und verzweifelten<br />

Bauern sammeln sich an den Rän<strong>der</strong>n<br />

solcher Weltstädte <strong>der</strong> Hyperausbeutung wie Surat<br />

[Indien?] und Shenzhen. Diese Arbeitsnomaden<br />

sind we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Stadt noch auf dem Land wirklich<br />

verwurzelt und verbringen häufig ihr <strong>ganze</strong>s<br />

Leben in einer Art verzweifelter Brownscher Bewegung<br />

zwischen den beiden.<br />

Aber in <strong>der</strong> Hauptsache bleiben die Stadtrandgebiete<br />

<strong>der</strong> „Dritten Welt“ ein Müllabladeplatz für<br />

Menschen. In manchen Fällen landen <strong>der</strong> städtische<br />

Müll und unerwünschte Zuwan<strong>der</strong>er sogar<br />

am selben Ort, zum Beispiel in den berüchtigten<br />

„Müllslums“ wie Quarantina - ein passen<strong>der</strong> Name<br />

- außerhalb von Beirut, Hillat Kusha außerhalb von


Khartoum und Santa Cruz Meyehualco in Mexico<br />

City, das frühere Smokey Mountain (Rauchen<strong>der</strong><br />

Berg) von Manila o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Dhapa, ein riesiger<br />

Müllabladeplatz und Slum am Stadtrand von Kolkata<br />

(Kalkutta).<br />

Internationale Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge,<br />

sogenannte Internally Displaced Persons (IDP),<br />

werden häufig noch schlechter behandelt als die<br />

umgesiedelten Städter. Einige <strong>der</strong> riesigen Flüchtlingslager<br />

haben sich sogar in echte Randstädte<br />

entwickelt. So ist Gaza - das viele für den größten<br />

Slum <strong>der</strong> Welt halten - eigentlich eine urbanisierte<br />

Anhäufung von Flüchtlingscamps (750.000 Flüchtlinge),<br />

in denen zwei Drittel <strong>der</strong> Bevölkerung von<br />

weniger als 2 Dollar pro Tag leben müssen. Dadaad,<br />

das schon auf kenianischem Staatsgebiet liegt,<br />

beherbergt 125 000 Somalis, und Goma in Zaire<br />

war Mitte <strong>der</strong> 1990-er ein bemitleidenswerter<br />

Zufluchtsort für geschätzte 700 000 Ruan<strong>der</strong>, von<br />

denen viele aufgrund <strong>der</strong> unglaublich unhygienischen<br />

Verhältnisse an Cholera starben. An <strong>der</strong> Peripherie<br />

von Karthoum liegen in <strong>der</strong> Wüste vier riesige<br />

Flüchtlingscamps (Mayo Farms, Jebel Aulia,<br />

Dar e Salaam und Wad al-Bashir), in denen sich<br />

400 000 Dürre-, Hunger- und Bürgerkriegsopfer<br />

zusammendrängen. Weitere 1,5 Millionen landesintern<br />

vertriebene Menschen - hauptsächlich aus<br />

dem Süden - leben in unzähligen von großen<br />

Besetzersiedlungen rund um die sudanesische<br />

Metropole.<br />

Angola und Kolumbien sind die beiden Län<strong>der</strong> auf<br />

<strong>der</strong> Welt mit den meisten Binnenflüchtlingen<br />

(IDPs). Angola wurde durch den mehr als ein<br />

Viertel Jahrhun<strong>der</strong>t dauernden und von Pretoria<br />

und dem Weiße Haus geschürten Bürgerkrieg<br />

(1975-2002) quasi zwangsurbanisiert. In dieser Zeit<br />

wurden mehr als 30 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung vertrieben.<br />

Viele Flüchtlinge kehrten nie in ihre He<strong>im</strong>atorte<br />

<strong>im</strong> zerstörten und unsicheren Landesinneren<br />

zurück, son<strong>der</strong>n siedelten illegal in den trostlosen<br />

„Musseques“ (Barackensiedlungen), die rund<br />

um Luanda, Lobito, Cabinda und um an<strong>der</strong>e Städte<br />

liegen. Infolgedessen ist in Angola heute, wo 1970<br />

lediglich 14 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung in den Städten<br />

lebte, mehrheitlich eine urbane Nation. Die<br />

meisten seiner Stadtbewohner sind ungeheuer arm<br />

und werden vom Staat mehr o<strong>der</strong> weniger völlig<br />

ignoriert, <strong>der</strong> nach Schätzungen von 1998 nur ein<br />

Prozent des Staatshaushalts für öffentliche Bildung<br />

und Sozialleistungen ausgab.<br />

Der städtische Armutsgürtel von Bogotá in Kolum-<br />

bien ist durch den endlosen Bürgerkrieg um<br />

400.000 Binnenflüchtlinge angewachsen, die sich<br />

in den riesigen informellen Siedlungen von Sumaapaz,<br />

Ciudad Bolívar, Usme und Soacha nie<strong>der</strong>ließen.<br />

„Die meisten Vertriebenen kommen aus<br />

gesellschaftlichen Randgruppen,“ erklärt eine nichtstaatliche<br />

Hilfsorganisation, „die vom normalen<br />

Leben und von <strong>der</strong> Arbeit ausgeschlossen wurden.<br />

Im Moment finden 653 800 Einwohner von Bogotá<br />

(2002) keine Arbeit in <strong>der</strong> Stadt und, was noch<br />

erschrecken<strong>der</strong> ist, die Hälfte von ihnen ist unter<br />

29.“ Die jungen Bauernfamilien und ihre Kin<strong>der</strong>,<br />

die in <strong>der</strong> Stadt nicht zurechtkommen und häufig<br />

keinen Zugang zu Schulen haben, sind ein ideales<br />

Rekrutierungsreservoir für Straßengangs und Paramilitärs.<br />

Einhe<strong>im</strong>ische Geschäftsleute, <strong>der</strong>en Läden<br />

durch Straßenkin<strong>der</strong> zerstört wurden, reagieren mit<br />

dem Aufstellen von „Grupos de l<strong>im</strong>pieza“ (direkt<br />

übersetzt: Säuberungstrupps, die man als Bürgerwehr<br />

bezeichnen könnte) mit Verbindungen zu<br />

rechten Todeschwadronen, und die Leichen <strong>der</strong><br />

ermordeten Kin<strong>der</strong> werden am Stadtrand abgeladen.<br />

Der gleiche Alptraum herrscht in den Außenbezirken<br />

von Calí, wo <strong>der</strong> Anthropologe Michael Taussig<br />

Dantes Inferno heraufbeschwört in seiner<br />

Beschreibung des Kampfes ums Überleben in zwei<br />

„außerordentlich gefährlichen“ Slums am Stadtrand.<br />

Navarro ist ein berüchtigter „Müllberg“, wo hungrige<br />

Frauen und Kin<strong>der</strong> den Müll sortieren, während<br />

bewaffnete Jugendliche („malo de malo“), wahlweise<br />

von den einhe<strong>im</strong>ischen rechten Paramilitärs<br />

angeheuert o<strong>der</strong> ermordet werden. Die an<strong>der</strong>e<br />

Siedlung, Carlos Alfredo Díaz, ist voll von „Kin<strong>der</strong>n,<br />

die mit selbstgebastelten Schrotflinten und<br />

Granaten herumlaufen.“ „Mir wurde langsam klar,“<br />

schreibt Taussig, „dass, genau so wie die Guerilla<br />

ihre wichtigste Basis in den unendlich großen Wäl<strong>der</strong>n<br />

von Caquetá aufgeschlagen hat, mitten <strong>im</strong><br />

Nirgendwo am Rand des Amazonasbeckens, die<br />

Bandenwelt <strong>der</strong> wild gewordenen Jugend ihren<br />

heiligen Kral just hier am Stadtrand hat, wo die<br />

Slums von Carlos Alfredo Díaz an die Zuckerohrfel<strong>der</strong><br />

stoßen.“<br />

übersetzt und bearbeitet von Ingrid Scherf<br />

stadt. land. wohnen<br />

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