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Die Bestimmung des Menschen

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Wolfhart Pannenberg<br />

<strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Menschen</strong><br />

Menschsein, Erwählung und Geschichte<br />

Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1443<br />

Vandenhoeck & Ruprecht


WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

WOLFHART PANNENBERG<br />

<strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

Menschsein, Erwählung und Geschichte<br />

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN<br />

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233


WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

Wolfhart Pannenberg<br />

Geboren am 2. 10. 1928 in Stettin (Pommern), Studium der Theologie<br />

und Philosophie in Berlin, Göttingen, Basel und Heidelberg;<br />

Dr. theol. 1953 Heidelberg, Habilitation dort 1955, Prof. f. Systematische<br />

Theologie 1958 Kirchl. Hochschule Wuppertal, 1961<br />

Univ. Mainz, 1967 Univ. München, dort Vorstand <strong>des</strong> Instituts für<br />

Fundamentaltheologie und ökumenische Theologie.<br />

Veröffentlichungen: <strong>Die</strong> Prä<strong>des</strong>tinationslehre <strong>des</strong> Duns Skotus,<br />

1953; Offenbarung als Geschichte (mit R. und T. Rendtorff u. U.<br />

Wilckens) 1961, 4. Aufl. 1964; Was ist der Mensch? KVR 1139,<br />

1962, 5. Aufl. 1976; Grundzüge der Christologie, 1964, 5. Aufl.<br />

1976; Grundfragen systematischer Theologie, 1967, 2. Aufl. 1971;<br />

Erwägungen zu einer Theologie der Natur (mit A. M. K. Müller)<br />

1970; Thesen zur Theologie der Kirche, 1970, 2. Aufl. 1974; Theologie<br />

und Reich Gottes, 1971; Das Glaubensbekenntnis, 1972, 2.<br />

Aufl. 1974; Gottesgedanke und menschliche Freiheit, 1972;<br />

Christentum und Mythos, 1972; Wissenschaftstheorie und Theologie,<br />

1973, 2. Aufl. 1977; Gegenwart Gottes. Predigten, 1973;<br />

Glaube und Wirklichkeit. Kleine Beiträge zum christlichen Denken,<br />

1975; Ethik und Ekklesiologie, 1977.<br />

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek<br />

Pannenberg, Wolfhart<br />

[Sammlung ]<br />

<strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>: Menschsein, Erwählung<br />

u. Geschichte. - 1. Aufl. - Göttingen: Vandenhoeck<br />

und Ruprecht, 1978.<br />

(Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1443)<br />

ISBN 3-525-33423-0<br />

Kleine Vandenhoeck-Reihe 1443<br />

Umschlag: Hans-<strong>Die</strong>ter Ullrich. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen<br />

1978. Alle Rechte vorbehalten. - Ohne ausdrückliche Genehmigung <strong>des</strong><br />

Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photo- oder<br />

akustomechanischem Wege zu vervielfältigen.<br />

Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei E. Rieder, Schrobenhausen<br />

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233


WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

INHALT<br />

Vorwort 5<br />

1. <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Individuums in der christlichen Lehre<br />

vom <strong>Menschen</strong> 7<br />

2. <strong>Die</strong> gesellschaftliche <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> und die<br />

Kirche 23<br />

3. Erwählung und Volk Gottes 41<br />

4. Das christliche Imperium und das Phänomen einer<br />

politischen Religion im Christentum 61<br />

5. Erwählung und Geschichte 85<br />

Nachwort 114<br />

Anmerkungen 118<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

VORWORT<br />

<strong>Die</strong> Fragen nach der Natur und <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> gehören<br />

eng zusammen. Wer oder was er eigentlich sei, das sagt dem <strong>Menschen</strong><br />

noch nicht die eigentümliche Struktur seiner biologischen Lebensform,<br />

noch auch die Soziologie und Psychologie seines Verhaltens.<br />

Um zu erfahren, wer oder was wir sind, müssen wir wissen, wozu wir da<br />

sind, wohin wir in unserer Geschichte unterwegs sind. Gerade das<br />

Christentum hat die Frage nach der Wesensnatur <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> im<br />

Lichte seiner an Jesus Christus offenbaren <strong>Bestimmung</strong> zu beantworten<br />

versucht. <strong>Die</strong> christliche Erfahrung hat das Selbstverständnis <strong>des</strong><br />

<strong>Menschen</strong> in seinem individuellen und gesellschaftlichen Dasein tiefer<br />

beeinflußt als uns oft bewußt ist, bis tief in die elementaren und<br />

scheinbar rein säkularen Auffassungen menschlicher Personalität und<br />

gesellschaftlicher Verantwortung. Das ist das Thema der beiden ersten<br />

Kapitel dieses Buches. Damit ist zugleich der Boden vorbereitet für<br />

die in den folgenden drei Kapiteln versuchte Neuformulierung <strong>des</strong><br />

Erwählungsgedankens als Schlüssel zur Geschichte <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> auf<br />

dem Wege zu seiner <strong>Bestimmung</strong>. Dabei handelt es sich nicht um ein<br />

abstraktes Thema theologischer Gelehrsamkeit, sondern um ein Motiv,<br />

das wie ein roter Faden die durch das Christentum bestimmte Kulturgeschichte<br />

und vor allem auch die politische Geschichte unserer<br />

Welt durchläuft bis hin zu dem politischen und religiösen Ringen unseres<br />

gegenwärtigen Zeitalters.<br />

<strong>Die</strong> fünf Kapitel <strong>des</strong> Ban<strong>des</strong> wurden in den Jahren 1975 und 1976 an<br />

verschiedenen Universitäten und Hochschulen der USA und Englands<br />

als Vorlesungen vorgetragen und 1977 auf Englisch veröffentlicht.<br />

Besonders die ersten beiden Kapitel tragen noch Spuren ihrer<br />

Entstehung als Beitrag zu einer methodistischen Pfarrerkonferenz in<br />

Claremont (Kalifornien) über „Spirituelle Erneuerung und weltweite<br />

Verantwortung“. Bei der Publikation <strong>des</strong> Ban<strong>des</strong> gedenke ich dankbar<br />

der amerikanischen und englischen Freunde, Studenten und Kollegen,<br />

die mir jene Monate im Herbst und Winter 1975/76 unvergeßlich<br />

werden ließen. Darüber hinaus danke ich den Herren Professoren<br />

Eckhart Mühlenberg, Robert Wilken, Hans Hillerbrand, Trutz Rend-<br />

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torff, Hans Freiherr v. Campenhausen, Ulrich Wilckens und Klaus<br />

Koch für ihre kritische Lektüre <strong>des</strong> Manuskripts. Ohne ihre Kritik und<br />

ihren Rat wäre meine historische und systematische Argumentation in<br />

vielen Punkten verwundbarer geblieben als sie es ohnehin sein mag.<br />

Zu besonderem Dank bin ich meinem Münchner Kollegen Prof.<br />

Wolf-<strong>Die</strong>ter Hauschild verpflichtet, mit dem ich im Winter 1973/74<br />

ein gemeinsames Seminar über „Erwählung und Geschichte“ hielt, bei<br />

dem er meine Aufmerksamkeit auf einige der in der vierten Vorlesung<br />

diskutierten Texte richtete. Herrn Dr. Reinhard Leuze gebührt Dank<br />

für seine Mitwirkung bei den Korrekturen.<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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Wolfhart Pannenberg


WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

1. DIE BEDEUTUNG DES INDIVIDUUMS IN DER<br />

CHRISTLICHEN LEHRE VOM MENSCHEN<br />

<strong>Die</strong> traditionelle christliche Anthropologie hat sich auf zwei zentrale<br />

Gedanken konzentriert: auf das Verständnis <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> als Ebenbild<br />

Gottes und auf den Begriff der Sünde, die auf den Fall Adams zurückgeführt<br />

wurde. <strong>Die</strong>se beiden Themen haben jedoch niemals das<br />

christliche <strong>Menschen</strong>verständnis erschöpfend zum Ausdruck gebracht.<br />

Für sich genommen bezeichnen sie noch nicht einmal das unterscheidend<br />

Christliche in der theologischen Anthropologie. Das<br />

Verständnis <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> als nach dem Bilde Gottes geschaffen geht<br />

auf das Alte Testament zurück, und Gleiches gilt vom Gedanken der<br />

menschlichen Sündhaftigkeit. Sicherlich ist die christliche Anthropologie<br />

durch charakteristische Modifikationen dieser beiden Gedanken<br />

gekennzeichnet, aber um diese Modifikationen richtig zu würdigen,<br />

muß man sich zunächst nach dem unterscheidend Christlichen im Verständnis<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> fragen. <strong>Die</strong>s ist nun sicherlich in der christlichen<br />

Behauptung zu finden, daß der Mensch durch Christus mit Gott<br />

versöhnt worden ist. Der Gedanke der Versöhnung durch Christus erklärt<br />

die Modifikationen, die die Begriffe der Gottebenbildlichkeit<br />

und der Sündhaftigkeit <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> im christlichen Denken erfahren<br />

haben: Der Botschaft von der durch Jesus Christus vollbrachten<br />

Versöhnung <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> mit Gott würde die von ihr beanspruchte<br />

universale Tragweite fehlen, wenn nicht ohne Christus alle <strong>Menschen</strong><br />

der Knechtschaft der Sünde verfallen wären. <strong>Die</strong> Offenbarung der<br />

Allgemeinheit der Sünde im Kreuz Jesu stellt die Voraussetzung für<br />

die Universalität der Erlösung dar, die durch dieses Geschehen vollbracht<br />

wurde. Andererseits führte der Gedanke der Universalität der<br />

Erlösung zu der christlichen Behauptung, daß erst durch Christus die<br />

wahre <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> als solchen verwirklicht wird. Wenn<br />

diese göttliche <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> auch bereits dadurch bezeichnet<br />

ist, daß er nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, so ist ihre<br />

Verwirklichung doch erst durch Christus erfolgt, so daß nun durch ihn<br />

die Teilhabe daran allen <strong>Menschen</strong> offensteht.<br />

Letzten En<strong>des</strong> wird die spezifisch christliche Perspektive menschlicher<br />

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Existenz also durch den Gedanken der Versöhnung <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> in<br />

Christus bestimmt. <strong>Die</strong> christliche Kirche beansprucht für diese Versöhnungsbotschaft<br />

bis zum heutigen Tage allgemeine Gültigkeit für<br />

die gesamte Menschheit. <strong>Die</strong>ser Anspruch hat die missionarische Aktivität<br />

der Christen motiviert und zur Ausbreitung der christlichen<br />

Botschaft über die ganze Erde geführt. Doch wie ist dieser Anspruch<br />

zu begründen? Warum sollten sich <strong>Menschen</strong> nach Versöhnung mit<br />

Gott sehnen, wenn sie sich gar nicht als Sünder fühlen? <strong>Die</strong> Strategie<br />

der christlichen Missionspredigt pflegte den vollen Ernst dieser Frage<br />

zu umgehen. Statt <strong>des</strong>sen belehrte man die Leute, daß es nur einen<br />

einzigen wahren Gott gibt, der aber den <strong>Menschen</strong> zürnt, weil sie gegen<br />

ihn gesündigt haben, und nur durch das Werk Christi in seinem<br />

Zorn besänftigt wird. Als <strong>Menschen</strong> unserer Zeit fragen wir uns jedoch,<br />

ob dies wirklich der wahre Gott ist, wenn überhaupt ein Gott<br />

existiert. Gibt es Argumente, die diese Frage beantworten könnten?<br />

Gibt es irgendwelche Kriterien zur Beurteilung der Antworten, die<br />

man auf diese Frage gegeben hat oder geben könnte? Ich meine, daß<br />

ein solches Kriterium in der erhellenden Kraft gefunden werden kann,<br />

die von diesem oder jenem Gottesverständnis ausgeht. Das Kriterium<br />

wird angewendet, wenn man fragt, wie ein bestimmtes Gottesverständnis<br />

unser Verständnis der Wirklichkeit und speziell <strong>des</strong> menschlichen<br />

Lebens erleuchtet hat und erleuchtet. Wenn der Gott einer bestimmten<br />

religiösen Überlieferung wirklich, wie seine Gläubigen behaupten,<br />

der einzige Ursprung und Schöpfer <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> und seiner<br />

Welt ist, dann sollte seine Offenbarung uns ein tieferes und umfassenderes<br />

Verständnis von Mensch und Welt, wie sie unserer Erfahrung<br />

zugänglich sind, ermöglichen.<br />

Wendet man nun dieses Kriterium auf die christliche Lehre vom <strong>Menschen</strong><br />

an, so ist zu fragen: In welcher Weise hat das christliche Verständnis<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> als durch Jesus Christus mit Gott versöhnt tatsächlich<br />

die menschliche Existenz und das Selbstverständnis <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

in seiner Welt erleuchtet und verändert? Was hat die christliche<br />

Botschaft zur menschlichen Selbsterfahrung beigetragen?<br />

<strong>Die</strong> These dieses Kapitels ist, daß die ewige Bedeutung <strong>des</strong> Individuums<br />

und <strong>des</strong> individuellen Lebens einer der wichtigsten Beiträge <strong>des</strong><br />

Christentums zur Erfahrung der Struktur menschlicher Existenz, wie<br />

auch zur Entwicklung <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> gewesen ist. <strong>Die</strong>ser Gedanke<br />

steht in einer direkten Beziehung zur Verkündigung Jesu von der versöhnenden<br />

Liebe Gottes, der sich um jeden einzelnen <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

kümmert wie ein Kleinviehhalter, der dem einen Schaf, das er verlor,<br />

nachgeht, bis er es findet, wie die arme Frau, die ihr ganzes Haus<br />

durchsucht, bis sie das verlorene Geldstück gefunden hat, und wie der<br />

Vater, der sich über die Rückkehr seines verlorenen Sohnes freut. Das<br />

Bild <strong>des</strong> Gottes, der mit ewiger Liebe jeden einzelnen <strong>Menschen</strong><br />

sucht, der verloren ging, verlieh dem menschlichen Individuum einen<br />

ewigen Wert und eine Würde, die bis dahin ohne Beispiel war.<br />

Natürlich ist dieser Gedanke nicht ohne Vorbereitung in der Geschichte<br />

aufgetreten. Er hat seine Wurzeln im altjüdischen Humanismus<br />

und in der jüdischen Geschichte. Eine wichtige Voraussetzung für<br />

seinen Durchbruch in der Botschaft Jesu war der Glaube an eine Zukunft<br />

<strong>des</strong> Individuums über seinen Tod hinaus, wie er im nachexilischen<br />

Judentum entwickelt worden war. Vor der Zeit <strong>des</strong> Exils wurde<br />

dem einzelnen, abgesehen von seiner Teilnahme am Gemeinschaftsleben<br />

<strong>des</strong> Volkes, kein letzter Wert zugeschrieben. Wie Sünden und<br />

Verfehlungen <strong>des</strong> einzelnen dem ganzen Volk schadeten, so galt seine<br />

Gerechtigkeit als Quell <strong>des</strong> Segens für alle, und der Lohn <strong>des</strong> Gerechten<br />

bestand in dem Segen, den er seinen Nachkommen hinterließ. <strong>Die</strong><br />

Generation jedoch, die sich noch der Regierung <strong>des</strong> frommen Königs<br />

Josia erinnern konnte, als sie die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier<br />

erlebte, vermochte die Gerechtigkeit Gottes im Laufe der<br />

Geschichte nicht mehr zu erkennen. Daher proklamierte Hesekiel als<br />

einen neuen Grundsatz <strong>des</strong> göttlichen Handelns: „Ein Sohn soll nicht<br />

die Schuld <strong>des</strong> Vaters, noch ein Vater die Schuld <strong>des</strong> Sohnes mit tragen.<br />

Nur dem Gerechten kommt seine Gerechtigkeit zugute, und nur<br />

über den Gottlosen kommt seine Gottlosigkeit“ (Hes. 18, 20). In der<br />

Folge zeigte nun aber die Erfahrung, daß sich die Gerechtigkeit Gottes<br />

in der Lebensspanne vieler Individuen nicht adäquat offenbarte durch<br />

Strafen oder Belohnungen entsprechend dem Verhalten der einzelnen<br />

<strong>Menschen</strong>. Im Gegenteil, es gab verbreitete Klagen, „daß es Fromme<br />

gibt, denen es geht, als täten sie Werke der Gottlosen, und daß es Gottlose<br />

gibt, denen es geht, als täten sie Werke der Frommen“ (Pred. 8,<br />

14). Wie konnten derartige Erfahrungen mit dem Glauben an die Gerechtigkeit<br />

Gottes vereinbart werden? Im Ringen mit solchen Erfahrungen<br />

kam der jüdische Glaube an die Gerechtigkeit Gottes zur Annahme<br />

einer Vergeltung in einem späteren Leben, so daß jeder einzelne<br />

Mensch letzten En<strong>des</strong> dennoch sein Geschick in Entsprechung<br />

zu seinen Taten empfangen wird. <strong>Die</strong> frühen Beispiele jüdischen<br />

Glaubens an eine Auferstehung von den Toten zeigen deutlich die<br />

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Spuren ihrer Herkunft aus der Frage nach der Offenbarung der göttlichen<br />

Gerechtigkeit im Leben je<strong>des</strong> einzelnen Individuums. Daher hat<br />

sich im nachexilischen jüdischen Glauben die Emanzipation <strong>des</strong> Individuums<br />

von seinem gesellschaftlichen Kontext im Sinne seines Anspruchs<br />

auf von der Gesellschaft unabhängige Bedeutung und Würde<br />

seines Lebens im Aufkommen der Auferstehungshoffnung vollendet.<br />

Sicherlich galt auch jetzt noch der einzelne als mit seinen Handlungen<br />

verantwortlich für seine soziale Umgebung. Das Empfinden für solche<br />

individuelle Verantwortlichkeit wurde eher noch verfeinert. Aber mit<br />

dem Aufkommen der Auferstehungshoffnung wurde das individuelle<br />

Leben zu einem eigenen Sinnzentrum, was es so vorher nicht gewesen<br />

war.<br />

In gewissem Ausmaß ist diese Entwicklung der Entstehung der Unsterblichkeitsidee<br />

im griechischen Denken vergleichbar. Auch der<br />

Gedanke einer unsterblichen Seele und seine Kultivierung seit dem 4.<br />

Jahrhundert bringt eine Emanzipation <strong>des</strong> Individuums vom Gesellschaftssystem<br />

zum Ausdruck. Doch bei genauerem Hinsehen stellt<br />

sich heraus, daß der platonische Glaube an die Unsterblichkeit der<br />

Seele gar nicht dem menschlichen Individuum Ewigkeitswert zusprach.<br />

<strong>Die</strong> Seele ist nicht identisch mit dem Individuum, weil sie eine<br />

Reihe von Wiederverkörperungen erfährt, während die Individualität<br />

an diesen einen Lebensgang zwischen Geburt und Tod gebunden ist.<br />

So muß man urteilen, daß die jüdische Erwartung einer leiblichen<br />

Auferstehung die Ewigkeitsbedeutung der individuellen Existenz bei<br />

weitem mehr betont hat. Im jüdischen Denken ist das Leben <strong>des</strong> einzelnen<br />

der Ort, wo Gottes Gerechtigkeit offenbar werden muß, geschehe<br />

das auch erst jenseits dieses gegenwärtigen Lebens. Doch sogar<br />

im jüdischen Denken wurde das Individuum nicht durchweg als Zweck<br />

<strong>des</strong> ewigen göttlichen Willens selbst begriffen, so wie Jesus es in seinen<br />

Gleichnissen vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen und<br />

von der Rückkehr <strong>des</strong> verlorenen Sohnes verkündete. In diesen<br />

Gleichnissen stellte Jesus Gott so dar, daß er mit ewiger Liebe jedem<br />

einzelnen <strong>Menschen</strong> nachgeht, und zwar nicht nur den Gerechten,<br />

sondern auch den Verlorenen, und diesen sogar ganz besonders: An<br />

ihnen zeigt sich nämlich in unmißverständlicher Weise, daß Gott die<br />

<strong>Menschen</strong> nicht wegen <strong>des</strong> inneren Wertes einiger Individuen aufgrund<br />

ihrer Leistungen liebt, daß vielmehr Gottes ewige Liebe selbst<br />

jedem einzelnen <strong>Menschen</strong>leben unendlichen Wert verleiht.<br />

Jesu Verkündigung der jedem einzelnen zugewandten Liebe Gottes<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

wurde besiegelt durch seinen Tod am Kreuz. Es ist nicht nötig, die<br />

Frage nach den Gründen für die Interpretation <strong>des</strong> Kreuzes als letztgültigen<br />

Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt hier in allen Einzelheiten<br />

zu erörtern. Für den gegenwärtigen Argumentationszusammenhang<br />

ist die Tatsache ausreichend, daß Jesu Tod im Lichte seiner Auferstehung<br />

in diesem Sinne verstanden worden ist. Es handelt sich dabei um<br />

den gemeinsamen Zielpunkt all der unterschiedlichen Bilder, deren<br />

sich die urchristliche Interpretation <strong>des</strong> Kreuzes bediente. <strong>Die</strong> einfachste<br />

Erklärung <strong>des</strong> Zusammenhangs ist die von Paulus gegebene,<br />

daß Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus die Hoffnung auf<br />

Anteil auch an seinem neuen Leben begründet, das in seiner Auferstehung<br />

in Erscheinung getreten ist. So können diejenigen, die mit<br />

Christus Gemeinschaft haben, sogar durch den Tod nicht mehr von der<br />

Liebe Gottes getrennt werden.<br />

<strong>Die</strong> Konsequenzen dieses Glaubens waren wahrhaft revolutionär.<br />

Nach drei Jahrhunderten gerieten die Fundamente <strong>des</strong> römischen<br />

Reiches ins Wanken, weil sogar die Drohung eines schrecklichen To<strong>des</strong><br />

die christlichen Märtyrer nicht bewegen konnte, ihrem Glauben an<br />

Christus abzuschwören. <strong>Die</strong> Märtyrer der Alten Kirche bewiesen vor<br />

der Welt die im Tode Christi, nämlich in der darin offenbaren Liebe<br />

Gottes begründete Freiheit <strong>des</strong> einzelnen gegenüber der Gesellschaft<br />

und dem Staat. Durch den Tod Christi ist der einzelne radikal unabhängig<br />

geworden von jedem absoluten Anspruch der Gesellschaft<br />

oder <strong>des</strong> Staates auf sein Leben.<br />

Was man heute als Prinzip der individuellen Freiheit kennt, hat hier<br />

seine historische Wurzel. Da die religiösen Grundlagen dieser Freiheit<br />

sich als stärker erwiesen als die Macht <strong>des</strong> Staates, mußte schließlich<br />

die politische Macht diesen Glauben als Kriterium und, wenn möglich,<br />

als neue Basis eines ihm gemäßen Gesellschaftssystems anerkennen.<br />

Man weiß, daß dieser Prozeß sich keineswegs geradlinig vollzogen hat.<br />

Zunächst wurde die Kirche als Legitimationsbasis der politischen<br />

Ordnung anerkannt, da ihre Botschaft die Quelle jener neuen Freiheit<br />

war. In der Folgezeit jedoch geriet die hierarchische Struktur der Kirche<br />

selber in Konflikt mit der christlichen Freiheit, die in der Gemeinschaft<br />

<strong>des</strong> Glaubenden mit Christus gründet. Es ist die tragische Peripetie<br />

der Geschichte <strong>des</strong> Christentums gewesen, daß erst der Bruch<br />

seiner kirchlichen Einheit den Weg freigab für die allgemeine Auswirkung<br />

<strong>des</strong> Prinzipes individueller Freiheit als letztes Kriterium <strong>des</strong> Gesellschaftssystems<br />

und seiner politischen Organisation. Nachdem im<br />

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Gefolge der Reformation Konfessionskriege Europa für mehr als ein<br />

Jahrhundert erschüttert hatten, mußte das Prinzip der individuellen<br />

Freiheit und die daraus folgende Duldung eines mehr oder weniger<br />

weitgehenden religiösen Pluralismus verselbständigt werden gegenüber<br />

seiner religiösen Verwurzelung im christlichen Glauben, weil es<br />

gebraucht wurde zur Neubegründung der gemeinsamen Basis eines<br />

Gesellschaftslebens, das nunmehr unabhängig sein mußte vom zerstörerischen<br />

Streit zwischen einander wechselseitig ausschließenden konfessionellen<br />

Interpretationen <strong>des</strong> christlichen Glaubens. <strong>Die</strong> Emanzipation<br />

<strong>des</strong> Prinzips menschlicher Freiheit von seinen religiösen Wurzeln<br />

im christlichen Glauben erwies sich als verhängnisvoll nicht nur<br />

für die moderne Geschichte <strong>des</strong> Christentums, weil sie zum Ausgangspunkt<br />

<strong>des</strong> Säkularismus der modernen Kultur wurde mit der Folge,<br />

daß die religiöse Thematik mehr und mehr von öffentlicher Geltung<br />

ausgeschlossen und auf den privaten Lebensbereich beschränkt wurde.<br />

<strong>Die</strong> Isolierung <strong>des</strong> Gedankens der individuellen Freiheit von seinen<br />

religiösen Wurzeln hat sich aber auch als verhängnisvoll für die<br />

Entwicklung der modernen Kultur erwiesen, weil durch den Verlust<br />

ihrer religiösen Verwurzelung einige ihrer grundlegenden Werte<br />

zweideutig und undurchsichtig wurden.<br />

Das Prinzip individueller Freiheit ist nicht eine für die menschliche<br />

Natur selbstverständliche Tatsache. Es war die Illusion <strong>des</strong> Liberalismus,<br />

daß jeder Mensch frei geboren ist, daß Schranken dieser Freiheit<br />

nur von außen auferlegt werden, durch das soziale System, und daß<br />

alle <strong>Menschen</strong> sich ihrer Freiheit freuen und sie friedlich ausleben<br />

würden, wenn nur jene äußeren Hindernisse, soziale Schranken und<br />

Ungleichheiten beseitigt würden. <strong>Die</strong>se Konzeption einer von Natur<br />

aus gegebenen und ursprünglichen Freiheit je<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> ist freilich<br />

sehr einflußreich im westlichen Denken gewesen, und zwar nicht erst<br />

in der Neuzeit, sondern schon lange zuvor. Es war die Botschaft der<br />

stoischen Philosophie, daß ursprünglich alle <strong>Menschen</strong> von Natur aus<br />

frei und gleich gewesen sind, die Entwicklung der sozialen Beziehungen<br />

zwischen den <strong>Menschen</strong> aber Ungleichheiten hervorgebracht und<br />

jene ursprüngliche Gleichheit und Freiheit verdorben habe.<br />

An diesem Punkt besteht eine fundamentale Differenz zwischen der<br />

Anthropologie der stoischen Philosophie und derjenigen <strong>des</strong> christlichen<br />

Glaubens. <strong>Die</strong> frühen Christen nahmen nicht an, daß die <strong>Menschen</strong><br />

von Natur aus frei und gleich sind. Sie glaubten vielmehr, daß die<br />

<strong>Menschen</strong> befreit werden müssen, um frei zu sein. Im Johannesevan-<br />

12<br />

WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

gelium wird berichtet, daß Christus gesagt habe: „Wenn der Sohn euch<br />

frei macht, so seid ihr recht frei“ (Joh. 8, 36). Und Paulus sagt (II. Kor.<br />

3, 17): „... wo der Geist <strong>des</strong> Herrn ist, da ist Freiheit“. Bei Paulus wie<br />

bei Johannes wird der Geist Christi als befreiende Macht verstanden.<br />

In diesem Sinne sind beide Anhänger einer Befreiungstheologie. Aber<br />

es geht ihnen nicht in erster Linie um Befreiung von einem System sozialer<br />

Unterdrückung, so daß eine vermeintlich natürliche Freiheit <strong>des</strong><br />

<strong>Menschen</strong> sich voll entfalten könnte und jedermann unbeschränkt<br />

nach den Wünschen seines Herzens leben könnte. Das menschliche<br />

Herz selbst gilt der Bibel als die Schranke, das Hindernis der Freiheit.<br />

Das Johannesevangelium spricht das in beispielhafter Form aus. <strong>Die</strong><br />

Verheißung der Freiheit aus dem Munde Jesu stößt bei seinen Hörern<br />

auf Unverständnis, weil sie meinen und Jesus sagen, daß sie doch<br />

schließlich keine Sklaven seien. Sie meinen, sie seien schon frei. Doch<br />

Jesus betrachtet das als Illusion. Das Verhalten seiner Hörer beweise,<br />

daß sie nicht frei sind, weil sie ihm nach dem Leben trachten. Darum<br />

sagt Jesus: „Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber<br />

bleibt nicht für immer im Hause, - der Sohn bleibt für immer. Darum,<br />

wenn der Sohn euch frei macht, so seid ihr wirklich frei“ (Joh. 8, 34 ff.).<br />

<strong>Die</strong>ser Abschnitt aus dem Johannesevangelium enthält eine äußerst<br />

scharfe und radikale Kritik je<strong>des</strong> Glaubens an eine natürliche Freiheit<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>. In der Tat bedürfte es ja auch keines Erlösers, wenn die<br />

<strong>Menschen</strong> schon von Natur aus frei wären. Da aber ihr Verhalten sie<br />

als Sklaven der Sünde erweist, sind sie eben doch der Befreiung bedürftig,<br />

der Befreiung von ihrer eigenen Sündhaftigkeit.<br />

In späteren Jahrhunderten ist die christliche Theologie einen Kompromiß<br />

mit stoischen Ideen eingegangen: <strong>Die</strong> Christen fuhren zwar<br />

fort zu behaupten, mit mehr oder weniger Nachdruck, daß der Mensch<br />

in seinem jetzigen Zustand, als Sünder, nicht frei durch sich selber ist.<br />

Aber sie behaupteten auch, daß der erste Mensch, Adam, im Stande<br />

seiner ursprünglichen Unschuld in der Tat frei war in dem Sinne, in<br />

dem das die Stoiker von der menschlichen Natur behaupteten. So<br />

konnte die christliche Anthropologie als eine modifizierte Form <strong>des</strong><br />

Stoizismus erscheinen. In ihrem Eifer, Gott unter Hinweis auf die<br />

Freiheit <strong>des</strong> ersten <strong>Menschen</strong> von jeder Verantwortung für die Entstehung<br />

von Sünde und Übel in seiner Schöpfung zu entlasten, verwischte<br />

die christliche Theologie den fundamentalen Gegensatz im<br />

Freiheitsverständnis zwischen christlicher und stoischer Anthropologie.<br />

Hier liegen wohl letztlich die Gründe dafür, daß in der Entwick-<br />

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lung <strong>des</strong> modernen Denkens der Gegensatz zwischen der durch Christus<br />

eröffneten Freiheit und einer sogenannten natürlichen Freiheit<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> oft unbemerkt blieb. <strong>Die</strong> Zweideutigkeiten <strong>des</strong> modernen<br />

Liberalismus lassen sich großenteils auf diese Unklarheit <strong>des</strong> Freiheitsverständnisses<br />

zurückführen: Ein Liberaler kann sich in der Perspektive<br />

der von Christus geschenkten Freiheit verstehen, die den<br />

<strong>Menschen</strong> befreit von der Macht der Sünde und <strong>des</strong> To<strong>des</strong>. Aber der<br />

Freiheitsgedanke <strong>des</strong> Liberalismus kann auch diese Erinnerungen verloren<br />

haben und nicht mehr bedeuten als die stoische Idee einer Freiheit,<br />

die der Mensch vermeintlich von Natur aus besitzt und die nach<br />

neutestamentlichen Maßstäben als Illusion beurteilt werden muß. Aus<br />

dieser Illusion, die untrennbar ist von der Annahme, daß die ursprüngliche<br />

Natur je<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> gut ist, folgen all die anderen Illusionen<br />

<strong>des</strong> klassischen Liberalismus, die Reinhold Niebuhr so streng wie gerecht<br />

kritisiert hat. In erster Linie handelt es sich dabei um die Erwartung,<br />

daß die ungehinderte Entfaltung der natürlichen Talente, Bedürfnisse<br />

und Wünsche eines jeden sich letzten En<strong>des</strong> in Harmonie mit<br />

dem natürlichen und vernünftigen Selbstinteresse je<strong>des</strong> anderen vollziehen<br />

werden. In seinem abgewogenen Urteil sagte Niebuhr dazu: In<br />

gewissem Sinne ist die Annahme einer letzten Identität <strong>des</strong> Sonderinteresses<br />

mit dem allgemeinen Interesse richtig, aber diese Identität ist<br />

niemals in einer konkreten Situation vollkommen realisiert. Ihre<br />

Wahrheit ist die eines abstrakten Ideals der Vernunft, aber der tatsächliche<br />

Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse bietet eher das<br />

entgegengesetzte Bild widerstreitender Interessen, ein Bild der Unterdrückung<br />

und Rebellion, weil es so schwer ist, inmitten der Interessenkonflikte<br />

zu entscheiden, worin genau die Erfordernisse der Gerechtigkeit<br />

bestehen und wo folglich der Koinzidenzpunkt von Gemeinwohl<br />

und wahrem Individualinteresse liegt.<br />

Das Element von Selbstgefälligkeit in so mancher liberalen Haltung ist<br />

darin begründet, daß der Liberalismus so oft Radikalität und Tragweite<br />

der Sünde in den menschlichen Beziehungen vernachlässigte.<br />

Der Liberalismus berücksichtigte selten das Ausmaß, in welchem der<br />

Appell an Vernunft und Allgemeinwohl dem Eigeninteresse von Individuen<br />

und Gruppen sogar dann noch dienstbar gemacht wird, wenn<br />

solches Verhalten erkennbar zu katastrophalen Konsequenzen führt.<br />

Infolge<strong>des</strong>sen ist die Notwendigkeit der Befreiung von Sünde als Bedingung<br />

für die Ausübung der Freiheit im vollen Sinn <strong>des</strong> Wortes und<br />

in allen Lebensbereichen durch den Liberalismus gewöhnlich nicht<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

sehr ernst genommen worden. Darum ist der Zusammenhang zwischen<br />

Religion und menschlicher Freiheit für unser Bewußtsein fast<br />

vollkommen verdunkelt worden. Andererseits ist die liberale Freiheitsidee<br />

dadurch so hohl geworden, daß die Kritik an ihr im Namen<br />

einer realistischen Einschätzung menschlicher Zustände nur allzu<br />

leicht geworden ist. Vor allem ist der liberalen Freiheitsidee, durch<br />

Marx und seine Nachfolger, ihr Formalismus vorgeworfen worden,<br />

ihre Abstraktion von der tatsächlichen gesellschaftlichen Situation der<br />

<strong>Menschen</strong>, besonders jener, die angesichts ihrer sozialen Lage keinen<br />

Gebrauch machen können von den Möglichkeiten, die formell jedermann<br />

offenstehen sollten. Daher erscheint es als zweifelhaft, ob die<br />

<strong>Menschen</strong>, die in einem formalen und legalen Sinne als frei betrachtet<br />

werden, wirkliche Freiheit besitzen. <strong>Die</strong>se Kritik am Formalismus der<br />

liberalen Freiheitsidee läßt sich noch über diese marxistische Kritik<br />

hinaus vertiefen: Sogar dann, wenn das Recht zu wählen unbehindert<br />

ausgeübt werden kann, bleibt es noch zweifelhaft, ob die betreffende<br />

Person im eigentlichen Sinne <strong>des</strong> Wortes frei genannt werden kann.<br />

Man kann dem liberalen Freiheitsgedanken vorwerfen, daß er die Individuen<br />

ihrer Chancen für ein sinnvolles Leben gerade dadurch beraubt,<br />

daß er sie ihrer eigenen mehr oder weniger gut informierten<br />

oder manipulierten Willkür überläßt. Wenn trotz solcher Schwierigkeiten<br />

individuelle Freiheit als Wesensbedingung menschlicher<br />

Würde betrachtet werden muß, so handelt es sich dabei letzten En<strong>des</strong><br />

um ein religiöses Urteil. So mag Hegel schließlich doch im Recht gewesen<br />

sein mit seiner Zurückführung <strong>des</strong> modernen Prinzips individueller<br />

Freiheit auf den christlichen Glauben mit der Begründung, daß,<br />

wie er sagte, der christliche Glaube dem einzelnen das Bewußtsein seiner<br />

Übereinstimmung mit der absoluten Wahrheit gab. <strong>Die</strong>ses Urteil<br />

bedeutet nicht, daß der christliche Glaube ideengeschichtlich betrachtet<br />

die einzige Wurzel für die moderne Idee der Freiheit gewesen ist.<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung stoischer Ideen für das moderne Prinzip der Freiheit<br />

wurde schon erwähnt. Aber sie allein vermögen <strong>des</strong>sen Hervortreten<br />

nicht zu erklären. Trotz der Kenntnis <strong>des</strong> stoischen Naturrechts haben<br />

die <strong>Menschen</strong> fast zweitausend Jahre lang nicht gewagt, den Gedanken<br />

ursprünglich gleicher individueller Freiheit aller <strong>Menschen</strong> zur<br />

Basis ihres politischen Lebens zu machen. <strong>Die</strong>ser Schritt wurde zuerst<br />

im Protestantismus gewagt, nachdem die Reformation die Unmittelbarkeit<br />

<strong>des</strong> einzelnen Christen zu Christus in den Mittelpunkt ihres<br />

Denkens gestellt hatte als Begründung der Freiheit seines Glaubens,<br />

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die ihn in seinem Gewissen unabhängig macht von aller menschlichen<br />

Autorität. Sogar der Protestantismus jedoch hat nicht freiwillig den<br />

Schritt von der religiösen Entdeckung der christlichen Freiheit zu ihrer<br />

politischen Verwirklichung getan. Luther betrachtete die christliche<br />

Freiheit als eine Angelegenheit nur <strong>des</strong> inneren Lebens der Person.<br />

Calvin sah deutlicher eine Beziehung zwischen christlicher Freiheit<br />

und politischer Freiheit. Dennoch blieb er ebenso wie Luther diesseits<br />

<strong>des</strong> Schrittes zu einer auf Freiheit begründeten Gesellschaft stehen.<br />

Der kompromißlose Anspruch auf exklusive Geltung der religiösen<br />

Wahrheit zusammen mit der Sorge um die religiöse Einheit der Gesellschaft<br />

stand der Entwicklung eines religiösen Pluralismus, wie er der<br />

Idee einer im christlichen Glauben begründeten individuellen Freiheit<br />

angemessen gewesen wäre, im Wege. Erst der unentschiedene Ausgang<br />

der konfessionellen Kriege erzwang im politischen System die<br />

Konzession <strong>des</strong> religiösen Pluralismus. Nachdem das einmal geschehen<br />

war, konnte dieser Schritt allerdings christlich legitimiert werden<br />

als Konsequenz der christlichen Freiheitsidee. <strong>Die</strong> Bedeutung dieses<br />

Faktors darf nicht unterschätzt werden, wenn man sich auch einen<br />

mehr vorwärts weisenden christlichen Beitrag zur politischen Verwirklichung<br />

<strong>des</strong> Freiheitsgedankens in der Neuzeit hätte wünschen<br />

mögen. <strong>Die</strong> Legitimation <strong>des</strong> Pluralismus im Gebrauch der individuellen<br />

Freiheit konnte nicht nur auf der Basis <strong>des</strong> Naturrechts erfolgen, da<br />

ja seit langem Einverständnis darüber bestand, daß die naturrechtlichen<br />

Grundsätze auf die gegenwärtigen Verhältnisse <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Lebens nicht direkt anwendbar sind. <strong>Die</strong> christliche Erfahrung<br />

der Freiheit von Sünde und Tod durch Gemeinschaft mit Christus war<br />

daher die unerläßliche Grundlage dafür, daß nun dennoch die Prinzipien<br />

<strong>des</strong> Naturrechts für die Neugestaltung der Gesellschaftsordnung<br />

nach den konfessionellen Kriegen und im weiteren Verlauf der Neuzeit<br />

herangezogen wurden. Ohne diese christliche Erfahrung individueller<br />

Freiheit durch Verbundenheit mit der absoluten Wirklichkeit<br />

Gottes wären die Gedanken <strong>des</strong> Naturrechts auch weiterhin auf ihre<br />

Funktion als bloße Abstraktionen beschränkt geblieben. Und ohne die<br />

den tieferen Gehalt der <strong>Menschen</strong>rechte bestimmende religiöse Basis<br />

fungieren jene naturrechtlichen Formeln auch heute noch als bloße<br />

Abstraktionen, beladen mit all den Gefahren und Ungerechtigkeiten<br />

der Verwechslung <strong>des</strong> Abstrakten und <strong>des</strong> Konkreten. Das ist besonders<br />

deutlich beim Gleichheitsgedanken, der ein konstitutiver Faktor<br />

individueller Freiheit ist, sofern diese nicht nur als Freiheit für einige<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

Individuen im Unterschied zu anderen verstanden wird, sondern als<br />

Freiheit, die jedem <strong>Menschen</strong> als solchem zukommt. <strong>Die</strong> Anwendung<br />

der Gleichheit als naturrechtliches Prinzip auf konkrete Fälle menschlicher<br />

Beziehungen bereitet jedoch Schwierigkeiten. In ihrem wirklichen<br />

Leben sind die einzelnen <strong>Menschen</strong> einander nicht gleich, und<br />

auch nicht gleichermaßen frei, und diese Ungleichheiten lassen sich<br />

nicht gänzlich durch unterschiedliche Entwicklungschancen und gesellschaftliche<br />

Bedingungen erklären. Dennoch aber partizipieren alle<br />

einzelnen Personen schon jetzt an einer gemeinsamen menschlichen<br />

<strong>Bestimmung</strong>, und diese gemeinsame Zukunft begründet eine tiefere<br />

Gleichheit unter ihnen trotz aller bestehenden Ungleichheiten. Das<br />

Ergebnis ist ein prekäres Gleichgewicht im gesellschaftlichen Leben<br />

der <strong>Menschen</strong> zwischen natürlicher Ungleichheit und proleptischer<br />

Gleichheit, welch letztere aus ihrer gemeinsamen <strong>Bestimmung</strong> folgt<br />

und mit der ihre Würde als Person eng zusammengehört. Es ist die<br />

schwierige Aufgabe jeder Sozialpolitik, beiden Seiten dieses Sachverhalts<br />

gerecht zu werden, sowohl der tatsächlichen Ungleichheit als<br />

auch der proleptischen Gleichheit der Bürger. Werden die tatsächlichen<br />

Ungleichheiten übersprungen, so ist ein totalitärer Idealismus am<br />

Werke, der die konkreten Verhältnisse <strong>des</strong> Lebens verzerrt und zu vielerlei<br />

Ungerechtigkeiten führt. Wenn auf der andern Seite die proleptische<br />

Gleichheit der <strong>Menschen</strong> aus dem Blick gerät, dann fungiert die<br />

Humanität nicht mehr als Kriterium für soziale Reformen.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion <strong>des</strong> christlichen Freiheitsbegriffs im Vergleich zur modernen<br />

Freiheitsidee, die in erster Linie auf den Gedanken <strong>des</strong> Naturrechts<br />

beruht, hat insoweit zu dem Ergebnis geführt, daß die beiden<br />

Konzeptionen nicht notwendigerweise einander ausschließen, daß<br />

aber doch starke Spannungen zwischen ihnen bestehen. Der christliche<br />

Freiheitsgedanke ist nicht formalistisch und abstrakt. Er hat einen<br />

spezifischen Inhalt, nämlich die Gemeinschaft <strong>des</strong> Glaubenden mit<br />

Gott, der in Christus die Macht von Sünde und Tod überwunden und<br />

so den <strong>Menschen</strong> mit sich selber versöhnt hat. Gemeinsam ist den beiden<br />

Konzeptionen, daß Freiheit zum Wesen <strong>des</strong> Menschseins gehört.<br />

Weil auch der Christ diese Überzeugung teilt, ist es ihm verständlich,<br />

daß auch andere <strong>Menschen</strong>, so wie die stoischen Philosophen, eine<br />

Vorstellung von Freiheit haben, wenn auch - in christlicher Sicht- nur<br />

in Gestalt blasser Abstraktionen. Wenn die Freiheit zum Menschsein<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> gehört, dann werden die <strong>Menschen</strong> immer in der einen<br />

oder anderen Weise ein Bewußtsein davon haben, auch wenn es zur<br />

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Verwirklichung der Freiheit nach christlicher Überzeugung der Erlösung<br />

bedarf, die erst Christus gebracht hat. Der Freiheitsgedanke gehört<br />

nun aber nicht nur zum Wesentlichen <strong>des</strong> Menschseins, er läßt<br />

auch erkennen, wie das Wesen, die <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> in seiner<br />

Existenz gegenwärtig ist. An dieser Stelle tut sich allerdings der<br />

tiefste Gegensatz zwischen christlichem Freiheitsverständnis und säkularem<br />

Liberalismus auf: In christlicher Perspektive sind die allgemeinen<br />

Bedingungen menschlicher Existenz so geartet, daß der<br />

Mensch sich selber entfremdet ist. Inmitten seiner Selbstentfremdung<br />

mag er immer noch ein Wissen von Freiheit haben, aber er betrachtet<br />

dann als Freiheit, was in Wirklichkeit die Entfremdungsform seiner<br />

Existenz ist, und darin kommt deutlicher als in irgendetwas anderem<br />

seine Entfremdung zum Ausdruck. Der entfremdete Mensch mag eine<br />

Vorstellung von Freiheit haben, aber er erfreut sich keiner wirklichen<br />

Freiheit. In christlicher Perspektive erlangt der Mensch wirkliche<br />

Freiheit nur durch seine Versöhnung mit Gott in Christus.<br />

Der geschichtliche Charakter der christlichen Freiheitserfahrung hat<br />

seine Auswirkungen auf das Verständnis der Natur <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>. Im<br />

Lichte dieser Erfahrung wird der Begriff „Natur“ selber zweideutig,<br />

weil er zwei ganz verschiedene Elemente umfaßt, den tatsächlichen<br />

Charakter und das wahre Wesen einer Sache. Wenn das Wesen<br />

menschlichen Lebens von den normalen Verhaltensformen der <strong>Menschen</strong><br />

ablesbar wäre, dann würden diese beiden Elemente koinzidieren.<br />

Wenn dagegen das Wesen menschlichen Lebens etwas einschließt,<br />

was nicht immer verwirklicht ist, so wie die Freiheit in christlicher<br />

Sicht nur durch Vermittlung eines besonderen historischen Geschehens<br />

realisiert wird, dann gehört das Wesen <strong>des</strong> Menschseins im<br />

Unterschied zu den allgemeinen Bedingungen menschlicher Existenz<br />

in die Dimension eines »Nochnicht«, das allerdings dennoch in irgendeiner<br />

Weise auch die Gegenwart schon bestimmt, weil das gegenwärtige<br />

Leben der <strong>Menschen</strong> auch im Falle radikaler Entfremdung<br />

immer noch ein menschliches bleibt. Das Wesen oder die Wesensnatur<br />

<strong>des</strong> Menschseins wird so zur Sache einer <strong>Bestimmung</strong> der <strong>Menschen</strong><br />

zur Humanität, im Gegensatz zu den natürlichen Ausgangsbedingungen<br />

menschlichen Daseins und zum durchschnittlichen Charakter<br />

menschlichen Verhaltens. <strong>Die</strong> Natur <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>, in diesem Sinne<br />

genommen, ist dann keine gegebene und unveränderliche Struktur,<br />

sondern hat selber eine Geschichte. Genauer gesagt, die Natur <strong>des</strong><br />

<strong>Menschen</strong> ist die Geschichte der Verwirklichung der menschlichen<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>Bestimmung</strong>. Biblisch gesprochen heißt das, der Mensch ist die Geschichte<br />

vom ersten Adam zum zweiten Adam, der nach dem Apostel<br />

Paulus in Jesus Christus und besonders im neuen Leben seiner Auferstehung<br />

offenbar geworden ist.<br />

Daß in Jesus Christus die <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> realisiert ist -<br />

wenn auch noch nicht in ihrer allgemeinen Auswirkung auf alle <strong>Menschen</strong><br />

- wurde in biblischer Sprache dadurch ausgedrückt, daß Christus<br />

das Bild Gottes genannt wurde. Obwohl nach dem Alten Testament<br />

der Mensch als solcher zum Bilde Gottes geschaffen wurde, so<br />

daß dieser Begriff die Wesensnatur <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> kennzeichnet, hat<br />

die frühchristliche Theologie diese Wesensnatur <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> nur in<br />

Jesus Christus und durch ihn verwirklicht gesehen. Darum wurde die<br />

Bemerkung im ersten Kapitel der Genesis, daß der Mensch „zum“<br />

Bilde Gottes geschaffen wurde, in der christlichen Theologie seit dem<br />

2. Jahrhundert so gedeutet, daß der Mensch seiner Natur nach auf das<br />

Bild Gottes als auf seine <strong>Bestimmung</strong> bezogen ist, die jedoch erst in Jesus<br />

Christus offenbar geworden ist.<br />

<strong>Die</strong> christologische Interpretation <strong>des</strong> altisraelitischen Begriffs <strong>des</strong><br />

spezifisch Menschlichen im Sinne der Gottebenbildlichkeit hatte Konsequenzen<br />

für den Inhalt dieses Gedankens. Nach dem Alten Testament<br />

bedeutete er, daß inmitten der gesamten Schöpfung der Mensch<br />

die Souveränität Gottes gegenüber den übrigen Geschöpfen auf Erden<br />

repräsentiert. „Füllet die Erde und machet sie euch Untertan!“ (Gen.<br />

1, 28). Neuerdings hat man dieses göttliche Gebot für die rücksichtslose<br />

Ausbeutung der Natur durch die westliche Menschheit verantwortlich<br />

gemacht, die uns für die nahe Zukunft mit einer ökologischen<br />

Katastrophe bedroht. Doch solche Anklage gegen den biblischen<br />

Schöpfungsbericht ist insofern etwas unfair, als der göttliche Auftrag<br />

nicht dahin ging, daß der Mensch andere Geschöpfe nach Belieben<br />

traktieren sollte, sondern daß er ihnen gegenüber als Stellvertreter <strong>des</strong><br />

Schöpfers selber handeln sollte. Dazu konnte wohl kaum die Erlaubnis<br />

zur Zerstörung seiner Schöpfung gehören. Doch wie immer man den<br />

Schöpfungsauftrag an den <strong>Menschen</strong> auslegen mag, wenn seine <strong>Bestimmung</strong>,<br />

als Bild Gottes in der Schöpfung zu fungieren, erst durch<br />

Jesus Christus verwirklicht worden ist, dann gewinnt die dem <strong>Menschen</strong><br />

anvertraute Herrschaft über die Schöpfung einen noch spezifischeren<br />

Sinn, weil jedenfalls die Herrschaft Christi selber darin besteht,<br />

daß er mit Gott versöhnt, was von ihm getrennt ist. Freilich<br />

wurde Jesus Christus zur Menschheit und nicht zu Gesteinen, Pflanzen<br />

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oder Tieren gesandt. Dennoch wird man die kosmologische Dimension<br />

seiner Herrschaft in Verlängerung <strong>des</strong>sen zu denken haben, was<br />

für die Wahrnehmung seiner Herrschaft über die Menschheit gilt. <strong>Die</strong><br />

Verwirklichung der Gottebenbildlichkeit <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> in Jesus Christus<br />

ruft den <strong>Menschen</strong> auf zu verantwortlicher Repräsentation <strong>des</strong> in<br />

Jesus Christus offenbarten Gottes in der Schöpfung, die - in Worten<br />

<strong>des</strong> Apostels Paulus - sehnsüchtig darauf wartet, daß die herrliche<br />

Freiheit der Kinder Gottes offenbar wird (Röm. 8, 19, 21).<br />

<strong>Die</strong> ökologische Problematik exemplifiziert einmal mehr die Differenz<br />

zwischen christlichem und säkularem Freiheitsverständnis. <strong>Die</strong><br />

christliche Auffassung <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> als von Gott beauftragt, an seiner<br />

statt, als sein Bild, zu handeln, weist ihm seinen Platz in der Nähe<br />

Gottes selber an, wie es auch der jüdische Glaube tut, im Gegenüber<br />

zur übrigen Welt. Darin gründet das Element von Unabhängigkeit in<br />

seiner Freiheit. Sie hat keinen Platz für Naturverehrung. Aber ebensowenig<br />

stellt sie einen Freibrief dar, mit Gottes Schöpfung nach Belieben<br />

umzugehen.<br />

In der engen Verbindung mit dem jüdischen Verständnis der Schöpfung<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> zum Ebenbild Gottes äußert sich die universale<br />

Bedeutsamkeit der christlichen Freiheitserfahrung. <strong>Die</strong> Befreiung von<br />

den Mächten der Sünde und <strong>des</strong> To<strong>des</strong> zum Genuß der Freiheit in<br />

Gemeinschaft mit Gott ist nicht nur den Christen als den wenigen<br />

Glücklichen inmitten einer verlorenen Welt zugedacht. Sie geht die<br />

ganze Welt an, vor allem aber die Menschheit in ihrer Gesamtheit.<br />

Durch sein irdisches Wirken, seinen Tod und seine Auferstehung vermittelte<br />

Jesus denen, die ihm ihr Vertrauen schenkten, die Freiheit der<br />

Kinder Gottes. Aber weit über diesen Umkreis hinaus wirft die Geschichte<br />

Jesu ihr Licht auf je<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>leben: Jeder einzelne<br />

Mensch ist berufen zu der durch Jesus Christus vermittelten Freiheit,<br />

die Befreiung von der Macht der Sünde und <strong>des</strong> To<strong>des</strong> bedeutet und<br />

aus dem Frieden mit Gott lebt. Im Lichte der Geschichte Jesu ist je<strong>des</strong><br />

<strong>Menschen</strong>leben zu solcher persönlichen Unabhängigkeit bestimmt.<br />

<strong>Die</strong>se allgemeine Tragweite der in Christus begründeten Befreiung<br />

rechtfertigt nicht notwendigerweise sogenannte Befreiungsbewegungen,<br />

die nur allzu oft die Völker und manchmal auch sich selber täuschen,<br />

indem sie bewußt oder unbewußt die menschliche Sehnsucht<br />

nach Freiheit als Instrument für den Aufstieg einer neuen politischen<br />

Elite zur Macht benutzen. Das Licht der Liebe Gottes, das auf jedem<br />

einzelnen <strong>Menschen</strong> liegt, spricht aber den politischen Autoritäten je-<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

der Art das Recht ab, mit dem Leben <strong>des</strong> einzelnen <strong>Menschen</strong> nach<br />

Belieben zu verfahren. Das Bewußtsein davon richtet die Opfer von<br />

Unterdrückung und Ausbeutung auf und macht sie unabhängig in ihrem<br />

Gewissen gegenüber ihren Bedrückern.<br />

Das Gefälle dieser Argumentation mag nach Legitimation eines Individualismus<br />

klingen, doch das wäre ein Mißverständnis. Der einzelne<br />

ist keineswegs die letzte Autorität über sein eigenes Leben. Auch hier<br />

zeigt sich wieder die Differenz zwischen modernem Liberalismus und<br />

christlichem Freiheitsgedanken. Das Bild <strong>des</strong> Individuums, das sich<br />

selbst als das Zentrum seines Lebens versteht, entspricht nicht dem<br />

christlichen Freiheitsgedanken, sondern eher seinem Gegenbild, der<br />

Struktur der Sünde. Nach Augustins Analyse ist die Ichsucht der Kern<br />

der Konkupiszenz, und der Begriff der Konkupiszenz darf nicht eingeengt<br />

werden auf die geschlechtliche Begierde, sondern bezeichnet die<br />

formale Struktur eines menschlichen Verhaltens, das alle Dinge in erster<br />

Linie nach dem Gesichtspunkt beurteilt, ob sie von Vorteil oder<br />

Nachteil für die eigene Person sind. In der christlichen Tradition ist<br />

solcher radikale Individualismus als Entfremdung von der authentischen<br />

<strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> beurteilt worden. Radikale Autonomie<br />

in dem Sinne, daß nicht mehr die allgemeine Vernunft, sondern<br />

die individuelle Entscheidung der höchste Wert ist, wurde oft als höchster<br />

Ausdruck existentieller Freiheit betrachtet, aber in christlicher<br />

Perspektive handelt es sich dabei vielmehr um die tiefste Entfremdung<br />

von der <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> eigenen Daseins zu authentisch menschlicher<br />

Existenz. Individuelles Leben bedarf eines Maßstabes, der ihm vorgegeben<br />

ist und nicht der eigenen Willkür unterliegt. Nur so kann das individuelle<br />

Leben substantiellen Gehalt und Sinn gewinnen. Wer nicht<br />

die Verheißung der Freiheit verlieren will, der wird allerdings nur eine<br />

Wirklichkeit als radikal und vollständig dem eigenen Urteilen und<br />

Werten vorgegeben anerkennen können, nämlich die Wirklichkeit<br />

Gottes. Sich selber vollständig irgendeiner Kreatur anzuvertrauen,<br />

muß auf Götzendienst hinauslaufen. Konsequenz der Gemeinschaft<br />

mit Gott jedoch ist die Teilhabe an Gottes Liebe zur Welt. So wird derjenige,<br />

der sich selber Gott anvertraut hat, auch seinen Mitmenschen<br />

dienen auf ihrem jeweiligen Wege zu ihrer göttlichen <strong>Bestimmung</strong>.<br />

<strong>Die</strong> christliche Betonung der individuellen Person sollte also nicht mit<br />

Individualismus verwechselt werden. Daher sollte der Christ sich auch<br />

nicht für das angebliche Recht eines jeden zur allseitigen Entwicklung<br />

und Verwirklichung seiner natürlichen Anlagen und Wünsche enga-<br />

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gieren. Es gibt vieles in der Natur <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>, das überwunden und<br />

nicht entfaltet werden muß. Vielleicht sollte man es auch nicht einfach<br />

verdrängen, weil es sich gerade dann unserer Selbstbeherrschung entzieht.<br />

Doch sicherlich bedürfen unsere natürlichen Anlagen und Tendenzen<br />

der Disziplinierung und Kultivierung. Aus dieser Sicht der<br />

Dinge ergibt sich auch, daß die Wünsche und Ansprüche der <strong>Menschen</strong><br />

oft nicht ihren tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen, manchmal<br />

sogar im Gegensatz zu diesen stehen. <strong>Die</strong> schwierige Frage ist nur,<br />

wer kann hier unterscheiden und was ist der Maßstab dafür? Das Auftreten<br />

irgendwelcher Autorität beanspruchender Instanzen, die mit<br />

solcher Argumentation individuelle Autonomie überhaupt beseitigen<br />

möchten, aber auch die Zuflucht zu solchen Autoritäten legt sich als<br />

Ausweg aus diesem Dilemma immer wieder gefährlich nahe. An eben<br />

diesem Punkt erhebt sich jedoch auch die Frage nach der Funktion der<br />

Religion in der Struktur der Gesellschaft, nicht nur im individuellen<br />

Leben. Nur die das Zusammenleben der <strong>Menschen</strong> letztlich begründende<br />

Wahrheit vermag den Unterscheidungsgrund zwischen tatsächlichen<br />

und nur eingebildeten oder prätendierten Bedürfnissen der Individuen<br />

abzugeben. Dabei hängt es von der Art der das Zusammenleben<br />

der <strong>Menschen</strong> bestimmenden religiösen Überzeugungen ab, ob<br />

sie selber dem individuellen Leben einen letzten Wert zuschreiben und<br />

folglich auch Raum für Pluralismus in Verhalten und Meinungsbildung<br />

lassen.<br />

Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß der Pluralismus nicht<br />

selber die religiöse Funktion eines das gesellschaftliche Leben begründenden<br />

Wertkonsenses übernehmen kann. Dem Begriff <strong>des</strong> Pluralismus<br />

als solchen fehlt das Element von geistiger Einheit und Gemeinsamkeit,<br />

das Pluralität sowohl freigibt als auch begrenzt und ohne<br />

das keine Lebensgemeinschaft von <strong>Menschen</strong> bestehen kann. Wenn<br />

daher der Pluralismus selber zum maßgeblichen Kriterium <strong>des</strong> Zusammenlebens<br />

erhoben wird, so äußert sich darin ein Prozeß der Auflösung<br />

der die Einheit einer Gesellschaft in ihrer Geschichte begründenden<br />

Gemeinsamkeiten.<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

2. DIE GESELLSCHAFTLICHE BESTIMMUNG<br />

DES MENSCHEN UND DIE KIRCHE<br />

Jede Interpretation der Botschaft Jesu muß der Tatsache Rechnung<br />

tragen, daß Jesus sich nicht unmittelbar der Reform gesellschaftlicher<br />

Strukturen widmete, sondern sich um einzelne Personen kümmerte im<br />

Hinblick auf ihre persönlichen Beziehungen zu Gott. Dennoch war<br />

seine Botschaft alles andere als Ausdruck einer privaten Frömmigkeit.<br />

Mit seiner Verkündigung <strong>des</strong> kommenden Gottesreiches stand er in<br />

der Tradition der politischen Erwartungen <strong>des</strong> jüdischen Volkes.<br />

<strong>Die</strong>se Erwartungen waren konzentriert in der Hoffnung auf eine durch<br />

Gerechtigkeit und Frieden gekennzeichnete soziale Ordnung, doch<br />

seit der Zeit der Propheten erwartete man die Verwirklichung einer<br />

solchen neuen Ordnung der Gesellschaft nicht mehr als Ergebnis eines<br />

Herrscherwechsels oder auch einer Veränderung in der Herrschaftsstruktur,<br />

sondern einzig und allein davon, daß alle Formen der Herrschaft<br />

von <strong>Menschen</strong> über <strong>Menschen</strong> durch die unmittelbare Herrschaft<br />

Gottes selbst abgelöst werden würden. In dieser Erwartung<br />

kommt ein charakteristisch jüdischer Realismus im Hinblick auf den<br />

Charakter jeder menschlichen Herrschaftsform zum Ausdruck, und<br />

dieser skeptische Realismus gegenüber all den Erwartungen, die sich<br />

an den Wechsel von Herrschern und Herrschaftsformen zu hängen<br />

pflegten, trägt vielleicht dazu bei, die erstaunliche Tatsache verständlicher<br />

zu machen, daß Jesus das kommende Reich Gottes in so überraschend<br />

persönlicher, fast privater Form verkündete. Jedenfalls<br />

stimmte er nicht in den Chor derjenigen ein, die einen Umsturz der<br />

Gesellschaftsordnung und eine Befreiung von der römischen Besatzungsmacht<br />

forderten. Offensichtlich erwartete Jesus nicht, daß irgendeine<br />

solche Revolution dasjenige Reich verwirklichen könnte, zu<br />

<strong>des</strong>sen Verkündigung er sich gesandt wußte. Dennoch muß auch seine<br />

Verkündigung <strong>des</strong> Gottesreiches bei aller Besonderheit im Zusammenhang<br />

der politischen Erwartungen Israels verstanden werden. Das<br />

bedeutet, daß die <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> nicht schon in der Abgeschlossenheit<br />

seines Privatlebens voll realisiert werden kann, sondern<br />

von der Entwicklung der politischen Gemeinschaft der <strong>Menschen</strong> ab-<br />

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hängt. Darum muß auch der Christ Verantwortung über den engen<br />

Umkreis seines privaten Lebens hinaus übernehmen. Aber um was für<br />

Verantwortlichkeiten handelt es sich hier?<br />

Bevor man sich einer Beantwortung dieser Frage zuwendet, sollte man<br />

zunächst sorgfältig die Gründe der eigentümlichen Reserve der jüdischen<br />

prophetischen Tradition im Hinblick auf die Möglichkeiten politischen<br />

Handelns und politischer Organisation würdigen. Was für ein<br />

Verständnis der menschlichen Situation in der Welt ist in der zunehmend<br />

pessimistischen Beurteilung menschlicher Regierungen und<br />

Reiche durch die Prophetie impliziert? Friede und Gerechtigkeit zu<br />

verwirklichen, das ist die fundamentale Aufgabe jeder politischen<br />

Ordnung. Warum ist dann der jüdische Glaube zu der Überzeugung<br />

gekommen, daß nur Gott selbst und keine menschliche Regierung dieses<br />

Ziel erfolgreich verwirklichen kann? Was für ein Urteil über<br />

menschliche Bemühungen und politische Ordnung ist darin enthalten?<br />

Was für anthropologische Voraussetzungen liegen ihm zugrunde? Wir<br />

haben uns heute an den Stil gewöhnt, in dem die Propheten über<br />

Machthaber und Könige geredet haben. Darüber ist uns das Gefühl für<br />

das Unerhörte dieser prophetischen Kritik an den Königen von Israel<br />

und Juda beinahe abhanden gekommen, das Gefühl dafür, welche<br />

Kühnheit schon in der Tatsache lag, daß die Propheten solche Personen<br />

ohne alle Bezugnahme auf den Glanz ihres hohen Amtes anzureden<br />

wagten. Sie erscheinen in den prophetischen Texten nicht anders<br />

als andere <strong>Menschen</strong> mit ihren jeweiligen individuellen Bestrebungen<br />

und Schranken. Gerade darin liegt das Problem. Wer politische Macht<br />

ausübt, ist für das Gesamtinteresse der Gesellschaft verantwortlich<br />

und handelt im Namen <strong>des</strong> Volkes. Sein Auftrag ist es, die Erfordernisse<br />

<strong>des</strong> Gemeinwohls durchzusetzen gegen die Eigensucht von Individuen<br />

oder Gruppen. Doch die eigenen individuellen Neigungen,<br />

Wertungen und Interessenrichtungen der Herrschenden lassen sich<br />

niemals völlig von ihrem Amt trennen. Daher hören die Staatsbürger<br />

oder Untertanen aus den Verlautbarungen ihrer Regierungen nicht<br />

nur die Herausforderung, ihr Eigeninteresse dem Gemeinwohl unterzuordnen,<br />

sondern gewöhnlich murren sie auch, und zwar weithin mit<br />

Recht, über das willkürliche, von Vorurteilen bestimmte und einseitige<br />

Verhalten der Inhaber der politischen Ämter. Manchmal mag solches<br />

Murren wenig mehr bedeuten als einen Vorwand zur Rechtfertigung<br />

<strong>des</strong> eigenen, unbelehrbaren Festhaltens an individuellen oder<br />

Gruppeninteressen. Dennoch erklärt dieser Sachverhalt, warum im-<br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

mer wieder Spannungen auftreten zwischen Individuum und Gesellschaft,<br />

Spannungen, die sich von Zeit zu Zeit in offenem Konflikt entladen.<br />

Das ist der eigentliche Grund, weswegen Gerechtigkeit und<br />

Friede im gesellschaftlichen Leben nicht endgültig verwirklicht werden<br />

können, so lange wie das allgemeine Interesse der Gesellschaft<br />

von bestimmten Individuen mit der Macht politischer Legitimität gegenüber<br />

allen andern Individuen durchgesetzt werden muß. Der neuzeitliche<br />

Verfassungsstaat ist erfinderisch gewesen in der Entwicklung<br />

von vielerlei Beschränkungen politischer Macht, und solche Beschränkungen,<br />

zu denen auch Vorkehrungen für periodischen, geordneten<br />

Machtwechsel gehören, mögen die Einseitigkeiten, die mit der<br />

tatsächlichen Partikularität der Wahrnehmung politischer Macht verbunden<br />

sind, mildern. Dennoch lassen sich Verfestigung und Monopolisierung<br />

partikularer Ansprüche auf die Ausübung politischer Macht<br />

nicht völlig verhindern, und daher wird es immer wieder zu Rebellion,<br />

Revolution und Repression kommen. Da erst das Reich Gottes selber<br />

der Herrschaft von <strong>Menschen</strong> über <strong>Menschen</strong> ein Ende setzen wird, so<br />

wird Friede und Gerechtigkeit erst im Reiche Gottes vollkommen realisiert<br />

sein. Das erklärt, warum Jesus nicht zu politischem Handeln<br />

aufrief, um die Ankunft <strong>des</strong> Gottesreiches zu beschleunigen. Obwohl<br />

die politische <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> zu einem Leben in friedlicher<br />

Gemeinschaft mit allen andern <strong>Menschen</strong> erst durch das Reich<br />

Gottes verwirklicht werden kann, das Reich Gottes also die Wirklichkeit<br />

der politischen <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> ist, kann dieses Ziel<br />

nicht gefördert, sondern nur pervertiert werden, wo es direkt zum Gegenstand<br />

politischen Handelns gemacht wird, indem solches Handeln<br />

einmal mehr unter der Verheißung geschieht, dadurch werde jene<br />

ganz neue und endgültig humane Gesellschaft verwirklicht. Politische<br />

Programme, die dergleichen vorgeben, zielen in jedem Falle auf Täuschung<br />

anderer, und manchmal beruhen sie auch auf der Selbsttäuschung<br />

ihrer Urheber. <strong>Die</strong> absolute Verheißung verdeckt nicht nur die<br />

tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse, sondern rechtfertigt auch jede<br />

Repression gegen Widerstände, die sich ihr in den Weg stellen. Es ist<br />

kein Zufall, daß Jesus kein Zelot gewesen ist.<br />

Es ist nun vielleicht eher verständlich, warum Jesus seine Verkündigung<br />

vom Kommen und Anbruch der Gottesherrschaft auf einzelne<br />

Individuen als Herausforderung ihres Glaubens konzentrierte. Doch<br />

auch in dieser Gestalt implizierte seine Botschaft immer noch den Gedanken<br />

einer endgültigen, eschatologischen Gemeinschaft der Men-<br />

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