Danke, lieber „Arsch-Engel“! - Veranstaltungskalender für Körper ...
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Sie wollen dich kassieren ...<br />
Wer lebendig bleiben und eigen sein will, muss zuerst<br />
mal den Mut dazu haben, schon als Kind. Zweitens<br />
Lernumstände vorfinden, wo dieses Talent ausgebildet<br />
werden kann. Und drittens günstige ökonomische<br />
Umstände vorfinden, die erlauben, die erlernte Kunst<br />
auch auszuüben.<br />
Als 16jähriger dachte ich an Selbstmord, weil ich<br />
Angst hatte, sie würden mich kassieren – sie, die<br />
grauen Männer, die alle zu Untertanen des Üblichen<br />
machen, zu seelenlosen, angepassten grauen Mäusen,<br />
und dann wäre das Leben nicht mehr lebenswert. Ich<br />
hatte Angst, die Befreiung aus dieser Seelenvernichtungsmaschine<br />
vielleicht nicht zu schaffen. Wäre ich<br />
gescheitert, hätte ich mit den Wölfen geheult und<br />
mich mit ihnen lustig gemacht über solche wie mich<br />
mit ihren verwegenen Ansprüchen. Immerhin hatte<br />
ich den Mut aufzubegehren – und so begann meine<br />
spirituelle Reise.<br />
The economy, stupid<br />
Das zweite dann, die Ausbildung des Talents, das war<br />
hart <strong>für</strong> mich. Wahrscheinlich ist es das auch <strong>für</strong> die<br />
meisten anderen so. Ich bin Autodidakt in fast allem,<br />
was ich tue – jedenfalls im Schreiben und im Verstehen<br />
der Sprache und der Welt. Die paar Semester<br />
Sprachphilosophie, die ich studiert habe, die waren<br />
kaum erhellender als sie geistvernichtend und entmutigend<br />
waren, Aufbau und Zerstörung halten sich<br />
da fast die Waage.<br />
Das dritte, die Ökonomie, damit kämpfe ich jetzt.<br />
Mein Talent entwickle ich in meiner Freizeit weiter, als<br />
Hobby oder Luxus, nur selten werde ich da<strong>für</strong> bezahlt.<br />
Dem Finanzamt galt mein Schreiben jahrelang als nur<br />
ein Hobby; die Einnahmen daraus waren zu gering, als<br />
dass die darauf bezogenen Ausgaben hätten anerkannt<br />
werden können. Ich lebe nicht vom Schreiben, sondern<br />
muss arbeiten, um mir diese kreative Tätigkeit erlauben<br />
zu können, ab und zu spät abends, wenn die wichtigen<br />
Sachen getan sind, die Geschäftlichen, Notwendigen.<br />
Dass ich das Schreiben unterrichte, außerdem Texte<br />
von anderen redigiere, eine Zeitschrift herausgebe, das<br />
tue ich gerne, aber das ist noch nicht der eigentliche<br />
kreative Akt. Ich tröste mich damit, dass auch Mozart<br />
und Beethoven als Musiklehrer arbeiten mussten, um<br />
sich leisten zu können, ab und zu eine Sinfonie zu komponieren.<br />
Ein Leben, das ganz um das Schreiben kreist,<br />
wer kann sich das ökonomisch schon leisten?<br />
Trauer und Wut<br />
So weit mein Lamento. Bedauert mich jetzt einer?<br />
Bedauerst du nun immerhin dich selbst und weinst<br />
mit mir um die Millionen verkannter Genies? Würden<br />
diese Tränen irgendjemandem helfen? Trauer ist<br />
Thema Kreativität<br />
passiv, Wut die aktive, nach außen gerichtete Seite<br />
derselben Energie. Wut ist kreativer als Trauer. Nun<br />
also die Wut: Ich bin wütend auf ein System, das so<br />
viel Blödsinn fördert und bejubelt und die wirklich<br />
Guten, Kreativen verkümmern lässt!<br />
Kein Talent zu haben ist traurig. Talent zu haben, und<br />
es nicht ausbilden zu können ist noch trauriger – da hat<br />
man am Glück der Kreativität schon mal geschnuppert,<br />
darf es aber nicht weiterentwickeln. Talent zu haben,<br />
davon zu wissen und darin sogar eine gewisse Ausbildung<br />
und Übung erfahren zu haben, dann aber aus<br />
wirtschaftlichen Gründen passen zu müssen, das ist das<br />
Traurigste – es sei denn, man kann diese Trauer in Wut<br />
verwandeln, in eine Tatkraft, die sich nicht beirren lässt<br />
vom doch fast immer nur punktuell hereintröpfelnden<br />
und nicht immer positiven Feedback.<br />
Weltrevolution der Kreativität<br />
Aber ich bin mit dieser Trauer und Wut ja nicht allein.<br />
Die kreativen Talente, deren Ausdruck und Wirkung<br />
an der Wirtschaft scheitern, sind Tausende. Sollen sie<br />
doch ihre Kreativität auch mal ins Marketing stecken,<br />
höre ich von allen Seiten. 80 % davon ins Marketing,<br />
das sei das Mindeste, was es braucht, um gute Erfolgschancen<br />
zu haben, sagen die Ratgeber. Bleibt ein<br />
Fünftel <strong>für</strong> das eigentliche Werk. Den meisten dieser<br />
Werke merkt man das an.<br />
Die Massen der in ihrer Kreativität Behinderten sind<br />
aber noch viel größer. Die auf Chancen zur Ausbildung<br />
warten, sind Millionen. Die ihr Talent noch nicht entdeckt<br />
haben, ihre Eigenheit und Einzigartigkeit, sind<br />
Milliarden. Heißt das, dieses Lamento und diese Wut<br />
von mir gelten eigentlich nicht der Ökonomie, sondern<br />
der condition humaine?<br />
Im einen wie im anderen Falle kommt es wohl darauf<br />
an, Weltschmerz in Tatkraft zu verwandeln. Diese<br />
Tatkraft kann einzelne Kunstwerke hervorbringen – gut<br />
so. Noch besser wäre es aber, mit dieser Tatkraft eine<br />
Welt zu erschaffen, die uns bald sieben Milliarden Bewohnern<br />
dieses Planeten eine Entfaltung der Kreativität<br />
erlaubt, die ebenso künstlerisch, wie ökonomisch und<br />
sozial sein kann.<br />
Wolf Schneider, Jg.<br />
1952, Studium der<br />
Naturwissenschaften<br />
und der Philosophie<br />
(1971-75). Hrsg. der<br />
Zeitschrift connection<br />
seit 1985. 2005 Gründung<br />
der »Schule der<br />
Kommunikation«. Kontakt:schneider@connection.de,<br />
Blog: www.<br />
schreibkunst.com<br />
KGSBerlin 02/2010 15