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Leseprobe - Rudolf Steiner Verlag

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Repressalien und Verfolgung –<br />

Leidenszeit des Prager Judentums<br />

Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts begann sich die<br />

Lage der Judengemeinde allmählich wieder zu verschlech -<br />

tern. Zwar verlieh ihnen der verhältnismäßig tolerante<br />

und aufgeschlossene Kaiser Ferdinand III. 8 noch die in<br />

der Altneusynagoge aufbewahrte große Fahne mit Wappen<br />

für ihre Verdienste bei der Verteidigung der Altstadt<br />

gegen die Schweden sowie das Recht auf einen eigenen<br />

Markt (sogenannter Tandelmarkt), doch nahm unter seinem<br />

Nachfolger Leopold I. der Druck auf die Juden durch<br />

neue Ausweisungsverfügungen oder auch -drohungen<br />

zum Zwecke der Verhinderung neuer beziehungsweise<br />

Eindämmung bestehender jüdischer Siedlungen in Böhmen<br />

wieder zu. Außerdem versetzten die Pestepidemie<br />

1680 und der Großbrand von 1689, der fast das ganze<br />

Getto vernichtete, der jüdischen Gemeinde schwere<br />

Schläge. Diese hatte ohnehin schon unter den Drangsalierungen<br />

der missionseifrigen Jesuiten, denen jedes Mittel<br />

recht war, zu leiden. Die Beschuldigung eines Juden<br />

durch die Jesuiten, das Kruzifix auf der Karlsbrücke beleidigt<br />

zu haben (die offensichtlich derart fadenscheinig<br />

war, dass er «nur» mit einer hohen Geldstrafe davonkam;<br />

S. 140), und die Affäre um den Juden knaben Simon Abeles<br />

(S. 166) stellen in diesem Zusammenhang lediglich<br />

spektakuläre Höhepunkte dar.<br />

Damit nicht genug, wurde die Prager Judengemeinde<br />

auch von internen Auseinandersetzungen um die «falschen<br />

Messiasse» Sabbatai Zewi und Nehemia Chajon erschüttert.<br />

9 Zewi (1626–1676) trat zuerst in seiner Heimatstadt<br />

Smyrna (Izmir) vor den Glaubensgenossen als<br />

der erwartete Messias auf und konnte vor allem im Osten,<br />

aber auch in ganz Europa zahlreiche Anhänger gewinnen.<br />

Prag war sogar in gewissem Ausmaß eine Hochburg<br />

des «Sabbatianismus». Sabbatai Zewis Erfolg wurde<br />

Betraum der Altneu-Synagoge (linke Seite). Die rote<br />

Standarte über dem Bima, die neben dem Davidstern<br />

einen Schwedenhut aufweist, wurde der jüdischen Bevölkerung<br />

1648 von Ferdinand III. für ihre Verdienste bei der<br />

Verteidigung der Altstadt gegen die Schweden verliehen.<br />

R e p r e s s a l i e n u n d V e r f o l g u n g<br />

begünstigt durch die schrecklichen Pogrome in der Ukraine<br />

und in Polen während des Kosakenaufstands, denen<br />

Hunderttausende Juden zum Opfer fielen. Denn gemäß<br />

der Überlieferung soll der Messias nach Leiden und Verfolgungen<br />

auftreten. Die Lage beruhigte sich erst wieder,<br />

als der Übertritt Zewis zum Islam bekannt wurde. Nehemia<br />

Chajon war dagegen in den Worten Kischs ein «Aben-<br />

teurer, Narr oder Schwindler auf eigene Faust», der im<br />

Gegensatz zu Zewi jedoch in Prag selbst auftrat und hier<br />

als ein «jüdischer Cagliostro» für Aufsehen und Verwirrung<br />

sorgte.<br />

Doch blieb dies letztlich eine vorübergehende Erscheinung,<br />

und die glanzvolle Reihe bedeutender Gelehrter<br />

konnte sich weiter fortsetzen, vor allem mit dem aus<br />

Worms gebürtigen David Oppenheim (1664–1736), der<br />

1702 Oberrabbiner in Prag wurde. Das von seinem Onkel<br />

Samuel Oppenheimer ererbte bedeutende Vermögen<br />

(dieser hatte Kaiser Leopold gegen hohe Zinsen große<br />

Summen für den Krieg gegen die Türken geliehen – und<br />

zurückerhalten) verwendete er für den Aufbau seiner<br />

umfangreichen hebräischen Bibliothek, die zuletzt etwa<br />

6000 bis 7000 gedruckte Bücher und rund 1000 Handschriften<br />

umfasste. Aufgrund der Schikanen durch die<br />

Jesuiten (verweigerte Druckerlaubnis hebräischer Bücher,<br />

auch bei Neuauflagen bereits erlaubter, vor allem<br />

aber Konfiskationen; Oppenheim war selbst in einen<br />

235<br />

Salomo Jehuda Rapoport,<br />

der letzte namhafte Oberrabbiner<br />

Prags, verkörpert<br />

in einem Porträt von Antonín<br />

Machek den Typus des<br />

gelehrten Juden (links).


236<br />

J u d e n s t a d t<br />

langwierigen Prozess mit den Jesuiten verwickelt) ließ<br />

er seine Bibliothek nach Hannover bringen, von wo sie<br />

später über Hamburg schließlich 1829 nach Oxford in<br />

die Bodleian-Bibliothek gelangte.<br />

Sein Grabstein auf dem Friedhof im Getto rühmt<br />

seine Gelehrsamkeit: «Viele Schüler erzog er, unendlich<br />

ist die Menge der von ihm geschaffenen Werke, Erklärungen<br />

zum Talmud und seinen Kommentaren, und Ausdeutungen<br />

der ganzen Thora [...] wer vermag so wie er Weisung<br />

zu erteilen / einzig in seiner Zeit / der die Fülle des<br />

Schrifttums in sich barg [...] zum Himmel stieg er empor<br />

auf den Stufen des Hauses des Herrn / vergönnt sei ihm<br />

zu schauen des Ewigen Schöne und zu verweilen im Palaste<br />

des Herrn.»<br />

Die Regierungszeiten Karls VI. (1711–1740) und vor<br />

allem seiner Tochter Maria Theresia (reg. 1740–1780)<br />

waren eine harte Zeit für die Prager Juden. Durch die<br />

Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Unruhe versetzt<br />

– Anfang des 18. Jahrhunderts war die Einwohnerzahl<br />

des Gettos praktisch genauso hoch wie die der wesentlich<br />

größeren Altstadt, nämlich rund elfeinhalbtausend –,<br />

versuchte man zunächst die Anzahl der jüdischen Familien<br />

mit Aufenthaltsrecht (ein «Bürgerrecht» gab es ja damals<br />

noch nicht für sie) durch das sogenannte «Familialpatent»<br />

zu begrenzen. Dies bedeutete in der Praxis, dass<br />

nur der älteste Sohn einer Familie eine Heiratserlaubnis<br />

bekam. Den übrigen Söhnen blieb, wenn sie nicht ledig<br />

bleiben wollten (nach jüdischer Sitte jedoch im Grunde<br />

eine Unmöglichkeit), nur die Auswanderung.<br />

Diese Regelung blieb bis 1848 in Kraft. Die fortdauernde<br />

antijüdische Propaganda seitens der Jesuiten und<br />

die gezielten Gerüchte, die Juden hätten bei der vorübergehenden<br />

Besetzung Prags durch die Preußen diese unterstützt,<br />

veranlassten die Kaiserin darüber hinaus zu<br />

ihrer berüchtigten, gegen den Widerstand von Adel und<br />

Magistrat durchgesetzten Ausweisungsverfügung vom<br />

Dezember 1744. So musste bereits Ende Januar 1745,<br />

mitten im Winter, die gesamte jüdische Bevölkerung<br />

Prags die Stadt verlassen. Doch der dadurch entstandene<br />

verheerende finanzielle Schaden, den die Böhmische<br />

Kammer der Kaiserin vorrechnete, veranlasste diese,<br />

ihren Erlass vier Jahre später zurückzunehmen – vor-<br />

läufig für zehn Jahre und gegen eine zusätzliche Steuer<br />

von jährlich 300 000 Gulden.<br />

Im Herbst 1748 kehrten die jüdischen Familien in ein<br />

vollkommen verwüstetes Getto zurück, das 1754 kurz<br />

nach Beginn der Aufbauarbeiten erneut niederbrannte.<br />

Diesem verheerenden Brand fielen außer zahlreichen<br />

Wohnhäusern vier Synagogen zum Opfer, darunter die<br />

altehrwürdige Alte und die Maisel-Synagoge, ferner Rathaus,<br />

Spital und Waisenhaus. Der Wiederaufbau dauerte<br />

über ein Jahrzehnt.<br />

Aufgeklärtes Judentum zwischen Assimilation<br />

und Zionismus<br />

Der letzte bedeutende Oberrabbiner Prags im<br />

18. Jahrhundert und als Talmudlehrer eine europaweite<br />

Kapazität war Ezechiel Landau (1713–1793). Zugleich<br />

war er der letzte Vertreter der orthodoxen Tradition,<br />

denn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte<br />

sich auch in der Prager Judengemeinde, die mehr und<br />

mehr einem kabbalistisch-mystischen Pietismus verfallen<br />

war (Kisch spricht gar von einem «Hexenkessel des<br />

religiösen Okkultismus»), der große Umbruch bemerkbar,<br />

der fast das gesamte europäisch-jüdische Geistesleben<br />

in jener Zeit erfasste. Ausgehend von den Berliner<br />

Reformkreisen um Moses Mendelssohn verbreiteten<br />

sich die Ideen der Aufklärung – und diese verlangten<br />

die Reform des religiösen Lebens und des Schulwesens<br />

(zum Beispiel deren Öffnung auch für Frauen), Assimilation<br />

an die nichtjüdische Gesellschaft und Öffnung für<br />

das allgemeine Geistesleben, insbesondere für deutsche<br />

Literatur und Philosophie, auch die Gründung von Zeitschriften.<br />

Entscheidend gefördert und zum Teil erst ermöglicht<br />

wurde diese Öffnung nach außen in der Habsburgermonarchie<br />

durch die Toleranzpatente Kaiser Josephs II. von<br />

1781, welche den Juden zwar noch keine volle Emanzipation,<br />

doch bedeutende Erleichterungen brachten – wie<br />

der Wegfall der diskriminierenden Kleidungsvorschriften,<br />

die Eindämmung der Bevormundung durch die Kirche<br />

(der Jesuitenorden war bereits seit 1773 aufgehoben)<br />

oder die Öffnung der Gymnasien und Universitäten für<br />

jüdische Mitbürger. «Das große Bildungsstreben unter


den Juden ließ ihre Zahl an Gymnasien und Universitäten<br />

rasch ansteigen, sodass ein ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung<br />

weit übersteigender Prozentsatz junger<br />

Juden eine qualifizierte Ausbildung erwarb» 10 und damit<br />

auch ein sozialer Aufstieg erfolgte.<br />

Dies hatte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

den – in den folgenden Jahrzehnten noch deutlich<br />

zunehmenden – merklichen Einfluss einer liberalen,<br />

wohlhabenden und gebildeten Judenschaft in den<br />

Bereichen Wirtschaft und Kultur zur Folge. 1848 fielen<br />

die Mauern des Gettos, und die Juden erlangten die volle<br />

Gleichberechtigung als Untertanen der Habsburgermonarchie<br />

mit allen bürgerlichen Rechten wie die übri-<br />

Der Umstand, dass eine zunehmende Bevölkerung<br />

auf einem unerbittlich eng begrenzten Raum leben musste,<br />

hatte eine im Laufe der Jahrhunderte immer dichtere<br />

und verschachteltere Bebauung zur Folge, die zudem<br />

durch Erbteilung in immer kleinere Besitztümer und Anrechte<br />

zersplittert wurde. «Es war nicht möglich, außerhalb<br />

des Gettos Grundbesitz zu erwerben; daher war das<br />

Interesse an Grund- oder Hausbesitz außerordentlich<br />

groß. Die Folge davon war die Realerbteilung von Häusern<br />

und deren Fortschritt zu geradezu lächerlich kleinen<br />

Teilen. Zu Beginn der Assanierung gab es 128 Häuser,<br />

die in – sozusagen – Besitzparzellen aufgeteilt waren. Die<br />

Aufteilung ging von wenigen Anteilen bis zu solchen, die<br />

Prager Judenstadt vor der Assanierung Ende des 19. Jahrhunderts: Maiselgasse mit Jüdischem Rathaus (links),<br />

Dreibrunnenplatz (Mitte) und Neue Poststraße (rechts).<br />

ge Bevölkerung. Im Jahr 1861 wurde schließlich mit dem<br />

Juristen Wolfgang Wessely der erste Jude ordentlicher<br />

Professor an der Karlsuniversität, und zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts betrug der Gesamtanteil jüdischer Studenten<br />

an den beiden Universitäten rund 25 Prozent.<br />

Letzter namhafter Oberrabbiner Prags war Salomo<br />

Jehuda Rapoport (1790–1867), der als Begründer der<br />

modernen Judaistik gelten kann und mit dem «die Metamorphose<br />

des alten jüdischen Prag in das moderne<br />

vollzogen» wurde. 11 Er hinterließ der jüdischen Gemeinde<br />

circa 3000 Bücher und Handschriften, die den Grundstock<br />

der bis heute bestehenden öffentlichen jüdischen<br />

Bibliothek Prags bildeten.<br />

R e p r e s s a l i e n u n d V e r f o l g u n g · A u f g e k l ä r t e s J u d e n t u m<br />

wiederum unter vielen Besitzern geteilt waren. Sie umfassten<br />

Einzelanteile an einem Haus, etwa eine Kammer,<br />

einen Anteil am Flur oder Treppe und so weiter, und diese<br />

Anteile gehörten 20 bis 30 Besitzern.» 12<br />

Das Ergebnis war das schließlich sagenumwobene<br />

labyrinthische Prager Getto, dessen Ende mit dem Toleranzpatent<br />

Josephs II. eingeläutet wurde. Juden konnten<br />

ihren Wohnsitz nun frei innerhalb der Stadt wählen, und<br />

wer es vermochte, verließ das seit Mitte des 19. Jahrhundert<br />

offiziell «Josefstadt» benannte Viertel. Zurück blieb<br />

außer den Hütern der altehrwürdigen jüdischen Stätten<br />

die ärmere, in jeder Hinsicht unbewegliche Schicht. Ihr<br />

zuseiten nistete sich vor allem in den letzten Jahrzehnten<br />

237


238<br />

J u d e n s t a d t<br />

des 19. Jahrhunderts mehr und mehr die Prager Halbwelt<br />

ein, sodass das labyrinthische, kaum zu durchdringende<br />

Areal zunehmend zu einem einzigartigen, pittoresken,<br />

schwer verrufenen Spelunken- und Rotlichtbezirk<br />

verkam. Die sozialen und vor allem hygienischen Verhältnisse<br />

waren schließlich derart untragbar geworden, dass<br />

das ganze Viertel – es gab noch keine unesco-Liste des<br />

Weltkulturerbes – am Ende des 19. Jahrhunderts kurzerhand<br />

abgerissen wurde. Übrig blieben nur einige Synagogen,<br />

das jüdische Rathaus und der größere Teil des<br />

berühmten uralten Friedhofs. Auf dem freien Grund wurden<br />

nun neue, von großzügigen Neubauten mit zum Teil<br />

prachtvollen Fassaden gesäumte Straßen angelegt, vor<br />

allem der damals sehr moderne, «weltstädtische» Boulevard<br />

der Pariser Straße, welcher vom Altstädter Ring geradewegs<br />

zur Moldau und zur Svatopluk-Brücke (Niklasbrücke)<br />

führt.<br />

Derjenige Teil der jüdischen Bevölkerung, der sich<br />

seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – aus Wahlverwandtschaft<br />

oder Karrieregründen – der deutschen Sprache<br />

und Kultur zugewandt hatte, geriet bald in den Sog des<br />

in eben jener Zeit beginnenden tschechisch-deutschen<br />

Nationalitätenkonflikts. Um 1900 lebten rund 25 000<br />

Juden in Prag, davon sprachen 14 000 tschechisch und<br />

11 000 deutsch. Diesen standen circa 10 000 nichtjüdische<br />

Deutsche zur Seite und 415 000 Tschechen. «Die Söhne<br />

der letzten Generation fanden in Prag eine immer dramatischer<br />

abbröckelnde deutsche Insel vor, die von der rasch<br />

wachsenden nüchternen Hauptstadt eines tschechischen<br />

Böhmens vollkommen verdrängt zu werden drohte: Gaben<br />

im Jahre 1860 noch 50 Prozent der Prager Bevölkerung<br />

die deutsche Nationalität an, waren es 1880 nur<br />

noch 15 Prozent, 1890 zwölf Prozent, 1900 ganze sieben<br />

Prozent. Sie wurden in eine anachronistische, im Zeitalter<br />

der immer aggressiver um sich schlagenden Radikalismen<br />

an bürgerlichen Idealen alter Prägung festhaltende liberale<br />

Enklave hineingeboren. Die Väter dieser Juden glaubten<br />

noch fest an die selbst erarbeitete soziale Stellung und<br />

die eigene Assimilation und wurden doch von außen immer<br />

wieder an ihre jüdische Wurzeln erinnert.» 13<br />

Trotz ihrer zahlenmäßig deutlichen Unterlegenheit<br />

hatten die Deutschen – Juden oder nicht – einen unver-<br />

hältnismäßig großen Anteil an Schlüsselpositionen in<br />

Wirtschaft und Verwaltung inne. So richtete sich der<br />

zunehmend sich verschärfende Kampf gegen diese Zustände<br />

vonseiten radikaler tschechischer Kreise auch gegen<br />

die Juden, die zudem wegen ihrer besonderen Treue<br />

zu Kaiser und Habsburger Monarchie verdächtig waren.<br />

«Der Jude als deutscher Jude war ein Schreckgespenst,<br />

das den tschechischen Antisemitismus kräftig förderte.»<br />

14 Daneben existierte ein Antisemitismus gewisser<br />

deutscher Kreise, vor allem unter den großenteils aus<br />

dem Sudetenland stammenden Studenten.<br />

Bald nach der Jahrhundertwende hielt auch der Zionismus,<br />

jene von Theodor Herzl begründete anti-assimilatorische<br />

jüdische Sammlungsbewegung mit dem Ziel<br />

einer jüdischen Wiederbesiedelung Palästinas, in Prag<br />

Einzug. Treibende Kraft war der zionistische Studentenverein<br />

Bar Kochba mit der Zeitschrift Selbstwehr. Prominente<br />

Vertreter des Prager Zionismus waren unter anderem<br />

Hugo Bergmann und Max Brod. In den Jahren 1909<br />

bis 1911 hielt Martin Buber in Prag seine einflussreichen<br />

Drei Reden über das Judentum.<br />

Doch gab es innerhalb der jüdischen Bevölkerung<br />

höchst unterschiedliche Haltungen. «Bereits um 1910<br />

bildeten sich in Prag alle denkbaren Positionen der Beziehung<br />

zu eigenen jüdischen Wurzeln heraus, von einer<br />

assimilatorischen Haltung, die sich nur durch das ‹jüdische<br />

Temperament› verriet, über konsequente Ablehnung<br />

des eigenen Judentums, den jüdischen Selbsthass<br />

weiningerscher Prägung, zum aktiven Zionismus und<br />

zum Interesse an der Welt der Orthodoxie und des Ostjudentums.<br />

Alle diese Positionen bildeten in der ersten<br />

Tschechoslowakischen Republik das typische Mosaik des<br />

jüdischen Prags außerhalb des Gettos, dem die Prager<br />

Literatur ein Denkmal baute.» 15<br />

Hans Kohn blickte als Redakteur der zionistischen<br />

Zeitschrift Selbstwehr auf die Einstellung seiner Generation<br />

um die Jahrhundertwende zurück: «Das Judentum<br />

war uns fremd, kaum eine ferne Legende. Juden,<br />

die nicht böhmische oder, im besten Falle, Wiener Juden<br />

waren, uns unbekannt. Wir waren vollkommen assimiliert<br />

an die deutsche Kultur jener Tage oder an den Ausschnitt,<br />

der unserem jüdischen Temperament nahe lag:


an den Logos- und den Diederichs-<strong>Verlag</strong>, an die Wiener<br />

süddeutsch-jüdische Mischkultur, an Dehmel und Rilke<br />

und Hofmannsthal, an die jüngste Lyrik, die damals in<br />

einer Reihe von Zeitschriften ihr schnell verblühendes<br />

Dasein führte: Und diese Zeitschriften lagen alle im Café<br />

Arco aus. Die Assimilation war für uns wie für alle eine<br />

Wirklichkeit, der Zionismus nur eine Geste oder ein Programm,<br />

das Judentum eine traditionell oder freudig bejahte<br />

Tatsache, noch nicht einmal ein Problem.» 16<br />

Judenhass und Genozid im 20. Jahrhundert<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg, dem Sturz der Habsburgermonarchie<br />

und der Errichtung der Tschechoslowakischen<br />

Republik entlud sich, nachdem es bereits 1897 zu<br />

antideutschen und antijüdischen Ausschreitungen gekommen<br />

war, 17 erneut der tschechische Volkszorn insbesondere<br />

gegen die jüdische Bevölkerung, die man zunehmend<br />

mit der deutschen gleichsetzte.<br />

«Das internationale Judentum wurde in erster Linie<br />

für den Krieg und vor allem für die erniedrigenden und<br />

finanziell lähmenden Bedingungen, zu denen der Frieden<br />

ausgehandelt wurde, verantwortlich gemacht. Einige<br />

tschechische Zeitungen gingen so weit, darauf zu dringen,<br />

das gesamte deutsche Eigentum zu konfiszieren und<br />

‹alle jüdischen und halbjüdischen Führer [...] im wahrsten<br />

Sinne des Wortes zu zerstampfen›. Am 16. November<br />

1920 fiel der Mob in das jüdische Viertel von Prag ein<br />

und stürmte das alte Rathaus.» 18<br />

Franz Kafka schrieb in jenen Tagen an Milena Jesenská:<br />

«Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen<br />

und bade im Judenhass. ‹Prašivé plemeno› [räudige Rasse]<br />

habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es<br />

nicht das Selbstverständliche, dass man von dort weggeht,<br />

wo man gehasst wird (Zionismus oder Volksgefühl<br />

ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht<br />

doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch<br />

nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.»<br />

Zwar konnten diese von radikalen Extremisten angefachten<br />

Exzesse, die für das tschechische Volk im Ganzen<br />

keineswegs typisch waren, bald eingedämmt werden.<br />

Doch wuchs im benachbarten Deutschland eine viel größere,<br />

die eigentliche, tödliche Gefahr heran: Im selben<br />

A u f g e k l ä r t e s J u d e n t u m · J u d e n h a s s u n d G e n o z i d i m 2 0 . J a h r h u n d e r t<br />

Jahr 1920 wurde dort die nsdap gegründet und damit<br />

der unaufhaltsame Aufstieg Adolf Hitlers eingeleitet,<br />

zu dessen Wahnideen von Beginn an die Ausrottung der<br />

«jüdischen Rasse» gehörte. Nachdem beim Münchner<br />

Abkommen vom September 1938 England und Frankreich<br />

die letzte Chance vertan hatten, Hitlers Imperialismus<br />

entgegenzutreten, und dann die deutsche Wehrmacht<br />

im März 1939 die Tschechoslowakische Republik<br />

überfallen hatte, brach für all jene Juden, die nicht<br />

rechtzeitig geflohen waren, und das war der ganz überwiegende<br />

Teil, eine kaum vorstellbare Schreckenszeit<br />

herein. Wie im Deutschen Reich und im «angeschlossenen»<br />

Österreich wurden die meisten Juden in die Konzentrationslager<br />

von Auschwitz, Ravensbrück oder (die<br />

Künstler) zunächst nach Theresienstadt deportiert, wo<br />

fast alle gezielt getötet wurden oder aufgrund der Haftbedingungen<br />

umkamen.<br />

Das unfassbare Geschehen kommentierte der Schriftsteller<br />

Oskar Wiener mit den Worten: «Es ist unglaublich.<br />

Ich habe immer Deutschland aufrichtig geliebt und jetzt<br />

muss ich so elend enden.» Max Brod geht auf das Thema<br />

aus der abgeklärteren Position seiner im Alter erschienenen<br />

Lebenserinnerungen ein: «Die große Begeisterung der<br />

Juden für deutsches Wesen, deutsche Kultur, Philosophie,<br />

Dichtung, ihr Patriotismus (zum Beispiel während des<br />

Ersten Weltkrieges) ist noch in allgemeiner Erinnerung,<br />

und die dann später eingetretene Kultur-Nacht periode<br />

bekam ihre schmerzlichsten Akzente dadurch, dass sich<br />

die Juden keiner Schuld bewusst waren, dass sie sich gegen<br />

das plötzliche grausame Ausgeschlossensein aus der<br />

deutschen Welt innerlich sträubten, und zwar aus Liebe<br />

sträubten. Dass zu all dem Monströsen, das sie zu erleiden<br />

hatten, auch noch das Unglück enttäuschter Wahlverbundenheit<br />

trat, bezeichnet die Höhe des Leids.»<br />

77 297 vernichtete Menschenleben sind namentlich<br />

an den Wänden der Pinkas-Synagoge dokumentiert. Die<br />

wenigen Überlebenden begannen nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

erneut ein bescheidenes Gemeindeleben, das bis<br />

heute fortbesteht. Doch waren durchaus nicht alle Rückkehrwilligen<br />

willkommen. «Die tschechischen Juden<br />

deutscher Sprache waren, sofern sie den Gaskammern<br />

der Nazis entkamen, in alle Winde verstreut. Wer zurück-<br />

239


240


kehren wollte, wurde – in Übereinstimmung mit Beneš –<br />

behandelt wie die Deutschen im Lande. Beneš erklärte<br />

1945, dass die Juden willige Werkzeuge der Deutschen<br />

gewesen seien und dass sie, um gleichberechtigt zu sein,<br />

für die Befreiung gekämpft haben müssten. Die deutschsprachigen<br />

Juden mussten um die tschechoslowakische<br />

Staatsbürgerschaft neu ansuchen. Sie bekamen ‹deutsche›<br />

Lebensmittelrationen und mussten Abzeichen tragen,<br />

die sie als Deutsche identifizierten. Die in der Tschechoslowakei<br />

geborene Germanistik-Professorin Wilma<br />

Abeles Iggers aus dem amerikanischen Buffalo schreibt in<br />

ihrem Buch Die Juden in Böhmen und Mähren: ‹Juden, die<br />

vor dem Krieg in deutschen oder ungarischen Turnvereinen<br />

organisatorisch tätig waren, waren von den Staatsbürgerschaftsrechten<br />

ausgeschlossen. Ausgeschlossen<br />

waren ferner auch Juden, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg<br />

zur jüdischen Nationalität bekannt hatten.›» 19<br />

Dass immerhin die Gebäude und Einrichtungen trotz<br />

des Naziterrors gegen die jüdische Bevölkerung erhalten<br />

geblieben sind, verdankt sich dem offenbar auf Hitler<br />

selbst zurückgehenden perversen Plan, in Prag ein «Museum<br />

einer ausgestorbenen Rasse» einzurichten. Zu diesem<br />

Zweck wurden hier auch sämtliche Kultgegenstände<br />

aus den zerstörten Synagogen des übrigen Landes zusammengeführt.<br />

Der größte Teil der jüdischen Einrichtungen Prags<br />

ist heute Bestandteil des Jüdischen Museums, und die<br />

Reste der «Judenstadt» gehören zu den größten Touristenattraktionen<br />

Prags. Doch die große, jahrhundertealte<br />

Geschichte einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinden<br />

Europas ist offenbar unwiederbringlich zu Ende. Damit<br />

ist auch ein Teil der Identität Europas verloren gegangen,<br />

woran das klarsichtige Wort des tschechischen<br />

Schriftstellers Milan Kundera erinnert: «Die Juden waren<br />

im 20. Jahrhundert das wichtigste weltbürgerliche Element,<br />

sie waren die Initiatoren Mitteleuropas.»<br />

Unter dem Dach der Altneu-Synagoge (rechts) soll Rabbi<br />

Löw den «entseelten» Körper des Golem eingeschlossen<br />

haben. – Die Thorarollen werden im steinernen Schrein an<br />

der Ostwand des Betraums aufbewahrt (linke Seite).<br />

J u d e n h a s s u n d G e n o z i d i m 2 0 . J a h r h u n d e r t · A l t n e u - S y n a g o g e<br />

Die Altneu-Synagoge, auch Altneuschul genannt, 20 hat<br />

als eines der ehrwürdigsten Gebäude der Stadt auch ihre<br />

eigenen Legenden. So sollen nach der Zerstörung des<br />

Tempels zu Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 n. Chr.<br />

einige Steine von Engeln nach Prag gebracht worden sein,<br />

die dann in die Grundmauern dieses Bethauses eingefügt<br />

wurden. Deshalb konnte dem Bau, der stets von Engeln<br />

beschützt blieb, auch keiner der oft verheerenden Brände<br />

des Gettos etwas anhaben.<br />

Aber ganz so alt sind Prag und die Synagoge nun<br />

doch nicht, denn die Historiker sagen, dass das Gottes-<br />

241


242<br />

J u d e n s t a d t<br />

haus um 1270 von den französischen, an der Zisterzienser<br />

gotik geschulten Baumeistern des unweit gelegenen<br />

Agnes-Klosters zeitgleich mit diesem errichtet<br />

wurde. Da bereits eine «Altschul» existierte, nannte man<br />

diese die «Neuschul». Als dann im 16. Jahrhundert zwei<br />

weitere Bethäuser gebaut wurden, bürgerte sich für die<br />

bisherige «Neuschul» die Bezeichnung «Altneuschul»<br />

beziehungsweise Altneu-Synagoge ein.<br />

Der eigentliche Betraum ist später an drei Seiten von<br />

Anbauten umgeben worden: einem Eingangsraum und<br />

– aus dem 17. Jahrhundert – zwei Frauenemporen. Über<br />

dem Eingang zum Innenraum zeigt das Relief des Türbogenfeldes<br />

ein schönes symbolisches Lebensbaummotiv<br />

in Form einer sich verzweigenden Weinranke mit zahlreichen<br />

Blättern und zwölf Wurzeln, den Symbolen der<br />

zwölf Stämme des Volkes Israel.<br />

Die zwei massiven Säulen des zweischiffigen Innenraums<br />

tragen die sechs Felder des hohen gotischen<br />

Kreuzrippen-Gewölbes. Ob die nur hier vorkommende,<br />

jeweils zur Wandmitte verlaufende höchst ungewöhnliche<br />

fünfte Kreuzrippe tatsächlich dadurch begründet ist,<br />

dass man hier die Kreuzform vermeiden wollte, ist nicht


eindeutig geklärt. Der zwischen den zwei Säulen durch<br />

Holzschranken und einem schmiedeeisernen Gitter (aus<br />

dem 15. Jahrhundert) ausgesparte Raum, das sogenannte<br />

Bimah oder Almemor, dient zum Vorlesen aus der<br />

Thora-Rolle, worauf das Pult hinweist. Um dieses Bimah<br />

sowie entlang der Wände bieten alte hölzerne Sitze den<br />

älteren Gemeindemitgliedern eine Sitzgelegenheit während<br />

der Gottesdienste. Die freskierten Inschriften an<br />

den Wänden sind den Psalmen, Prophetenbüchern und<br />

dem Talmud entnommen.<br />

Eine große rote Standarte in der Mitte des Raumes,<br />

die neben dem Davidsstern den Schwedenhut zeigt,<br />

wurde den Prager Juden von Kaiser Ferdinand III. für<br />

ihre Verdienste bei der Verteidigung der Prager Altstadt<br />

gegen die Schweden 1648 verliehen. In Prag kam das<br />

bereits in der griechischen und jüdischen Antike bekannte<br />

und im Mittelalter als Talisman gebräuchliche Sechseck-Symbol<br />

des sogenannten «Davidssterns» ab dem<br />

16. Jahrhundert als Erkennungszeichen der jüdischen<br />

Gemeinde beziehungsweise des Judentums in Gebrauch;<br />

von hier aus breitete es sich in ganz Europa und weltweit<br />

aus, bis es schließlich in die Nationalflagge des Staates<br />

Israel Eingang fand.<br />

An der Ostwand wird in einem von einem Vorhang<br />

verdeckten und mit zwei Metalltüren verschlossenen steinernen<br />

Thoraschrein (Aron ha-Kodesch) die Thorarolle<br />

aufbewahrt, welche in hebräischer Handschrift die fünf<br />

Bücher Moses enthält. Davor befindet sich eine kleine<br />

vertiefte Stelle, von der aus der Vorbeter beziehungsweise<br />

Vorsänger (Kantor) den jeweiligen Bibeltext vorträgt, gemäß<br />

dem Psalm 130: Aus der Tiefe rufe ich Herr zu Dir. Ein<br />

kleiner Fensterschlitz über dem Thoraschrein diente einst<br />

dazu, in der Abenddämmerung den ersten Stern auszumachen.<br />

Denn erst wenn dieser sichtbar ist (zumindest<br />

bei klarem Wetter), kann der Gottesdienst beginnen –<br />

Altneu-Synagoge: Vorraum (links unten), Tympanon mit<br />

Lebensbaummotiv in Form einer sich verzweigenden Weinranke<br />

(links oben) und Lesepult vor dem Thora­Schrein<br />

(rechts).<br />

A l t n e u - S y n a g o g e · J ü d i s c h e r F r i e d h o f<br />

falls mindestens zehn über dreizehnjährige männliche<br />

Besucher beisammen sind. Ein siebenarmiger Leuchter<br />

(Menorah) und ein «ewiges Licht» vervollständigen die<br />

notwendige Ausstattung des nach wie vor genutzten<br />

Bethauses.<br />

Nach der Zerstörung der romanischen Synagoge in<br />

Worms durch die Nationalsozialisten ist die Prager Altneu-Synagoge<br />

die älteste erhaltene in Europa.<br />

Auch hinter der auffallend hohen, aus Ziegelsteinen<br />

gemauerten Giebelwand aus dem 15. Jahrhundert ist<br />

eine bekannte Prager Sage angesiedelt, soll doch dort,<br />

auf dem nur von außen zugänglichen Dachboden, seit<br />

den Tagen des Hohen Rabbi Löw der «entseelte» Lehmkörper<br />

des Golem liegen. Der Rabbi habe für alle Zeiten<br />

das ausdrückliche Verbot erlassen, dass jemals wieder ein<br />

Mensch den Dachboden betrete. Egon Erwin Kisch hat<br />

sich nach vielen Mühen dennoch die Erlaubnis verschafft<br />

und ist die (einst auf behördliche Anweisung an der Außenmauer<br />

angebrachten) Eisensprossen hinaufgeklettert<br />

... Über diese spektakuläre Aktion berichtet er in seiner<br />

Reportage Dem Golem auf der Spur. Červená 2<br />

Jüdischer Friedhof · Der romantisch anmutende Friedhof<br />

des ehemaligen Gettos, heute eine der wichtigsten<br />

Touristenattraktionen Prags, ist das Ergebnis peinlichsten<br />

Platzmangels. Ohne die Möglichkeit der Ausbreitung<br />

bei steigender Zahl der Gettobewohner, konnte die Erweiterung<br />

nur in senkrechter Richtung erfolgen. Immer<br />

wieder musste neue Erde aufgeschüttet werden, um die<br />

Toten wirklich «beerdigen» zu können. So wuchs die Begräbnisstätte,<br />

von den Juden Beth Chaim, Haus des Lebens,<br />

genannt, im Laufe der Jahrhunderte stetig in die<br />

Höhe (auch weil nach jüdischem Glauben die Auflassung<br />

von Gräbern nicht gestattet ist) mitsamt den Grabsteinen,<br />

die immer wieder mit nach oben versetzt wurden,<br />

und es bildete sich die charakteristische, von hohen Bäumen<br />

und Holunderbüschen beschattete Hügellandschaft<br />

aus mit den rund zwölftausend Grabsteinen unterschied-<br />

licher Größe und Form – der älteste erhaltene von 1439,<br />

der jüngste von 1787. Die Zahl der hier ruhenden Toten<br />

ist allerdings viel höher, schätzungsweise sind es zwanzigtausend.<br />

243


244<br />

J u d e n s t a d t<br />

Die hebräischen Inschriften der Grabsteine nennen<br />

den Namen des hier Bestatteten, den seines Vaters, bei<br />

Frauen auch den des Ehemanns, ferner das Datum von<br />

Tod und Bestattung. Oft ist ein bildliches Namenssymbol<br />

beigefügt, etwa Hirsch, Wolf, Karpfen, Fuchs, Bär,<br />

Hahn oder auch Berufssymbole wie Mörser für den Apotheker,<br />

Pinzette für den Arzt, Schere für den Schneider;<br />

einem Gelehrten wird dagegen nicht selten eine Krone<br />

verliehen. Die Weintraube weist auf einen Angehörigen<br />

des israelitischen Stammes Juda, während der Krug den<br />

Nachkommen der Leviten zugehörig ist, die die Aufgabe<br />

hatten, vor dem Gottesdienst den Priestern die Hände<br />

zu waschen. Die im Segensgestus erhobenen Hände sind<br />

dem Priestergeschlecht der Kohanim vorbehalten, von<br />

dem sich die Namen Cohen und Kohn herleiten.<br />

Darüber hinaus findet sich auf den Grabsteinen in<br />

der Regel eine allgemeine, aber oft poetische Formel wie<br />

«Seine Seele ging von dannen in Heiligkeit und Reinheit»,<br />

«Ihre Seelen stiegen empor in die Wohnsitze der Höhen»<br />

oder «Seine Seele kehrte zurück zum Herrn». Zuletzt<br />

findet sich in der Regel noch eine – oft schmeichelhafte<br />

– Bemerkung über die guten Eigenschaften des Dahingegangenen:<br />

«Im Himmel beliebt und den Menschen<br />

ein Schmuck», «Seine Hände streckte er den Armen ent-<br />

gegen» oder einfach «Wer zählt seine Vorzüge auf?». Bei<br />

Frauen heißt es dagegen beispielsweise «Eine Frau weisen<br />

Herzens», «Almosen gab sie im Verborgenen» oder einfach<br />

nur «Die Liebliche».<br />

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kam die repräsentative<br />

Grabtumba auf, die sich nur wenige leisten konnten.<br />

Die älteste ist jene des Mordechai Maisel (gestorben<br />

1601), doch das bekannteste aller Grabmäler des Friedhofs<br />

ist natürlich jenes des Hohen Rabbi Löw, in dem auch<br />

seine Frau ruht. In der ausführlichen Grabschrift, die jeweils<br />

die Hälfte der Vorder- und Rückseite der Tumba bedeckt,<br />

werden seine Verdienste gebührend gewürdigt:<br />

«Rabbi Jehuda, Sohn des Bezalel / Der Löwe, gewaltig<br />

bei den Oberen und Unteren / er drang ein mit Erlaubnis<br />

und ohne solche / jeden Paradiesesgarten betrat<br />

und durchschritt er unversehrt / weiser war er als jeder,<br />

der die Lehre empfängt und deutet / nichts ließ er unbeachtet<br />

/ Kleines und Großes sammelte und vereinte er<br />

/ Werke verfasste er ohne Ende / und den Ertrag seines<br />

Feldes / wahren mehr als fünfzehn Werke / eine anmutige<br />

Perlenschnur seiner Wangen / schriftliche Lehre und<br />

Überlieferung vereinte er im Bausch seines Gewandes /<br />

in jeglicher Wissenschaft und Erkenntnis war seine Hand<br />

erhoben / den Kindern seiner Zeit bot er das Brot der Er-


habenen / in der Beantwortung der Fragen siegreich und<br />

treffend / in der Eröffnung neuer Erkenntnisse in allen<br />

sechs Ordnungen / des Talmud, der Erklärung Raschis<br />

und der Tossafisten zeigen sie seine Gewalt / in Erörterungen<br />

seltenen Scharfsinns / für die, die Erkenntnis<br />

Gottes und der Menschen fördern / die Augen der Hebräer<br />

erleuchtete er / und darüber hinaus, dass seine Weisheit<br />

mächtig war unter den Mächtigen / lehrte er nach<br />

Einsicht die Eifrigen und Bedächtigen / mit Überlegung<br />

und Untersuchung traf er vielfache Verordnungen, zum<br />

Schutze biblischer und rabbinischer Bestimmungen / die<br />

Worte der Weisheit wie Zeltpflöcke / und so ordnete er<br />

das Lager von der Stadt für spätere Geschlechter / Wehe,<br />

der Fromme! Wehe, der Demütige / so rufen sie sich gegenseitig<br />

an.»<br />

Die jeweils andere Hälfte ist dem Lobpreis seiner Frau<br />

vorbehalten: «Ein wackeres Weib, die Krone ihres Gatten,<br />

sein Herz vertraute auf sie bei Zerstreuung und Verbindung<br />

/ lieblich waren ihre Werke wie Räucherwerk / unter<br />

den Frauen der Gezelte ist sie gesegnet in Herrlichkeit<br />

/ wie bei Sara und Riwka umzog sich für sie der Him-<br />

mel mit Wolken / auf der Zubereitung ihres Teiges ruhte<br />

der Segen / von Sabbat zu Sabbat brannte ihr Licht / wie<br />

Lea und Rachel war sie des Hauses Wurzel / zum Dienste<br />

J ü d i s c h e r F r i e d h o f<br />

und zur Bemühung für den, der den Himmel mit dem<br />

Spann errechnete.»<br />

Alle diese Grabinschriften sind in ihrer Gesamtheit<br />

eine bedeutende Geschichtsquelle. «Sie enthalten eine<br />

ganze Reihe von Wörtern und Wendungen, die sonst nirgends<br />

belegt sind und die Grundlage für das Studium der<br />

hebräischen Sprache in einer Zeitspanne von vier Jahrhunderten<br />

bildeten.» 21 Es existieren von allen diesen Tausenden<br />

von Inschriften handschriftliche Kopien, die im<br />

jüdischen Archiv aufbewahrt werden.<br />

Blumen als Grabschmuck sind auf jüdischen Friedhöfen<br />

unbekannt, aber es fallen einem hier auf etlichen<br />

Grabsteinen oder -tumben, besonders jener des Rabbi<br />

Löw, einzelne oder gar Häufchen kleiner Steine auf. Was<br />

es damit für eine Bewandtnis hat, erzählt der vielbewanderte<br />

Egon Erwin Kisch:<br />

«Vor Jahrtausenden hatte man über die Gräber derer,<br />

die auf der Wanderung Israels durch die Sahara tot<br />

245<br />

Rund zwölftausend Grabsteine aus vier Jahrhunderten von unterschiedlichster<br />

Größe und Form bedecken die von Bäumen und Büschen beschattete<br />

Hügellandschaft des Jüdischen Friedhofs. Aus ihrer namenlosen Vielzahl<br />

ragt die Grabtumba des Rabbi Löw hervor (linke Seite, rechts).


246<br />

J u d e n s t a d t<br />

niedergebrochen waren, Steine gewälzt, damit es Geiern<br />

und Hyänen nicht gar zu leicht werde, den Leichnam aus<br />

dem Wüstensand zu scharren; jedes Nachzüglers fromme<br />

Pflicht war es, auf gleiche Weise den Toten vor dem<br />

Raubtier zu schützen. Durch die Unendlichkeit der Zeitalter<br />

hatte sich diese Maßnahme als Brauch erhalten, hier<br />

ist diese Jahrtausende alte Sitte seit fünf Jahrhunderten<br />

noch in Geltung, aus dem Mittelalter kann ein Steinchen<br />

stammen, das neben einem von heute Morgen liegt.» 22<br />

Die besondere «magische» Atmosphäre des Friedhofs,<br />

für den Prager Willy Haas «der schönste und geheim-<br />

nisvollste der Welt», inspirierte, was kaum verwundert,<br />

nicht wenige Dichter und Schriftsteller. Schönstes Beispiel<br />

ist wohl die 1863 erschienene Erzählung Holunderblüte<br />

von Wilhelm Raabe, Frucht seines Pragbesuchs vier<br />

Jahre zuvor. Diese anmutige, in ihrem Ausgang aber doch<br />

molldunkle Geschichte von der Begegnung eines Studenten<br />

mit einem jungen Mädchen aus dem Getto, einer Art<br />

jüdischer Mignon, auf dem alten Friedhof und ihrer folgenden<br />

zart-schwebenden Freundschaft beschwört die<br />

geheimnisvoll-poetische Atmosphäre ihres Schauplatzes<br />

um die Mitte des 19. Jahrhunderts herauf. Nachdem der<br />

Erzähler durch «das namenlose Gewirr von Gassen und<br />

Gässchen» und «die abscheulichsten Winkel, Gassen und<br />

Durchgänge» des alten Gettos, gar «durch das schmutzigste<br />

Labyrinth, welches die menschliche Phantasie sich<br />

vorstellen kann» endlich «zu der Pforte, welche in das<br />

schauerliche, oft beschriebene Reich des tausendjährigen<br />

Staubes führt», gefunden hat, ist er – zunächst – allein<br />

auf dem Friedhof:<br />

«Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten<br />

Steintafeln und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen<br />

Äste drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte<br />

in den engen Gängen und sah die Krüge von Levi,<br />

die Hände Aarons und die Trauben Israels. Zum Zeichen<br />

meiner Achtung legte ich, wie die andern, ein Steinchen<br />

auf das Grab des Hohen Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel.<br />

Dann saß ich nieder auf einem schwarzen Steine aus dem<br />

vierzehnten Jahrhundert, und der Schauer des Ortes<br />

kam in vollstem Maße über mich.<br />

Seit tausend Jahren hatten sie hier die Toten des<br />

Volkes Gottes zusammengedrängt, wie sie die Lebenden<br />

eingeschlossen hatten in die engen Mauern des Getto. Die<br />

Sonne schien wohl, und es war Frühling, und von Zeit zu<br />

Zeit bewegte ein frischer Windhauch die Holunderzweige<br />

und -blüten, dass sie leise über den Gräbern rauschten<br />

und die Luft mit süßem Duft füllten; aber das Atmen wur-<br />

Grabtumba des Rabbi Löw auf dem Jüdischen Friedhof.<br />

Uhren des Jüdischen Rathauses mit hebräischen und<br />

lateinischen Ziffern (rechte Seite).


de mir doch immer schwerer, und sie nennen diesen Ort<br />

Beth-Chaim, das Haus des Lebens?!<br />

Aus dem schwarzen, feuchten, modrigen Boden, der<br />

so viele arg geplagte, misshandelte, verachtete, angstgeschlagene<br />

Generationen lebendiger Wesen verschlungen<br />

hatte, in welchem Leben auf Leben versunken war wie in<br />

einem grundlosen, gefräßigen Sumpf, – aus diesem Boden<br />

stieg ein Hauch der Verwesung auf, erstickender als<br />

von einer unbeerdigten Walstatt, gespenstisch genug, um<br />

allen Sonnenglanz und allen Frühlingshauch und allen<br />

Blütenduft zunichte zu machen.<br />

Ich habe schon erzählt, dass ich in dieser Zeit meines<br />

Lebens ein toller, wilder Geselle war; aber das Gefühl,<br />

welches mich an dieser Stelle erfasste, enthielt die Bürgschaft<br />

dafür, dass ich noch ernst genug werden könne.<br />

Immer tiefer sank mir die Stirn herab, als ich plötzlich<br />

dicht neben mir – über mir ein kindlich helles Lachen<br />

hörte, welches ich schon einmal vernommen hatte. Dieses<br />

Mal erschreckte es mich fast, und als ich schnell aufsah,<br />

erblickte ich ein liebliches Bild. In dem Gezweig<br />

eines der niedern Holunderbüsche, die, wie schon gesagt,<br />

das ganze Totenfeld überziehen, – mitten in den<br />

Blüten, auf einem der wunderlichen, knorrigen Äste,<br />

welche die Pracht und Kraft des Frühlings so reich mit<br />

Grün und Blumen umwunden hatte, saß das neckische<br />

Kind, welches mir vorhin so schlecht den Weg hierher<br />

gewiesen hatte, und schelmisch lächelte es herab auf den<br />

deutschen Studenten. Als ich aber die Hand nach dem<br />

Spuk ausstreckte, da war er blitzschnell verschwunden,<br />

und einen Augenblick später sah das lachende bräunliche<br />

Gesicht, umgeben von schwarzem Gelock, um das<br />

Grab des Hohen Rabbi, als wolle es mich von neuem verlocken,<br />

und zwar zu einer Jagd über den alten Totenort.<br />

Aber dieses Mal ließ ich mich nicht verleiten; denn ich<br />

wusste klar, dass es mir doch nichts nutzen würde, wenn<br />

ich dem Ding nachspränge. In die Erde, in den schwarzen<br />

Boden hätte es sich verloren, oder, noch wahrscheinlicher,<br />

in die Holunderblüten über den Gräbern wäre es<br />

verschwunden. Wie angewurzelt stand ich auf meinen<br />

Füßen und traute dem hellen Tag, der glänzenden Mittagsstunde<br />

nicht im mindesten.»<br />

Else Lasker-Schüler ließ sich während ihres Prag-<br />

Aufenthalts 1915 zu einem Gedicht inspirieren:<br />

Der alte Tempel in Prag<br />

Tausend Jahre zählt der Tempel schon in Prag;<br />

Staubfällig und ergraut ist längst sein Ruhetag<br />

Und die alten Väter schlossen seine Gitter.<br />

Ihre Söhne ziehen nun in die Schlacht.<br />

Der zerborstene Synagogenstern erwacht,<br />

Und er segnet seine jungen Judenritter.<br />

Wie ein Glücksstern über Böhmens Judenstadt,<br />

Ganz aus Gold, wie nur der Himmel Sterne hat.<br />

Hinter seinem Glanze beten wieder Mütter.<br />

J ü d i s c h e r F r i e d h o f<br />

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