Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
8<br />
GELEITWORT<br />
Geschichte ist nicht einfach Vergangenheit. Geschichte dient der<br />
Herstellung einer Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegen-<br />
wart. Sie kann dies in sehr verschiedener Weise tun, im Grunde tut<br />
sie es wohl für jeden wieder etwas anders. Mich selbst fasziniert sie<br />
einmal dadurch, dass sie die in manchem Gegenwärtigen - in Ge-<br />
bäuden, Gesetzen, Institutionen, Sitten, Worten usw. - stillschwei-<br />
gend und selbstverständlich präsente Vergangenheit als solche<br />
wahrnehmen lehrt, dass sie also auf die historische Dimension des<br />
Jetzt aufmerksam macht. Auch dadurch, dass sie die Vergangenheit<br />
als eine Aufeinanderfolge von Gegenwarten betrachtet, in deren je-<br />
der Menschen sich mehr oder weniger frei bewegten.<br />
Geschichte kann einen lehren, sich von der Gegenwart zu distan-<br />
zieren, ohne sich von ihr zu entfernen: Sie führt einem die Wan-<br />
delbarkeit alles Gegenwärtigen vor Augen, sie weist den Einfluss<br />
der Vergangenheit auf die Gegenwart nach und setzt diesen gerade<br />
dadurch in Grenzen - ein altbewährter Beschwörungseffekt; sie<br />
zeigt, dass manches, was ist, auch anders geworden sein könnte.<br />
Allenfalls kann sie sogar wahrnehmen lehren, dass selbst Unab-<br />
änderlich-Gegenwärtigem die Möglichkeit innewohnt, anders zu<br />
sein. Was einem begegnet, ist ja immer nur eine Auslese von dem,<br />
was es «gibt» - so begegnen verschiedene Zeiten denselben Dingen<br />
oft mit ganz verschiedenen Fragestellungen, Akzentsetzungen, Vor-<br />
eingenommenheiten. Diese Tatsache realisiert man im aktuellen<br />
Augenblick gewöhnlich nicht, es würde einen dies ja oft sogar am<br />
Handeln, am Treffen von Entscheidungen, am Antworten und Rea-<br />
gieren hindern. Bei der Beschäftigung mit Geschichte aber realisiert<br />
man sie auf Schritt und Tritt. Dies schon, weil man da ja gerade die<br />
Wandelbarkeit der Voraussetzungen menschlicher Äusserungen be-<br />
arbeitet, dann, weil man schon im Arbeitsprozess, beim Zusammen-<br />
suchen des Materials, auf dem man sein Bild von der Vergangenheit<br />
aufbauen kann, immer und immer wieder auf Lücken, Unvollstän-<br />
digkeiten und Einseitigkeiten stösst. In der Geschichte muss man<br />
mit Wandelbarkeit, Lücken und Einseitigkeit sogar rechnen - man<br />
muss da ja auch nicht handelnd oder entscheidend teilnehmen.