Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger

Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger

fischer.homberger.ch.galvani.ch.meta.net
von fischer.homberger.ch.galvani.ch.meta.net Mehr von diesem Publisher
21.07.2013 Aufrufe

spezielles Argument ist dabei immer noch die Virginitätsbegutach- tung und die Inexistenz von Virginitätszeichen, vor allem des Hy- mens 213 . Der Brauch, im Zusammenhang mit der Frage der Virgini- tät auf die Untauglichkeit der Hebammen zu sprechen zu kommen, hat sich noch länger gehalten, bis weit in die Zeit hinein, in der der Hymen bereits wieder als Virginitätszeichen anerkannt war - als ob die alte Assoziation ohne ihr altes Rationale fortbestanden hätte 214 . Vielleicht hat auch der Brauch der Hebammen, die Virginitätsbe- gutachtung für sich zu beanspruchen, und der juristische Brauch, sie hierfür beizuziehen, hier eine assoziationsverstärkende Rolle ge- spielt. «Diese Frage wäre sehr lächerlich», scheint jedenfalls Albrecht von Haller (1708-1777) in seiner gerichtsmedizinischen Vorlesung von 17 1 zur Frage der Gutachtertätigkeit der Hebammen gesagt zu haben, «wenn die Rechtsgelehrsamkeit nicht für gut gefunden hätte, ihr das Gepräge des Ernsthaften zu geben» 21 . Wenn hier zunächst versucht wurde, diese Frühphase unseres Themas auf ihre Standes- und sexualpolitischen Hintergründe hin zu durchleuchten, so heisst das nicht, dass in diesen Hintergründen die Motive der beschriebenen Entwicklung gefunden sein wollten. Schon mancher Historiker hat sich auf der Jagd nach Motiven verirrt; Motive sind Privatsache, auch bei historischen Persönlich- keiten, und der Historiker tut gut daran, mit seinem Verständnis nicht totalitär zu werden, sondern Diskretion walten zu lassen. Er muss froh sein, wenn er die Motive im Bereich der eigenen Person halbwegs zu fassen bekommt. Dass man aber auch für die Vergan- genheit versucht, die geschichtemachenden Funktionskreise zu re- konstruieren, in welche die überlieferten Quellen eingebaut waren, ist wohl legitim - und fruchtbar insofern, als man dabei lernen kann, auch den eigenen sprachlichen Ausdrucksweisen gegenüber funktionskritisch zu werden. 9

96 III. DIE NEUENTDECKUNG DER JUNGFERNHAUT In der zweiten Phase unseres Themas löste sich in der gerichtsmedi- zinischen Literatur der enge Zusammenhang von Hymen und Heb- ammen - es fällt diese Phase grob mit dem 17. Jahrhundert zu- sammen. Der Hymen wurde allmählich in seiner Existenz ganz, in seiner Aussagekraft über die Virginität bedingt, akzeptiert. Die Hebamme wurde weiter abgelehnt, aber nicht mehr nur als Gut- achterin, sondern als Praktikerin überhaupt, wobei anstelle des Einzelarguments, sie verstünde von ihrem gutachterlichen Kernge- biet, der Virginität, nichts, das Argument trat, sie sei ganz allge- mein inkompetent, woraus sich ihre forensische Inkompetenz ganz von selbst ergab 216 . Die Wiedereinführung des Hymens in die Gerichtsmedizin ge- schah unter dem Druck der anatomischen Befunde. Es war deshalb nicht der Hymen der Hebammen, der nun doch anerkannt worden wäre, sondern es war der Hymen der Anatomen (Berengario da Carpi, Vesal, Falloppius), wie ihn etwa Melchior Sebitz (1 78-1674) 1630 in seiner «Disputatio de notis virginitatis» darstellte 217 . Melchior Sebitz war der Sohn eines gleichnamigen Stadtarztes im Elsass und selbst Anatomieprofessor und Stadtarzt in Strassburg. In seiner Schrift legt er den Streit um den Hymen dar; als Autoritäten, die dessen Existenz anerkennten, zitiert er die neuzeitlichen Anatomen, als Gegner vor allem Augenius. Er selbst findet die Ablehnung des Hymens lächerlich und missbilligt seine Betrachtung als selten und wider die Natur. Denn diese Membran existiere, er selbst habe sie oft gefunden und zweifle nicht, dass man sie bei Jungfern meistens finden könne. Der Hymen sei eine dünne Membran, die ohne wei- teres sichtbar werde, wenn man die Schamlippen, ohne Instrument, etwas spreize. Sie sei bald mondförmig, bald voller und lasse im- mer den Blasenausgang frei. Mit der Enge der Geburtswege, der Deflorationsblutung und dem Deflorationsschmerz zusammen halte er den Hymen für ein wahrscheinliches Virginitätszeichen. Sebitzens Arbeit ist später zum medizinhistorischen Klassiker ge- worden 218 .

spezielles Argument ist dabei immer noch die Virginitätsbegutach-<br />

tung und die Inexistenz von Virginitätszeichen, vor allem des Hy-<br />

mens 213 . Der Brauch, im Zusammenhang mit der Frage der Virgini-<br />

tät auf die Untauglichkeit der Hebammen zu sprechen zu kommen,<br />

hat sich noch länger gehalten, bis weit in die Zeit hinein, in der der<br />

Hymen bereits wieder als Virginitätszeichen anerkannt war - als ob<br />

die alte Assoziation ohne ihr altes Rationale fortbestanden hätte 214 .<br />

Vielleicht hat auch der Brauch der Hebammen, die Virginitätsbe-<br />

gutachtung für sich zu beanspruchen, und der juristische Brauch,<br />

sie hierfür beizuziehen, hier eine assoziationsverstärkende Rolle ge-<br />

spielt. «Diese Frage wäre sehr lächerlich», scheint jedenfalls Albrecht<br />

von Haller (1708-1777) in seiner gerichtsmedizinischen Vorlesung<br />

von 17 1 zur Frage der Gutachtertätigkeit der Hebammen gesagt<br />

zu haben, «wenn die Rechtsgelehrsamkeit nicht für gut gefunden<br />

hätte, ihr das Gepräge des Ernsthaften zu geben» 21 .<br />

Wenn hier zunächst versucht wurde, diese Frühphase unseres<br />

Themas auf ihre Standes- und sexualpolitischen Hintergründe hin<br />

zu durchleuchten, so heisst das nicht, dass in diesen Hintergründen<br />

die Motive der beschriebenen Entwicklung gefunden sein wollten.<br />

Schon mancher Historiker hat sich auf der Jagd nach Motiven<br />

verirrt; Motive sind Privatsache, auch bei historischen Persönlich-<br />

keiten, und der Historiker tut gut daran, mit seinem Verständnis<br />

nicht totalitär zu werden, sondern Diskretion walten zu lassen. Er<br />

muss froh sein, wenn er die Motive im Bereich der eigenen Person<br />

halbwegs zu fassen bekommt. Dass man aber auch für die Vergan-<br />

genheit versucht, die geschichtemachenden Funktionskreise zu re-<br />

konstruieren, in welche die überlieferten Quellen eingebaut waren,<br />

ist wohl legitim - und fruchtbar insofern, als man dabei lernen<br />

kann, auch den eigenen sprachlichen Ausdrucksweisen gegenüber<br />

funktionskritisch zu werden.<br />

9

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!