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01 Teil I - Hogrefe

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I Theoretischer Hintergrund


Kapitel 1<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa<br />

1.1 Symptomatik und Klassifikation<br />

In den letzten Jahren ist in den westlichen Kulturen<br />

eine Erhöhung der Inzidenzraten von Anorexia<br />

Nervosa („Magersucht“) und Bulimia Nervosa<br />

(„Ess-Brech-Sucht“) zu verzeichnen (van Hoeken,<br />

Seidell & Hoek, 2003). Dieses verstärkte<br />

Aufkommen der Essstörungen wird oft mit einer<br />

zunehmenden Diskrepanz zwischen dem steigenden<br />

tatsächlichen Gewicht in der Bevölkerung<br />

und dem sich immer mehr in Richtung extremer<br />

Schlankheit wandelnden Schönheitsideal in<br />

Zusammenhang gebracht (vgl. Wiseman, Gray,<br />

Mosiman & Ahrens, 1992). War es in der Nachkriegszeit<br />

als Zeichen von Wohlstand und Gesundheit<br />

noch erstrebenswert, etwas „fülliger“ zu<br />

sein, so gilt in der heutigen Überflussgesellschaft<br />

jedes Gramm zu viel als „Sünde“. Zur Kontrolle<br />

ihres Gewichtes greifen daher viele Menschen,<br />

insbesondere Frauen, zu zum <strong>Teil</strong> gesundheitsgefährdenden<br />

Maßnahmen wie Crash-Diäten, exzessivem<br />

Sport oder zu Abführmitteln und Appetitzüglern.<br />

Diese Maßnahmen sind nicht nur in den<br />

meisten Fällen hinsichtlich einer Gewichtsreduktion<br />

erfolglos; sie können auch das Auftreten von<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa begünstigen.<br />

Von Anorexia und Bulimia Nervosa sind zumeist<br />

junge Frauen betroffen. Eine Übersichtsarbeit über<br />

epidemiologische Untersuchungen zu Essstörungen<br />

ergab, dass in dieser Gruppe die durchschnittliche<br />

Prävalenzrate für Anorexia Nervosa bei 0,3 %<br />

und für Bulimia Nervosa bei ca. 1 % liegt. Die beiden<br />

Störungsbilder unterscheiden sich auch hinsichtlich<br />

des Erstmanifestationszeitpunktes. Bei<br />

der Anorexia Nervosa liegt dieser ca. fünf Jahre früher<br />

als bei der Bulimia Nervosa: Die Anorexia Nervosa<br />

beginnt zumeist im Alter von 15 bis 19 Jahren,<br />

während bei der Bulimia Nervosa die höchsten<br />

Inzidenzraten im Alter von 20 bis 24 Jahren zu<br />

verzeichnen sind (Hoek & van Hoeken, 2003).<br />

Das Kardinalsymptom der Anorexia Nervosa ist<br />

ein starkes Untergewicht. Zur Stellung der Dia-<br />

gnose einer Anorexia Nervosa gemäß der vierten<br />

Revision des Diagnostischen und Statistischen<br />

Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV-TR;<br />

Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003) sowie<br />

der aktuellsten Auflage der Internationalen Klassifikation<br />

Psychischer Störungen (ICD-10; Dilling,<br />

Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort,<br />

1994) muss dieses unterhalb von 85 % des für das<br />

Alter und die Körpergröße zu erwartenden Gewichtes<br />

liegen bzw. einem Body Mass Index 2 von<br />

17,5 kg/m 2 oder niedriger entsprechen (Kriterium<br />

A im DSM-IV-TR und Kriterium 1 im ICD-10).<br />

Bei Betroffenen, die sich noch in der Wachstumsphase<br />

befinden, stellt das Ausbleiben einer zu erwartenden<br />

Gewichtszunahme das Diagnosekriterium<br />

dar.<br />

Auf Grund des niedrigen Gewichtes kann es bei<br />

den Betroffenen zu hormonellen Störungen kommen.<br />

So ist die Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse<br />

beeinträchtigt, was bei<br />

Frauen nach der Menarche zu einem Ausbleiben<br />

der Regelblutung führt („sekundäre Amenorrhoe“).<br />

Diese endokrine Störung ist in beiden Klassifikationssystemen<br />

verankert (Kriterium D im DSM-<br />

IV-TR und Kriterium 4 im ICD-10). Im DSM-<br />

IV-TR ist dieses Kriterium dann erfüllt, wenn in<br />

mindestens drei aufeinander folgenden Zyklen<br />

keine Menstruation aufgetreten ist. Bei Betroffenen,<br />

die bereits vor Beginn der Pubertät die Anorexie<br />

entwickelt haben, kann es zu einer verzögerten<br />

Pubertätsentwicklung kommen, so dass bei<br />

diesen Personen die Regelblutung zum Zeitpunkt<br />

des Entstehens der Anorexia Nervosa noch nicht<br />

eingetreten war („primäre Amenorrhoe“). Da viele<br />

Frauen die „Pille“ zur Empfängnisverhütung einnehmen,<br />

kann es schwierig sein, die Amenorrohoe<br />

zu diagnostizieren: Durch die Einnahme des<br />

oralen Kontrazeptivums oder anderer Hormonpräparate<br />

besteht die monatliche Regelblutung auch<br />

bei denjenigen Frauen fort, die auf Grund des niedrigen<br />

Gewichtes ohne Hormoneinnahme keine<br />

Menstruation mehr hätten. In diesem Falle ist das<br />

Kriterium auch erfüllt. Die Störung der Hypotha-<br />

2 Der Body Mass Index (BMI) als Maß für das Gewicht in Relation zur Körpergröße wird berechnet, indem das Körpergewicht<br />

in Kilogramm durch die quadrierte Körpergröße in Metern dividiert wird. Werte zwischen 20 und 25 gelten als normalgewichtig.


4<br />

lamus-Hypophysen-Gonaden-Achse kann sich bei<br />

Männern darin äußern, dass das Interesse an Sexualität<br />

abnimmt bzw. Potenzstörungen auftreten.<br />

Zur Stellung der Diagnose einer Anorexia Nervosa<br />

ist weiterhin notwendig, dass das bestehende<br />

Untergewicht von den Patientinnen selbst herbeigeführt<br />

wird (Kriterium 2 im ICD-10). Das heißt,<br />

die Nahrungsaufnahme wird nicht durch Signale<br />

wie Hunger und Sättigung gesteuert, sondern ist<br />

rigiden kognitiven Standards unterworfen. Die<br />

Menge der aufgenommenen Nahrung wird aus<br />

Angst vor einer Gewichtszunahme stark eingeschränkt.<br />

Auch vermeiden die betroffenen Frauen<br />

zumeist hochkalorische Nahrungsmittel. Die Speisen<br />

werden in „verbotene“ (z. B. Schokolade) und<br />

„erlaubte“ Nahrungsmittel (z. B. Magerquark oder<br />

auch „Light-Produkte“) eingeteilt und oftmals<br />

werden die Kalorien des Gegessenen gezählt. Auf<br />

Grund dieser Einschränkung der Nahrungsmittelzufuhr<br />

kommt es zu einer starken Beschäftigung<br />

mit dem Thema „Essen“: Die Gedanken kreisen<br />

permanent darum, was, wie viel, wann und wie<br />

verzehrt werden darf. Als Ausdruck der Nahrungsdeprivation<br />

lesen die Patientinnen darüberhinaus<br />

oft Kochrezepte oder bekochen andere Menschen,<br />

ohne dass sie diese zumeist hochkalorischen Speisen<br />

selbst essen. Wie ein typischer Ernährungstag<br />

einer Patientin mit Anorexia Nervosa aussieht, ist<br />

exemplarisch in Kasten 1 dargestellt:<br />

Kasten 1: Beispiel für die im Tagesverlauf<br />

verzehrte Nahrungsmenge bei Anorexia Nervosa<br />

Frühstück:<br />

– 1 Apfel<br />

– 1 Tasse Kaffee mit Süßstoff<br />

Mittagessen:<br />

– 1 Teller grüner Salat ohne Dressing<br />

– 1 /2 Brötchen<br />

– 2 Gläser Diätcola<br />

Abendessen:<br />

– 1 Knäckebrot mit Magerquark und<br />

Schnittlauch<br />

– 1 /2 Tomate<br />

– 2 Tassen Tee mit Süßstoff<br />

Im Gegensatz zu Frauen mit Anorexia Nervosa<br />

sind Patientinnen mit einer Bulimia Nervosa oftmals<br />

normalgewichtig. Die Patientinnen essen<br />

zwar zumeist auch restriktiv, d. h. sie zählen Kalorien<br />

und nehmen in der meisten Zeit nur ge-<br />

Kapitel 1<br />

ringe Mengen an Nahrung zu sich. Hierbei werden<br />

ebenfalls bevorzugt Speisen mit einem niedrigen<br />

Energiewert (z. B. „Light-Produkte“) verzehrt.<br />

Allerdings können die Betroffenen die Kontrolle<br />

über ihr Essverhalten nicht dauerhaft aufrechterhalten,<br />

was so genannte Essanfälle (DSM-IV-TR<br />

„Fressattacken“ genannt) zur Folge hat. Diese stellen<br />

ein Kardinalsymptom der Bulimia Nervosa<br />

dar (Kriterium A im DSM-IV-TR und Kriterium 1<br />

im ICD-10). Im DSM-IV-TR sind diese Essanfälle<br />

dadurch charakterisiert, dass innerhalb eines<br />

bestimmten Zeitraumes von beispielsweise zwei<br />

Stunden eine deutlich größere Nahrungsmenge<br />

verzehrt wird als Menschen ohne eine Essstörung<br />

unter vergleichbaren Umständen zu sich nehmen<br />

würden. Allerdings wird nicht genau quantifiziert,<br />

was unter einer „größeren Nahrungsmenge“ zu<br />

verstehen ist. Im Rahmen solcher Essanfälle werden<br />

zumeist Speisen mit einem hohen Fett- oder<br />

Kohlenhydratanteil (z. B. Kuchen) konsumiert,<br />

deren Verzehr sich die Patientinnen außerhalb dieser<br />

Essanfälle „verbieten“. Die während der Essattacken<br />

aufgenommenen Nahrungsmittel sind<br />

meist leicht zu verschlingen und bedürfen keiner<br />

aufwändigen Zubereitung. Der Kaloriengehalt der<br />

während eines Essanfalls zu sich genommenen<br />

Speisen liegt in der Regel zwischen 1500 und<br />

4 500 kcal (Mitchell, Crow, Peterson, Wonderlich<br />

& Crosby, 1998). Da im Zuge einer Essattacke<br />

große Mengen an Nahrung verzehrt werden, kann<br />

es bei den Patientinnen zu finanziellen Schwierigkeiten<br />

bis hin zur Verschuldung und zum Diebstahl<br />

von Nahrungsmitteln kommen. In Kasten 2<br />

ist exemplarisch die während eines Essanfalles<br />

verschlungene Nahrungsmenge aufgeführt.<br />

Kasten 2: Beispiel für die während eines<br />

Essanfalls verzehrte Nahrungsmenge bei Bulimia<br />

Nervosa<br />

– 400 g Spaghetti mit Tomatensoße<br />

– 3 Brötchen mit viel Butter und Nutella<br />

– 2 Plunderstückchen<br />

– 1 Apfelstrudel mit 500 ml Vanillesoße<br />

– 1 Topf Grießbrei<br />

– 2 Gläser Milch<br />

Die Häufigkeit der Essanfälle schwankt interindividuell<br />

sehr stark. Sie liegt zwischen durchschnittlich<br />

zwei Anfällen pro Woche (formal festgelegte<br />

Untergrenze zur Stellung der Diagnose<br />

einer Bulimia Nervosa gemäß DSM-IV-TR, s. o.)<br />

und 20 Anfällen pro Tag (Fairburn, 1980). Guer-


tin (1999) gibt für bulimische Patienten im Mittel<br />

bis zu 10 Essanfälle pro Woche an.<br />

Während dieser Essanfälle erleben die Patientinnen<br />

einen Kontrollverlust hinsichtlich der Art und<br />

Menge der verschlungenen Nahrung (Kriterium A<br />

im DSM-IV-TR). Das Essen wird während solcher<br />

Essattacken zumeist nicht genossen, sondern hat<br />

eine eher „berauschende Wirkung“. Viele Patientinnen<br />

berichten, die Essanfälle nicht stoppen zu<br />

können, sondern diese erst auf Grund eines starken<br />

Völlegefühls oder eintretender Übelkeit beenden<br />

zu können.<br />

Sehr häufig treten bei den Betroffenen nach den<br />

Essanfällen Schuldgefühle auf, da die selbst auferlegten<br />

Diätregeln nicht eingehalten wurden.<br />

Auf Grund der Menge und der Art der zu sich<br />

genommenen Nahrung folgt darüber hinaus auf<br />

einen Essanfall oft eine extreme Angst vor einer<br />

Gewichtszunahme. Hinzu kommen Ekel- und<br />

Schamgefühle, welche sich sowohl auf die zu sich<br />

genommene Nahrung als auch auf die eigene Person<br />

bzw. den eigenen Körper beziehen.<br />

Um diese empfundenen und antizipierten negativen<br />

Folgen eines Essanfalles zu vermindern,<br />

setzen die Betroffenen neben dem Fasten und<br />

Auslassen von Mahlzeiten unterschiedliche kompensatorische<br />

Maßnahmen ein (Kriterium B im<br />

DSM-IV-TR und Kriterium 2 im ICD-10). So<br />

führen 70 bis 90 % der Betroffenen Erbrechen<br />

herbei. Dies wird zu Beginn zumeist mit einer<br />

mechanischen Brechhilfe, z. B. dem Finger oder<br />

aber Druckausübung auf den Magen, ausgelöst.<br />

Mit Fortschreiten der Erkrankung automatisiert<br />

sich das Erbrechen häufig.<br />

Weitere kompensatorische Strategien sind die Einnahme<br />

verschiedener Medikamente. Am häufigsten<br />

kommt es in diesem Zusammenhang zu einem<br />

Missbrauch von Abführmitteln (Laxantien). Diese<br />

bewirken eine Darmentleerung, indem die verstärkte<br />

Abgabe von Wasser und Elektrolyten von<br />

der Darmwand ins Darminnere forciert wird. Da<br />

die Abführmittel jedoch erst in einem Darmabschnitt<br />

wirksam sind, in dem die Resorption der<br />

Nahrungsmittel weitestgehend abgeschlossen ist,<br />

wird vor allem Wasser ausgeschieden. So führen<br />

Abführmittel zu keiner dauerhaften Gewichtsreduktion.<br />

Das kurzfristige Verstärkerpotenzial<br />

dieses Medikamentes liegt darin, dass durch die<br />

Darmentleerung das von den Patientinnen erlebte<br />

Völlegefühl reduziert wird.<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa 5<br />

Mit einer vergleichbaren Zielsetzung werden von<br />

einigen Patientinnen Einläufe (Klistiere) verwendet.<br />

Hierbei wird über ein kleines Rohr Flüssigkeit<br />

(z. B. Wasser, Kamillentee) in den Darm eingeführt.<br />

Wenn der so entstehende Druck sehr hoch<br />

wird, kann der Darminhalt auf der Toilette entleert<br />

werden.<br />

Auch Entwässerungsmittel (Diuretika) werden gelegentlich<br />

von Patientinnen mit Essstörungen verwendet.<br />

Diese wirken über eine vermehrte Wasser-<br />

und Kochsalzausscheidung über die Niere und<br />

führen so zu einer vorübergehenden Gewichtsabnahme.<br />

Eine weitere Strategie, um eine Gewichtsreduktion<br />

herbeizuführen, ist die Einnahme von Appetitzüglern.<br />

Über eine zentrale Stimulation des Stoffwechsels<br />

und des Energieverbrauches bewirken<br />

diese eine Hemmung des Appetit- und Sättigungszentrums<br />

im Gehirn. Hieraus resultiert eine Reduktion<br />

der Nahrungsaufnahme. Da viele Appetitzügler<br />

nicht mehr rezeptfrei in der Apotheke<br />

erhältlich sind, verschaffen sich einige Betroffene<br />

diese Medikamente über den Schwarzmarkt.<br />

Seltener setzen von Essstörungen betroffene Patientinnen<br />

Schilddrüsenpräparate ein, obwohl<br />

keine Schilddrüsenunterfunktion besteht. Durch<br />

diese Medikamente wird der Stoffwechsel „angekurbelt“.<br />

Der hierdurch erzielte Effekt ist hinsichtlich<br />

der Symptome mit einer Schilddrüsenüberfunktion<br />

vergleichbar und kann zu einer<br />

Gewichtsverminderung führen.<br />

Eine weitere zu beobachtende kompensatorische<br />

Strategie stellt die Reduktion der Insulindosis bei<br />

Diabetikerinnen dar. Durch die Vernachlässigung<br />

des „Spritzens“ und den damit bewirkten Insulinmangel<br />

kommt es zu einem Anstieg des Blutzuckers.<br />

Der Blutzucker wird über den Harn<br />

ausgeschieden und kann daher ebenfalls eine Gewichtsabnahme<br />

nach sich ziehen.<br />

Auch wird häufig übermäßige körperliche Betätigung<br />

als kompensatorische Strategie mit dem<br />

Ziel der Kalorienverbrennung eingesetzt. Eigene<br />

körperliche Belastungsgrenzen werden hierbei oft<br />

nicht eingehalten. In Kasten 3 sind die kompensatorischen<br />

Maßnamen zusammenfassend aufgelistet.<br />

Basierend auf der Art der eingesetzten kompensatorischen<br />

Strategien werden im DSM-IV-TR


6<br />

zwei Subgruppen der Bulimia Nervosa gebildet:<br />

Betroffene des „Purging“-Typus („Abführender<br />

Typus“) erbrechen regelmäßig selbstinduziert oder<br />

verwenden Abführmittel, Entwässerungsmittel<br />

oder Einläufe. Bei Vorliegen des „Non-Purging“-<br />

Typus werden diese gegenregulierenden Maßnahmen<br />

nicht eingesetzt. Stattdessen fasten die Personen<br />

oder treiben übermäßig viel Sport, um ihr<br />

Gewicht zu kontrollieren.<br />

Kasten 3: Die Essanfälle kompensierende<br />

Maßnahmen<br />

– Selbstinduziertes Erbrechen<br />

– Einnahme von Abführmitteln (Laxantien)<br />

– Verwendung von Einläufen (Klistiere)<br />

– Einnahme von Entwässerungsmitteln<br />

(Diuretika)<br />

– Einnahme von Appetitzüglern<br />

– Einnahme von Schilddrüsenpräparaten<br />

– Vernachlässigung der Insulinbehandlung<br />

bei Diabetikerinnen<br />

– Exzessiver Sport<br />

– Fasten bzw. Vermeidung bestimmter<br />

Speisen wie fett- oder kohlenhydratreiche<br />

Nahrungsmittel<br />

Essanfälle mit nachfolgenden kompensatorischen<br />

Strategien (z. B. Erbrechen) kennzeichnen nicht<br />

nur die Bulimia Nervosa, sondern auch einen Subtypus<br />

der Anorexia Nervosa, den „Binge Eating/<br />

Purging Typ“. Im Gegensatz zur Bulimia Nervosa<br />

ist die Art der Essanfälle bei dieser Form der Anorexia<br />

Nervosa im DSM-IV-TR allerdings nicht<br />

genauer definiert. Die kompensatorischen Strategien<br />

hingegen werden spezifiziert; so wird hier<br />

selbstinduziertes Erbrechen sowie der Missbrauch<br />

von Abführ- und Entwässerungsmitteln oder Klistieren<br />

genannt. Bei Patientinnen mit einer Anorexia<br />

Nervosa vom „Restriktiven Typus“ hingegen<br />

wird das niedrige Gewicht ausschließlich durch<br />

Fasten erzielt; Essanfälle mit kompensatorischen<br />

Strategien treten hier nicht auf.<br />

Sowohl bei der Anorexia als auch der Bulimia Nervosa<br />

liegt eine Störung des Körperbildes vor. Gemäß<br />

den Klassifikationssystemen ist der Anorexie<br />

(DSM-IV-TR: Kriterium B und C; ICD-10: Kriterium<br />

3) und Bulimie (ICD-10: Kriterium 3) gemein,<br />

dass sich die betroffenen Personen zu dick<br />

Kapitel 1<br />

fühlen bzw. eine gestörte Wahrnehmung ihrer eigenen<br />

Figur aufweisen. Da jedoch Personen mit<br />

Anorexie stark untergewichtig sind und von Bulimie<br />

betroffene Personen zumeist ein normales<br />

Gewicht aufweisen, hat diese Überzeugung bzw.<br />

Fehleinschätzung für beide Diagnosegruppen unterschiedliche<br />

Implikationen (Cash & Deagle,<br />

1997). Frauen mit Anorexia Nervosa „normalisieren“<br />

so ihre abgemagerte Erscheinung. Sie streben<br />

ein sehr niedriges Gewicht an und nehmen das bei<br />

ihnen bestehende Untergewicht nicht wahr bzw.<br />

verleugnen es (DSM-IV-TR: Kriterium C), was<br />

für außenstehende Personen kaum nachvollziehbar<br />

ist. Bei der Bulimia Nervosa hingegen „pathologisieren“<br />

die zumeist normalgewichtigen Patientinnen<br />

ihre Figur: Sie sind der Überzeugung,<br />

zu dick zu sein und daher abnehmen zu müssen.<br />

Eine weitere Parallele zwischen den beiden Formen<br />

der Essstörungen gemäß der Klassifikationssysteme<br />

liegt darin, dass sowohl Patientinnen mit<br />

Anorexia Nervosa (DSM-IV-TR: Kriterium B;<br />

ICD-10: Kriterium 3) als auch mit Bulimia Nervosa<br />

(ICD-10: Kriterium 3) eine starke Angst vor<br />

einer Gewichtszunahme haben. Oft zeigen die<br />

Patientinnen hier ein „Alles-oder-Nichts-Denken“:<br />

Entweder sie schaffen es, ihr Gewicht zu reduzieren<br />

bzw. konstant zu halten oder aber sie befürchten,<br />

unkontrolliert zuzunehmen und dick zu<br />

werden.<br />

Das DSM-IV-TR beschreibt einen weiteren zentralen<br />

Aspekt, der sich auf das Körperbild bezieht.<br />

Sowohl bei der Anorexie (Kriterium C) als auch<br />

der Bulimie (Kriterium D) wird beschrieben, dass<br />

die Bereiche „Figur“ und „Körpergewicht“ einen<br />

übertriebenen Einfluss auf das Selbstwertgefühl<br />

haben. Aus diesem Grunde wird von vielen Patientinnen<br />

schon eine sehr geringe Gewichtszunahme<br />

als extrem bedrohlich wahrgenommen. Umgekehrt<br />

kann eine Gewichtsabnahme bzw. das Gefühl, das<br />

Gewicht kontrollieren zu können, kurzfristig belohnend<br />

sein und den Selbstwert der Betroffenen<br />

erhöhen.<br />

In Tabelle 1 sind die Diagnosekriterien der Anorexia<br />

Nervosa und in Tabelle 2 der Bulimia Nervosa<br />

zusammenfassend aufgelistet. Hierbei werden<br />

die inhaltlich vergleichbaren Kriterien im<br />

DSM-IV-TR und ICD-10 jeweils nebeneinander<br />

dargestellt.


Tabelle 1: Diagnosekriterien der Anorexia Nervosa gemäß DSM-IV-TR und ICD-10<br />

DSM-IV-TR (307.1) ICD-10 (F50.0)<br />

A. Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße<br />

normalen Körpergewichts zu halten (z. B.<br />

der Gewichtsverlust führt dauerhaft zu einem Körpergewicht<br />

von weniger als 85 % des zu erwartenden<br />

Gewichts; oder das Ausbleiben einer während<br />

der Wachstumsperiode zu erwartenden Gewichtszunahme<br />

führt zu einem Körpergewicht von weniger<br />

als 85 % des zu erwartenden Gewichts).<br />

B. Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme<br />

oder davor, dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts.<br />

C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur<br />

und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des<br />

Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung,<br />

oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen<br />

geringen Körpergewichts.<br />

D. Bei postmenarchalen Frauen das Vorliegen einer<br />

Amenorrhoe, d. h. das Ausbleiben von mindestens<br />

drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen<br />

(Amenorrhoe wird auch dann angenommen, wenn<br />

bei einer Frau die Periode nur nach Verabreichung<br />

von Hormonen, z. B. Östrogen, eintritt).<br />

Restriktiver Typus (F50.00): Während der aktuellen<br />

Episode der Anorexia Nervosa hat die Person keine regelmäßigen<br />

„Fressanfälle“ gehabt oder hat kein „Purging“-Verhalten<br />

(das heißt selbstinduziertes Erbrechen<br />

oder Missbrauch von Laxantien, Diuretika oder Klistieren)<br />

gezeigt.<br />

„Binge-Eating/Purging“-Typus (F50.<strong>01</strong>): Während<br />

der aktuellen Episode der Anorexia Nervosa hat die<br />

Person regelmäßig Fressanfälle gehabt und hat Purgingverhalten<br />

(das heißt selbstinduziertes Erbrechen<br />

oder Missbrauch von Laxantien, Diuretika oder Klistieren)<br />

gezeigt.<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa 7<br />

1. Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter<br />

dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust<br />

oder nie erreichtes Gewicht) oder Body Mass Index<br />

von 17,5 kg/m 2 oder weniger. Bei Patienten in der<br />

Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme<br />

während der Wachstumsperiode ausbleiben.<br />

2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch<br />

Vermeidung von hochkalorischen Speisen; sowie<br />

eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen:<br />

selbstinduziertes Erbrechen oder Abführen, übertriebene<br />

körperliche Aktivitäten, Gebrauch von Appetitzüglern<br />

oder Diuretika.<br />

3. Körperschema-Störung in Form einer spezifischen<br />

psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden,<br />

besteht als eine tiefverwurzelte überwertige Idee;<br />

die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle<br />

für sich selbst fest.<br />

4. Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse.<br />

Sie manifestiert sich<br />

bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als<br />

Libido- und Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das<br />

Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen<br />

Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehandlung<br />

zur Kontrazeption.) Erhöhte Wachstumshormonund<br />

Cortisolspiegel, Änderungen des peripheren<br />

Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen<br />

der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.<br />

5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die<br />

Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert<br />

oder gehemmt. Nach Remission wird die<br />

Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen,<br />

die Menarche tritt aber verspätet ein.


8<br />

Tabelle 2: Diagnosekriterien der Bulimia Nervosa gemäß DSM-IV-TR und ICD-10<br />

DSM-IV-TR (307.51) ICD-10 (F50.2)<br />

A. Wiederholte Episoden von „Fressattacken“. Eine<br />

„Fressattacken“-Episode ist gekennzeichnet durch<br />

beide der folgenden Merkmale:<br />

1) Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten<br />

Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums<br />

von zwei Stunden), wobei diese Nahrungsmenge<br />

erheblich größer ist, als die Menge,<br />

die die meisten Menschen in einem vergleichbaren<br />

Zeitraum und unter vergleichbaren Bedingungen<br />

essen würden.<br />

2) Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle<br />

über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl,<br />

weder mit dem Essen aufhören zu können,<br />

noch Kontrolle über Art und Menge der Nahrung<br />

zu haben).<br />

B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen,<br />

einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen,<br />

wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch<br />

von Laxantien, Diuretika, Klistieren oder<br />

anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige<br />

körperliche Betätigung.<br />

C. Die „Fressattacken“ und das unangemessene Kompensationsverhalten<br />

kommen drei Monate lang im<br />

Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor.<br />

D. Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen<br />

Einfluss auf die Selbstbewertung.<br />

E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf<br />

von Episoden einer Anorexia Nervosa auf.<br />

„Purging“-Typus: Die Person induziert während der<br />

aktuellen Episode der Bulimia Nervosa regelmäßig Erbrechen<br />

oder missbraucht Laxantien, Diuretika oder<br />

Klistiere.<br />

„Nicht-Purging“-Typus: Die Person hat während der<br />

aktuellen Episode der Bulimia Nervosa andere unangemessene,<br />

einer Gewichtszunahme gegensteuernde<br />

Maßnahmen gezeigt wie beispielsweise Fasten oder<br />

übermäßige körperliche Betätigung, hat aber nicht regelmäßig<br />

Erbrechen induziert oder Laxantien, Diuretika<br />

oder Klistiere missbraucht.<br />

Kapitel 1<br />

1. Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine<br />

unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die<br />

Patientin erliegt Essattacken, bei denen große Mengen<br />

Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.<br />

2. Die Patientin versucht, dem dickmachenden Effekt<br />

der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen<br />

entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen,<br />

Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden,<br />

Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten<br />

oder Diuretika. Wenn die Bulimia Nervosa<br />

bei Diabetikerinnen auftritt, kann es zu einer<br />

Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen.<br />

3. Krankhafte Furcht davor, dick zu werden; die Patientin<br />

setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze,<br />

deutlich unter dem prämorbiden, vom Arzt<br />

als optimal oder gesund“ betrachteten Gewicht.<br />

Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem<br />

Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren<br />

eine Episode der Anorexia Nervosa nachweisen.<br />

Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen<br />

sein, oder war eine verdeckte Form mit mäßigem<br />

Gewichtsverlust oder einer vorübergehenden<br />

Amenorrhoe.


Die oben aufgeführte Gegenüberstellung der<br />

Symptomatik bzw. der Diagnosekriterien der<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa macht die starken<br />

Überschneidungen beider Störungsbilder deutlich.<br />

Fairburn, Cooper und Shafran (2003) nehmen daher<br />

eine „transdiagnostische Perspektive“ ein und<br />

betonen die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen<br />

Essstörungsdiagnosen (z. B. Überbewertung<br />

von Figur und Gewicht). Darüber hinaus<br />

weisen Fairburn et al. (2003) darauf hin, dass bei<br />

vielen Patientinnen im Laufe der Zeit ein Wechsel<br />

zwischen der Anorexia und Bulimia Nervosa sowie<br />

der Nicht Näher Bezeichneten Essstörung stattfindet.<br />

Auf die letztgenannte Form der Essstörungen<br />

wird im Folgenden differenzierter eingegangen.<br />

Wenn bei einer Patientin nicht alle für die Stellung<br />

der Diagnose einer Anorexia oder Bulimia<br />

Nervosa notwendigen Kriterien erfüllt sind, ansonsten<br />

das klinische Bild jedoch relativ typisch<br />

für eine Essstörung ist, kann gemäß DSM-IV-TR<br />

die Diagnose einer Nicht Näher Bezeichneten Essstörung<br />

(307.50) gestellt werden. Das ICD-10<br />

sieht für diese Fälle die Diagnose einer Atypischen<br />

Anorexia Nervosa (F50.1) bzw. Atypischen Bulimia<br />

Nervosa (F50.3) vor. Im DSM-IV-TR erfolgt<br />

eine differenzierte Darstellung der Fälle, in denen<br />

eine Nicht Näher Bezeichnete Essstörung diagnostiziert<br />

werden sollte. Diese Kriterien sind in<br />

Kasten 4 aufgelistet.<br />

Obwohl die Nicht Näher Bezeichnete Essstörung<br />

in der Population nicht seltener vorzukommen<br />

scheint als die Anorexia und Bulimia Nervosa<br />

(Ricca, Mannucci, Mezzani, Di-Bernardo, Zucchi,<br />

Paionni, Placidi, Rotella & Faravelli, 20<strong>01</strong>),<br />

wurde ihr in der Vergangenheit (mit Ausnahme<br />

der Binge Eating Störung, s. u.) weder im Forschungs-<br />

noch im Praxisbereich ein entsprechendes<br />

Ausmaß an Aufmerksamkeit erbracht. Die<br />

Nicht Näher Bezeichnete Essstörung weist insofern<br />

eine deutliche Ähnlichkeit zur Anorexie und<br />

Bulimie auf, als betroffene Personen zumeist ein<br />

rigides und stark gezügeltes Essverhalten zeigen<br />

und oft unangemessene Kompensationsstrategien<br />

wie selbstinduziertes Erbrechen, exzessiven<br />

Sport und Laxantienabusus einsetzen.<br />

Die Binge Eating Störung, welche durch das Auftreten<br />

von Essattacken ohne kompensatorische<br />

Maßnahmen gekennzeichnet ist, wird in den Diagnosekriterien<br />

zwar unter der Kategorie der Nicht<br />

Näher Bezeichneten Essstörung gefasst (vgl. Kasten<br />

4), es existieren jedoch im DSM-IV-TR be-<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa 9<br />

reits gesonderte Forschungskriterien für dieses<br />

Störungsbild. Im Rahmen der im folgenden Kapitel<br />

dargestellten differenzialdiagnostischen Aspekte<br />

bei der Anorexia und Bulimia Nervosa wird<br />

auf die Binge Eating Störung näher eingegangen.<br />

Kasten 4: Kriterien der Nicht Näher Bezeichneten<br />

Essstörung gemäß DSM-IV-TR<br />

DSM-IV-TR (307.50)<br />

1. Bei einer Frau sind sämtliche Kriterien der<br />

Anorexia Nervosa erfüllt, außer dass die Frau<br />

regelmäßig Menstruationen hat.<br />

2. Sämtliche Kriterien der Anorexia Nervosa<br />

sind erfüllt, nur liegt das Gewicht der Person<br />

trotz erheblichen Gewichtsverlustes noch<br />

im Normalbereich.<br />

3. Sämtliche Kriterien der Bulimia Nervosa<br />

sind erfüllt, jedoch sind die „Fressattacken“<br />

und das unangemessene Kompensationsverhalten<br />

weniger häufig als zweimal pro<br />

Woche für eine Dauer von weniger als drei<br />

Monaten.<br />

4. Die regelmäßige Anwendung unangemessener,<br />

einer Gewichtszunahme gegensteuernder<br />

Maßnahmen durch eine normalgewichtige<br />

Person nach dem Verzehr kleiner Nahrungsmengen<br />

(z. B. selbstinduziertes Erbrechen<br />

nach dem Verzehr von zwei Keksen).<br />

5. Wiederholtes Kauen und Ausspucken großer<br />

Nahrungsmengen, ohne sie herunterzuschlucken.<br />

6. „Binge Eating Störung“: Wiederholte Episoden<br />

von „Fressattacken“ ohne die für Bulimia<br />

Nervosa charakteristischen regelmäßigen,<br />

einer Gewichtszunahme gegensteuernden<br />

Maßnahmen.<br />

1.2 Differenzialdiagnostik,<br />

Komorbidität und Folgen<br />

Bei der Stellung der Diagnose einer Anorexia<br />

und Bulimia Nervosa sind zunächst organische<br />

Ursachen abzuklären, die im Zusammenhang<br />

mit einer Gewichtsabnahme, verändertem Appetit<br />

oder Erbrechen stehen können. Hierzu zählen<br />

Erkrankungen, welche sich auf die Funktionen des<br />

Magen-Darm-Traktes beziehen und die Nahrungsaufnahme<br />

beeinflussen können (z. B. Morbus<br />

Crohn). Zur differenzialdiagnostischen Abklärung<br />

sollte hier eine internistisch-allgemeinme-


10<br />

dizinische Konsultation stattfinden. Zu beachten<br />

ist, dass bei Personen mit einer organischen Erkrankung<br />

in der Regel der Wunsch nach einer<br />

(weiteren) Gewichtsabnahme nicht vorhanden<br />

ist und weitere Essstörungssymptome (vgl. Kapitel<br />

1.1) nicht vorliegen.<br />

Des Weiteren sind die Anorexia und Bulimia Nervosa<br />

von einer anderen Essstörung, der Binge<br />

Eating Störung (vgl. Kapitel 1.1), zu unterscheiden.<br />

Wie auch bei der Bulimia Nervosa und dem<br />

„Binge Eating/Purging“-Typus der Anorexia Nervosa<br />

treten bei der Binge Eating Störung regelmäßige<br />

Essanfälle auf. Allerdings zeigen die von der<br />

Binge Eating Störung betroffenen Personen keine<br />

kompensatorischen Maßnahmen wie beispielsweise<br />

selbstinduziertes Erbrechen oder Laxantienabusus<br />

zur Regulation des Körpergewichtes.<br />

Als schwierig kann sich insbesondere die Abgrenzung<br />

der Binge Eating Störung vom „Nicht<br />

Purging“-Typus der Bulimia Nervosa darstellen,<br />

da bei der letztgenannten Erkrankung zur Kompensation<br />

der Essattacken Fastenperioden und exzessives<br />

Sporttreiben eingesetzt werden. In leichterer<br />

Form können diese Verhaltensweisen jedoch<br />

auch von Personen mit der Binge Eating Störung<br />

gezeigt werden (vgl. auch Sanonastaso, Ferrara &<br />

Favaro, 1999). Da bei der Binge Eating Störung<br />

keine die Essattacken kompensierenden Maßnahmen<br />

eingesetzt werden, liegt bei bis zu 30 bis 40 %<br />

der Betroffenen eine Adipositas vor. Detailliertere<br />

Informationen zu Symptomatik, Erklärungsansätzen<br />

und Therapie der Binge Eating Störung finden<br />

sich bei Munsch (2003).<br />

Darüber hinaus müssen die Anorexia und Bulimia<br />

Nervosa von anderen psychischen Störungen (z. B.<br />

Depressionen) abgegrenzt werden, bei denen Verhaltensweisen<br />

wie Appetitlosigkeit oder Erbrechen,<br />

exzessiver Sport, Gewichtsabnahme oder<br />

gastrointestinale Beschwerden auftreten können.<br />

Diese werden im Folgenden dargestellt. Bei der<br />

Differenzialdiagnostik ist zu beachten, dass bei<br />

diesen Erkrankungen das gestörte Essverhalten<br />

nur ein Begleitsymptom ist und zur Stellung dieser<br />

Diagnosen noch andere Kriterien erfüllt sein<br />

müssen (vgl. DSM-IV-TR und ICD-10).<br />

So kann es im Rahmen einer Depression zu übermäßigem<br />

Essen kommen, auf das aber kein unangemessenes<br />

Kompensationsverhalten folgt und<br />

mit dem auch keine übermäßige Besorgnis über<br />

Figur und Gewicht einhergeht. Oft ist auch bei<br />

Patientinnen mit einer affektiven Störung ein Ap-<br />

Kapitel 1<br />

petitverlust zu verzeichnen, jedoch ist die aus<br />

diesem Appetitverlust resultierende geringe Nahrungsmittelzufuhr<br />

bei affektiven Störungen nicht<br />

wie bei der Anorexia und Bulimia Nervosa durch<br />

den Wunsch nach einer Gewichtsabnahme motiviert.<br />

Bei der Sozialen Phobie kann eine Angst vor anderen<br />

Menschen zu essen auftreten, was auch im<br />

Rahmen einer Anorexia und Bulimia Nervosa beobachtet<br />

werden kann. Treten außer dieser Angst<br />

keine essstörungsspezifischen Symptome wie beispielsweise<br />

Essattacken, massives Untergewicht<br />

oder eine Abhängigkeit des Selbstwerts von Figur<br />

und Gewicht auf, ist keine Essstörungsdiagnose zu<br />

vergeben.<br />

Im Rahmen einer Posttraumatischen Belastungsstörung<br />

kann ein psychogenes Erbrechen entstehen,<br />

welches sich im Zusammenhang mit Intrusionen<br />

und Flashbacks manifestiert. Hier wird das<br />

Erbrechen jedoch nicht wie bei der Bulimie als<br />

Strategie zur Kompensation von Essanfällen eingesetzt.<br />

Zudem kann das Essverhalten bei Vorliegen einer<br />

Zwangsstörung sehr ritualisiert gestaltet sein, was<br />

sich in einer bestimmten Abfolge von Nahrungsmitteln<br />

bei Essanfällen oder zwanghaft ausgeführtem<br />

exzessivem Sport nach einer Essattacke<br />

zeigt. Eine Zwangsstörung sollte jedoch nur dann<br />

diagnostiziert werden, wenn deutliche Zwangsgedanken<br />

auftreten und die Symptomatik nicht<br />

ausschließlich im Zusammenhang mit der Essstörungssymptomatik<br />

auftritt.<br />

Im Kontext von Somatoformen Störungen kann es<br />

zu Magenbeschwerden und Völlegefühl kommen,<br />

worauf gelegentlich auch ein Laxantienabusus<br />

folgt. Dieser stellt aber nicht wie bei der Bulimie<br />

einen Gegenregulationsversuch zu Essattacken<br />

dar. Auch Schluckbeschwerden können bei Somatoformen<br />

Störungen auftreten, welche zu einer<br />

Einschränkung der Nahrungszufuhr führen können<br />

und so eine Gewichtsabnahme nach sich ziehen.<br />

Diese Gewichtsabnahme ist jedoch von den Betroffenen<br />

nicht wie bei der Anorexia Nervosa intendiert.<br />

Bei der Körperdysmorphen Störung kommt<br />

es zu einer übermäßigen Beschäftigung mit einem<br />

(imaginierten) Makel bzw. einem als defizitär<br />

betrachteten Körperteil. Im Rahmen der Körperbildsymptomatik<br />

bei der Anorexia und Bulimia<br />

Nervosa kreisen die Gedanken ebenfalls um den<br />

Körper und das eigene Aussehen; hier geht es in-


haltlich jedoch zumeist um die Dimension „Dick“<br />

und „Dünn“.<br />

Impulsives Verhalten wie Essanfälle können auch<br />

im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung<br />

auftreten und so Ähnlichkeit mit der<br />

Symptomatik einer Bulimia Nervosa aufweisen.<br />

Allerdings erfolgen bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung<br />

keine kompensatorischen Strategien<br />

zur Gewichtsregulation. Auch das Selbstwertgefühl<br />

der Betroffenen ist nicht wie bei der<br />

Bulimia Nervosa abhängig von den Bereichen Figur<br />

und Gewicht.<br />

Im Rahmen von psychotischen Störungen (z. B.<br />

Schizophrenie) kann es zum Beispiel zu Vergiftungsphantasien<br />

kommen, welche eine Nahrungsverweigerung<br />

nach sich ziehen können. Diese<br />

Nahrungsverweigerung ist jedoch nicht wie bei<br />

der Anorexia Nervosa auf eine Angst vor einer<br />

Gewichtszunahme zurückzuführen und geht mit<br />

keinem Drang einher, dünn zu sein (vgl. auch Kapitel<br />

zur Differenzialdiagnostik der Anorexia und<br />

Bulimia Nervosa im DSM-IV-TR).<br />

Die Auflistung der bei der Differenzialdiagnostik<br />

zu berücksichtigenden Erkrankungen zeigt, dass<br />

viele psychische Störungen <strong>Teil</strong>symptome aufweisen,<br />

welche der Anorexia und Bulimia Nervosa<br />

sehr ähnlich sind. Häufig werden auch die<br />

Diagnosekriterien sowohl einer Essstörung als<br />

auch einer weiteren psychischen Störung erfüllt.<br />

Die höchste Komorbiditätsrate wird dabei für<br />

Depressionen berichtet. Bei Frauen mit Bulimia<br />

Nervosa liegt die Lebenszeitprävalenz für eine<br />

Depression bei ca. 75 % (de Zwaan & Schüssler,<br />

2000). Hinsichtlich der Komorbidität beider Erkrankungen<br />

ist zu berücksichtigen, dass eine Depression<br />

schon vor Manifestation der Essstörung<br />

bestehen kann; oft folgt sie aber auch auf die Essstörung.<br />

Dabei zeigen Frauen mit Bulimie häufig<br />

eher agitierte Symptome. Auch kann ein komorbid<br />

bestehender Alkohol-, Medikamenten- und<br />

Drogenmissbrauch auftreten: Oft wird vermehrt<br />

Alkohol konsumiert oder es werden Amphetamine<br />

oder andere Stimulantien eingenommen, um das<br />

Hungergefühl zu unterdrücken. Da die gestellte<br />

Diagnose in der Kognitiven Verhaltenstherapie<br />

wichtige Implikationen für die Behandlung hat,<br />

ist eine ausführliche psychologische Diagnostik<br />

unerlässlich (vgl. Kapitel 3).<br />

Neben diesen klinischen Störungsbildern können<br />

auch subklinische psychische Beeinträchtigun-<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa 11<br />

gen mit einer Anorexia und Bulimia Nervosa zusammenhängen.<br />

So kann es infolge der Essstörung<br />

zu kognitiven Beeinträchtigungen wie Aufmerksamkeitsdefiziten<br />

und einer verminderten Konzentrationsfähigkeit<br />

kommen. Diese kognitiven<br />

Beeinträchtigungen ziehen bei einem <strong>Teil</strong> der<br />

Patientinnen Leistungseinbußen im schulischen<br />

oder beruflichen Bereich nach sich. Des Weiteren<br />

können sich bei den von Essstörungen betroffenen<br />

Frauen emotionale Beeinträchtigungen wie Niedergeschlagenheit,<br />

Reizbarkeit und soziale Ängste<br />

zeigen. Diese können wiederum die Beziehungen<br />

zu anderen Menschen ungünstig beeinflussen und<br />

zu einer zunehmenden Isolation der Patientinnen<br />

führen (vgl. auch DSM-IV-TR).<br />

Essstörungen ziehen nicht nur psychosoziale, sondern<br />

auch körperliche Folgeerscheinungen nach<br />

sich. Aus Fasten, Essanfällen und kompensatorischen<br />

Strategien wie Erbrechen erwachsen zum<br />

<strong>Teil</strong> lebensbedrohliche Konsequenzen. So können<br />

infolge des Erbrechens und Laxantienabusus<br />

Nierenschäden und Elektrolytstörungen auftreten.<br />

Letztere bedingen oft Herzrhythmusstörungen.<br />

Als weitere kardiovaskuläre Befunde sind<br />

ein erniedrigter Blutdruck und eine Verlangsamung<br />

des Herzschlages zu nennen. Diese Symptome,<br />

wie auch eine niedrige Körpertemperatur,<br />

sind als Folgen einer generellen Stoffwechselumstellung<br />

anzusehen, da der Körper auf „Sparflamme“<br />

arbeitet und so nur noch die wichtigsten<br />

Körperfunktionen aufrechterhalten werden. In<br />

diesem Zusammenhang sind zudem gynäkologische<br />

Befunde wie das Ausbleiben der Regelblutung<br />

bei der Anorexie und Zyklusstörungen bei<br />

der Bulimie (vgl. Kapitel 1.1) zu nennen, welche<br />

die Fruchtbarkeit beeinträchtigen. Hinzu kommen<br />

gastrointestinale Befunde wie Entzündungen und<br />

Risse in der Speiseröhre durch das Erbrechen,<br />

Magenrupturen auf Grund der Essanfälle sowie<br />

eine verminderte Darmbewegung und Verstopfung<br />

als Folge des Laxantienabusus. Auch dermatologische<br />

Befunde können auf eine Anorexia<br />

und Bulimia Nervosa zurückzuführen sein. Diese<br />

zeigen sich in Form von trockener und schuppiger<br />

Haut, brüchigen Nägeln und Haarausfall. In seltenen<br />

Fällen kann es auch zu der Bildung eines feinen<br />

Haarflaums („Lanugobehaarung“) und Veränderungen<br />

der Pigmentierung der Haut („Cutis<br />

marmorata“) kommen. Des Weiteren sind neurologische<br />

Veränderungen wie eine Erweiterung der<br />

Liquorräume zu nennen. Häufiges Erbrechen kann<br />

zu Veränderungen des Zahnschmelzes und somit<br />

zu Karies führen. Außerdem kann eine Schwellung


12<br />

der Speicheldrüsen auftreten. Auf Grund von Kalziummangel<br />

kommt es bei einigen Patientinnen zu<br />

Osteoporose, welche das Risiko für Verformungen<br />

der Wirbelsäule und Knochenbrüche erhöht.<br />

Eine differenzierte Darstellung dieser und weiterer<br />

medizinischer Komplikationen, die aus einer<br />

Anorexia und Bulimia Nervosa entstehen können,<br />

findet sich bei Herpertz (1997).<br />

Insgesamt ist festzuhalten, dass sich das gestörte<br />

Essverhalten auf fast alle Organsysteme auswirkt.<br />

Die meisten der medizinischen Folgen sind bei<br />

einer Normalisierung des Körpergewichtes und<br />

Essverhaltens sowie einer Aufgabe der kompensatorischen<br />

Strategien reversibel, jedoch können<br />

einige Komplikationen auch chronisch bestehen<br />

bleiben, wie beispielsweise Nierenschäden und<br />

Osteoperose. Im Extremfall kann sowohl die Anorexia<br />

als auch die Bulimia Nervosa zum Tode<br />

führen. Als Todesursachen sind hier beispielsweise<br />

Verhungern, die Folgen von Elektrolytimbalancen<br />

oder Suizid zu nennen. Die Sterblichkeitsrate<br />

wird bei Anorexia Nervosa auf 9,6 % im<br />

Zeitraum zwischen sechs bis zwölf Jahren nach<br />

Behandlung angegeben (Nielsen, 20<strong>01</strong>). Andere<br />

Autoren berichten Sterblichkeitsraten zwischen<br />

5 und 20 % (Petermann, 2002). So weisen Patientinnen<br />

mit einer Anorexia Nervosa eine viermal<br />

höhere Sterblichkeitsrate auf als gesunde Per-<br />

Kapitel 1<br />

sonen des gleichen Alters und Geschlechts (van<br />

Hoeken et al., 2002). Bezüglich der Mortalitätsrate<br />

bei Bulimia Nervosa liegen uneinheitliche<br />

Zahlen vor. Nielsen (20<strong>01</strong>) nennt hier eine Sterblichkeitsrate<br />

von 7,4 % innerhalb eines Zeitraumes<br />

von fünf bis elf Jahren. Damit liegt die Mortalität<br />

bei Patientinnen mit einer Bulimia Nervosa<br />

zwischen 1,5 bis sieben Mal höher als in einer<br />

vergleichbaren Alters- und Geschlechtsgruppe<br />

(van Hoeken et al., 2003). Insgesamt ist die Sterblichkeitsrate<br />

für Essstörungspatientinnen höher<br />

als die von anderen weiblichen psychiatrischen<br />

Patienten oder Frauen der Normalpopulation (Cavanaugh<br />

& Lemberg, 1999).<br />

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass es sich<br />

bei der Anorexia und Bulimia Nervosa um ernstzunehmende<br />

psychische Erkrankungen handelt.<br />

Um dem Auftreten der psychosozialen und medizinischen<br />

Folgeerscheinungen entgegenzusteuern,<br />

sollte möglichst früh im Krankheitsverlauf psychotherapeutisch<br />

interveniert werden (vgl. auch<br />

Kap. 5.5). Auch zeigen diese Darstellungen, dass<br />

neben dem gestörten Essverhalten und den kompensatorischen<br />

Strategien ein negatives Körperbild<br />

ein wichtiges Merkmal sowohl der Anorexia<br />

als auch der Bulimia Nervosa darstellt. Auf diesen<br />

Aspekt wird im folgenden Kapitel detailliert<br />

eingegangen.

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