PDF-Download - Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft
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sinn<br />
stifter<br />
2006<br />
ausgewählte texte
sinn<br />
stifter<br />
2006<br />
ausgewählte texte
Inhalt<br />
Arend Oetker<br />
Auf ein Wort 4<br />
Udo Di Fabio<br />
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
Die Gesellschaft im Spannungsfeld ihrer Teilsysteme 7<br />
Gesine Schwan<br />
Umwege erlaubt!<br />
Zivilgesellschaftliche Verantwortung als Chance <strong>für</strong><br />
Freiheit und Demokratie 25<br />
Andrei Ples,u<br />
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
Die Psychologie der Ideologie 47<br />
Die Autoren 62
4<br />
Auf ein Wort<br />
Von Arend Oetker<br />
Verantwortung“ und „Pflicht“ sind zwei Schwergewichte<br />
unter den moralischen Begriffen. Ihr Gebrauch<br />
ver<strong>die</strong>nt besondere Sorgfalt. Deshalb scheint<br />
es mir eine sehr gute Regel zu sein, Pflichtbewusstsein und<br />
Verantwortungsgefühl nicht bei anderen anzumahnen,<br />
sondern es stattdessen engagiert zu loben, wo immer es<br />
sich zeigt. Hier kommt der <strong>Stifterverband</strong> ins Spiel. Denn<br />
Verantwortungsgefühl ist <strong>die</strong> Leitidee, <strong>die</strong> seine Mitglieder<br />
eint.<br />
Was 1920 begann, ist noch immer einzigartig auf dem<br />
Globus. Nirgendwo sonst in der industrialisierten Welt<br />
existiert eine Gemeinschaftsaktion der Wirtschaft, <strong>die</strong> sich<br />
um <strong>die</strong> Leistungsfähigkeit und Exzellenz des <strong>Wissenschaft</strong>s-<br />
und Hochschulsystem bemüht.<br />
Verantwortungsbewusste Unternehmen gibt es in<br />
Deutschland viele, und auf jeden Fall sind <strong>die</strong> Firmen weit<br />
in der Überzahl, <strong>die</strong> wissen, dass der Blick über das eigene<br />
Werkstor und den eigenen Markt hinausgeht. Aber Mitglied<br />
im gemeinsamen Projekt <strong>Stifterverband</strong> zu sein, bedeutet<br />
mehr. Hier ist das Engagement <strong>für</strong> <strong>die</strong> gute Sache<br />
von allen vermeintlichen Nebenzielen, von Marketing bis<br />
Public Relations, entkleidet. Im warmen Licht der Philanthropie<br />
kann sich hier keine Firmenleitung sonnen,<br />
denn das Engagement des einzelnen Unternehmens geht<br />
auf in der Gemeinschaft. Das macht den <strong>Stifterverband</strong><br />
noch immer zu etwas Besonderem. Erst recht, nachdem<br />
sich seit 50 Jahren immer mehr engagierte Bürgerinnen<br />
und Bürger als Einzelmitglieder oder Stifter hinzugesellen.<br />
Etwas Besonderes ist er aber nicht aus sich heraus, sondern<br />
allein durch seine Mitglieder, Förderer und Freunde.<br />
Der SINN-STIFTER 2006 ist Ausdruck des bescheidenen<br />
Versuchs, den Menschen, <strong>die</strong> den <strong>Stifterverband</strong> tra-
gen, Dank abzustatten. Das Heft versammelt drei Texte, <strong>die</strong><br />
jeder auf seine Weise zu den intellektuellen Höhepunkten<br />
des Jahres gehören. Ich verbinde <strong>die</strong> besten Wünsche<br />
<strong>für</strong> das Jahr 2007 mit der Hoffnung, dass <strong>die</strong> Begegnung<br />
mit den Gedanken Gesine Schwans, Udo Di Fabios und<br />
Andrei Ple‚sus dem Leser ein Vergnügen sein möge. Damit<br />
aus Pflicht Freude werde, ganz wie es der indische Weise<br />
Rabindranath Tagore lehrt.<br />
Dr. Arend Oetker<br />
Präsident des <strong>Stifterverband</strong>es<br />
5
Logik der Wirtschaft und<br />
Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
Die Gesellschaft im Spannungsfeld ihrer Teilsysteme<br />
Von Udo Di Fabio<br />
Die Wirtschaft fördert <strong>die</strong> <strong>Wissenschaft</strong>, um das Gemeinwohl<br />
und also auch um sich selbst zu fördern.<br />
Die <strong>Wissenschaft</strong> wiederum öffnet sich den Bedürfnissen<br />
der Wirtschaft, um den Wohlstand zu mehren<br />
und auch in Zukunft frei nach Wahrheit suchen zu können.<br />
Man könnte sagen: Zwei großartige Egozentriker suchen<br />
Nutzen durch Nähe. In der Tiefe ihres Denkens und<br />
Strebens verstehen Wirtschaft und <strong>Wissenschaft</strong> sich nicht<br />
übermäßig, aber sie brauchen sich. So gesehen, kommt alles<br />
auf das richtige Verständnis <strong>für</strong>einander und dann auf<br />
den gelungenen Transfer an. Der Tausch Geld gegen Wissen<br />
und Wissen gegen Geld kann nur gelingen, wenn man<br />
ein klares Bild vor Augen hat, wie unwahrscheinlich ein<br />
solcher Tausch mit beiderseitigem Vorteil eigentlich ist. Im<br />
Grunde sind <strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft trotz eines gewaltigen<br />
Systems der Kooperation verschiedene und <strong>für</strong>einander<br />
fremde Welten. Wer darin einen Missstand sieht<br />
und daran rütteln will, hat womöglich nicht verstanden,<br />
worum es geht.<br />
Seit etwa 500 Jahren sind <strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft<br />
sich einander näher gekommen, und zwar weil sie sich<br />
voneinander in abgrenzbare Sphären getrennt und dann<br />
aneinander gekoppelt haben, vermutlich war sogar zuerst<br />
<strong>die</strong> Kopplung da, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Abschließung <strong>für</strong>einander erst<br />
möglich gemacht hat. In den oberitalienischen Städten der<br />
Renaissance wurde von Leonardo da Vinci bis Galilei <strong>die</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong> von reiner, indes traditionell ethisch und religiös<br />
gebundener Verstandestätigkeit zur experimentellen<br />
Forschung und durch <strong>die</strong>se selbst gewählte Begrenzung sowohl<br />
zur praktischen Verwendbarkeit wie zur Autonomie,<br />
zur Freiheit geführt. Die engen sozialen Bindungen vor allem<br />
zur Familie und zur Religion wurden gelöst. <strong>Wissenschaft</strong><br />
hat sich entworfen als spezialisierte Suche nach<br />
7
Udo Di Fabio<br />
8<br />
überprüfbaren Wahrheiten, nach objektivierbaren Aussagen<br />
über <strong>die</strong> Welt.<br />
Auch <strong>die</strong> Wirtschaft wurde mit dem Anbruch der Neuzeit<br />
mehr und mehr freigelassen, aus dem engen Korsett<br />
politischer und kultureller Fixierung des mittelalterlichen<br />
Gesellschaftssystems befreit. Händler, Bankiers und erste<br />
Unternehmer der Städte durften das tun, wonach sie <strong>die</strong><br />
Logik des Wirtschaftens eigentlich immer gedrängt hatte:<br />
Güter und deren Wertesymbole in der Hand des Eigentümers<br />
zu akkumulieren, ein freies berechenbares Tauschsystem<br />
zu etablieren, es geschmeidig zu machen und vor<br />
Störungen zu schützen.<br />
Eine Gesellschaft, <strong>die</strong> sich auf solchem Wege funktional<br />
differenziert, verzichtet auf sichtbare Einheit. Die<br />
Einheit der Gesellschaft oder besser ihr Einheitsproblem<br />
liegt gleichsam zwischen den Systemen, in ihrer Abhängigkeit<br />
voneinander, <strong>die</strong> genau in dem Maße steigt, wie sie<br />
sich eigene Freiheiten herausnehmen und immer selbstbezüglicher<br />
werden. Eine freie Wirtschaft braucht in immer<br />
größerem Umfang technisch verwertbares Wissen; wer<br />
hier nicht mithält, muss entweder im schärfer werdenden<br />
internationalen Wettbewerb <strong>die</strong> Segel streichen oder auf<br />
Kosten von Umwelt und sozialen Standards produzieren.<br />
Die freie <strong>Wissenschaft</strong> und Forschung wiederum verlangen<br />
nach immer mehr Geld. Dies ist ein wichtiger Grund,<br />
warum nach neuen Wegen <strong>für</strong> Universitäten gesucht wird.<br />
Doch zu dem Bunde gehört auch der Dritte. An der<br />
Wiege der freien Wirtschaft wie der freien <strong>Wissenschaft</strong><br />
stand <strong>die</strong> Befreiung des politischen Systems in der Form<br />
des modernen Staates. Der moderne Staat pflegte nicht nur<br />
eine Illusion von Einheit, <strong>die</strong> es in der funktional differenzierten<br />
Gesellschaft auf Dauer gar nicht geben konnte.<br />
Er agierte vielmehr auch sehr erfolgreich wie der Manager<br />
eines Teams von Individualisten, indem er <strong>die</strong> Autonomie<br />
der Wirtschaft und der <strong>Wissenschaft</strong> zielgerichtet
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
förderte und zudem persönliche Freiheit, rationales Recht<br />
und Frieden sicherte. Aber inzwischen hat sich gezeigt,<br />
dass <strong>die</strong> Kosten eines solchen Einheitsmanagements an<br />
Grenzen stoßen, <strong>die</strong> hier und dort bereits dasjenige ineffektiv<br />
oder gar kontraproduktiv machen, was der Staat erstrebt.<br />
Die Rolle des Staates hat sich gewandelt: Wo er früher<br />
in einer bipolaren Beziehung das <strong>für</strong> eine prosperierende<br />
Gesellschaft Notwendige direkt gefördert hat, versucht<br />
er heute wieder mehr in <strong>die</strong> Rolle des Mediators<br />
zwischen <strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft zu schlüpfen.<br />
Das hat Tradition. Die preußische Universitätspolitik<br />
und Gewerbeförderung gehörte im 19. Jahrhundert zu den<br />
erfolgreichsten Projekten der Modernisierung einer Gesellschaft<br />
überhaupt. In dem Jahrhundert von Wilhelm von<br />
Humboldt bis zu Friedrich Althoff wurde ganz Bemerkenswertes<br />
auf den Weg gebracht. Aus dem<br />
Humboldt‘schen Universitätsgedanken wuchs eine Institution,<br />
<strong>die</strong> der <strong>Wissenschaft</strong> im Innern Freiheit und Gleichwertigkeit<br />
aller Zweige brachte und ihr <strong>die</strong> praktischen<br />
Voraussetzungen gab, zu forschen und mit der Lehre sich<br />
gesellschaftlich dauernd zu verankern. Aber das sich industrialisierende<br />
Deutschland sah bereits in der Mitte des<br />
19. Jahrhunderts <strong>die</strong> Gefahren einer zu idealistisch bildungsbürgerlich<br />
verspielten und geisteswissenschaftlich<br />
dominierten Universitätslandschaft: Es wird naturwissenschaftlich-technische<br />
Sonderforschung, es werden technische<br />
Hochschulen gefordert und geschaffen. Die gegen<br />
Ende <strong>die</strong>ses Prozesses stehende Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft<br />
will bereits – und auch mit einer besorgten Geste<br />
der Verteidigung – der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft<br />
<strong>die</strong> Spitzenforschung an der Front des Fortschritts<br />
im internationalen Wettbewerb sichern. Die vorangegangene<br />
Förderung mittels der physikalisch-technischen<br />
Reichsanstalt und sodann <strong>die</strong> Förderung der chemischen<br />
Forschung zielten mehr oder minder direkt auf industrielle<br />
9
Udo Di Fabio<br />
10<br />
Verwertung, aber auch auf Forschungsorganisation außerhalb<br />
der Universitäten.<br />
Dies wurde beispielgebend deutlich in der seit 1905<br />
in Angriff genommenen, aber gescheiterten Gründung der<br />
chemischen Reichsanstalt. Auch hier sollte der Brückenschlag<br />
zwischen reiner <strong>Wissenschaft</strong> und produktbezogener<br />
Industrieforschung gelingen. Die damaligen Diskussionen<br />
über Aufgaben und Finanzierung der Anstalt muten<br />
übrigens dem heute Lebenden sehr vertraut an. Die<br />
Vertreter der chemischen Forschung aus den Universitäten<br />
wollten <strong>die</strong> Errichtung reiner Forschungsinstitute, um<br />
Grundlagenforschung betreiben zu können, <strong>die</strong> Wirtschaft<br />
wollte praktische Ergebnisse. Das nur über knappe finanzielle<br />
Mittel verfügende Reich wollte möglichst stark <strong>die</strong><br />
chemische Industrie zur Kasse bitten, <strong>die</strong>se leistete zähen<br />
Widerstand, weil sie vom Nutzen bei hohem Finanzaufwand<br />
nicht überzeugt war und schließlich auch ihre eigene<br />
chemische Forschung zu finanzieren hatte.<br />
Gleichwohl setzten sich <strong>die</strong> Ideen der staatlichen Forschungsförderung<br />
und der kooperativen Verbindung von<br />
<strong>Wissenschaft</strong> und Industrie durch. Der preußische Verwaltungsbeamte<br />
Friedrich Althoff entwickelte einen Weitblick<br />
<strong>für</strong> <strong>die</strong> Notwendigkeit von Spitzenforschung und<br />
wählte in engem Kontakt mit der ersten Riege von <strong>Wissenschaft</strong>lern<br />
zielsicher <strong>die</strong> Gebiete aus, auf <strong>die</strong> es ankam.<br />
Das, was heute als Baum der Forschungsförderung in<br />
Deutschland gewachsen ist, hat hier seine Wurzeln. Er hat<br />
weit verzweigte Triebe ausgebracht, aber man kann kaum<br />
sagen, dass <strong>die</strong> Förderung den wachsenden Möglichkeiten<br />
der öffentlichen Haushalte nach 1960 proportional angepasst<br />
wurde.<br />
Zudem vermisst man hundert Jahre später einen neuen<br />
Althoff, der gebildet, leidenschaftlich und beratungsoffen<br />
ans Werk gehen kann und klar vorgibt, welche <strong>Wissenschaft</strong>srichtungen<br />
besonders gefördert werden. Wobei
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
übrigens zu seiner Zeit der so genannte institutionelle<br />
Wettbewerb, außerhalb des personenbezogenen Kampfes<br />
um Reputation und neuer Erkenntnis, etwa als einer zwischen<br />
Universitäten oder Forschungseinrichtungen, kaum<br />
eine Rolle gespielt hat, sondern einfach <strong>die</strong> Differenz der<br />
politisch bereitgestellten Mittel. Allerdings würde heute jedem<br />
Nachfolger Althoffs es an der praktischen Möglichkeit<br />
fehlen, bei schwach ausgebildeten Reichs- beziehungsweise<br />
Bundeskompetenzen über das dominante Preußen zugleich<br />
Reichspolitik zu gestalten. Man vermisst zudem<br />
auch den Elan einer Gesellschaft, <strong>die</strong> weiß, dass ihr Schicksal<br />
sich maßgeblich auch auf dem Feld der Grundlagenforschung<br />
und eines konsistenten Systems von Bildung,<br />
Universitäten, Forschung und Unternehmen entscheidet.<br />
Wir stehen heute in einer Etappe, <strong>die</strong> in einiger Hinsicht<br />
eher an <strong>die</strong> Zeit nach den napoleonischen Kriegen<br />
erinnert. Damals hatte sich in Deutschland das Gefühl breit<br />
gemacht, man habe zwar beträchtliche geistige und ideelle<br />
Ressourcen, drohe aber den Anschluss an <strong>die</strong> wissenschaftlich-technische<br />
Entwicklung in England oder Frankreich<br />
zu verlieren. Heute schauen wir auf <strong>die</strong> Vereinigten<br />
Staaten und zusätzlich noch auf Japan, China und In<strong>die</strong>n.<br />
Dabei beschleichen uns ähnliche Gefühle der Kraftlosigkeit<br />
wie damals nach der Erfahrung mit Napoleon. Wir<br />
sind uns alle einig, dass etwas geschehen muss: Der Gedanke<br />
der wirtschafts- und gesellschaftsnützlichen Forschungsförderung<br />
muss den deutlich gewandelten Rahmenbedingungen<br />
angepasst werden. Die Wirtschaft ist wieder<br />
mobiler und weltweit arbeitsteiliger geworden, <strong>die</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
ist stärker internationalisiert, heterogener und<br />
aufwendiger bei Großforschungsvorhaben.<br />
Es wäre allerdings ein Fehler zu glauben, es geschehe<br />
nichts. Im Gegenteil sind bemerkenswerte Erfolge zu verzeichnen,<br />
wobei <strong>die</strong> Universitäten und andere Forschungseinrichtungen<br />
von einem differenzierten System<br />
11
Udo Di Fabio<br />
12<br />
der Förderung umrahmt werden: Grundlagenforschung<br />
beispielsweise durch <strong>die</strong> <strong>Deutsche</strong> Forschungsgemeinschaft,<br />
anwendungsorientierte <strong>Wissenschaft</strong>s- und Technikförderung<br />
etwa durch <strong>die</strong> Fraunhofer-Gesellschaft. Das<br />
komplexe System der deutschen <strong>Wissenschaft</strong>s- und Forschungsförderung<br />
benötigt jedoch immer wieder <strong>die</strong> Fähigkeit,<br />
einfache Grundfragen des Verhältnisses von <strong>Wissenschaft</strong><br />
und Wirtschaft in einem durchdachten Konzept<br />
zu beantworten. Manch einer bezweifelt <strong>die</strong> Effektivität der<br />
eingesetzten staatlichen und privaten Mittel.<br />
Viele <strong>Wissenschaft</strong>ler machen tagtäglich <strong>die</strong> Erfahrung<br />
bürokratischer Überregulierung, pures Gift <strong>für</strong> <strong>die</strong> Welt der<br />
<strong>Wissenschaft</strong>. Die öffentlich-rechtlichen Universitäten<br />
beschäftigen sich im Grunde fortlaufend mit staatlich induzierten<br />
Reformen, fast alle Professoren sollen betriebswirtschaftliche<br />
und verwaltungsjuristische Denkweisen implementieren,<br />
<strong>die</strong> privatnützliche eigene Verwertung ihrer<br />
Fähigkeiten wird in der Tendenz eher beschränkt und in<br />
der Höhe mit Argusaugen betrachtet. Das komplexe System<br />
der Forschungsförderung, der Drittmitteleinwerbung<br />
und des so genannten Exzellenz-Wettbewerbs um<br />
staatliche Gelder führt in manchen Disziplinen zu der dilemmatischen<br />
Wahl: entweder ein wohlhabender Virtuose<br />
wohlklingender Antragstellungen zu werden, raffinierter<br />
Organisator von zugewiesenen Mitteln oder als freier<br />
Professor zu forschen, ohne größere Mittel. Ein weit gegliedertes<br />
Projekt- und Evaluierungssystem lenkt einen<br />
wichtigen Teil der Energie von Spitzenkräften auf <strong>die</strong> Begutachtung<br />
der Forschungsvorhaben oder <strong>die</strong> Berufungen<br />
anderer.<br />
Wer hier eine klärende Besinnung auf <strong>die</strong> Grundlagen<br />
des Ganzen fordert, sollte <strong>die</strong> schwierige Frage in den Blick<br />
nehmen, wie der Logos der <strong>Wissenschaft</strong> und wie <strong>die</strong> Logik<br />
der Wirtschaft geartet sind und wie sie am besten strukturell<br />
gekoppelt werden können.
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
Die Logik der Wirtschaft ist einfach zu verstehen. Ihr<br />
Erfolg lässt sich ohne größere Evaluierungsbürokratie am<br />
Ertrag messen. Solange <strong>die</strong> Wirtschaft an Verwandtschaftsbeziehungen<br />
des Hauses und der Familie geknüpft<br />
war, solange sie im festen Griff von Religion, politischer<br />
Herrschaft und deren fremden Regeln war, konnte sie sich<br />
nicht richtig entfalten und damit den Menschen auch nicht<br />
in ihrer typischen Indifferenz <strong>die</strong> Mittel und Formen geben,<br />
um frei zu sein. Doch wer das Feld bestellte, wer sein<br />
Handwerk betrieb, sich dem Handel widmete, Geld verlieh,<br />
der wurde zu jeder Zeit aus der Sache heraus zu einem<br />
bestimmten Kalkül gedrängt: zur Logik des Ertrages,<br />
der Effizienz, des Rechnens, der Buchhaltung. Wer wirtschaftlich<br />
mit Renditeerwartung handelt, kommuniziert<br />
dadurch mit der Welt und wird auf <strong>die</strong> Logik des profitablen<br />
Tausches gestoßen, muss <strong>die</strong>se Logik akzeptieren und<br />
sein Denken danach ausrichten. Es ist zugleich das Muster<br />
<strong>für</strong> jedes empirische Vorgehen. Wer Gewinn erzielen<br />
will, macht sich eine Vorstellung, einen Plan, taxiert Konkurrenten,<br />
schafft eine Organisation, bietet ein Produkt an<br />
und schaut, was geschieht. Die Validität des Vorhabens erweist<br />
sich im Erfolg der Bilanz. Hier findet <strong>die</strong> von Sir Karl<br />
Popper beschriebene Logik der Forschung ihr bestes Vorbild:<br />
„Trial and Error“.<br />
Erst <strong>die</strong> Neuzeit jedoch hat den letzten Schritt getan<br />
und ganz gezielt <strong>die</strong> Wirtschaft – prinzipiell erst mit der<br />
Gewerbefreiheit und der Aufhebung von Leibeigenschaft<br />
– freigelassen und nur <strong>die</strong>ser, ihrer eigenen Logik überlassen.<br />
Was daraus gewachsen ist, nennen manche in der<br />
Sprache des 19. Jahrhunderts immer noch Kapitalismus.<br />
Wohlmeinendere nennen es Marktwirtschaft. Die freie<br />
Wirtschaft hat jedenfalls nicht nur <strong>die</strong> modernen Gesellschaften<br />
wohlhabend gemacht, sondern sie ist <strong>für</strong> <strong>die</strong> freiheitliche<br />
Gesellschaft gänzlich unverzichtbar. Ohne den<br />
freien Markt, ohne <strong>die</strong> lebendigen Institutionen des Ver-<br />
13
Udo Di Fabio<br />
14<br />
tragsrechts und des Eigentums sind weder individuelle<br />
Freiheit noch ein Freiheit lassendes Zusammenspiel der<br />
verschiedenen Sphären der Gesellschaft denkbar.<br />
Abstrahiert man von konkreten Personen und ihren<br />
Auffassungen, so hat <strong>die</strong> Logik des Wirtschaftens gewiss<br />
etwas Kaltes, Mathematisches und egoistisch Rücksichtsloses.<br />
Ohne <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> Rendite kalkulierende Indifferenz gäbe<br />
es keinen Wohlstand auf dem heute erreichten globalen<br />
Niveau und vor allem keine Möglichkeit, den Menschen<br />
als gleichberechtigtes und freies Individuum zu denken.<br />
Wenn <strong>die</strong> materiellen Bedingungen des Menschen<br />
ohne ein solches, differenziert formalisiertes Tauschsystem<br />
– also ohne Markt – beherrscht werden sollen, führt <strong>die</strong>s<br />
unweigerlich zu einer intensiven Herrschaft über Menschen,<br />
in <strong>die</strong> Knechtschaft. Politik, <strong>Wissenschaft</strong> oder<br />
Ethik sollten deshalb <strong>die</strong> Logik der Wirtschaft und ihren<br />
Dienst <strong>für</strong> <strong>die</strong> freie Gesellschaft achten, denn ohne sie gäbe<br />
es auch deren Grad der Autonomie nicht.<br />
Eine ganz andere Frage ist, wie man Renditeerwartungen<br />
und darauf gerichtete Investitionen so beeinflussen<br />
kann, dass andere Systemprioritäten, etwa das Erkenntnisinteresse<br />
der <strong>Wissenschaft</strong>, befördert werden.<br />
Hier regen sich sofort <strong>die</strong> Steuerungs- und Implementierungstechniker.<br />
Schaut man näher hin, so stößt allerdings<br />
<strong>die</strong> unmittelbare strukturelle Kopplung von wirtschaftlicher<br />
Renditeerwartung und dem wissenschaftlichen Prozedere<br />
auf Schwierigkeiten: Sie ist weniger geschmeidig<br />
und erprobt als <strong>die</strong> Beziehungen zwischen Politik und<br />
Recht oder zwischen Politik und <strong>Wissenschaft</strong>. In der Institution<br />
des Staates hat sich <strong>die</strong> Politik darauf spezialisiert,<br />
<strong>für</strong> jedes andere Teilsystem der Gesellschaft eine spezifische<br />
Umwelt mit besonderen Mitteln der Beeinflussung<br />
zu sein, <strong>für</strong> andere Systeme untereinander gilt das nicht<br />
in gleichem Maße, allerdings mit erheblichen Unterschieden<br />
im internationalen Vergleich. Dies wird <strong>für</strong> <strong>die</strong>
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong> verständlich, wenn man nach ihrer Operationslogik<br />
fragt, <strong>die</strong> sich nicht so leicht fassen lässt wie<br />
<strong>die</strong> der Wirtschaft.<br />
<strong>Wissenschaft</strong> ist wahrheitszentrierter methodischer Zugang<br />
zur Welt. Die moderne <strong>Wissenschaft</strong> hat sich ebenso<br />
aus den Fängen einer integrationistischen Gesellschaft<br />
befreit, <strong>die</strong> Fesseln des politischen oder religiösen Interesses<br />
abgestreift. Der Naturwissenschaftler will wissen, wie<br />
<strong>die</strong> Welt wirklich ist, unabhängig von unseren Träumen<br />
und Wünschen. Er will der Natur ihren Takt ablauschen,<br />
und zwar intersubjektiv überprüfbar, also in Ableitung und<br />
Experiment <strong>für</strong> jeden nachvollziehbar. Die Soziologie<br />
macht sich auf denselben Weg, ihr Gegenstand ist allerdings<br />
nicht <strong>die</strong> Natur, sondern eine Gesellschaft, <strong>die</strong> sich<br />
nicht erst im Quantenbereich mit jeder betätigten Beobachtung<br />
als Gegenstand verändert. Die Geisteswissenschaften<br />
sind heterogener, aber auch sie wollen wissen, was<br />
ist, was war oder was gilt. Die Philosophie, <strong>die</strong> den Logos<br />
der <strong>Wissenschaft</strong> wohl als erste in sich getragen hat, fragt<br />
auch nach Bedingungen und Grenzen der Wahrheit, sie<br />
fragt nach dem Sein auch noch des Sinns und der Begriffe.<br />
Die Rechtswissenschaft sagt, was rechtsverbindlich gilt,<br />
und muss sich immer auf <strong>die</strong> Existenz einer Norm berufen.<br />
Auch <strong>die</strong> Ermittlung des Sollens ist eine Frage nach<br />
dem Sein, so wie jede Aussage über das Sein uneliminierbar<br />
einen normativen Rest ins sich trägt, wie derjenige Physiker<br />
belegt, der überzeugt ist, Gott würfele nicht.<br />
Die besondere Leistung der <strong>Wissenschaft</strong> liegt darin,<br />
durch Restriktion zulässiger Argumente, insbesondere<br />
durch das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Aussagen<br />
und der intersubjektiven Überprüfbarkeit wahrheitsfähiger<br />
Aussagen, zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen,<br />
<strong>die</strong> ohne <strong>Wissenschaft</strong> nicht erreichbar wären. Aber man<br />
sieht sofort, dass <strong>die</strong> binäre Co<strong>die</strong>rung der <strong>Wissenschaft</strong><br />
nicht so einfach ist wie <strong>die</strong>jenige der Geldwirtschaft; es<br />
15
Udo Di Fabio<br />
16<br />
geht nicht nur um eine feststehende Logik, es geht in verstärkter<br />
Weise um eine Selbststeuerung der <strong>Wissenschaft</strong><br />
bis in <strong>die</strong> Festlegung des Codes hinein und <strong>die</strong> Zulassung<br />
verschiedener Weltzugänge, <strong>die</strong> gleichsam als gerade noch<br />
wissenschaftlich gelten können. Am deutlichsten verläuft<br />
<strong>die</strong>se Grenze zwischen Naturwissenschaften und Mathematik<br />
einerseits und Geisteswissenschaft einschließlich<br />
Philosophie, Rechtswissenschaft oder Theologie andererseits.<br />
Mit einer prozedural feststehenden einfachen Logik<br />
allein kommt <strong>Wissenschaft</strong> als Ganzes nicht aus. Als Erkenntnissystem<br />
entfaltet <strong>Wissenschaft</strong>, auch als exakte Naturwissenschaft,<br />
immer – und immer zugleich über sich<br />
hinausgreifend – den Logos menschlicher Vernunft, so wie<br />
sie von <strong>die</strong>sem abhängig bleibt, weil sie <strong>die</strong>sen Logos nicht<br />
vollständig – weil der Lebenswelt, einer Kultur zugehörig<br />
– zu systematisieren und zu begreifen vermag.<br />
Was bedeuten solche Einsichten <strong>für</strong> das Verhältnis von<br />
<strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft? Jeder Versuch, <strong>die</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
intensiv zu steuern, ihr kleinformatig wirtschaftsverwertbare<br />
Ziele vorzugeben, ihr einen anderen Zeitrhythmus<br />
als ihren eigenen abzuverlangen, ihr <strong>die</strong> Logik<br />
des Wirtschaftens vor den Logos der Erkenntnis zu setzen,<br />
wird ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Aber das<br />
hindert ein Unternehmen nicht, Fragen zu formulieren<br />
und ihre Visionen neuer Produkte oder Dienstleistungen<br />
als handfeste Herausforderung der <strong>Wissenschaft</strong> zu präsentieren.<br />
<strong>Wissenschaft</strong> und Politik werden Sorge da<strong>für</strong> tragen,<br />
dass <strong>Wissenschaft</strong>ler wahrheitsfähige Probleme methodisch<br />
bearbeiten können und zugleich <strong>Wissenschaft</strong><br />
durch Nachwuchsförderung verstetigen, Wissen über<br />
Studenten in <strong>die</strong> Gesellschaft hineintragen. Wenn man davon<br />
ausgeht, dass der moderne Mensch verschiedene Systemrationalitäten<br />
kennt und zwischen ihnen wechseln<br />
kann, so ist im einzelnen Forscher <strong>die</strong> Möglichkeit des<br />
Transfers am besten gegeben.
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
Wissen kann mehr monetarisiert werden. Die Wirtschaft<br />
kann verstärkt Aufträge an Forscher vergeben, wenn<br />
<strong>die</strong>se wollen. Es lohnt sich, hohe Preisgelder auszuloben,<br />
wenn es der <strong>Wissenschaft</strong> gelingt, bestimmte Problemlösungen<br />
zu befördern. Der monetarisierte Wirtschaftsbereich<br />
ist aber nur eine Umwelt des <strong>Wissenschaft</strong>lers, regelmäßig<br />
nicht seine Welt. Es ist gut denkbar, dass Universitäten<br />
sich wieder stärker <strong>für</strong> das unternehmerische<br />
Kalkül öffnen, bis hin zu eigenen Unternehmensgründungen.<br />
Es wird aber eine Aufgabe der internen Selbstverwaltung<br />
sein, Managementaufgaben zu professionalisieren,<br />
um <strong>die</strong> Professoren und den wissenschaftlichen<br />
Nachwuchs zu entlasten und ihnen Zeit und inhaltliche<br />
Freiheit <strong>für</strong> <strong>die</strong> Forschung zu geben, dabei das Ansehen<br />
und <strong>die</strong> Potenziale der eigenen Einrichtung zu fördern, ohne<br />
in den verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiraum<br />
des Forschers dirigierend einzugreifen.<br />
Der Logos der <strong>Wissenschaft</strong> braucht institutionelle Orte<br />
und <strong>die</strong> Fähigkeit, hier in eigener akademischer Autonomie<br />
den Geist der <strong>Wissenschaft</strong> zu pflegen und persönliche<br />
Freiräume <strong>für</strong> Forschung, Lehre und praktische<br />
Verwertung von Wissen zuzulassen. Die politische Vorstellung,<br />
eine <strong>für</strong> andere Zwecke als der zweckfreien Erkenntnis<br />
geöffnete Universität als Braut der Wirtschaft zuzuführen,<br />
und zwar mit ärmlicher Mitgift, trägt nicht in<br />
<strong>die</strong> Zukunft. Eine Universitätsreform, <strong>die</strong> kein zusätzliches<br />
Geld ausgeben kann und womöglich noch sparen will, sollte<br />
jedenfalls bescheiden in den Zielen und zurückhaltend<br />
beim Erlass gesetzlicher Regelungen sein.<br />
Wer <strong>die</strong> Universität zu Stiftungen machen möchte, sollte<br />
auch ein vernünftiges Stiftungsvermögen mit auf den<br />
Weg geben, sonst gerät der Änderungselan rasch zur Augenwischerei.<br />
Amerikanische Spitzenuniversitäten beweisen<br />
vor allem eines: Eine Universität kann wirtschaftliche<br />
Rationalität entfalten und zugleich im Binnenbereich groß-<br />
17
Udo Di Fabio<br />
18<br />
zügige Forschungsfreiheit eröffnen, wenn zunächst und<br />
dauerhaft genügend Kapital von außen akquiriert wird: Bei<br />
Harvard betrug das Stiftungskapital am Ende des Fiskaljahres<br />
2004 immerhin 22,6 Mrd. Dollar, wobei <strong>die</strong> Präsidenten<br />
<strong>die</strong>ser Universität immer wieder ihren Ehrgeiz in<br />
„fundraising campaigns“ unter Beweis stellen, <strong>die</strong> zuletzt<br />
den immensen Betrag von 2,6 Mrd. Dollar allein <strong>für</strong> Harvard<br />
eingebracht haben sollen.<br />
Wer <strong>die</strong> Leistung der <strong>Wissenschaft</strong> als Transfer in Köpfe,<br />
Techniken und Produkte steigern will, muss den wissenschaftlichen<br />
Organisationen Freiheit und Geld geben,<br />
aber nicht Bürokratie, weder <strong>die</strong> gute alte noch <strong>die</strong> schöne<br />
neue der Evaluierungs- und Zertifizierungssysteme. Es<br />
ist jener sperrige Logos der <strong>Wissenschaft</strong>, der Erfolg und<br />
Reputation kaum messbar und vergleichbar sein lässt, jedenfalls<br />
nicht mit sozialtechnischen Systemen, allenfalls<br />
mit der Feststellung, wer in seiner Fachgemeinschaft besonders<br />
herausragt und Ansehen genießt, wer prägt, wer<br />
Innovationen gefördert, erfolgreiche Ideen entwickelt hat.<br />
Der Versuch in der Fläche und mit standardisierten Beurteilungsverfahren<br />
Leistungen in Forschung und Lehre<br />
nicht nur zu erkennen, sondern dann auch zur Grundlage<br />
von Gegenleistungen zu machen, sollte besser an erprobte<br />
Beurteilungen der Forscherpersönlichkeit anschließen<br />
und das Harnack‘sche Prinzip nicht aus dem Auge<br />
verlieren. Sonst fördern wir lediglich <strong>die</strong> Seilschaft eines<br />
bürokratieerprobten akademischen Durchschnitts<br />
und verdrängen <strong>die</strong> eigenwilligen, produktiven Köpfe aus<br />
dem Raum des <strong>Wissenschaft</strong>ssystems.<br />
Die Politik, nicht anders als <strong>die</strong> Wirtschaft, steht vor<br />
der Gefahr, um Geld zu sparen, allzu stark auf klangvolle<br />
Modernisierungsbegriffe und internationalisierte Vorgaben<br />
der Einheitlichkeit zu setzen, <strong>die</strong> dort Gehorsam zu<br />
verlangen scheinen, wo eigene Ideen dringend gefragt wären.
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
Die Universitäten stehen wie andere Einrichtungen<br />
mitten in einer Wirtschaftsgesellschaft. Universitäten und<br />
Forschern dürfen aber nicht zuerst Mittel entzogen werden,<br />
damit sie gefügig <strong>für</strong> Drittmittel werden und nur noch<br />
daran denken, wie sie mit Geld und Stellen das Notwendigste<br />
leisten können. Eine solche Ökonomisierung als<br />
Verarmung der Universitäten und der anderen besonderen<br />
Forschungseinrichtungen würde den Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
in Nischen verbannen und auf längere Sicht erdrücken.<br />
<strong>Wissenschaft</strong>sfreiheit und das Prinzip effektiver<br />
Wirtschaftsförderung verlangen vom Staat nach wie vor,<br />
weitsichtige politische Entscheidungen <strong>für</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
und Bildung im Sinne eines Althoffs zu treffen und nicht<br />
alles einem mit heißer Nadel genähten Scheinwettbewerb<br />
zu überlassen, der mehr Deformation als gleiche Ausgangsbedingungen<br />
aufweist.<br />
Wir sollten <strong>die</strong> Gestaltung der <strong>Wissenschaft</strong>slandschaft<br />
in Deutschland nicht allzu sehr an anonyme Kräfte inländischer<br />
und internationaler Expertengremien auslagern,<br />
sondern zum Kerngeschäft der Standortsicherung machen,<br />
und zwar in enger strategischer Abstimmung zwischen<br />
den Bedürfnissen von Industrie und Wirtschaft, Universitäten<br />
und anderen <strong>Wissenschaft</strong>seinrichtungen sowie<br />
von Bund und Ländern. Die Beziehung zwischen <strong>Wissenschaft</strong><br />
und Wirtschaft bedarf nicht nur einer sanften<br />
Mediatisierung durch den Staat, <strong>die</strong> Politik muss im Spiel<br />
der beiden unverzichtbaren Egomanen bleiben, um <strong>die</strong> demokratische<br />
Verantwortung im Sinne eines Gemeinwohlanspruchs<br />
wahrzunehmen. Aber <strong>die</strong> Universitäten als<br />
der wichtigste Ort der <strong>Wissenschaft</strong> müssen auch wieder<br />
deutlicher eine Idee von sich selbst gewinnen, damit sie<br />
der Wirtschaft damit begegnen können. Eine starke nationale<br />
Akademie der <strong>Wissenschaft</strong>en würde womöglich<br />
das Gewicht deutscher Forschung im internationalen Prozess<br />
stärken.<br />
19
Udo Di Fabio<br />
20<br />
Wir müssen innerhalb der <strong>Wissenschaft</strong> auch über <strong>die</strong><br />
kulturellen und persönlichen Bedingungen jeder Forschungsfreiheit<br />
nachdenken. Logos heißt immer auch<br />
Grenzüberschreitung aus der Leidenschaft zur Erkenntnis:<br />
Es geht um den Drang, in <strong>die</strong> Terra incognita des noch<br />
nicht Gewussten vorzustoßen und mit <strong>die</strong>sem Vorstoß der<br />
Welt eine neue Gestalt zu geben. Doch <strong>die</strong> Universität darf<br />
es nicht als unzulässige Fremdbestimmung verstehen,<br />
wenn ihr wie zu jeder Zeit angesonnen wird, junge Menschen<br />
mit den Fähigkeiten auszustatten, in Zukunft selbstständig,<br />
schöpferisch und kompetent zu arbeiten.<br />
Die Universität ist wie alle gesellschaftlichen Einrichtungen<br />
eingebunden in eine formalisierte Welt, wobei sie<br />
als Organisation wichtige Kontakte zur Umwelt über Finanzzuweisungen<br />
und rechtliche Fremdbestimmung erfährt.<br />
In der Sprache von Wirtschaft und Politik lernt <strong>die</strong><br />
Organisation zu kommunizieren, und ihr werden von außen<br />
Strukturen zugemutet, innerhalb derer sie, so gut es<br />
geht, ihre Freiheit entfalten muss.<br />
Der Geist der <strong>Wissenschaft</strong> musste immer mit solchen<br />
und anderen Widrigkeiten fertig werden. Die Akteure der<br />
Universität dürfen nur nicht anfangen, <strong>die</strong>se Artefakte anderer<br />
Rationalitätszugänge <strong>für</strong> ihren Mittelpunkt zu halten<br />
oder mit ihrer eigenen Rationalität zu verwechseln. Wir<br />
alle leiden unter der sozialtechnischen Illusion, es käme<br />
auf Prozesse, objektive Evaluierungen, Zertifizierungen<br />
und nicht auf Menschen an. Auch <strong>die</strong> Universität steht im<br />
Bann <strong>die</strong>ser sozialtechnischen Suggestion.<br />
Die Vernunft der modernen Gesellschaft scheint ihre<br />
Einheit verloren zu haben, weil <strong>die</strong> Rationalitäten der Teilsysteme<br />
Wirtschaft, <strong>Wissenschaft</strong>, Politik oder Recht so<br />
stark und so autonom geworden sind. Wer allzu laut nach<br />
dem Staat ruft, sehnt sich häufig nach einer verlorenen Einheit<br />
und überfordert das politische System. Die Einheit der<br />
Gesellschaft entsteht aber nicht nur aus dem sich wech-
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
selseitig herausfordernden Zusammenspiel der vielen<br />
Teilrationalitäten, sondern daneben und mit gleichem Gewicht<br />
im Alltagsverstand und in dem Wollen junger Menschen,<br />
<strong>die</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft von morgen bilden. Insofern<br />
werden <strong>die</strong> globale <strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft in<br />
Deutschland dann einen ihrer großen Plätze finden, wenn<br />
<strong>die</strong> Menschen wieder mehr <strong>die</strong> Faszination wissenschaftlichen<br />
Weltzugangs erfahren und mit Leidenschaft den immensen<br />
Möglichkeiten der Marktwirtschaft sich öffnen, anstatt<br />
ängstlich auf den Staat zu starren.<br />
Dazu müssen sich <strong>die</strong> Kultur der Erziehung und Bildung<br />
sowie <strong>die</strong> Proportionen unseres Wertesystems ändern.<br />
Erkennen und Gestalten sind Tugenden des tätigen<br />
Menschen, der Verantwortung <strong>für</strong> sich und andere übernimmt.<br />
Wir sollten deshalb in der Erziehung und den kulturellen<br />
Debatten auf ein neues, <strong>für</strong> alle offenstehendes<br />
bürgerliches Bewusstsein setzen, ein solches fördern und<br />
einfordern. Aus <strong>die</strong>sem Grund stehen <strong>die</strong> Förderung von<br />
Familien, private und staatliche Erziehungs-, Schul- und<br />
Bildungseinrichtungen mit einer neuen Debatte über Werte<br />
in einem viel engeren Zusammenhang, als manch einer<br />
wahrhaben will. Wenn der Logos der <strong>Wissenschaft</strong> sich aus<br />
der Leidenschaft junger Menschen an methodischer Welterkenntnis<br />
neu entzündet, wird <strong>die</strong>ses Land, wird ganz Europa<br />
wieder zu einem Zentrum des Fortschritts und des<br />
Wohlstands werden. Wenn wir aber den Verlockungen bürokratischer<br />
Regulierung und technokratischer Übersteuerung<br />
von Freiheitsräumen nicht widerstehen, werden unser<br />
Land und unser Kontinent erstarren und womöglich<br />
absteigen.<br />
Die deutsche Wirtschaft sollte nicht nachlassen in ihrer<br />
Anstrengung, mit der Förderung von <strong>Wissenschaft</strong> und<br />
Bildung <strong>die</strong>sem Land, seinen Menschen und sich selbst einen<br />
Nutzen zu stiften. Auch weltweit operierende Unternehmen,<br />
ihre Eigentümer und Manager brauchen einen<br />
21
Udo Di Fabio<br />
22<br />
Ort, an dem sie sich kulturell und lebensweltlich besonders<br />
verankern und in gesteigerter Weise Verantwortung suchen.<br />
Aber <strong>die</strong> gestifteten finanziellen Mittel werden nur<br />
dann sinnvoll eingesetzt werden können, wenn <strong>die</strong> Wirtschaft<br />
einen Sinn <strong>für</strong> Forschung und ihre Vermittlung<br />
pflegt, wenn zugleich aus der <strong>Wissenschaft</strong> heraus klarer<br />
und deutlicher gesagt wird, welche Ideen und Projekte<br />
spannend <strong>für</strong> eine ganze Gesellschaft oder <strong>für</strong> ein Unternehmen<br />
sind.
Logik der Wirtschaft und Logos der <strong>Wissenschaft</strong><br />
23
Umwege erlaubt!<br />
Zivilgesellschaftliche Verantwortung als Chance <strong>für</strong><br />
Freiheit und Demokratie<br />
Von Gesine Schwan<br />
Stiften wirkt! Stellt das etwa jemand in Frage? Aber<br />
<strong>für</strong> wen, in welchem Sinne und in welchem Kontext?<br />
Das sollten wir klären! Zunächst aber zur engeren<br />
thematischen Frage.<br />
Wenn ich Ihnen heute zivilgesellschaftliche Verantwortung<br />
als Chance <strong>für</strong> Freiheit und Demokratie präsentieren<br />
möchte, dann lege ich <strong>die</strong> Vermutung nahe, dass<br />
Freiheit und Demokratie – genauer: Freiheit in der Demokratie<br />
oder Freiheit und demokratische Politik – eine<br />
solche Chance brauchen, weil sie es nicht leicht haben.<br />
In der Tat: Das meine ich. Warum? Sind sie nicht – zumindest<br />
im deutschen Grundgesetz – ein <strong>für</strong> allemal gesichert?<br />
Sind wir uns nicht alle – fast weltweit – über ihren<br />
Wert einig? Oder gibt es hier etwa jemanden, der <strong>für</strong><br />
Unfreiheit und Diktatur plä<strong>die</strong>rte? Nein? Na bitte! Freilich:<br />
Wenn sich so viele Menschen einig sind, muss man<br />
immer auf der Hut sein. Vermutlich meinen sie damit nämlich<br />
nicht dasselbe.<br />
Woran denken wir bei dem Wort Freiheit im Zusammenhang<br />
mit Demokratie? Jedenfalls nicht daran, dass<br />
wir tun und lassen können, was wir gerade wollen. Nicht<br />
an individuelle Willkür, nicht ans Ausnutzen aller eigenen<br />
Möglichkeiten, sondern an einen gesellschaftlichen und<br />
politischen Zusammenhang, in dem wir weder Rechtlosigkeit<br />
noch absoluter Armut unterworfen sind, <strong>die</strong> uns<br />
zwänge, <strong>für</strong> unser täglich Brot unerträgliche Abhängigkeiten<br />
auf uns zu nehmen. Wir meinen also – um einen<br />
Begriff aus der Tradition der Sozialdemokratie in Erinnerung<br />
zu bringen – Freiheit von Not und Furcht.<br />
Und wir denken an mehr: nämlich an <strong>die</strong> schon von<br />
Montesquieu im 18. Jahrhundert <strong>für</strong> den Rechtsstaat geforderte<br />
Sicherheit, uns politisch betätigen zu können, ohne<br />
Angst vor monarchischer oder autokratischer Willkür.<br />
25
Gesine Schwan<br />
26<br />
Wir verstehen Freiheit also zugleich als verantwortliche<br />
Teilhabe am Gemeinwesen auf der Basis einer psychischen<br />
und materiellen Grundsicherheit, nicht als Rückzug in unsere<br />
private Nische; obwohl auch der uns in der repräsentativen<br />
Demokratie zugebilligt sein muss. Aber nicht<br />
im Sinne des Obrigkeitsstaates, in dem Ruhe <strong>die</strong> erste Bürgerpflicht<br />
darstellte, sondern als Schutz vor einem potenziell<br />
totalitären Republikanismus, der uns mit Tugendforderungen<br />
und Dauermobilisierungen à la Robespierre terrorisierte.<br />
Freiheit, Rechtsstaat und politische Teilhabe gehören<br />
in <strong>die</strong>sem Verständnis also zusammen. Und darüber hinaus<br />
gehört dazu Demokratie, <strong>die</strong> Legitimation der politischen<br />
Herrschaft durch das Volk als Souverän. Denn wir<br />
glauben, dass alle Menschen von Natur aus gleich und mit<br />
gleichen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind – that<br />
all men are created equal, that they are endowed by their<br />
Creator with certain unalianable rights, wie es in der amerikanischen<br />
Unabhängigkeitserklärung heißt –, dass jede<br />
politische Verfassung sich also von ihrem gemeinschaftlichen<br />
und gleichberechtigten Willen her rechtfertigen<br />
muss (und nicht von Gottes oder traditioneller Herrschaft<br />
Gnaden), dass <strong>die</strong> Menschen immer schon in einem sozialen<br />
und politischen Zusammenhang leben, und dass es<br />
zu ihrer Würde wie zur sinnvollen Gestaltung ihres Lebens<br />
gehört, ihre gemeinsamen Angelegenheiten ohne Angst<br />
auch gemeinsam zu regeln.<br />
Das ist ein Credo, im religiösen Sinne des Wortes wie<br />
dem der zitierten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung,<br />
weil es einen innerweltlichen Beweis <strong>für</strong> <strong>die</strong> Richtigkeit<br />
unserer Grundannahme nicht gibt. Aber wenn wir<br />
das gleich am Anfang so zugeben, besteht vermutlich <strong>die</strong><br />
beste Chance der Akzeptanz. Wer würde dem, hier, heute<br />
und so abstrakt, widersprechen wollen? Spannender<br />
wird es, wenn konkrete Schlussfolgerungen daraus gezo-
gen werden, <strong>die</strong> in Kollision mit mächtigen Interessen geraten,<br />
z.B. wenn dagegen angebliche Zwänge des globalen<br />
ökonomischen Wettbewerbs zitiert werden, <strong>die</strong> den Luxus<br />
der demokratischen Teilhabe nicht mehr erlaubten. Mal sehen,<br />
wie lange unsere Annahme dann noch akzeptiert wird.<br />
Immerhin: Wir leben nicht allein wie Robinson auf seiner<br />
Insel und wir sollten bei dem Gebrauch unserer privaten<br />
Rückzugs- wie unserer politischen Teilhabefreiheit<br />
<strong>die</strong> Interessen der anderen, aller anderen, des ganzen Gemeinwesens<br />
berücksichtigen. Das Zweite ist allerdings keine<br />
analytische Aussage mehr, sondern eine normative: Wir<br />
sollten. Unsere Freiheit ist nach der Tradition freiheitlicher<br />
Demokratien mit Verantwortung <strong>für</strong> das Gemeinwohl verbunden.<br />
Auch das bestreitet abstrakt kein Mensch. Wem<br />
gegenüber sind wir verantwortlich? Traditionell gibt es da<strong>für</strong><br />
drei Instanzen: Gott, <strong>die</strong> Gesellschaft und das eigene<br />
Gewissen. In der säkularen Welt findet sich Gott in der Regel<br />
ins individuelle Gewissen verlegt, das damit <strong>die</strong> nichtpartikularistische<br />
Perspektive des Gemeinwohls aufbewahrt.<br />
Die Gesellschaft als Instanz ist schon ambivalenter:<br />
Zu manchen Zeiten war <strong>die</strong>s eine verabsolutierte Nation,<br />
in manchen Kulturen steht da<strong>für</strong> bis heute <strong>die</strong> Familie<br />
oder der Clan. Jedenfalls ist <strong>die</strong>se innerweltliche Instanz<br />
nicht gefeit gegen Egoismen und Partikularismen, <strong>die</strong> aber<br />
möglicherweise kulturell nicht als solche empfunden werden.<br />
Das Verständnis von Verantwortung muss also präzisiert<br />
werden.<br />
Ich verstehe darunter eine globale, weltweite den Menschenrechten<br />
verpflichtete Gemeinwohlverbundenheit.<br />
Sie geht von einem normativen Universalismus aus, davon,<br />
dass alle Menschen einen Grundbestand an Werten und<br />
moralischen Überzeugungen teilen. Das ist umstritten.<br />
Orientieren sich <strong>die</strong> Menschen in Singapur, in Botswana,<br />
in Minnesota, Djakarta oder Island an denselben Werten<br />
wie in München oder gar in Berlin? Auf Anhieb sieht das<br />
Umwege erlaubt!<br />
27
Gesine Schwan<br />
28<br />
nicht so aus. Welche Bedeutung hat der Schleier in der<br />
muslimischen Welt? Darüber gibt es Streit. Auch innerhalb<br />
der muslimischen Welt. Dieser Streit ist tröstlich. Denn er<br />
zeigt den Anspruch der Menschen in den verschiedenen<br />
Kulturen, ihren jeweiligen Verständnissen Geltung zu verschaffen.<br />
Damit verweisen sie unausgesprochen auf <strong>die</strong><br />
Prämisse der individuellen Freiheit als Selbstbestimmung,<br />
<strong>die</strong> sie mit ihrem jeweiligen Verständnis des<br />
Schleiers <strong>für</strong> sich beanspruchen, oft unreflektiert als so genannte<br />
objektive Wahrheit.<br />
In vielen ethnologischen Untersuchungen – früher<br />
nannte man das Völkerkunde – finden wir das Bemühen,<br />
das scheinbar ganz andere Fremde in <strong>die</strong> eigene Erlebniswelt<br />
zu übersetzen, in der Annahme, dass solche Übersetzung<br />
hermeneutisch, also auf der Suche nach der richtigen<br />
Bedeutung auf einem gemeinsamen Humanum beruht<br />
und daher überhaupt erst Chancen hat. Auch wenn<br />
man z.B. in den verschiedenen Kulturen unter „Ehre“ etwas<br />
je Verschiedenes versteht, gibt es doch eine Gemeinsamkeit<br />
darin, dass etwas zur Ehre gereicht und anderes<br />
nicht. Aber <strong>die</strong>se Annahme kann – wie <strong>die</strong> der universellen<br />
Gleichheit aller Menschen in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung<br />
– nicht bewiesen, sondern nur geglaubt<br />
werden. Wenn man <strong>die</strong>sen Glauben freilich von<br />
vornherein aufgibt, ist <strong>die</strong> Versuchung, bei Unverständnis<br />
und Konflikten mit Gewalt zu reagieren, überaus verführerisch.<br />
Dann unterteilen wir <strong>die</strong> Menschen einfach, wenn<br />
wir sie nicht verstehen, in „gut“ und „böse“ und fühlen<br />
uns befugt, dass „Böse“ mit Stumpf und Stil auszurotten.<br />
Dabei mag der Hinweis aufschlussreich sein, dass <strong>die</strong><br />
Soziologie, als <strong>die</strong> Lehre von der heimischen Gesellschaft,<br />
heute auch <strong>für</strong> <strong>die</strong>se mehr und mehr von der Ethnologie<br />
abgelöst wird, weil das Fremde der ehedem so genannten<br />
Urvölker beziehungsweise fremden Gesellschaften, <strong>für</strong> das<br />
früher <strong>die</strong> Ethnologie zuständig war, bei uns zu Hause in-
zwischen Einzug gehalten hat. Wenn wir auf eine verantwortliche<br />
Freiheit in der Demokratie hinauswollen, erscheint<br />
es also geraten, auf das Gemeinsame im Fremden,<br />
gerade auch im eigenen Land zu setzen.<br />
Warum braucht <strong>die</strong> so skizzierte verantwortliche Freiheit<br />
in der Demokratie eine neue Chance? Ist sie denn gefährdet?<br />
Gefährdungen von Freiheit und Demokratie<br />
1.<br />
Ja! Zunächst ganz offenkundig durch politische Regime,<br />
<strong>die</strong> Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie von vornherein<br />
nicht vorsehen, sondern durch autokratische Herrscher<br />
oder Clans regiert werden, bis sie immer häufiger im Bürgerkrieg<br />
versinken. Solche Regime sind auf der Erde noch<br />
in der Mehrzahl, und da unsere Welt mehr und mehr zusammenwächst,<br />
spüren wir <strong>die</strong> Folgen davon durch Armuts-<br />
und Politik-Flüchtlinge, aber auch durch Terror direkt<br />
vor unserer Haustür. Wir können uns nicht mehr auf<br />
einen Kontinent der seligen Demokratien zurückziehen<br />
– der wir ja auch bei Lichte betrachtet nie waren –, sondern<br />
müssen uns im wohlverstandenen eigenen Interesse<br />
von Unfreiheit und Armut überall in der Welt angehen<br />
lassen.<br />
Manche ziehen daraus den Schluss, eine aktive globale<br />
Politik der Demokratisierung zu betreiben. Das klingt plausibel,<br />
ist aber leichter gesagt als getan. Denn Demokratie<br />
kann nur gelingen, wo sie von innen her, von einem ausschlaggebenden<br />
Teil der Gesellschaft und nur so, wie sie<br />
von <strong>die</strong>sem Teil gewollt oder zumindest akzeptiert wird.<br />
Der Aufbau der Demokratie in Westdeutschland nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg ist so relativ gut gelungen, weil schon<br />
Jahrzehnte lang demokratische Parteien und Gewerkschaften,<br />
eine hilfreiche amerikanische Reeducation nach<br />
1945, ein imponierender wirtschaftlicher Aufschwung und<br />
Umwege erlaubt!<br />
29
Gesine Schwan<br />
30<br />
<strong>die</strong> Einbindung in <strong>die</strong> NATO und in <strong>die</strong> westeuropäische<br />
Gemeinschaft zusammenkamen. Es genügt also nicht, neue<br />
Verfassungen oder Gesetze zu schaffen oder neue Führungseliten<br />
zu finden, so unabdingbar sie sind. Demokratien<br />
müssen letztlich von innen her wachsen.<br />
Unser Einfluss darauf ist global eher indirekt, und bisher<br />
häufiger negativ als positiv. Denn <strong>die</strong> beiden wichtigsten<br />
kulturellen und materiellen Ressourcen <strong>für</strong> <strong>die</strong> Entwicklung<br />
von Demokratien – ein hohes Bürgerselbstbewusstsein<br />
mit solider Bildung und ein einigermaßen gerecht<br />
verteilter wirtschaftlicher Wohlstand – werden von<br />
unseren westlichen Demokratien und ihren wirtschaftlichen<br />
Repräsentanten in der Welt nicht gerade gefördert,<br />
um es milde zu sagen. Immerhin entstehen vor Ort und<br />
global zunehmend zivilgesellschaftliche Initiativen, <strong>die</strong><br />
beim Aufbau von Demokratien helfen wollen. Ich komme<br />
darauf zurück. Jedenfalls zeigt sich schon hier, dass<br />
Freiheit und Demokratie in globalem Zusammenhang stehen.<br />
2.<br />
Aber auch innerhalb der so genannten westlichen Demokratien<br />
geraten Freiheit und Demokratie in Bedrängnis.<br />
Das wird vieler Orten beklagt und auf ganz unterschiedliche<br />
Ursachen zurückgeführt. Als eine wird seit<br />
Jahren <strong>die</strong> Überforderung des Staates genannt, <strong>die</strong> aus einer<br />
ausufernden wohlfahrtsstaatlichen Versorgung, aus<br />
überhöhten Begehrlichkeiten der Gesellschaft und dem<br />
Verlust des individuellen Verantwortungsbewusstseins<br />
herrühre. Hinzu kämen historische Entwicklungen wie <strong>die</strong><br />
demografischen Veränderungen, <strong>die</strong> zu einer so genannten<br />
Überalterung der Gesellschaft führten, sowie <strong>die</strong> ökonomische<br />
Globalisierung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> entwickelten Ökonomien<br />
der Weltmarktkonkurrenz aussetzten. Beide erzwängen<br />
<strong>die</strong> Reduzierung der staatlichen Sicherungen mit
dem Ergebnis, dass sich <strong>die</strong> enttäuschten, der verantwortlichen<br />
Freiheit entwöhnten Gesellschaften von ihren<br />
demokratischen Staaten abwendeten. Die generelle Antwort<br />
darauf heißt in der Regel: Wir müssen den Gürtel<br />
enger schnallen, <strong>die</strong> Staatsaufgaben reduzieren und uns<br />
moralisch bessern. Besonders <strong>die</strong>jenigen, welche von der<br />
Sozialversicherung leben.<br />
3.<br />
Der Verlust des Verantwortungsbewusstseins als Kern der<br />
Gefährdung demokratischer Freiheit wird häufig auch auf<br />
<strong>die</strong> so genannten Individualisierung unserer westlichen<br />
Gesellschaften zurückgeführt. Eine besonders populäre,<br />
aber eher provinzielle Erklärungsvariante datiert <strong>die</strong>se Ursache<br />
in Deutschland auf <strong>die</strong> Studentenbewegung von<br />
1968 und prangert den damit angeblich einhergegangenen<br />
so genannten Werteverfall an, der insbesondere in Parolen<br />
wie „Selbstverwirklichung“ oder „Emanzipation“<br />
zum Ausdruck komme. Diese markieren demnach einen<br />
egoistischen Selbstbezug und <strong>die</strong> Verweigerung von gemeinschaftsbezogenen<br />
Verpflichtungen; ganz besonders<br />
bei Frauen, <strong>die</strong> ihre familiären Pflichten einer imaginären<br />
Emanzipation als Berufstätigkeit opferten. Es lohnt<br />
sich, auf <strong>die</strong>se Zeitdiagnose ein wenig genauer einzugehen,<br />
weil sie auf eine wesentliche Entwicklung der Moderne,<br />
spätestens seit dem 19. Jahrhundert, verweist, aber<br />
in der vorgetragenen, durchaus beliebten Verkürzung in<br />
<strong>die</strong> Irre führt.<br />
Die Beobachtung von Individualisierung und Differenzierung<br />
der modernen Gesellschaften ist Leitmotiv aller<br />
großen Soziologen des 19. Jahrhunderts. Einer der liberalen<br />
Altmeister der Soziologie, der Franzose Alexis de<br />
Tocqueville, hat der Individualisierung in seinem Buch<br />
„Über <strong>die</strong> Demokratie in Amerika“ in der ersten Hälfte des<br />
19.Jahrhunderts ausführliche Analysen gewidmet, <strong>die</strong><br />
Umwege erlaubt!<br />
31
Gesine Schwan<br />
32<br />
schon dadurch wohltun, weil er sich dabei jeglicher Moralisierung<br />
enthält. Ausdrücklich unterscheidet er nämlich<br />
zwischen Individualisierung und Egoismus. Letzterer<br />
sei ein Mangel an Moral, den es zu allen Zeiten gegeben<br />
habe. Die Individualisierung dagegen bezeichnet eine<br />
unausweichliche Entwicklung der modernen<br />
Gesellschaften, deren Ursprung Tocqueville in der seit<br />
Jahrhunderten anhaltenden, schon im Christentum angelegten<br />
Angleichung von Lebens- und Herrschaftsverhältnissen<br />
ausmacht. Ihren endgültigen Durchbruch hat<br />
sie im 19. Jahrhundert mit dem Zusammenbruch der Ständegesellschaften<br />
erreicht, der <strong>die</strong> Menschen definitiv aus<br />
allen selbstverständlichen Bindungen gelöst hat. Damit stehen<br />
moderne Gesellschaften mit ihrer zunehmenden inneren<br />
Mobilität, <strong>die</strong> sich in alle Lebensbereiche erstreckt,<br />
vor der Herausforderung, um ihres Zusammenhalts<br />
willen neue und freiwillige Bindungen einzugehen. Die Arbeitsteilung<br />
oder <strong>die</strong> wirtschaftlichen Interessen allein reichen<br />
da<strong>für</strong> nicht aus.<br />
Hinter das damit geforderte aufklärerische und zugleich<br />
emanzipatorische Programm der Selbstverpflichtung<br />
aus einsichtiger Freiheit können wir nicht in <strong>die</strong> traditionale<br />
Gesellschaft zurückkehren. Aber es stellt ganz neue,<br />
hohe Ansprüche an uns. Ob es uns gelingt, sie zu erfüllen,<br />
hängt von unserer Energie und unserer Offenheit<br />
gegenüber den Unumgänglichkeiten der Wirklichkeit ab.<br />
Diese Grundidee unterscheidet Tocqueville geradezu paradigmatisch<br />
von auch heute noch grassierenden reaktionären<br />
Erklärungsansätzen: Anstatt hilflos gegen <strong>die</strong> Wirklichkeit<br />
zu moralisieren und <strong>die</strong> Schlechtigkeit der Welt<br />
anzuprangern, geht es ihm darum, <strong>die</strong> aus seiner adligen<br />
Herkunft stammende verantwortete Freiheit, <strong>die</strong> er über<br />
alles schätzt, unter neuen demokratischen Bedingungen zu<br />
verwirklichen. Dazu durchleuchtet er scharfsinnig und unsentimental<br />
gefährliche Tendenzen der Moderne, hinter <strong>die</strong>
wir nicht zurückkönnen und <strong>die</strong> auch nicht einzelnen<br />
Menschen oder Schichten angelastet werden sollten. Wie<br />
ernst es uns um <strong>die</strong> verantwortete Freiheit in der Demokratie<br />
wirklich ist, können wir bis heute daran testen, ob<br />
wir uns den vielfältigen Herausforderungen der Wirklichkeit<br />
öffnen oder uns pharisäerhaft über sie hinwegsetzen<br />
und uns daran freuen, dass wir nicht so schlecht<br />
sind wie <strong>die</strong> anderen. Der eher skeptische Tocqueville hat<br />
gegen <strong>die</strong> Versuchung einer reaktionären Resignation übrigens<br />
seinen Glauben an <strong>die</strong> Güte von Gottes Schöpfung<br />
angeführt.<br />
Derselbe Alexis de Tocqueville hat vor nun schon fast<br />
zweihundert Jahren auch da<strong>für</strong> plä<strong>die</strong>rt, der Gefahr einer<br />
Diktatur der Mehrheit und eines entmündigenden Betreuungsstaates,<br />
<strong>die</strong> er heraufziehen sah, durch zivilgesellschaftliche<br />
Initiativen entgegenzuwirken, in denen Verantwortung<br />
tätig geübt werden kann und <strong>die</strong> deshalb dazu<br />
beitragen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Freiheit<br />
und Verantwortung zu festigen.<br />
4.<br />
Den genannten schon lange in der Moderne angelegten<br />
Gefährdungen von Freiheit und Demokratie möchte ich<br />
nun eine weitere Entwicklung anfügen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> vorangegangenen<br />
zum Teil aufnimmt und nach 1989 eine Radikalisierung<br />
erfahren hat: Ich meine den neuen Schub einer<br />
technologischen, kulturellen und insbesondere ökonomischen<br />
Globalisierung und <strong>die</strong> damit einhergehende<br />
Unterminierung nationalstaatlicher Politik. Sowohl <strong>die</strong> so<br />
genannten soziale Marktwirtschaft, deren ordnungspolitische<br />
Vordenker dem Nationalstaat <strong>die</strong> Aufgabe und<br />
Chance zusprachen, den Markt gegen Monopole und Oligopole<br />
freizuhalten und <strong>für</strong> <strong>die</strong> unverschuldeten Verlierer<br />
gegebenenfalls einen sozialen Ausgleich zu schaffen,<br />
als auch Sozialpolitiken, <strong>die</strong> z. B. gegen Arbeitslosigkeit<br />
Umwege erlaubt!<br />
33
Gesine Schwan<br />
34<br />
einen arbeitsmarktpolitisch vernünftigen Rahmen ziehen<br />
wollten, waren selbstverständlich darauf angewiesen und<br />
bauten darauf, dass sie <strong>die</strong> Wirtschaft innerhalb ihres staatlichen<br />
politischen Handlungsfeldes durch Gesetzgebungen<br />
und Anordnungen beeinflussen können.<br />
Das ist anerkanntermaßen in einer globalisierten<br />
Wirtschaft kaum noch der Fall, weil privatwirtschaftliche<br />
Entscheidungen mit Leichtigkeit nationale Grenzen überschreiten<br />
und sich damit den politischen Regelungen entziehen<br />
können. Damit schwindet <strong>die</strong> nationale Bezogenheit<br />
der Unternehmen zugunsten einer rein betriebswirtschaftlichen<br />
Orientierung, <strong>die</strong> sich der Weltmarktkonkurrenz<br />
aussetzen muss. In ihr gibt es bisher keine dem<br />
Nationalstaat analoge politische Ordnungskraft, so dass wie<br />
im frühen 19. Jahrhundert, etwa in Hegels Rechtsphilosophie,<br />
der Eindruck entstehen kann, <strong>die</strong> Wirtschaft gehöre<br />
einfach zur „bürgerlichen Gesellschaft“, in der sie als<br />
„bourgeois“, der allein seinen Privatinteressen verpflichtet<br />
ist, und nicht als „citoyen“, das heißt als Staatsbürger Verantwortung<br />
trägt. In heutigen Worten heißt <strong>die</strong>s: Die Aufgabe<br />
der Wirtschaft ist, Gewinn zu machen und sonst<br />
nichts.<br />
Hegel forderte gegen <strong>die</strong> Partikularinteressen der so genannten<br />
„Bürgerlichen Gesellschaft“ einen starken, mit geradezu<br />
metaphysischen Weihen ausgestatteten Staat. Marx<br />
hielt <strong>die</strong>se Idee <strong>für</strong> eine Illusion. In der Tat ist er auf der<br />
globalen Ebene weder in Sicht, noch können wir ihn uns<br />
wünschen, weil er zu viel Macht bei sich konzentrieren<br />
und damit der Freiheit von der anderen Seite gefährlich<br />
werden könnte. Wenn aber der Nationalstaat und damit<br />
demokratische Politik in ihren nationalen Grenzen gleichsam<br />
entwicklungsnotwendig an Wirkkraft verlieren, dann<br />
können sie weder <strong>die</strong> notwendige Loyalität noch <strong>die</strong><br />
Durchsetzungskraft entwickeln, <strong>die</strong> es ihnen ermöglichen,<br />
<strong>die</strong> Zustimmung der Bürger so zu gewinnen, dass
sie ihre eigene politische Freiheit und Verantwortung erkennen<br />
und praktizieren können.<br />
Die hilflose Enttäuschung der Bürger äußert sich vielfach<br />
in Anklagen gegen <strong>die</strong> angeblich durchweg unfähigen<br />
oder korrupten Politiker. Viele Me<strong>die</strong>n, denen <strong>die</strong> Komplexität<br />
und Unübersichtlichkeit der politischen Regelungsaufgaben<br />
erheblich zu schaffen machen, sekun<strong>die</strong>ren<br />
<strong>die</strong>sen Anklagen, häufig vom hohen Ross, und geben <strong>die</strong><br />
hilflosen Politikerinnen und Politiker der Lächerlichkeit<br />
preis. So als seien sie allesamt zu dumm oder zu unmoralisch,<br />
um das offensichtlich Gebotene und auf der Hand<br />
Liegende zu tun. Und in manchen Wirtschaftskreisen hält<br />
man inzwischen <strong>die</strong> Abschaffung der Politik zugunsten eines<br />
möglichst ungestörten Marktmechanismus <strong>für</strong> das Ei<br />
des Kolumbus. Freilich blieben damit auch Freiheit, Verantwortung<br />
und Demokratie auf der Strecke, weil der allein<br />
herrschende anonyme Markt den Handlungs- und Entscheidungsspielraum<br />
<strong>für</strong> politische Alternativen zugunsten<br />
einer angeblichen Zwangsläufigkeit tilgte. Denn <strong>die</strong> Bürger<br />
verwandeln sich im Marktmodell der Demokratie in<br />
Zuschauer und Konsumenten und tragen <strong>für</strong> das Gemeinwohl<br />
keine Verantwortung mehr. Es ist gut, sich zu<br />
vergegenwärtigen, dass auch Rhetoriken und sprachliche<br />
Bilder das Bewusstsein beeinflussen und verantwortete<br />
Freiheit wie Demokratie unterminieren können.<br />
Weiterentwicklung von Freiheit und Demokratie<br />
in demokratischer Governance<br />
Wie können nun kapitalistische Wirtschaftsdynamik, auf<br />
<strong>die</strong> wir nicht verzichten wollen, notwendige globale politische<br />
Gestaltungen und konkrete politische Teilhabe so<br />
miteinander vereinbart werden, dass sich Freiheit und Demokratie<br />
gestärkt finden, weil verantwortete Freiheit <strong>für</strong><br />
alle Schichten erfahrbar wird? Mir scheint, <strong>die</strong>se Frage bezeichnet<br />
<strong>die</strong> wichtigste ordnungspolitische Herausforde-<br />
Umwege erlaubt!<br />
35
Gesine Schwan<br />
36<br />
rung der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Erste Umrisse<br />
einer Antwort werden, so meine ich, in den immer zahlreicheren<br />
Überlegungen zum Thema „Good“ oder „Democratic<br />
Governance“ erkennbar. Vorab sollte man freilich<br />
aus Gründen des Realismus vor der Erwartung<br />
vollkommener Lösung warnen. Wir werden global <strong>die</strong><br />
Übersichtlichkeit nationalstaatlicher Politik nicht wiedergewinnen.<br />
Nostalgie ist allerdings nicht angebracht, denn<br />
das System der miteinander konkurrierenden Nationalstaaten<br />
hatte eine Unzahl von Kriegen und zum Schluss<br />
zwei Weltkriege im Gefolge. Vielleicht provoziert sogar <strong>die</strong><br />
geradezu sinnliche Nähe, in <strong>die</strong> wir durch den neuen<br />
Schub der Globalisierung mit allen Problemen der Welt<br />
geraten, eine Dringlichkeit wirksamer Lösungen und damit<br />
eine Motivation, <strong>die</strong> uns zu neuen und besseren Antworten<br />
anspornt. Vielleicht hilft sie unserem wohlverstandenen<br />
langfristigen Interesse an Freiheit, Demokratie<br />
und Frieden auf <strong>die</strong> Sprünge?<br />
„Governance“ – was ja wörtlich „Steuerung“ heißt –<br />
ist ein heute fast schon inflatorisch verwendeter Begriff,<br />
den viele zunächst auf <strong>die</strong> Binnenverfassung von Unternehmen<br />
(<strong>die</strong> so genannten corporate governance) oder von<br />
sonstigen Organisationen beziehen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> innere Entscheidungsfindung<br />
und deren (auch kulturelle) Regeln<br />
festhält. Wertfrei definiert, vollzieht sie sich nicht notwendig<br />
nach demokratischen Prinzipien. Wenn ich im Zusammenhang<br />
unserer Frage von „governance“ im politischen<br />
Sinne spreche, dann verstehe ich darunter das de<br />
facto schon jetzt global wirkende, aber nicht koordinierte<br />
System von Nationalstaaten, internationalen Regierungszusammenschlüssen,<br />
globalen Konferenzen und<br />
Me<strong>die</strong>nereignissen, globalen Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen,<br />
internationalen Rechtsregelungen<br />
und Gerichtshöfen sowie von internationalen Organisationen<br />
(wie den Vereinten Nationen, den Weltwährungs-
fonds oder <strong>die</strong> Weltbank), das man „global governance“<br />
nennt. Auch hier handelt es sich zunächst um eine analytische,<br />
wertfreie Bezeichnung.<br />
Meine eigentliche Suche richtet sich nun darauf herauszufinden,<br />
wie <strong>die</strong> de facto „globale Governance“ so geordnet<br />
werden und so zu einem Zusammenspiel gebracht<br />
werden kann, dass daraus eine „good“, eine „democratic<br />
global governance“ wird. Denn auf sie sind wir angewiesen,<br />
wenn wir <strong>die</strong> überall zunehmenden sozialen Diskrepanzen<br />
innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften<br />
ebenso wie <strong>die</strong> Defizite langfristiger Politik etwa<br />
im Bereich der Umwelt, des Wassers, der Energie, <strong>die</strong><br />
aus der Dominanz eines ungeregelten globalen Wettbewerbs<br />
folgt, ebenso wie <strong>die</strong> Sicherheit vor Terrorismus zugunsten<br />
von mehr Gerechtigkeit, von mehr langfristiger<br />
gemeinwohlorientierter Politik und von mehr demokratischer<br />
Partizipation – insgesamt: zugunsten einer erneuerten<br />
verantwortlichen demokratischen Politik – überwinden<br />
wollen.<br />
Da eine globale demokratische Politik nicht auf Sanktionsmaßnahmen<br />
eines innerstaatlichen Gewaltmonopols<br />
zurückgreifen kann, können wir in einem System von<br />
„Good Global Governance“ grundsätzlich nur auf freiwillige<br />
Vereinbarungen bauen. Der Druck, sie abzuschließen,<br />
muss aus der Einsicht der verantwortlichen wirtschaftlichen<br />
und politischen Entscheidungsträger und aus einer<br />
aufgeklärten Öffentlichkeit hervorgehen, zu der zunehmend<br />
<strong>die</strong> international und gemeinnützig agierenden<br />
Nichtregierungsorganisationen, insbesondere durch ihren<br />
Appell an <strong>die</strong>se Öffentlichkeit, gehören.<br />
Das hat Folgen <strong>für</strong> <strong>die</strong> Bestimmung von politischer<br />
Macht. Wenn hinter politischen Entscheidungen nicht<br />
mehr <strong>die</strong> Sanktion des staatlichen Gewaltmonopols steht,<br />
dann ist ein prinzipiell auf <strong>die</strong> Überwindung von Gegnern<br />
ausgerichtetes und auf <strong>die</strong> Erzwingungsmöglichkeit an-<br />
Umwege erlaubt!<br />
37
Gesine Schwan<br />
38<br />
gewiesenes Machtverständnis, wie wir es z. B. bei Max Weber<br />
finden, nicht mehr zureichend wirksam. An deren Stelle<br />
muss mehr und mehr <strong>die</strong> Fähigkeit treten, Koalitionen<br />
zu bilden nicht gegen Personen und Ziele, sondern mit anderen<br />
Personen und Institutionen <strong>für</strong> gemeinsame Ziele.<br />
Das ist es, was Hannah Arendt als wirkliche, weil wirksame<br />
Macht definiert hat. Das andere nennt sie Gewalt, weil<br />
es nicht auf <strong>die</strong> Gewinnung freiwilliger Zustimmung zielt.<br />
Diese Folgerung versteht sich nicht als moralisches Postulat,<br />
sondern als analytische Konsequenz, sofern man am<br />
Gesamtziel einer demokratischen, einer „good global governance“<br />
festhält.<br />
Die Ziele solcher konstruktiver Machtausübung, bei<br />
der auch globalen Unternehmen eine hohe Verantwortung<br />
zuwächst, finden sich z.B. in dem von Kofi Annan initiierten<br />
„Global Compact“, deren Teilnehmer sich zur Einhaltung<br />
von Wertmaßstäben und Verhaltensstandards verpflichtet<br />
haben. Die darin enthaltenen inzwischen zehn<br />
Prinzipien umfassen den Respekt und <strong>die</strong> Einhaltung der<br />
international verkündeten Menschenrechte, <strong>die</strong> Abwehr<br />
von deren Verletzung, <strong>die</strong> Vereinigungsfreiheit, <strong>die</strong> effektive<br />
Anerkennung der Kollektiven Verhandlungsfreiheit,<br />
<strong>die</strong> Abschaffung von Zwangs- und von Kinderarbeit, <strong>die</strong><br />
Abschaffung jeglicher Diskriminierung am Arbeitsplatz,<br />
den vorsichtigen und verantwortlichen Umgang mit der<br />
Umwelt, <strong>die</strong> Entwicklung dementsprechender Technologien<br />
und den Kampf gegen <strong>die</strong> Korruption (cf. John Gerard<br />
Ruggie: Reconstituting the Global Public Domain: Issues,<br />
Actors and Practices, in: European Journal of International<br />
Relations (forthcoming), p.20).<br />
Als Akteure kommen all jene in Betracht, <strong>die</strong> schon<br />
jetzt in der faktischen, noch nicht koordinierten und auf<br />
<strong>die</strong> genannten Werte und Prinzipien ausgerichteten „Governance“<br />
agieren und <strong>die</strong> Schritt <strong>für</strong> Schritt in ihrem wohlverstandenen<br />
eigenen Interesse <strong>für</strong> eine „Good Gover-
nance“ gewonnen werden müssen. Die unverzichtbare Rolle<br />
der Regierungen beziehungsweise ihrer Zusammenschlüsse<br />
oder Kooperationen liegt auch in Zukunft darin,<br />
legitimierte politische Entscheidungen zu treffen. Allerdings<br />
können sie sie oft nicht mehr allein vorbereiten und<br />
hinterher ihre Ausführung überwachen. Dabei können umgekehrt<br />
jene, zwar nicht demokratisch legitimierten, aber<br />
sehr einflussreichen Akteure wie <strong>die</strong> globalen Untenehmen<br />
einerseits und <strong>die</strong> zwar ebenfalls nicht demokratisch gewählten,<br />
aber oft ein hohes Gemeinwohlvertrauen genießenden<br />
Nichtregierungsorganisationen andererseits, helfen,<br />
indem sie <strong>die</strong>ses Vertrauen <strong>für</strong> <strong>die</strong> Vorbereitung von<br />
Entscheidungskoalitionen und <strong>für</strong> das nachträgliche „Monitoring“<br />
von gemeinwohlorientierten Vereinbarungen einsetzen.<br />
Ein Beispiel da<strong>für</strong> hat in den letzten Jahren <strong>die</strong> Weltbank<br />
gegeben und sich zunehmend am Aufbau solcher<br />
„Good Governance“ beteiligt, etwa indem sie Firmen, <strong>die</strong><br />
sich der Korruption schuldig gemacht haben, von weiteren<br />
Ausschreibungen ausgeschlossen hat. Um sie zu entdecken,<br />
bedarf es wiederum zivilgesellschaftlicher Initiativen<br />
in den verschiedenen Ländern, <strong>die</strong> ihre Verhältnisse<br />
besser kennen als <strong>die</strong> zuweilen korrupten Regierungen<br />
oder global agierende Institutionen und zu denen oft eine<br />
gehörige Portion Zivilcourage gehört.<br />
Ein weiteres Beispiel ist <strong>die</strong> vor einigen Jahren ins Leben<br />
gerufene „Extractive Industry Transparency Initiative“,<br />
an der große Rohstoffunternehmen wie ESSO, Chevron<br />
oder BP sowie Regierungen und NGO’s aus dem Norden<br />
und dem Süden beteiligt sind und <strong>die</strong> gemeinsam das<br />
Ziel „Publish what you pay“ verfolgen. Damit sollen Konzessionszahlungen<br />
<strong>für</strong> <strong>die</strong> Ausbeute von Rohstoffen und<br />
ihre Verwendungen in den Budgets der Empfängerländer<br />
transparent gemacht werden, um <strong>für</strong> <strong>die</strong> Zukunft zu vermeiden,<br />
dass <strong>die</strong> Milliarden in Söldnerheere oder Schwei-<br />
Umwege erlaubt!<br />
39
Gesine Schwan<br />
40<br />
zer Privatkonten fließen, Bürgerkriege – wie im Kongo –<br />
anstacheln und zum Leid der Menschen in den eigentlich<br />
reichen Rohstoffländern beitragen. Auch <strong>die</strong>ser Initiative<br />
haben sich Weltbank und Weltwährungsfond angeschlossen.<br />
Auch hier handeln zivilgesellschaftliche Organisationen<br />
als Vertrauensträger, um <strong>die</strong> Verwirklichung der gemeinsamen<br />
vereinbarten Regelungen zu kontrollieren. Zugleich<br />
bereiten sie mit <strong>die</strong>ser politischen Mobilisierung demokratischen<br />
Verhältnissen in ihrer Gesellschaft den<br />
Boden und verschaffen der Demokratie Glaubwürdigkeit<br />
und Legitimation. Das ist ein Engagement „zum Anfassen“,<br />
das den Sinn <strong>für</strong> Verantwortung durch konkrete, überschaubare<br />
Praxis verankert und verbreitet, so wie Tocqueville<br />
einst <strong>die</strong> amerikanischen Geschworenengerichte<br />
als Schule der Demokratie lobte, weil sie <strong>die</strong> nicht-professionellen<br />
Bürger anhielten, sich in <strong>die</strong> Lage der anderen<br />
zu versetzen und so Verantwortung über den Tellerrand<br />
ihrer eigenen Lebenswelt hinaus zu üben.<br />
Solche freiwilligen Bündnisse zu schließen, fällt nicht<br />
leicht, Interessen müssen mühsam ausgehandelt werden,<br />
<strong>die</strong> Ergebnisse brauchen eine glaubwürdige Kontrolle und<br />
<strong>die</strong> daran teilnehmenden zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
müssen ebenfalls transparent und professionell<br />
werden. Hier liegen noch gewaltige Aufgaben vor uns,<br />
denn allein der Name „Zivilgesellschaft“ garantiert ja nicht<br />
<strong>die</strong> demokratische Glaubwürdigkeit. Aber der Weg, mit<br />
Hilfe einer wachsamen Öffentlichkeit solche weltumspannenden<br />
Regeln zu vereinbaren, kann gelingen, wenn<br />
sich genügend politische, juristische und wirtschaftliche<br />
Kräfte zusammentun, ihn zu beschreiten.<br />
Jedenfalls hat <strong>die</strong>se Annahme Chancen, wenn wir uns<br />
an <strong>die</strong> anfangs ausdrücklich gemachten Glaubensprämissen<br />
halten, dass alle Menschen gleichgeboren sowie mit<br />
unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und dass sie<br />
einen gemeinsamen Wertefundus teilen, den wir etwa in
der „Goldenen Regel“ positiv wie negativ zusammenfassen<br />
können. Sie lautet: Was du nicht willst, das man dir<br />
tu, das füg’ auch keinem anderen zu! Oder: Was du willst,<br />
das man dir tu, das füg’ auch anderen zu. Es geht um <strong>die</strong><br />
Gegenseitigkeit in Respekt und Zuwendung. Und wenn<br />
wir uns zusätzlich des Menschenbildes erinnern, das allen<br />
Demokratien zugrunde liegt: Es ist kein pessimistisches<br />
und auch kein einfach optimistisches, sondern ein skeptisches,<br />
das den Menschen sowohl soziale als auch egoistische<br />
Potenziale zutraut, mit einem leichten Übergewicht<br />
<strong>für</strong> <strong>die</strong> sozialen, <strong>die</strong> sie zu freiheitlichem und verantwortlichem<br />
Zusammenwirken befähigen. Ohne <strong>die</strong>se – typisch<br />
angelsächsische – Annahme könnten wir auf <strong>die</strong> Zivilgesellschaft<br />
und auf eine freiwillige demokratische Governance<br />
nicht hoffen. Um sie in den Erfahrungen der Menschen<br />
zu stärken, müssen wir uns aber auch, gerade wo<br />
wir Macht haben, des Ausspielens <strong>die</strong>ser Macht, selbst dort<br />
wo <strong>die</strong>s noch legal wäre, enthalten, sonst kann demokratische<br />
Governance nicht überzeugend gedeihen.<br />
Stiften wirkt!<br />
Wo soll in <strong>die</strong>sem Konzept „Stiften wirken“? Zunächst<br />
liegt es auf der Hand und ist Ihnen auch vielfach öffentlich<br />
bestätigt worden, dass Stiftungen einen wichtigen Teil<br />
der Zivilgesellschaft ausmachen und daher ganz allgemein<br />
als wertvolle Akteure verantwortlicher Freiheit gelten können.<br />
In dem bisher dargelegten Kontext möchte ich Ihren<br />
Beitrag jedoch als besonders bedeutsame Ressource<br />
<strong>für</strong> Freiheit und Demokratie spezifizieren, insbesondere,<br />
wo Sie sich im Bildungssektor engagieren. Wenn bürgerliches<br />
Selbstbewusstsein und Bildung, wie ich zu Beginn<br />
meiner Überlegungen erläutert habe, <strong>die</strong> wichtigsten kulturellen<br />
Ressourcen von Freiheit und Demokratie darstellen,<br />
dann muss uns Bildung als unverzichtbar öffentliches<br />
Gut und ebenso unverzichtbar öffentliche Aufga-<br />
Umwege erlaubt!<br />
41
Gesine Schwan<br />
42<br />
be gelten. Wir versehen uns an ihrer Bedeutung, wenn wir<br />
sie einfach als privates Konsumgut oder als Ware betrachteten.<br />
Wie können wir in absehbarer Zukunft bei uns und<br />
im globalen Maßstab <strong>die</strong>se Aufgabe erfüllen? Ich meine,<br />
dass hier nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus ordnungspolitischen<br />
Gründen das Zusammenspiel von Staat<br />
und Stiftungen als herausragenden zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen <strong>die</strong> besten Chancen bietet. Dabei hat staatliche<br />
Politik <strong>für</strong> <strong>die</strong> Chancengleichheit aller Bürger, <strong>für</strong> <strong>die</strong><br />
Angleichung von Startbedingungen aller Schichten und <strong>für</strong><br />
Gleichheit als Voraussetzung von Mobilität zu sorgen.<br />
Wenn es wegen der Unterschiedlichkeit von Bildungssystemen<br />
nicht mehr möglich ist, seinen Wohnort zu wechseln,<br />
dann leiden darunter zugleich das Berufssystem wie<br />
<strong>die</strong> Familien. Dem Staat obliegt also <strong>die</strong> zureichende<br />
grundlegende Versorgung mit Bildungsmöglichkeiten,<br />
vom Kleinkindergarten, über Schulen und Berufsschulen<br />
bis zur Universität. Dabei müssen <strong>die</strong> aus Steuergeldern<br />
finanzierten Bildungsausgaben einer rechtlichen und in<br />
den großen Linien auch inhaltlich-politischen Aufsicht<br />
unterliegen, <strong>die</strong> von Legislative und Exekutive ausgeübt<br />
wird.<br />
Das ist <strong>die</strong> eine Seite der öffentlichen Aufgabe von Bildung.<br />
Die andere liegt in der Stärkung der Autonomie der<br />
Bildungsinstitutionen und Bildungssubjekte in der Demokratie.<br />
Zum einen, weil sie dann kreativer und effektiver<br />
arbeiten. Zum anderen, weil zum demokratischen<br />
Charakter von Bildung <strong>die</strong> Selbstbestimmung des Bildungsprozesses<br />
gehört. Unter autoritären Anordnungsverhältnissen,<br />
in der Gewohnheit, unbefragt auszuführen,<br />
was vorgegeben wurde, wachsen selbstbewusste und verantwortliche<br />
Bürger nicht heran. Ohne einen Handlungsspielraum,<br />
in dem auch Risiken eingegangen werden und<br />
Umwege erlaubt sind, haben verantwortete Freiheit und
Demokratie nur geringe Chancen. Freilich befördert solche<br />
Autonomie nicht nur fruchtbare Vielfalt, sondern auch<br />
Ungleichheiten. Hier ist der Ort, an dem Stiftungen wirken<br />
und den Wettbewerb um unkonventionelle Innovationen<br />
unterstützen können, nicht nur im Rahmen eigener<br />
Gründungen, sondern gerade auch als zusätzliche Motoren<br />
in staatlichen Institutionen. Dabei würde es nicht um<br />
<strong>die</strong> verhüllte Stärkung von Privilegien in Privatschulen,<br />
sondern um <strong>die</strong> gleichsam aristotelische Mischung von<br />
Gleichheit und Ungleichheit gehen. Auf beides, auf <strong>die</strong>se<br />
Mischung ist Bildung als öffentliche Aufgabe in der Demokratie<br />
und <strong>für</strong> sie angewiesen. Mit seiner Betonung der<br />
Mitte als Spitze beziehungsweise als Optimum hat Aristoteles<br />
schon in der Antike <strong>die</strong> Abträglichkeit der einseitigen<br />
Betonung oder Stärkung nur eines Handlungs- oder<br />
Strukturprinzips erkannt und hervorgehoben. Die repräsentative<br />
Demokratie ist in <strong>die</strong>ser Traditionsfolge eine gemischte<br />
Regierungsform, keine einseitig radikale, schon in<br />
ihrer nationalstaatlichen Form nicht, erst recht nicht in der<br />
Dimension der demokratischen globalen Governance.<br />
Gleichheit und Ungleichheit ergänzen und brauchen einander.<br />
Dieser Grundsatz der Mischung von Prinzipien erscheint<br />
auch in anderen Variationen als lohnende Experimentierdevise<br />
gemeinsamen Handelns von Staat und zivilgesellschaftlichen<br />
Stiftungen zugunsten der öffentlichen<br />
Bildungsaufgabe. Anders als rein private Hochschulen, <strong>die</strong><br />
tendenziell den Interessen ihrer Sponsoren <strong>die</strong>nen, unterstützen<br />
etwa zivilgesellschaftliche Initiativen als privatepublic<br />
partnerships <strong>die</strong> öffentlich verantwortlichen, aber<br />
bedrohlich unterfinanzierten staatlichen Bildungsinstitutionen,<br />
und zwar so, dass <strong>die</strong> Innovationsimpulse nicht<br />
im Kontrolldickicht ministerieller oder universitärer Bürokratie<br />
untergehen, sondern <strong>die</strong> herkömmlichen Institutionen<br />
in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis ge-<br />
Umwege erlaubt!<br />
43
Gesine Schwan<br />
44<br />
rade durch flexible Herausforderung stärken. Unsere Initiative<br />
der Humboldt Viadrina School of Governance ist<br />
eine solche private-public partnership. Diese Art von Verbindung<br />
könnte, aus der Illusion der Gründung privater<br />
Schulen oder Hochschulen einerseits (<strong>die</strong> viel zu teuer wären,<br />
wenn sie wirklich den breiten Bereich einer Bildungsinstitution<br />
abdecken sollten) und der Resignation<br />
angesichts der gegenwärtigen Situation der rein staatlichen<br />
Bildungsorganisation andererseits, einen hoffnungseröffnenden<br />
Weg weisen.<br />
Schließlich plä<strong>die</strong>re ich auch da<strong>für</strong>, <strong>die</strong> traditionelle ministerielle<br />
Form der öffentlichen Kontrolle von Bildungsbudgets<br />
wenigstens versuchsweise durch eine Mischung<br />
von staatlichen Rahmenvorgaben und konkreter zivilgesellschaftlicher<br />
Kontrolle etwa in der Form öffentlicher Stiftungen<br />
als Träger von Bildungsinstitutionen zu ersetzen.<br />
Eine solche Konstruktion traut im entscheidenden Stiftungsrat<br />
herausragenden gesellschaftlichen Vertrauensträgern<br />
ebenso viel Sachverstand, intellektuelle Unabhängigkeit<br />
und verantwortlichen Gemeinsinn zu wie Angehörigen<br />
der Ministerialbürokratie, unter denen ich übrigens<br />
immer wieder hervorragend kompetente und<br />
hilfsbereite getroffen habe. Deren Amtsverständnis der engagierten<br />
verantwortlichen Unterstützung anstelle der<br />
überwiegenden und zuweilen misstrauischen Kontrolle<br />
könnte in <strong>die</strong>sem Zusammenspiel Schule machen und zugleich<br />
zu einer befreienden Systemreform in der Hochschulaufsicht<br />
führen. Hochschulen in der Trägerschaft öffentlich-rechtlicher<br />
Stiftungen könnten flexibler und innovationsfreudiger<br />
agieren und damit auch attraktiver werden<br />
<strong>für</strong> das Engagement privater Stifter, <strong>die</strong> das Besondere<br />
und Gewagte unterstützen wollen, nicht den Alltag. Aus<br />
<strong>die</strong>sem Grunde ist meine Frankfurter Universität Viadrina<br />
auf dem Weg in eine solche Stiftungsuniversität, als <strong>die</strong><br />
sie sich vom nächsten Jahr ab hoffentlich noch unterneh-
merischer im ursprünglichen Sinne des Wortes verhalten<br />
kann.<br />
Damit, so hoffe ich, wird deutlich, wie segensreich Stiften<br />
zusätzlich wirken kann, wenn man es einbringt in einen<br />
allgemeineren Kontext von zivilgesellschaftlicher Verantwortung<br />
als Chance <strong>für</strong> Freiheit und Demokratie. Darum<br />
ging es mir heute theoretisch. Das Praktische liegt<br />
dann an uns allen.<br />
Umwege erlaubt!<br />
45
Zwischen Lächerlichkeit<br />
und Subversion<br />
Die Psychologie der Ideologie<br />
Von Andrei Plesu<br />
’<br />
Humorlosigkeit ist – wie nur allzu gut bekannt – eine<br />
der reichsten und ergiebigsten Quellen des Humors<br />
überhaupt. Wer sich allzu ernst nimmt und<br />
<strong>die</strong> Welt stets mit einer starren und unbeugsamen Verstimmung<br />
und Misslaune betrachtet, wer – kurz gesagt –<br />
zum richtigen Zeitpunkt nicht lachen kann, der rutscht nur<br />
allzu leicht ins Lächerliche ab. Und wer sich lächerlich<br />
fühlt, reagiert nur allzu oft mit Ressentiments und Rachsucht.<br />
Ich habe rein persönliche Gründe, wenig Humor <strong>für</strong><br />
all das aufzubringen, was im Zusammenhang mit der revolutionären<br />
Praxis und dem revolutionären Dogma<br />
steht. Ich wuchs in einer Zeit und einem Land auf, wo das<br />
Adjektiv „revolutionär“ eine Art Superlativ des guten Benehmens,<br />
des geltenden Benimm-dich darstellte. Man<br />
sprach damals von revolutionären Ideen, von revolutionärer<br />
Solidarität, von revolutionärer Unnachgiebigkeit.<br />
Freundschaft und Liebe wurden nicht selten von einer gemeinsamen<br />
Vergangenheit des „revolutionären Kampfes“<br />
legitimiert, höchste menschliche Eigenschaft war der „revolutionäre<br />
Enthusiasmus“, und der negative Held par excellence<br />
war der „Konter-Revolutionär“. Die Geschichtsschreibung<br />
begann mit der „Großen Sozialistischen Oktober-Revolution“<br />
1917 und sollte mit einem anderen, <strong>die</strong>smal<br />
weltweiten Großsieg enden: mit dem Umsturz des<br />
Kapitalismus.<br />
Wir wurden, mit anderen Worten, <strong>für</strong> eine euphorische<br />
Karriere als „Grabgräber“ vorbereitet: Wir sollten <strong>die</strong><br />
Grabgräber der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaftsordnung<br />
sein, so wie das große Sowjet-Volk der<br />
Grabgräber des zaristischen Feudalismus gewesen war. Revolutionär<br />
zu sein bedeutete, nichts an seinem angestammten<br />
Platz zu belassen, einen ständigen Zustand der<br />
47
Andrei Ples,u<br />
48<br />
Agitation zu schüren (der am höchsten geschätzte politische<br />
Held wurde übrigens als „Agitator“ bezeichnet), eine<br />
Art kindische febrile Hyperaktivität, <strong>die</strong> in der Sprache<br />
der Partei-Strategie als „das Bedürfnis nach Neuem“ bezeichnet<br />
wurde.<br />
Der Revolutionär ist in der Regel ein Fanatiker des<br />
Neuen. Er will neue Ideale, neue Städte, eine neue Art von<br />
Familie, eine neue Art der Erziehung, eine neue Kultur und<br />
– vor allem – einen „neuen Menschen“: eine Art standardisierter<br />
Mutant, der mit einer unerklärbaren Glückseligkeit<br />
einer „lichtvollen“ (obzwar unbekannten) Zukunft<br />
entgegen „fliegt“. Einer der Slogans der chinesischen Revolution<br />
lautete: „Machen wir Schluss mit den vier Alten<br />
Dingen: das alte Denken, <strong>die</strong> alte Kultur, <strong>die</strong> alten Traditionen,<br />
<strong>die</strong> alten Gewohnheiten!“<br />
Langfristig hält <strong>die</strong>sem historischen Ansturm und<br />
Durcheinander niemand stand. Demzufolge fällt <strong>die</strong> Revolution<br />
in der Regel in <strong>die</strong> Angewohnheiten und Gepflogenheiten<br />
zurück, von denen sie sich angeblich losgelöst<br />
hatte. Mit anderen Worten – sie endet in einer Restauration.<br />
Dieses Sich-im-Kreis-Bewegen wäre zweifelsohne<br />
schon an sich lächerlich, würde es nicht enormes<br />
menschliches Leiden bewirken. Und würde es sich von Zeit<br />
zu Zeit obsessiv wiederholen, indem es sich das Bedürfnis<br />
nach Nonkonformismus und <strong>die</strong> karnevaleske Lust einer<br />
jeden Generation zu Nutze macht.<br />
So ungefähr hatte ich vor, an das tragisch-komische<br />
Thema der Revolutionen heranzugehen, es zu entwickeln<br />
und zu illustrieren, als ich dann feststellen musste, dass <strong>die</strong><br />
Revolutionen nur ein Sonderfall einer viel umfassenderen<br />
und weit komplizierteren Pathologie sind: der Pathologie<br />
der Ideologien. Revolutionen brechen nur dann und wann<br />
auf der Weltenbühne aus, Ideologien aber schweben nahezu<br />
immer durch <strong>die</strong> Lüfte. Sie können Revolutionen auslösen<br />
– und lösen sie auch fast immer aus –, aber seit der
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
Französischen Revolution imprägnieren und durchdringen<br />
Ideologien wie ein doktrinäres Plankton stetig und konstant<br />
<strong>die</strong> Atmosphäre des öffentlichen Lebens. Wir nehmen<br />
sie unbewusst auf, so wie wir atmen, und wir <strong>die</strong>nen ihnen,<br />
ohne es zu merken. Auch <strong>die</strong> Ideologien sind humorlos,<br />
auch sie sind lächerlich. Ihr Toxin jedoch ist tödlich,<br />
gerade weil sie anscheinend nur <strong>die</strong> Oberfläche unseres<br />
Gewissens beanspruchen. Die Revolutionen sind brutal,<br />
<strong>die</strong> Ideologien subversiv.<br />
Weil wir aber immerhin wissen sollten, worüber wir<br />
reden, sehe ich mich gezwungen, zuerst eine Definition des<br />
Terminus festzulegen. Aus all dem, was bislang zu <strong>die</strong>sem<br />
Thema verfasst worden ist – von Destutt de Tracy, dem <strong>die</strong><br />
„Erfindung“ des Wortes „Ideologie“ Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
zugeschrieben wird, bis hin zu Karl Mannheim,<br />
Gramsci, Althusser oder Habermas –, können wir eine<br />
Summe von Charakteristika herausfiltern. Diese kann uns<br />
Aufschluss geben, obwohl wir manchmal auf gegensätzliche<br />
und widersprüchliche Meinungen treffen. Für <strong>die</strong> einen<br />
sind Ideologien ein positives und legitimes Phänomen,<br />
<strong>für</strong> <strong>die</strong> anderen eine gefährliche Entgleisung. Für einige ist<br />
alles Ideologie im öffentlichen Leben der Ideen, <strong>für</strong> andere<br />
hingegen sind <strong>die</strong> Ideologien ein episodisches Derivat.<br />
Die Zusammenfassung, <strong>die</strong> ich vorschlage, <strong>die</strong> Arbeits-<br />
Definition sozusagen, lautet: Ideologien sind überhastete<br />
Ideen-Konstruktionen, <strong>die</strong> ihren Ursprung in einem privaten<br />
oder Gruppen-Interesse haben und sich als Ziel <strong>die</strong><br />
Veränderung der öffentlichen Mentalität, der Institutionen<br />
und des sozialen Lebens setzen.<br />
Einige Erklärungen dazu: Wir sprechen hier von „überhasteten“<br />
Konstruktionen. Ideologien kümmern sich<br />
nicht um umfassende Ausarbeitung, verlieren sich nicht<br />
in Einzelheiten und haben keine Zeit <strong>für</strong> gründliche Analysen.<br />
Sie wollen keine erklärenden Systeme schaffen, sondern<br />
kategorische, mobilisierende Schemata. Ausgangs-<br />
49
Andrei Ples,u<br />
50<br />
punkt der Ideologien ist nicht <strong>die</strong> eigentliche Realität, sondern<br />
das Interesse einer sozialen Klasse oder Kategorie.<br />
Der Ideologe will <strong>die</strong> Welt folglich gar nicht verstehen.<br />
Er will sie ändern in einer Art und Weise, <strong>die</strong> seinen Prinzipien<br />
und Zielen entspricht: Er ist eine eher utopische und<br />
selbstverherrlichende Natur. Der Ideologe dünkt sich berufen,<br />
über <strong>die</strong> optimale Organisationsweise der Welt zu<br />
entscheiden, und glaubt, dass seine Art des Glückverständnisses<br />
jener der gesamten Menschheit entspricht. Das<br />
konjunkturelle und subversive Denken, <strong>die</strong> mentale Beherrschung<br />
des öffentlichen Lebens, <strong>die</strong> Verfälschung der<br />
Realität, um sie kompatibel mit einem Konzept zu machen<br />
– das sind <strong>die</strong> spontanen Neigungen der Ideologen.<br />
Wir werden ihren Metabolismus jedoch noch besser<br />
verstehen, wenn wir den strikt theoretischen Teil der Definition<br />
beiseite lassen und <strong>die</strong> konkreten Auswirkungen<br />
auf ein Menschenleben unter dem unmittelbaren Einfluss<br />
der Ideologie beschreiben. Denn <strong>die</strong> Ideologie ist – anders<br />
als <strong>die</strong> Lehrstuhl-Metaphysik – invasiv, schleichend, seuchenhaft.<br />
Sie dringt in unseren Alltag und in unsere Intimität<br />
ein. So gesehen, habe ich einen nicht unbedingt beneidenswerten<br />
Vorteil: Bis vor 15 Jahren habe ich in einer<br />
ideologisierten Welt gelebt. Die Perioden meiner Entwicklung,<br />
des Heranwachsens und meines Erwachsenwerden<br />
fallen in <strong>die</strong>se Zeit.<br />
Die <strong>Deutsche</strong>n haben eine brutale Diktatur, <strong>die</strong> Nazi-<br />
Diktatur, vor 60 Jahren hinter sich gelassen. Meine Erfahrung<br />
ist viel frischer, und schon deshalb ver<strong>die</strong>nt sie es,<br />
mitgeteilt und geteilt zu werden. Man ahnt ja gar nicht,<br />
wie viele Ideologien erbittert kämpfen um den Geist und<br />
um <strong>die</strong> Lebensweise der Menschen. Mein Ziel ist es, mein<br />
Publikum einerseits zum Schmunzeln zu bringen, indem<br />
ich <strong>die</strong> Lächerlichkeit „siegreicher“ Ideologien herausstreiche.<br />
Andererseits werde ich aber wohl auch leicht jemanden<br />
verstimmen, indem ich diskret auf <strong>die</strong> Subversion
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
aufmerksam mache, <strong>die</strong> auf ihn lauert und der man ständig<br />
ausgesetzt ist.<br />
Einmal offiziell installiert wird jede Ideologie ubiquitär<br />
und allumfassend. Sie homogenisiert willkürlich alle<br />
Register der öffentlichen und privaten Existenz, so dass es<br />
keinerlei Schutz gegen sie gibt. Im Grunde genommen wird<br />
der Unterschied zwischen öffentlich und privat immer unwichtiger.<br />
Die spezifischen Realitäten sind gezwungen, sich<br />
generischen Realitäten anzugleichen.<br />
An jedem Ort und in jeder Situation wird man von einem<br />
aufgezwungenen ideologischen Regelwerk begleitet.<br />
Man ist nie völlig Herr seiner selbst, und man ist nie allein.<br />
Nach George Orwell ist der Beschreibung solch einer<br />
Anomalie nicht mehr viel hinzuzufügen. Einige neue<br />
Akzente wären dennoch erwähnenswert. Dass zum Beispiel<br />
sogar Bereiche, <strong>die</strong> sich von Grund auf <strong>für</strong> ideologische<br />
Manipulierung nicht eignen, letztlich in der Anpassung enden.<br />
Selbst das nüchternste arithmetische Rechenexempel<br />
kann ohne sonderliche Mühe Teil eines „erzieherischen“<br />
und politisch geprägten Programms werden. Eine Rechenaufgabe<br />
aus dem Lehrbuch <strong>für</strong> Mathematik kann so<br />
formuliert werden – <strong>die</strong>ses Beispiel ist einem satirischen<br />
Text zweier mutiger russischer Schriftsteller der stalinistischen<br />
Periode (Ilf und Petrov) entnommen, es könnte<br />
aber genauso gut aus einem Grundschul-Lehrbuch stammen,<br />
aus dem ich gelernt habe: „Wir haben drei Bahnhöfe,<br />
Worobiowo, Graciowo und Drozdowo, mit einer jeweils<br />
gleichen Anzahl von Beamten. Im Bahnhof Drozdowo sind<br />
sechs Mal weniger Komsomolzen als in den anderen beiden<br />
zusammen genommen, und im Bahnhof Worobiowo<br />
zwölf Parteimitglieder mehr als im Bahnhof Graciowo, wo<br />
<strong>die</strong> Zahl der Parteilosen um sechs größer ist als in den ersten<br />
beiden. Wie viele Beamte haben wir in jedem Bahnhof,<br />
und welches ist <strong>die</strong> Zahl der Parteimitglieder und <strong>die</strong><br />
der Komsomolzen?“<br />
51
Andrei Ples,u<br />
52<br />
Ziffern werden in solch einem Fall Vorwand <strong>für</strong> eine<br />
ideologische Suggestion. Es werden nicht Menschen gezählt,<br />
sondern Partei-Mitgliedschaften. Dabei wird nur allzu<br />
deutlich, dass der Bahnhof Graciowo unerlaubt „apolitisch“<br />
ist, während Worobiowo Spitzenorganisation ist.<br />
Das – noch unerreichte – Ideal wäre, dass in jedem Bahnhof<br />
nur Kommunisten sind, so dass <strong>die</strong> Arithmetik belanglos<br />
wird.<br />
Selbst der delikate und intime Bereich der Liebe bleibt<br />
von einem indiskreten ideologischen Nimbus nicht verschont.<br />
Die realistisch-sozialistische Literatur verwandelt,<br />
ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, den Liebes-<br />
Dialog zu einem Kommentar am Rande des Fünfjahresplans.<br />
Um seine Verlobte zu verführen, schlägt ein Jüngling<br />
<strong>die</strong>ser vor, ihn zu einem neuen Werk im entfernten<br />
Sibirien zu begleiten. Die Zahl der Kinder einer Familie<br />
wird durch ein Regierungsdekret festgelegt. Vorgeschrieben<br />
werden auch Details der Haartracht und Bekleidung.<br />
Bart und langes Haar rufen Missstimmung hervor, ebenso<br />
Jeans und Rock‘n‘Roll.<br />
Auch <strong>die</strong> Erotik muss aufgrund der neuen wissenschaftlichen<br />
Auffassung über Welt und Leben überarbeitet<br />
werden. Die kleinbürgerliche Ornamentik der Sexualität<br />
muss aufgegeben werden. In Wirklichkeit geht es ja<br />
nur um ein banales physiologisches Bedürfnis, das zügig<br />
gestillt werden muss, so wie man auch alle anderen physiologischen<br />
Bedürfnisse erledigt. Eine Freundin Lenins, Alexandra<br />
Kolontai, arbeitete in <strong>die</strong>sem Sinne „<strong>die</strong> Theorie<br />
des Wasserglases“ aus: In seinem Wesen unterscheide sich<br />
der fleischliche Akt durch nichts vom Trinken eines Glases<br />
Wasser, wenn man Durst habe. Sentimentale Komplikationen<br />
würden nur wertvolle Produktionszeit kosten<br />
und <strong>die</strong> ideologische Wachsamkeit einschläfern.<br />
Sehr bald entstanden nach 1917 Entwürfe <strong>für</strong> Spezialkabinen,<br />
<strong>die</strong> auf den Straßen Moskaus zur Befriedigung
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
„auf <strong>die</strong> Schnelle“ des Kupplungsbedürfnisses aufgestellt<br />
werden sollten. Doch sogar Lenin nahm einen gewissen<br />
Abstand zu derart radikalen Lösungen. „Selbst wenn man<br />
Durst hat“, soll er gesagt haben, „trinkt man nicht aus einem<br />
zweifelhaften Sumpf“. Nicht <strong>die</strong> Prozedur an sich störte<br />
ihn folglich, sondern <strong>die</strong> überstürzte Wahl und <strong>die</strong> damit<br />
verbundenen Risiken ...<br />
Der Typ Wohnung, der dem Sowjetbürger vorgeschlagen<br />
wurde, sowie der Tagesablauf mussten ebenfalls<br />
Ausdruck einer unkorrumpierbaren ideologischen Korrektheit<br />
sein. Leitende Prinzipien waren dabei Effizienz<br />
und Organisation. Die private Zeit wird auf ein Minimum<br />
reduziert, <strong>die</strong> Muße findet kollektiv und dirigiert statt.<br />
Architekten arbeiteten Entwürfe von Gemeinschaftshäusern<br />
aus, <strong>die</strong> zwischen sechs und neun Quadratmeter<br />
große Individual-Zellen vorsahen. Kinder schliefen getrennt<br />
nach Altersgruppen, <strong>die</strong> Erwachsenen zu sechst, getrennt<br />
nach dem Geschlecht. Alternativ gab es Programme<br />
<strong>für</strong> Paare, doch <strong>die</strong> Familie im traditionellen Sinne war<br />
aufgehoben. Die Freizeit durfte nur im Klub verbracht werden,<br />
mit kulturell-erzieherischen Programmen und Tätigkeiten<br />
zur Leibesertüchtigung. Morgens und abends gab<br />
es circa zehn Minuten <strong>für</strong> eine Dusche, mit dem Hinweis,<br />
dass <strong>die</strong>s eine fakultative Beschäftigung sei.<br />
Sicherlich, <strong>die</strong>ser drakonische Lebens-Plan konnte nie<br />
bis aufs Letzte umgesetzt werden. Er zeugt aber von der<br />
hysterischen Utopie, von der jede Ideologie träumt, und<br />
von deren spontaner Tendenz, <strong>die</strong> menschliche Existenz<br />
in ihrer Gesamtheit „zu kolonisieren“.<br />
Das Leben im Zeichen eines ideologischen Imperativs<br />
entspricht einem Leben, in dem das Licht niemals ausgeht,<br />
einem Leben ohne einen Augenblick der Einsamkeit, ohne<br />
Zweifel, ohne Geheimnisse. Man ist das entwaffnete<br />
Subjekt einer Invasion. Und langsam, langsam beginnt man<br />
tatsächlich zu glauben, <strong>die</strong> Chancen, sich all dem zu ent-<br />
53
Andrei Ples,u<br />
54<br />
ziehen, um zurück zur Normalität zu finden, seien gleich<br />
Null. Und dass <strong>die</strong> „Normalität“ selber im Grunde genommen<br />
nur eine ideologische Konstruktion ist.<br />
In <strong>die</strong>sem Kontext sollte nicht vergessen werden, darauf<br />
hinzuweisen, dass <strong>die</strong> bolschewistischen Methoden eine<br />
recht beachtliche Anziehungskraft auf den deutschen<br />
Nationalsozialismus ausgeübt haben. Hitler sagte in <strong>die</strong>sem<br />
Zusammenhang zu Hermann Rauschning: „Was mich<br />
bei den Marxisten interessiert hat und was ich von ihnen<br />
gelernt habe, sind ihre Methoden (...). In ihnen ist der gesamte<br />
Nationalsozialismus enthalten (...). Die Körperertüchtigungsvereine<br />
der Arbeiter, <strong>die</strong> großen Umzüge und<br />
Aufmärsche, <strong>die</strong> speziell zum Verständnis der Massen geschriebenen<br />
Propaganda-Broschüren – all <strong>die</strong>se neuen<br />
Mittel des politischen Kampfes sind nahezu zur Gänze von<br />
den Marxisten erfunden worden. Ich musste sie mir nur<br />
aneignen und sie ausbauen und habe mir auf <strong>die</strong>se Weise<br />
das Instrument geschaffen, das ich brauchte.“<br />
Die Ideologien sind nicht darum bemüht, <strong>die</strong> Wahrheit<br />
zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen wegen<br />
ihres Wertes als Wahrheit. Was sie interessiert, ist <strong>die</strong> Anfertigung<br />
einer verwendbaren Wahrheit. Mit anderen Worten,<br />
„<strong>die</strong> Wahrheit“ ist <strong>für</strong> den Ideologen nichts weiter als<br />
ein manipulatorisches Instrument, eine Vorrichtung, <strong>die</strong><br />
funktionell einem bestimmten politischen Interesse und<br />
einem Aktions-Projekt <strong>die</strong>nen kann.<br />
Damit eine Idee zur Ideologie werden kann, muss sie<br />
schematisch (also leicht zugänglich <strong>für</strong> <strong>die</strong> Menge) und<br />
mühelos in eine Straßen-Strategie verwandelbar sein. Nur<br />
Ideologien sind in einer „Kurzfassung“ darstellbar. Eigentlich<br />
sind Ideologien nur das, was in der Kurzfassung<br />
steht. Aktivisten brauchen niemals mehr, um ihr Programm<br />
zu starten. Und eben weil Ideologien nach „Anwendbarkeit“<br />
trachten, sind sie gefährlicher als <strong>die</strong> eigentliche<br />
Metaphysik. Laut der berühmten Formulierung
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
von Karl Marx setzen sie sich nicht zum Ziel, <strong>die</strong> Welt „zu<br />
interpretieren“, sondern sie „zu verändern“. Die Interpretierung<br />
kann falsch sein, ohne dass dabei <strong>die</strong> Dinge destabilisiert<br />
werden. Die Veränderung scheitert aber nicht<br />
in einem Fehler, sondern in Mord. Sie wird zur Technologie<br />
der Destabilisierung und Unbeständigkeit, zur Technologie<br />
einer willkürlichen Radikalität.<br />
Macht es heute überhaupt noch Sinn, über <strong>die</strong> Gefahr<br />
der Ideologien zu sprechen? Raymond Aron fragte sich<br />
bereits 1955, ob wir nicht möglicherweise Zeitgenossen<br />
des Endes der Ideologien seien (zumindest auf der großen<br />
Bühne der zivilisierten Welt). Und Daniel Bell verfasste<br />
zu <strong>die</strong>sem Thema ein Buch: Der politische Kampf<br />
benötigt den Motor der Ideologien nicht mehr. Aus Leitfaden<br />
<strong>für</strong> <strong>die</strong> Aktion haben sie sich in „eine Sackgasse“<br />
verwandelt.<br />
Wenn wir strikt an <strong>die</strong> „radikalen“ Ideologien denken,<br />
<strong>die</strong> das vergangene Jahrhundert geprägt haben (der Nationalsozialismus<br />
und der Kommunismus), scheinen <strong>die</strong><br />
beiden Autoren Recht zu haben. Andererseits erleben wir<br />
heute <strong>die</strong> tagtägliche Wucherung einer Vielfalt von so genannten<br />
„sanften“ Ideologien – sie sind weniger blutig,<br />
doch von einer hinterhältigen und schleichenden Effizienz.<br />
Es gibt eine feministische Ideologie, eine ökologische<br />
Ideologie, eine Gay-Ideologie, eine Ideologie der Globalisierung.<br />
Auch <strong>die</strong> Postmoderne bleibt nicht von einer gewissen<br />
ideologischen Komponente verschont, und auch<br />
<strong>die</strong> „europäische Integration“ gleitet langsam, langsam (leider)<br />
in <strong>die</strong> Richtung des triumphalistischen und vereinfachenden<br />
Pragmatismus eines ideologischen Diskurses.<br />
Ideologien haben eine natürliche Tendenz zur Vervielfachung,<br />
und das, weil sie durch ihre Entfaltung – als Reaktion<br />
– Exzesse desselben Typus hervorrufen.<br />
Ideologien gebären Konter-Ideologien. Sie werden in<br />
der Regel nicht bekämpft, indem ihre prinzipielle Grund-<br />
55
Andrei Ples,u<br />
56<br />
lage zerstört wird, sondern durch neue Ideologien, <strong>die</strong> sich<br />
bemühen, schleunigst gegenteilige, gegensätzliche und<br />
ebenso künstliche Konstruktionen durchzusetzen. Wir haben<br />
es folglich mit einem perfiden Teufelskreis zu tun, der<br />
uns alle unmerklich in das Kanonenfutter eines endlosen<br />
ideologischen Kampfes verwandeln könnte.<br />
Einige Beispiele: Steckenpferd des Nazismus war von<br />
Anfang an <strong>die</strong> bolschewistische Bedrohung. Die Welt musste<br />
vor dem unheimlichen Gespenst der kommunistischen<br />
Ideologie geschützt werden, und da<strong>für</strong> war jedes Mittel<br />
recht, jede Entgleisung wurde entschuldigt.<br />
Eine kriminelle Ideologie fand so ihre Rechtfertigung<br />
in der Bekämpfung einer anderen, als noch krimineller eingestuften<br />
Ideologie. Anschließend schuf sich <strong>die</strong> kommunistische<br />
Ideologie ein glaubwürdiges Bild, indem sie <strong>die</strong><br />
dringende Notwendigkeit des antifaschistischen Kampfes<br />
beschwor. Damit wurden <strong>die</strong> Links-Diktaturen zwangsläufig<br />
zur unvermeidlichen Option („das kleinere Übel“)<br />
<strong>für</strong> jene, <strong>die</strong> von den Diktaturen der Rechten terrorisiert<br />
worden waren. Der kommunistische Missbrauch stimulierte<br />
seinerseits akute dextrogyre Sympathien. Derselbe<br />
Mechanismus lässt sich überall nachweisen. Eine jahrhundertealte,<br />
zur allgemeinen Ideologie gewordene Macho-<br />
Arroganz (mit all ihren Begleiterscheinungen der Überheblichkeit,<br />
Unverschämtheit und Ungerechtigkeit) fand<br />
ihr Ende, indem sie letztlich eine Verteidigungs- und dann<br />
Angriffsfront der feministischen Ideologie provozierte. Für<br />
<strong>die</strong> feministische Ideologie ist Männlichkeit nichts als ein<br />
theriomorpher Atavismus, eine Art schwachsinniges und<br />
vergewaltigendes Ungeheuer, das entweder zu Gehorsam<br />
verdammt oder dem Untergang geweiht ist. Sehr bald aber<br />
führte der agitatorische und mobilisierende Geist des Feminismus<br />
zu der Rekoagulation eines übersteigerten und<br />
sarkastischen „Neo-Machismus“, und das wiederum war<br />
genau das „Richtige“, um <strong>die</strong> feministische Sensibilität zur
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
„Hysterie“ zu treiben, <strong>die</strong> sich dadurch prompt in ihren Ansichten<br />
bestätigt sah. Und so weiter und so fort.<br />
Die durch eine inflexible Ideologie der „Normalität“ legitimierte<br />
heterosexuelle Mehrheit bestrafte brutal das Anderssein,<br />
<strong>die</strong> durch <strong>die</strong> sexuelle Minderheit verkörpert wird,<br />
indem sie autoritär in deren Intimsphäre eingriff: Die „Häretiker“<br />
wurden nicht einfach „strafgepredigt und mit<br />
christlicher Nächstenhilfe“ bedacht, sondern zur juristischen<br />
und sozialen Extermination verdammt. Als Antwort<br />
errichten <strong>die</strong> Gay-Gruppierungen ein provozierendes ideologisches<br />
Gerüst, das <strong>die</strong> Mehrheitlichen moralisch bloßstellen<br />
soll. Nach bereits klassischem Muster verwandelten<br />
sie sich aus Angeklagten in Ankläger. Die Defensive der<br />
Homosexuellen wird zum Ansturm, zur Revolution, zur<br />
Avantgarde. Das militante Individuum bekämpft <strong>die</strong> Allgemeinheit,<br />
<strong>die</strong> Ausnahme erhebt Anspruch auf Regelstatus.<br />
Die heterosexuelle Reaktion bleibt nicht aus: Je höher<br />
<strong>die</strong> Euphorie der Gay-Ideologie steigt, umso erschreckender<br />
und düsterer wird der Hetero-Konformismus.<br />
Eine knappe Betrachtung und Einschätzung aller zeitgenössischen<br />
ideologischen Modelle (zum Beispiel <strong>die</strong> Eskalation<br />
der Spannung zwischen „Europa-Be<strong>für</strong>worter“<br />
und „Euroskeptizismus“) wird zu ähnlichen Schlussfolgerungen<br />
führen: Das ideologische Pendel bewegt sich<br />
nach demselben Diagramm, <strong>die</strong> Auseinandersetzungen des<br />
Jahrhunderts unterwerfen sich derselben mechanischen<br />
Symmetrie. Es scheint, als könnten wir der uns alle schwächenden<br />
Kadenz des „Entweder-oder“ nicht entrinnen, als<br />
würden wir uns in groben und vorhersehbaren Widerwärtigkeiten<br />
verzetteln, während <strong>die</strong> wahren Fragen der<br />
Welt an der Peripherie unserer Aufmerksamkeit unbeachtet<br />
ersticken.<br />
„Die Legion“ der Ideologien ist in ihrer unkontrollierbaren<br />
Vielzahl letztendlich dennoch Ausdruck einer relativ<br />
einfachen Psychologie. Die Ideologien können nicht<br />
57
Andrei Ples,u<br />
58<br />
nur auf durchsichtige Gruppeninteressen, sondern auch<br />
auf <strong>die</strong> quasi-mechanische Logik von Minderwertigkeitsbeziehungsweise<br />
Überlegenheits-Komplexen reduziert<br />
werden.<br />
• Der Nazismus ist eine Ideologie, geboren aus einem<br />
irren Rassen-Überlegenheits-Komplex. Der Kommunismus<br />
startet im Gegenteil aus einem Klassen-Minderwertigkeits-Komplex.<br />
Dies hier ist ein sehr passendes<br />
und effizientes Schema zur Klärung des ideologischen<br />
Schematismus.<br />
• Die „Macho“-Ideologie gehört mit ihrer dominierenden<br />
Arroganz – les proportions gardées – eher zum<br />
Nazi-Typus.<br />
• Der Feminismus wird durch Ressentiments angetrieben<br />
und erinnert – wiederum unter dem Vorbehalt<br />
der Proportionen – damit eher an den Kommunismus.<br />
• Die Hetero-Psychologie hat in ihrer aggressiven Variante<br />
etwas von der gnadenlosen Selbstgefälligkeit der<br />
Nazis.<br />
• Mit ihrer „revolutionären“ Kampfbereitschaft hat <strong>die</strong><br />
Homosexuellen-Psychologie etwas von dem utopischen<br />
und sektiererischen Geist der kommunistischen<br />
Propaganda.<br />
Dieselbe Ideologie kann von der einen oder anderen Art<br />
sein, und das ist abhängig davon, wer sie praktiziert. Der<br />
Euroskeptizismus der entwickelten Länder hat seinen Ursprung<br />
in ihrem Überlegenheits-Komplex gegenüber<br />
den neuen Mitgliedern, während der Euroskeptizismus<br />
der Kandidaten Ausdruck eines Minderwertigkeits-Komplexes<br />
gegenüber den Mitgliedsstaaten ist. Im Allgemeinen<br />
sind <strong>die</strong> Ideologien der Rechten von einer verächtlichen<br />
und geringschätzigen Selbstgefälligkeit geprägt,<br />
während <strong>die</strong> Ideologien der Linken unter dem Zeichen<br />
von Ressentiments stehen.
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
Es wäre aber an der Zeit – einfach als Freiheits-<br />
Übung –, einen Schritt außerhalb <strong>die</strong>ses monotonen<br />
Tanzes, jenseits der Kadenz <strong>die</strong>ses Pendels zu wagen. Und<br />
es wäre auch an der Zeit, eigenständig zu denken, ohne<br />
<strong>die</strong> nörgelnde Schulmeisterei von Ideologien der einen oder<br />
anderen Couleur.<br />
Können wir aber von den Ideologien loskommen, uns<br />
ihrem Einfluss entziehen? Und wenn ja, wie? Ich erhebe<br />
hier keinesfalls den Anspruch, ein unfehlbares Rezept zur<br />
Verfügung stellen zu können, das einen hundertprozentigen<br />
Schutz gegen <strong>die</strong>se Gefahr garantiert. Es würde mich<br />
freuen, wenn es mir zumindest gelingen würde, auf <strong>die</strong> bestehende<br />
Gefahr aufmerksam zu machen. Was Lösungen<br />
betrifft, so ist das eher eine Frage des gesunden Menschenverstands,<br />
und <strong>die</strong> Lösungen hängen in entscheidendem<br />
Maße davon ab, dass <strong>die</strong> Krankheit richtig diagnostiziert<br />
wird.<br />
Eine erste Form des Schutzes gegen <strong>die</strong> ideologische<br />
Invasion ist das autonome, das eigenständige Denken. Jede<br />
von außen gekommene Idee, jedes Ready-made-Produkt,<br />
jede Mode, <strong>die</strong> zyklisch auf der öffentlichen Bühne<br />
lanciert wird, muss mit gesundem Misstrauen geprüft werden.<br />
Ideologie ist in der Regel Massendenken und nach<br />
dem berühmten Ausspruch von Czezlaw Milosz „kaptatives<br />
Denken“. Das Subjekt ist nicht mehr länger Eigentümer<br />
des eigenen Denkens, und das bedeutet, dass das Denken<br />
aufhört, ein freier Akt zu sein. Für das Subjekt „wird<br />
gedacht“ an anderer Stelle, Bildung ist ersetzt durch Propaganda,<br />
der direkten Erfahrung wird „Werbung“ vorgezogen.<br />
Eine zweite Schutz-Übung gegen Ideologien besteht in<br />
dem Bemühen, Dinge zu Ende zu denken bis jenseits der<br />
Offensichtlichkeit erster Instanz, ohne logische oder sentimentale<br />
Übereilung und Abkürzungen. Also, nicht<br />
schlicht und einfach „Denken“, sondern „Weiterdenken“.<br />
59
Andrei Ples,u<br />
60<br />
Ideologien entsprechen auf intellektueller Ebene der Angewohnheit,<br />
schnell zu essen und das Gegessene nur teilweise<br />
zu verdauen, „Fastfood“ und „Junkfood“. Sie scheinen<br />
„wissenschaftlich“ und „funktionell“, in Wirklichkeit<br />
aber reduzieren sie das organische Leben des Geistes auf<br />
eine eintönige Mechanik. Ideologien sind bürokratisiertes<br />
Denken, so wie „Fastfood“ bürokratisierte Ernährung ist.<br />
In beiden Fällen wird das lebenswichtige Gleichgewicht<br />
des Ganzen gefährdet.<br />
Erinnern Sie sich noch an den spektakulären Anfang<br />
des Manifestes der Kommunistischen Partei? „Ein Gespenst<br />
geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“<br />
Das ist <strong>die</strong> perfekte Definition der Ideologie im<br />
Allgemeinen. Ideologie ist spektrales, gespenstiges Denken.<br />
Sie reduziert den Reichtum des Realen zu einer gespenstischen<br />
Inkonsistenz. Sie verbreitet sich nicht durch Überzeugung,<br />
sondern sie „geistert“ beunruhigend und epidemisch;<br />
sie bietet anstelle einer klaren und analysierbaren<br />
Präsenz das verschwommene Gefühl einer körperlosen<br />
Präsenz, <strong>die</strong> Illusion, den Schein einer Präsenz.<br />
Ideologien sind gleichzeitig rudimentär und schwer zu<br />
bestimmen; mit den üblichen Instrumenten der Vernunft<br />
sind sie schwer „zu fassen“. Um ihnen standzuhalten und<br />
zu widerstehen, muss man lebendig bleiben, reaktionsfähig<br />
und nicht eingliederungsbereit. Und man muss seinen<br />
Humor bewahren. Denn nichts ist lächerlicher, gebrechlicher<br />
und schwächer als ein Gespenst, das ausgelacht<br />
wird.
Zwischen Lächerlichkeit und Subversion<br />
61
Die Autoren<br />
62<br />
Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio ...<br />
... (Jahrgang 1954) war von 1970 bis 1980 als Kommunalverwaltungsbeamter<br />
in Dinslaken tätig, ehe er 1985 das<br />
zweite juristische Staatsexamen ablegte. 1985/86 war er<br />
Richter am Sozialgericht in Duisburg. 1987 promovierte<br />
er als Jurist und 1990 zusätzlich in Sozialwissenschaften.<br />
Von 1986 bis 1993 war Di Fabio als wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
bzw. Assistent am Institut <strong>für</strong> Öffentliches Recht<br />
der Universität Bonn tätig. 1993 habilitierte sich Di Fabio<br />
mit einer Arbeit über Risikoentscheidungen im Rechtsstaat.<br />
1993 übernahm er Professuren an der Universität Münster<br />
und an der Universität Trier. 1997 wechselte er an <strong>die</strong><br />
Ludwig-Maximilians-Universität München, bis er 2003 an<br />
<strong>die</strong> Universität Bonn zurückkehrte. Seit Dezember 1999<br />
gehört Di Fabio dem zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts<br />
an.<br />
Den hier veröffentlichten Vortrag hielt Udo Di Fabio<br />
auf der Jahresversammlung des <strong>Stifterverband</strong>es am 18.<br />
Mai 2006 in der Düsseldorfer Tonhalle.<br />
Prof. Dr. Gesine Schwan ...<br />
… wurde 1943 in Berlin geboren. Sie stu<strong>die</strong>rte ab 1962<br />
Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft<br />
in Berlin und Freiburg/Breisgau. Sie promovierte im<br />
Jahr 1970, <strong>die</strong> Habilitation folgte 1975. Seit 1977 ist sie<br />
Professorin <strong>für</strong> Politikwissenschaft, insbesondere <strong>für</strong> politische<br />
Theorie und Philosophie (Spezialgebiete: Marxismus,<br />
Demokratietheorien, Theorien des Sozialismus;<br />
politische Psychologie und politische Kultur). Seit Oktober<br />
1999 ist Gesine Schwan Präsidentin der Europa-Universität<br />
Viadrina in Frankfurt (Oder). Im Jahr 2004 war<br />
sie Kandidatin von SPD und Bündnis 90/Die Grünen <strong>für</strong><br />
das Amt der Bundespräsidentin. Sie publiziert zu nor-
mativen Fragen der Demokratie und des Sozialismus, zur<br />
politischen Ideengeschichte, zur politischen Psychologie.<br />
Den hier veröffentlichten Vortrag hielt Gesine Schwan<br />
anlässlich des 6. Stiftertages des <strong>Stifterverband</strong>es am 20.<br />
September 2006 in Berlin.<br />
Prof. Dr. Andrei Gabriel Ples,u…<br />
... wurde 1948 in Bukarest geboren. Er stu<strong>die</strong>rte Kunstgeschichte<br />
und Philosophie, war Lizenziat <strong>für</strong> Geschichte<br />
und Theorie der Kunst, bevor er als Professor an der<br />
Universität Bukarest Kunstgeschichte und Religionsphilosophie<br />
lehrte. In der Ceausescu-Ära politisch verfolgt,<br />
wurde er nach der Revolution in Rumänien zu einem der<br />
führenden politischen Köpfe des Landes. Zwischen 1990<br />
und 1991 war er Kulturminister, zwischen 1997 und 1999<br />
Außenminister Rumäniens.<br />
Nach der Wende gründete er in Bukarest das New Europe<br />
College, dessen Rektor er zurzeit ist. Das NEC ist das<br />
erste und einzige Institute for Advanced Study <strong>für</strong> <strong>die</strong> Geistes-<br />
und Sozialwissenschaften in Rumänien. Die Marga und<br />
Kurt Möllgaard-Stiftung, <strong>die</strong> Sal. Oppenheim-Stiftung zur<br />
Förderung der <strong>Wissenschaft</strong>en und der Stiftungsfonds<br />
<strong>Deutsche</strong> Bank – <strong>die</strong> der <strong>Stifterverband</strong> alle treuhänderisch<br />
verwaltet – haben sich seit der Gründung des NEC mit insgesamt<br />
rund 1,2 Millionen Euro beteiligt. Unterstützung<br />
gewährten u. a. auch <strong>die</strong> VolkswagenStiftung (Hannover),<br />
<strong>die</strong> Stiftung Mercator (Essen) und <strong>die</strong> Kulturstiftung Landis<br />
& Gyr (Zug) sowie andere private und staatliche Quellen.<br />
Den hier in einer leicht gekürzten Fassung publizierten<br />
Vortrag hielt Ples,u am 28. November 2005 vor dem<br />
Landeskuratorium Bayern des <strong>Stifterverband</strong>es. Das Manuskript<br />
wurde von Malte Kessler ins <strong>Deutsche</strong> übertragen.<br />
63
Impressum<br />
Herausgeber<br />
<strong>Stifterverband</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Wissenschaft</strong> e. V.<br />
Barkhovenallee 1<br />
45239 Essen<br />
Telefon: (02 01) 84 01-0<br />
Telefax: (02 01) 84 01-3 01<br />
Internet: www.stifterverband.de<br />
E-Mail: mail@stifterverband.de<br />
Verantwortlich<br />
Michael Sonnabend<br />
Redaktion<br />
Michael Sonnabend<br />
Gestaltung und Layout<br />
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Illustrationen<br />
Andrzej Koston