Die wundersame Welt der Kaffeesurrogate - Dr. Neinhaus Verlag AG

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28 Aktuell Landpost 06/2009 Die wundersame Welt der Kaffeesurrogate Muckefuck Was heute selbstverständlich ist, war früher purer Luxus: der Konsum reinen Bohnenkaffees. Zumal in europäischen Ländern ohne Kolonien war Echtkaffee für die Volksmassen unerschwinglich. Deshalb behalf man sich, seit in Europa Kaffee konsumiert wird, mit Ersatzstoffen. Diese Surrogate wurden — aus ökonomischen Zwängen und wegen gesundheitlicher Bedenken — Teil unserer europäischen Trinkkultur. Und sie ebneten dem Bohnenkaffee den Weg vom exotischen Luxusgut zum heute so beliebten und unverzichtbaren Alltagsgetränk. Die Ursprünge des Bohnenkaffees liegen in Äthiopien. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts blieben Anbau und Konsum mehrheitlich auf den arabischen Raum beschränkt. Dann gelangte das Exotikum Mitte 17. Jahrhundert via kaffeeproduzierende Kolonien, vorab holländische und französi- „Aecht Franck Caffee-Zusatz“ — eine der damals wohl bekanntesten Surrogat-Marken. sche nach Europa, während die frostempfindliche Kaffeepflanze die warmen Länder nicht verlassen konnte. Echtkaffee blieb jedoch ein teures Privileg. Deshalb setzten die Werbebotschaften für den in Europa angebauten Kaffeeersatz aus einheimischen Pflanzen, den Kaffee der armen Leute, auf identitätsstiftende, nationale Symbolik, so zum Beispiel Hilber’s Feigenkaffee in Österreich auf Edelweiß und Alpenrosen sowie ein Zichorienkaffee aus der Schweiz auf deren Nationalheld Wilhelm Tell. Aber auch deutsche Trachtenfrauen standen für volksverbundene, gesunde, inländische Produkte. Ausgangssubstanzen für die Kaffee-Ersatzstoffe waren Wurzelgewächse und Getreide, getrocknete Früchte und Nüsse sowie Samen, Kerne und Hülsenfrüchte. Also nahezu aus allem, was die Natur hergab, wurde Kaffeesurrogat gemacht. Doch vieles konnte sich nicht halten und verschwand wieder, wie etwa die früher häufig verwendeten Erdmandeln, wohl weil sie geschmacklich nicht überzeugten. Die Verarbeitung der Ersatzstoffe für den Eigengebrauchumfasste folgende Schritte: Erlesen und Waschen der Pflanzenteile,Zerkleinern in gleichmäßige Stücke, Trocknen, Rösten und Mahlen. Bei Malz-, Eichel- und Kastanienkaffee war zudem vorgängiges Einweichen notwendig. Von den Steinobstkernen konnte nur der innere, weiche Teil verwendet werden. Aus nahezu allem, was die Natur hergab, wurde Kaffeesurrogat gemacht. Wie zum Beispiel aus Hagebutten. Kaffee aus Zichorien (Blauer Kaffee) und aus anderen einheimischen Produkten gehörte auf den Esstisch der Bauern und Arbeiter wie Kartoffeln und Brot. Über Generationen hinweg waren sie deshalb im Sprachgebrauch fest verankert, die scham- oder schalkhaften Bezeichnungen für Kaffee- Ersatzstoffe wie zum Beispiel Schlapper Kaffee, Hutzelwasser, Preußenkaffee, Muckefuck oder auch Blümchenkaffee, weil man auf dem Tassengrund das Blumenmuster erkennen konnte. Aromabouqet des Bohnenkaffees Obschon Surrogate oder Mixturen davon ein absolut ausgewogenes, ja sogar ansprechendes Geschmacksresultat aufweisen konnten, erreichten sie das Aromabouquet des Bohnenkaffees mit seinen annähernd 1000 Geruchskomponenten nie. Auch fehlte allen Ersatzkaffees die psychoaktive Substanz Koffein. Die Kaffeeähnlichkeit, sowohl bezüglich Geschmack als auch Farbe, wurde vielmehr durch den Röstvorgang erzielt, der von zentraler Wichtigkeit war; denn ungerösteter Kaffee(ersatz) wäre gar nicht trinkbar. Zur Röstung für den Heimgebrauch gelangten früher Röstzangen, Pfannen und Trommelröster, aber auch einfache Bleche zum Einsatz. Bei relativ starker Hitze wurden die jeweiligen Surrogate unter stetem Umrühren beziehungswei- se Drehen direkt über dem offenen Feuer geröstet. Das Röstgut musste gleichmäßig zerkleinert und das Röstgefäss durfte nicht rundvoll gefüllt sein. Die Kunst bestand darin, anhand der Färbung des Röstgutes (typisches Kaffeebraun) den Endpunkt des Röstprozesses zu erkennen und ein Verkohlen zu verhindern. Verzweifelt versuchte im 18. Jahrhundert die Obrigkeit, vorab im norddeutschen Raum, den offenbar schon weit verbreiteten Echtkaffee-Konsum in den Unterschichten zu verbieten. Man begründete dies merkantilistisch, da durch den Import große Geldsummen ins Ausland abflössen. Auch wollte man verhindern, dass das einfache Volk durch den Konsum des teueren Exotengetränks gänzlich verarmte. So ließ etwa der Erzbischof von Köln 1766 verkünden, dass „Die Erfahrung zeiget, dass durch solchen sich immer mehr ausbreitenden Gebrauch des Thée und Caffée viele Zeit ohne Gewinn und Nutzen zugebracht, Knechte, Mägde, Taglöhner und andere Leute zur schädlichen Verschwendung ihres verdienten Lohns verführet“. Weder das Ausschenken und Trinken, noch das Aufbewahren von Kaffee waren erlaubt, ja sogar der Besitz von Kaffeegeschirr blieb untersagt. Zur Kontrolle wurden so genannte Kaffeeriecher eingesetzt, welche die Delinquenten in flagranti zu ertappen versuchten. Während Adlige und Bürgerli-

28 Aktuell Landpost 06/2009<br />

<strong>Die</strong> <strong>wun<strong>der</strong>same</strong> <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> <strong>Kaffeesurrogate</strong><br />

Muckefuck<br />

Was heute selbstverständlich<br />

ist, war<br />

früher purer Luxus:<br />

<strong>der</strong> Konsum reinen Bohnenkaffees.<br />

Zumal in europäischen<br />

Län<strong>der</strong>n ohne Kolonien<br />

war Echtkaffee für die Volksmassen<br />

unerschwinglich. Deshalb<br />

behalf man sich, seit in Europa<br />

Kaffee konsumiert wird,<br />

mit Ersatzstoffen. <strong>Die</strong>se Surrogate<br />

wurden — aus ökonomischen<br />

Zwängen und wegen gesundheitlicher<br />

Bedenken — Teil<br />

unserer europäischen Trinkkultur.<br />

Und sie ebneten dem Bohnenkaffee<br />

den Weg vom exotischen<br />

Luxusgut zum heute so<br />

beliebten und unverzichtbaren<br />

Alltagsgetränk.<br />

<strong>Die</strong> Ursprünge des Bohnenkaffees<br />

liegen in Äthiopien. Bis<br />

zum Beginn des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

blieben Anbau und Konsum<br />

mehrheitlich auf den arabischen<br />

Raum beschränkt. Dann<br />

gelangte das Exotikum Mitte<br />

17. Jahrhun<strong>der</strong>t via kaffeeproduzierende<br />

Kolonien, vorab<br />

holländische und französi-<br />

„Aecht Franck Caffee-Zusatz“ — eine <strong>der</strong> damals<br />

wohl bekanntesten Surrogat-Marken.<br />

sche nach Europa, während die<br />

frostempfindliche Kaffeepflanze<br />

die warmen Län<strong>der</strong> nicht verlassen<br />

konnte. Echtkaffee blieb<br />

jedoch ein teures Privileg.<br />

Deshalb setzten die Werbebotschaften<br />

für den in Europa angebauten<br />

Kaffeeersatz aus einheimischen<br />

Pflanzen, den Kaffee<br />

<strong>der</strong> armen Leute, auf identitätsstiftende,<br />

nationale Symbolik,<br />

so zum Beispiel Hilber’s<br />

Feigenkaffee in Österreich auf<br />

Edelweiß und Alpenrosen sowie<br />

ein Zichorienkaffee aus <strong>der</strong><br />

Schweiz auf <strong>der</strong>en Nationalheld<br />

Wilhelm Tell. Aber auch deutsche<br />

Trachtenfrauen standen<br />

für volksverbundene, gesunde,<br />

inländische Produkte.<br />

Ausgangssubstanzen für die<br />

Kaffee-Ersatzstoffe waren Wurzelgewächse<br />

und Getreide, getrocknete<br />

Früchte und Nüsse<br />

sowie Samen, Kerne und Hülsenfrüchte.<br />

Also nahezu aus allem,<br />

was die Natur hergab, wurde<br />

Kaffeesurrogat gemacht.<br />

Doch vieles konnte sich nicht<br />

halten und verschwand wie<strong>der</strong>,<br />

wie etwa die früher<br />

häufig verwendeten<br />

Erdmandeln,<br />

wohl weil sie geschmacklich<br />

nicht<br />

überzeugten.<br />

<strong>Die</strong> Verarbeitung<br />

<strong>der</strong> Ersatzstoffe<br />

für den Eigengebrauchumfasste<br />

folgende Schritte:<br />

Erlesen und Waschen<br />

<strong>der</strong> Pflanzenteile,Zerkleinern<br />

in gleichmäßige<br />

Stücke, Trocknen,<br />

Rösten und<br />

Mahlen. Bei Malz-,<br />

Eichel- und Kastanienkaffee<br />

war zudem<br />

vorgängiges<br />

Einweichen notwendig.<br />

Von den<br />

Steinobstkernen<br />

konnte nur <strong>der</strong> innere,<br />

weiche Teil<br />

verwendet werden.<br />

Aus nahezu allem, was die Natur hergab, wurde Kaffeesurrogat gemacht.<br />

Wie zum Beispiel aus Hagebutten.<br />

Kaffee aus Zichorien (Blauer<br />

Kaffee) und aus an<strong>der</strong>en einheimischen<br />

Produkten gehörte<br />

auf den Esstisch <strong>der</strong> Bauern<br />

und Arbeiter wie Kartoffeln<br />

und Brot. Über Generationen<br />

hinweg waren sie deshalb<br />

im Sprachgebrauch fest verankert,<br />

die scham- o<strong>der</strong> schalkhaften<br />

Bezeichnungen für Kaffee-<br />

Ersatzstoffe wie zum Beispiel<br />

Schlapper Kaffee, Hutzelwasser,<br />

Preußenkaffee, Muckefuck o<strong>der</strong><br />

auch Blümchenkaffee, weil man<br />

auf dem Tassengrund das Blumenmuster<br />

erkennen konnte.<br />

Aromabouqet<br />

des Bohnenkaffees<br />

Obschon Surrogate o<strong>der</strong> Mixturen<br />

davon ein absolut ausgewogenes,<br />

ja sogar ansprechendes<br />

Geschmacksresultat aufweisen<br />

konnten, erreichten sie das<br />

Aromabouquet des Bohnenkaffees<br />

mit seinen annähernd<br />

1000 Geruchskomponenten<br />

nie. Auch fehlte allen Ersatzkaffees<br />

die psychoaktive Substanz<br />

Koffein. <strong>Die</strong> Kaffeeähnlichkeit,<br />

sowohl bezüglich Geschmack<br />

als auch Farbe, wurde<br />

vielmehr durch den Röstvorgang<br />

erzielt, <strong>der</strong> von zentraler<br />

Wichtigkeit war; denn ungerösteter<br />

Kaffee(ersatz) wäre gar<br />

nicht trinkbar.<br />

Zur Röstung für den Heimgebrauch<br />

gelangten früher Röstzangen,<br />

Pfannen und Trommelröster,<br />

aber auch einfache<br />

Bleche zum Einsatz. Bei relativ<br />

starker Hitze wurden die jeweiligen<br />

Surrogate unter stetem<br />

Umrühren beziehungswei-<br />

se <strong>Dr</strong>ehen direkt über dem offenen<br />

Feuer geröstet. Das Röstgut<br />

musste gleichmäßig zerkleinert<br />

und das Röstgefäss durfte nicht<br />

rundvoll gefüllt sein. <strong>Die</strong> Kunst<br />

bestand darin, anhand <strong>der</strong> Färbung<br />

des Röstgutes (typisches<br />

Kaffeebraun) den Endpunkt des<br />

Röstprozesses zu erkennen und<br />

ein Verkohlen zu verhin<strong>der</strong>n.<br />

Verzweifelt versuchte im<br />

18. Jahrhun<strong>der</strong>t die Obrigkeit,<br />

vorab im norddeutschen Raum,<br />

den offenbar schon weit verbreiteten<br />

Echtkaffee-Konsum in<br />

den Unterschichten zu verbieten.<br />

Man begründete dies merkantilistisch,<br />

da durch den Import<br />

große Geldsummen ins<br />

Ausland abflössen. Auch wollte<br />

man verhin<strong>der</strong>n, dass das einfache<br />

Volk durch den Konsum des<br />

teueren Exotengetränks gänzlich<br />

verarmte.<br />

So ließ etwa <strong>der</strong> Erzbischof von<br />

Köln 1766 verkünden, dass „<strong>Die</strong><br />

Erfahrung zeiget, dass durch<br />

solchen sich immer mehr ausbreitenden<br />

Gebrauch des Thée<br />

und Caffée viele Zeit ohne Gewinn<br />

und Nutzen zugebracht,<br />

Knechte, Mägde, Taglöhner und<br />

an<strong>der</strong>e Leute zur schädlichen<br />

Verschwendung ihres verdienten<br />

Lohns verführet“. We<strong>der</strong> das<br />

Ausschenken und Trinken, noch<br />

das Aufbewahren von Kaffee<br />

waren erlaubt, ja sogar <strong>der</strong> Besitz<br />

von Kaffeegeschirr blieb<br />

untersagt. Zur Kontrolle wurden<br />

so genannte Kaffeeriecher eingesetzt,<br />

welche die Delinquenten<br />

in flagranti zu ertappen versuchten.<br />

Während Adlige und Bürgerli-


Landpost 06/2009 Aktuell 29<br />

che für den echten Bohnenkaffee<br />

kunstvoll dekoriertes und<br />

goldverziertes Porzellan verwendeten,<br />

waren es schlicht bemalte<br />

Steinguttassen beim Surrogat-Proletariat,<br />

dessen Ernährung<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t hauptsächlich<br />

aus Kartoffeln, Getreidebrei,<br />

Branntwein und billigem<br />

Ersatzkaffee bestand, mit<br />

entsprechenden, ernährungsbedingten<br />

Mangelerscheinungen.<br />

<strong>Die</strong> Produktion von Surrogaten<br />

wurde durch die Kaffeeverbote<br />

wesentlich begünstigt, so dass<br />

sich eine eigentliche Kaffeeersatz-Industrie<br />

etablierte. Trotzdem<br />

zeigte sich, dass Surrogate<br />

und Bohnenkaffee in keinem<br />

direkten Konkurrenzverhältnis<br />

standen, im Gegenteil: Der<br />

Konsum von Bohnenkaffee und<br />

<strong>der</strong>jenige von Surrogaten stieg<br />

parallel an. Um 1900 wurden<br />

weltweit 494 000 Tonnen Röstkaffee<br />

produziert, und im Vergleich<br />

dazu in Europa 273000<br />

Tonnen Zichorienpulver.<br />

Pionier <strong>der</strong> Zichorienherstellung<br />

auf industrieller Basis war<br />

Major Christian von Heine in<br />

Braunschweig, <strong>der</strong> 1769 für sein<br />

Produkt ein staatliches Monopol<br />

mit Schutzsiegel zugesprochen<br />

erhielt. Wie es dazu kam?: Seine<br />

Frau, eine geborene Reichsgräfin,<br />

wurde auf <strong>der</strong> Flucht im<br />

Siebenjährigen Krieg von plün<strong>der</strong>nden<br />

Soldaten in ihrer Kalesche<br />

überfallen und erlitt dabei<br />

einen Nervenschock. Ihr Leibarzt<br />

verschieb ihr zur Stärkung<br />

den bitteren Saft <strong>der</strong> Zichorienwurzel.<br />

Da ihr das Zeugs nicht<br />

schmeckte, kam sie auf die Idee,<br />

es zu trocknen und zu rösten<br />

und daraus einen Zichoriensud<br />

zu machen — womit sie ihrem<br />

Mann die Idee für den Kaffeeersatz<br />

geliefert hatte.<br />

Als dann im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t die<br />

Surrogatfabriken wie Pilze aus<br />

dem Boden schossen, wurde das<br />

Schutzsiegel durch die Schutzmarke<br />

abgelöst. Bekanntes Beispiel<br />

ist die 1828 im württembergischen<br />

Vaihingen gegründete<br />

Firma Heinrich Franck<br />

Söhne. Deren Markenzeichen<br />

für das Zichorienpulver und<br />

spätere Franck Aroma, eine stilisierte<br />

Kaffeemühle, wurde zum<br />

Begriff.<br />

Surrogate mit billigen<br />

Substanzen gestreckt<br />

Wie bei allen Nahrungs- und<br />

Genussmitteln, so gab es auch<br />

bei den Kaffee-Ersatzstoffen<br />

Fälschungen, indem skrupellose<br />

Profiteure die Surrogate mit<br />

billigsten Substanzen ähnlicher<br />

Farbe und Konsistenz streckten.<br />

So wurden dem weit verbreiteten<br />

Zichorienkaffee etwa Mehl,<br />

Zwieback o<strong>der</strong> Kaffeesatz, aber<br />

auch gemahlene Wurzeln und<br />

Baumrinde, ja sogar Erde, Torf<br />

und Ziegelmehl beigemengt –<br />

wohl mit ein Grund, dass Surrogate<br />

oft als übel riechend bezeichnet<br />

wurden.<br />

<strong>Die</strong> seriösen Hersteller schützten<br />

sich dagegen mittels Produktmarken,<br />

Echtheitsbezeugungen<br />

und Empfehlungen durch Fachleute.<br />

Ab dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

überführte dann die aufkommendeLebensmittelkontrolle<br />

die Betrüger. Da Bohnenkaffee<br />

um ein Vielfaches teurer war<br />

als die Ersatzstoffe, wurde auch<br />

dieser gefälscht und mit billigen<br />

Surrogaten vermischt.<br />

Um solchen Betrügereien zu<br />

entgehen, griff man zweckmäs-<br />

Hibler’s Feigenkaffee: Trachtenmädchen und Bergblumen stehen für<br />

heimisch und gesund. Fotos : Johannes Jacobs Museum Zürich<br />

sigerweise auf Rohkaffee zurück<br />

und röstete und mahlte diesen<br />

selber. Wollte ein Händler<br />

sich über die Reinheit gemahlenen<br />

Kaffees vergewissern, genügte<br />

es, einen Löffel davon in<br />

kaltes Wasser zu geben: Während<br />

echtes Kaffeemehl obenauf<br />

schwimmt, sinken an<strong>der</strong>e<br />

Röstprodukte ab. Zichorienteilchen<br />

verfärben sich zudem bei<br />

Wasserkontakt und bilden einen<br />

gelben Hof.<br />

<strong>Die</strong> im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t aufkommende<br />

Ernährungsreform war<br />

nicht nur dem Koffeinhalten<br />

Bohnenkaffee abhold, son<strong>der</strong>n<br />

taxierte auch den Zichorienkaffee<br />

despektierlich als „Zuckerwasser<br />

mit brauner Farbe und<br />

bitterem Geschmack“. Sie plädierte<br />

für einen höheren Nährwert<br />

des Massengetränks und<br />

propagierte daher den Gesundheitskaffee<br />

aus Getreide, Malz,<br />

Feigen, Eicheln und Früchten.<br />

Hauptzielgruppen waren neben<br />

Betagten und Kranken auch<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendliche.<br />

Bekannt geworden durch seine<br />

Wasserkuren empfahl Pfarrer<br />

Sebastian Kneipp (1821 bis<br />

1897) aus dem bayrischen Wörishofen<br />

die Gesundheitskaffees<br />

aus Getreide, Malz und Eicheln<br />

und bewarb persönlich den Kathreiner<br />

Malzkaffee. Auch <strong>der</strong><br />

Schweizer Kräuterpfarrer Johannes<br />

Künzle (1857 bis 1945)<br />

war ein vehementer Gegner des<br />

Bohnenkaffees und warb für<br />

das Virgo Kaffeesurrogat aus<br />

Getreide und Früchten. Der Name<br />

Virgo (Lateinisch: Jungfrau)<br />

sollte, zusammen mit <strong>der</strong> auf<br />

<strong>der</strong> Packung abgebildeten hehren<br />

Bergwelt, für die Reinheit<br />

des Produktes bürgen.<br />

Das Kaffee(ersatz)trinken hatte<br />

aber auch einen positiven soziologischen,generationenübergreifenden<br />

Effekt in Bezug auf<br />

die Geselligkeit: die kontaktför<strong>der</strong>nden<br />

Kaffeekränzchen <strong>der</strong><br />

Erwachsenen wurden von den<br />

Kin<strong>der</strong>n imitiert: Trinkt Kaffee,<br />

plau<strong>der</strong>t und seid friedlich!<br />

Krisenzeiten bewirkten immer<br />

einen Anstieg des Surrogatkonsums,<br />

so etwa die Kontinentalsperre<br />

von 1806 bis 1813.<br />

Während <strong>der</strong> beiden <strong>Welt</strong>kriege<br />

wurden sowohl Bohnenkaffee<br />

als auch <strong>Kaffeesurrogate</strong><br />

zur rationierten Mangelware.<br />

Dadurch gab es immer gewagtere<br />

Experimente mit Ersatz-<br />

Feigen<br />

Wegwarte<br />

Eicheln<br />

Eine Auswahl aus <strong>der</strong> Palette<br />

<strong>der</strong> für die Surrogat-Herstellung<br />

verwendeten Pflanzen.<br />

produkten (zum Beispiel Dahlienknollen).<br />

Bis zum Zweiten<br />

<strong>Welt</strong>krieg wurde im deutschen<br />

Sprachraum <strong>der</strong> Kaffeebedarf<br />

zu rund 50 Prozent durch Surrogate<br />

gedeckt. <strong>Die</strong>se bleiben in<br />

den Nachkriegsjahren noch lange<br />

mit negativen Erinnerungen<br />

an Entbehrung behaftet.<br />

Erst seit dem „Wirtschaftswun<strong>der</strong>“<br />

<strong>der</strong> 1950er Jahre konnten<br />

sich alle Bevölkerungsschichten<br />

reinen Bohnenkaffee leisten, sodass<br />

die Surrogate verschwanden,<br />

allerdings nie gänzlich.<br />

Heute ist Kaffeeersatz vorwiegend<br />

als Instant- o<strong>der</strong> gemahlener<br />

Filterkaffe im Handel. Ja, es<br />

gibt sogar Wie<strong>der</strong>belebungsversuche,<br />

so beim Altreier-Alpenkaffee<br />

(Grenze Südtirol/Trentino),<br />

welcher aus Lupinen hergestellt<br />

wird.<br />

Von seinem Armleute-Image<br />

hat sich <strong>der</strong> Surrogatkaffee inzwischen<br />

weitgehend befreien<br />

können. Beson<strong>der</strong>s bekömmliche<br />

Mischungen aus Getreide,<br />

Malz, Feigen, Eicheln, Zichorien<br />

und Obst bilden heute ein etabliertes<br />

Nischenprodukt, welches<br />

vor allem von Leuten mit Koffein-<br />

und Säure-Unverträglichkeit<br />

sowie von stillenden Müttern<br />

geschätzt o<strong>der</strong> ganz einfach aus<br />

Nostalgiegründen noch konsumiert<br />

wird. Heini Hofmann

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