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Musik - Theater Neumarkt

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Die junge monotheistische Religion mit ihrem unsichtbaren,<br />

immateriellen, ungreifbaren, sogar<br />

unnennbaren Gott bringt eine rigorose und wenig<br />

lustvolle Forderung nach Abstraktion mit sich. Im<br />

Buch Hiob geht es darum, den Monotheismus zu<br />

immunisieren gegen Rückfälle in den einfältigen<br />

Glauben an Belohnungen, in das blutige Opferwesen<br />

oder in die Anbetung des Materiellen, des Mammon,<br />

des goldenen Kalbs, die sinnenfrohe Vielgötterei<br />

… Offenbar scheint Gott zu wollen, dass Hiob an<br />

seine Macht und Grösse glaubt auch ohne jegliche<br />

Gnadenzeichen und natürlich ohne Belohnung und<br />

Wiedergutmachung. Die Hiob-Fabel stellt die Frage<br />

nach dem Sinn des Leidens auf radikale Weise,<br />

indem sie die Antwort darauf verweigert.<br />

Von Roth wird die Infragestellung der religiösen<br />

Ordnung, die in der biblischen Fabel schon<br />

enthalten ist, mehrfach erweitert und potenziert.<br />

So gibt es keinerlei transzendente Instanz, alles<br />

scheint sich lediglich in der subjektiven Wahrnehmung<br />

Hiobs am Ende wieder zu fügen. Die Opfer<br />

in seiner Familie würden die Geschichte anders erzählen.<br />

Die Subjekte der religiösen Ordnung sind<br />

„deterritorialisiert“, „migriert“ … Die erzwungene<br />

Mobilität der Personen hat alle lokalen Bindungen<br />

gesprengt, es gibt keine Gemeinde, keine Kultstätten<br />

… es gibt am Ende nur ein paar versprengte Juden,<br />

die Singer an das erinnern lassen, was einmal<br />

gewesen ist, ohne es durch etwas zu ersetzen; erstarrte<br />

hohle Form. Roth konfrontiert das traditionelle<br />

religiöse Verständnis gnadenlos mit den<br />

Bedingungen der Moderne.<br />

Hiob<br />

nach Joseph Roth<br />

in einer Fassung von Koen Tachelet<br />

„Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit.“<br />

Joseph Roths Kommentar unter der Zeichnung von Mies Blomsma, 1938, Paris<br />

Die Hiob-Fabel<br />

eine Arbeitsnotiz<br />

Wer seinen Roman liest, stösst bald auf eine noch<br />

weitergehende „moralische“ Frage: Kann man über<br />

das Unglück eines Einzelnen überhaupt ernsthaft<br />

nachdenken, wenn globale Ereignisse den Horizont<br />

bilden bzw. Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg<br />

und der Nazi-Terror ihren Schatten voraus werfen,<br />

Ereignisse, deren Bilder sowenig aus unseren Köpfen<br />

zu löschen sind wie die Zahlenkolonnen der Toten.<br />

Mendel Singers Glück am Schluss des Romans<br />

wirkt erlösend, zugleich aber irreal und irgendwie<br />

aberwitzig.<br />

Roth schildert Personen, die dem ungeheuren<br />

Druck der Verhältnisse und den Anforderungen<br />

von Mobilität, Flexibilität, Fremde, Erwerbsarbeit<br />

kaum gewachsen sind. Nicht aus persönlichem Versagen,<br />

sondern weil ihnen jegliches Instrumentarium<br />

fehlt. Jeder Rückhalt, Ausbildung, Sicherheit,<br />

Einsicht … Möglicherweise ist etwas in der menschlichen<br />

Natur nicht an die Gegebenheiten der Moderne<br />

adaptierbar … Wie auch immer, Roths Figuren<br />

scheinen auf exemplarische Weise von der Welt<br />

überfordert, in der sie sich zu behaupten haben.<br />

Darin liegt ihre Nähe, deshalb sind sie uns gerade<br />

in ihrer Hilflosigkeit vertraut, auch wenn wir uns<br />

nicht auf Anhieb in ihnen erkennen.<br />

In ihren Krisen, ihrem psychosenahem Radikalismus<br />

liefern Roths Romanfiguren eine Psychopathologie<br />

des modernen Subjekts, das versucht, ein<br />

Wertesystem zu verteidigen, genauer gesagt mit<br />

dessen Verlust fertig zu werden – eines Menschen,<br />

der bis zuletzt kämpft und glanzlos dabei zugrunde<br />

geht. Ralf Fiedler<br />

Mendels<br />

allMächtiger<br />

und<br />

allböser<br />

gott<br />

Mendel Singer geht in seiner Reaktion<br />

auf die Schicksalsschläge, die Gott<br />

ihm – seinem Glauben nach – zufügt,<br />

wesentlich weiter als der Hiob der<br />

Hebräischen Bibel. „Einem Freund, der<br />

(Roth) bei vieler ehrlicher Anerkennung<br />

darauf hinwies, dass der Inhalt des<br />

Romans Hiob sich nicht mit dem Titel<br />

decke, da der biblische Dulder um<br />

seinen Gott gerungen und ihn wiedergefunden,<br />

ihn eigentlich nie verloren<br />

habe, antwortete er (Roth) kurz und ein<br />

wenig verbittert, so als spräche er<br />

von sich selbst: ‚Mein Hiob findet<br />

ihn nicht.‘“ Mendel Singer bietet wirklich<br />

eine radikale, eine „finstere“<br />

Lösung der Theodizee-Frage.<br />

Im Rahmen der jüdischen religiösen<br />

und theologischen Tradition wird<br />

seit jeher die Theodizee-Frage radikaler<br />

gestellt als innerhalb der christlichen.<br />

Die Frage danach, wie Gott die<br />

schreiende Ungerechtigkeit in der Welt<br />

legitimieren kann und wieso z.B.<br />

gerade „guten Menschen Böses widerfahren“<br />

kann, ohne dass bis zur Grenze<br />

ihres Todes die Gerechtigkeit wiederhergestellt,<br />

das Gute wieder in sein<br />

Recht gesetzt wird, wird durch christliche<br />

Jenseits-Hoffnungen entschärft:<br />

Die platonische Tradition im Christentum,<br />

die das Diesseits entwertet<br />

zugunsten einer jenseitigen, „eigentlichen“,<br />

„wesenhaften“ Welt, lässt Gott<br />

in der „zukünftigen Welt“ gewissermassen<br />

noch Zeit genug, dem „guten<br />

Menschen“ zu seinem Recht und zur<br />

Befriedigung darüber zu verhelfen.<br />

Jüdische Frömmigkeit dagegen in ihrer<br />

radikalen Diesseits-Orientierung<br />

misst Gottes Gerechtigkeit durchaus an<br />

dem, was als menschliches, irdisches<br />

„Glück“, mit dem theologischen Begriff<br />

als „Segen“, bezeichnet wird, der Vertröstungseffekt<br />

fehlt – fehlt auch im<br />

Hiob-Buch der Hebräischen Bibel und in<br />

Joseph Roths „Hiob“.<br />

Auszug aus: Dieter Schrey „Geistige<br />

Grundlagen für eine neue Welt?“. Joseph<br />

Roths „Hiob“-Roman in geistes-<br />

und kulturgeschichtlichen Kontexten


alles plötzliche ist böse, und das gute schleicht langsam.<br />

Hiob<br />

nach Joseph Roth<br />

Mit alicia aumüller<br />

Jonas Gygax<br />

Jörg Koslowsky<br />

Michael Neuenschwander<br />

Karin Pfammatter<br />

brencis Udris<br />

Regie Stephan Müller<br />

Fassung Koen Tachelet<br />

Bühne Hyun Chu<br />

<strong>Musik</strong> Tom lutz<br />

Dramaturgie Ralf Fiedler<br />

Kostüme Carla Caminati<br />

Regieassistenz benjamin Kobi<br />

Dramaturgieassistenz Daniel lerch<br />

Hospitanz Nathalie Wandel<br />

Technische Leitung Andreas Bögli | Assistenz Technische Leitung Peter Meier | Beleuchtung Twist Sopek, Martin Wigger, Philipp Ziegler<br />

Ton Susanne Affolter, Jürg Breitschmid | Schlosserei Cristiano Remo | Schreinerei Sybille Eigenmann, Reto Landolt<br />

Malsaal Noëlle Choquard, Martina Heimgartner | Deko Bettina Stoffel, Doris Zurbrügg<br />

Requisite Ueli Zellweger | Leitung Schneiderei Lilli Krakenberger, Ruth Schölzel | Schneiderei Katharina Baldauf,<br />

Beatrice Zimmermann, Noelle Brühwiler, Daniela C. Duthaler | Garderobe Doris Mazzella | Maske Denise Christen, Diane Buthia,<br />

Barbara Grundmann | Bühne Aldo Betschart, Thomas Bianca, Franz Fleischmann, Peter Strassmann<br />

„<br />

es steht<br />

geschrieben, dass<br />

es nicht gut ist,<br />

dass der Mensch<br />

allein sei.<br />

also leben wir<br />

zusammen.<br />

“<br />

Premiere 27. Mai 2009 | Spieldauer ca. 90 Minuten (keine Pause)<br />

<strong>Theater</strong> <strong>Neumarkt</strong>, <strong>Neumarkt</strong> 5, 8001 Zürich, Tel.+41 (0)44 267 64 64, www.theaterneumarkt.ch<br />

Redaktion Daniel Lerch | Gestaltung Studio Achermann<br />

in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künstee<br />

Zum Stück<br />

„Hiob“ gilt als Joseph Roths berühmtester Roman<br />

und erzählt eine Familiensaga, die kurz vor dem<br />

Ersten Weltkrieg im zaristischen Russland beginnt.<br />

Als der in Galizien geborene Roth 1930 das Buch<br />

schrieb, waren das Schtetl und seine Bewohner<br />

ihrer Vernichtung durch die Deutschen schon recht<br />

nahe. „Die Hölle regiert. Wir haben alle die Welt<br />

überschätzt. Ich gebe keinen Heller mehr für unser<br />

Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu<br />

lassen“, notierte er in seinem Pariser Exil.<br />

Die uralte Geschichte vom Menschen, den Gott<br />

prüft – das ist das Thema von Joseph Roths Roman<br />

„Hiob“. Roth erzählt einfühlsam und bewegend aus<br />

dem Leben des Mendel Singer, eines „ganz alltäglichen<br />

Juden“ und zugleich die Reinkarnation des<br />

biblischen Hiob im 20. Jahrhundert. Mendel Singer<br />

ist ein frommer Lehrer, der trotz Armut an seiner<br />

Berufung nicht zweifelt. Einen seiner Söhne verliert<br />

er ans Militär, ein anderer desertiert und flieht nach<br />

Amerika. Um seine einzige Tochter vor den Kosaken<br />

zur retten, folgt Mendel einem seiner inzwischen<br />

erfolgreichen Söhne nach New York. Sein jüngstes<br />

Partner des <strong>Theater</strong> <strong>Neumarkt</strong><br />

Kind Menuchim, das nicht sprechen kann, muss<br />

er zurücklassen. Nach ein paar Jahren Neuer Welt<br />

steht Mendel ganz allein da, Frau und Kinder sind<br />

tot, vermisst oder verrückt geworden. Gebeugt von<br />

seinem schweren Los verliert Mendel Singer allein<br />

in einem ihm immer fremd gebliebenen Land allen<br />

Lebensmut. In ohnmächtiger Wut lehnt er sich<br />

gegen Gott auf. Doch durch ein Wunder wird ihm<br />

schliesslich Gerechtigkeit und Frieden zuteil: Der<br />

zurückgelassene Menuchim taucht als begnadeter<br />

<strong>Musik</strong>er in New York auf. Am Ende der ergreifenden<br />

Geschichte entblösst Mendel Singer sein Haupt.<br />

Endlich kann er sich ausruhen „von der Schwere des<br />

Glücks und der Grösse der Wunder“ – ein inselhaftes,<br />

irreales Glück inmitten der heraufziehenden<br />

Katastrophen.<br />

Roth prägt der moralisch skandalösen Fabel<br />

von Hiob, die alle Lebensweisheit zunichte macht,<br />

einen ganz eigenen Stempel auf.<br />

Der erfolgreiche Regisseur Stephan Müller<br />

kehrte mit einer Dramatisierung des Romans im<br />

Rahmen der Festspiele 2009 an das <strong>Theater</strong> <strong>Neumarkt</strong><br />

zurück, das er zusammen mit Volker Hesse<br />

von 1993 bis 1999 geleitet hatte.

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