Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Die sozusagen physiologischen Geistesstörungen der Men- struierenden haben die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders beschäftigt. Georg Sigismund Eduard Krieger (1816-1870) betont in seiner (der Gesellschaft für Geburtshülfe zu Berlin zu ihrem 2 jäh- rigen Stiftungsfest 1869 gewidmeten) Monographie über die Men- struation, dass Menstruierende nur in den seltensten Fällen keine Veränderungen ihres Befindens durchmachten. «In den bei weitem meisten Fällen findet eine ... Erregung des Nervensystems statt ... Diese nervöse Erregtheit lässt sich in solche Erscheinungen zerle- gen, die von dem vasomotorischen oder Gangliennervensystem ab- zuleiten sind, in solche, die als cerebrale Symptome erscheinen und in solche, die auf die Spinalnerven zurückgeführt werden müs- sen» 1 7 . Ein Freund Kriegers, Louis Mayer (1829-1890) aus Berlin, verfasste wenig später «Menstruation im Zusammenhange mit psy- chischen Störungen», wo er nochmals festhält, dass auch «bei sehr vielen anscheinend ganz gesunden Individuen» die Menstruation psychische Reizzustände mit sich bringe. Solche zeigen sich in «Verstimmung, Verdriesslichkeit, Disposition zum Weinen, Hin- brüten ... Abneigung gegen die Umgebung ... Launen, Heftigkeit, Jähzorn, Unruhe ... Abschwächung des Denkens und Urtheilens... Es können auch üble Eigenschaften und Angewohnheiten (...) ver- stärkt werden oder in diesen Zeiten überhaupt hervorbrechen ...» 1 8 . Auf eine allgemeinere Arbeit Mayers bezieht sich Horatio Ro- binson Storer in seinem Buch «Reflex insanity in women», Boston 1871, welches die Menstruationspsychiatrie wieder in den grösseren Rahmen der physiologischen Krankheit Frau stellt 1 9 . Im späteren 19. Jahrhundert wurde dieses Interesse an psychischen Störungen der Menstruierenden offenbar durch ein intensives In- teresse an regelmässigen Verläufen und an greifbaren Ursachen der Neurosen und Psychosen verstärkt 160 . Die menstruelle Geistesstö- rung bot in diesem Sinne als ein periodisch von bekannten ovariel- len Reizungen her ausgelöstes Reflexleiden auf der Basis einer wohlbekannten Reizbarkeit und Schwäche des weiblichen Ner- vensystems ein willkommenes Modell für die Geistesstörung über- haupt. 1878 publiziert Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), einer 77
der massgebendsten Psychiater seiner Zeit, «Untersuchungen über Irresein zur Zeit der Menstruation» als einen «Beitrag zur Lehre vom periodischen Irresein». Darin bezeichnet er die menstruellen Geistesstörungen als «die reinste Form innerhalb der ... Vesania periodica» und statuiert, «dass der normale Menstruationsvorgang an und für sich genügen kann, um das abnorm erregbare Gehirn im Sinn einer acuten Psychose zu beeinflussen». Nachtragsweise disku- tiert er die Auffassung der «menstrualen Irreseinsanfälle ... als eine Art ,psychischer Epilepsie‘» 161 . Noch im selben Jahr 1878 veröffent- licht Ludwig Kirn (1839-1899) seine Schrift über «Die periodischen Psychosen», in welche er, sich auf Krafft-Ebings Arbeit beziehend, die Ovulationspsychosen als Reflexpsychosen auf der Basis eines abnorm erregbaren Gehirns einbaut 162 . Gegen Ende des Jahrhunderts stieg die Periodizität, die Wellen- bewegung der gesamten weiblichen Physiologie samt psychischen Funktionen, in der Lehre von den Menstruationspsychosen vielfach zum ätiologischen Faktor auf. Die Menstruation selbst war dann eine Parallelerscheinung der psychiatrischen Phänomene 163 . Heinrich Schuele (1840-1916) fand einen «intime(n) Zusammengang der psy- chischen Krankheitscurve mit der Menstrualwelle» 164 . In unserem Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass man seinerzeit zwischen periodischem Verlauf von Geistesstörungen und hereditär-degenerativ belastetem Nervensystem - was man oft auch als «minderwertiges Nervensystem» bezeichnete - innige Zu- sammenhänge postulierte. Gerade Schuele kennt die Periodizität als Merkmal hereditär-degenerativer Irreseinsformen. Er ordnet perio- disches und zirkuläres Irresein denn auch den «Degenerescenz-Zu- ständen» zu, wie das erbliche Irresein und das «Irresein aus schweren Neurosen» (samt Hysterie) 16 . In der forensischen Psychiatrie wurden diese neueren Erkennt- nisse über die weibliche Schwäche wiederum praktisch angewen- det - wiederum vielfach zugunsten einzelner straffällig gewordener Frauen. Die Medaille der weiblichen Minderwertigkeit hatte ja wie alle derartigen Medaillen durchaus auch eine Vorderseite. Man denke nur an die Zuvorkommenheit und grosse Höflichkeit, mit 78
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der massgebendsten Psychiater seiner Zeit, «Untersuchungen über<br />
Irresein zur Zeit der Menstruation» als einen «Beitrag zur Lehre<br />
vom periodischen Irresein». Darin bezeichnet er die menstruellen<br />
Geistesstörungen als «die reinste Form innerhalb der ... Vesania<br />
periodica» und statuiert, «dass der normale Menstruationsvorgang<br />
an und für sich genügen kann, um das abnorm erregbare Gehirn im<br />
Sinn einer acuten Psychose zu beeinflussen». Nachtragsweise disku-<br />
tiert er die Auffassung der «menstrualen Irreseinsanfälle ... als eine<br />
Art ,psychischer Epilepsie‘» 161 . Noch im selben Jahr 1878 veröffent-<br />
licht Ludwig Kirn (1839-1899) seine Schrift über «Die periodischen<br />
Psychosen», in welche er, sich auf Krafft-Ebings Arbeit beziehend,<br />
die Ovulationspsychosen als Reflexpsychosen auf der Basis eines<br />
abnorm erregbaren Gehirns einbaut 162 .<br />
Gegen Ende des Jahrhunderts stieg die Periodizität, die Wellen-<br />
bewegung der gesamten weiblichen Physiologie samt psychischen<br />
Funktionen, in der Lehre von den Menstruationspsychosen vielfach<br />
zum ätiologischen Faktor auf. Die Menstruation selbst war dann<br />
eine Parallelerscheinung der psychiatrischen Phänomene 163 . Heinrich<br />
Schuele (1840-1916) fand einen «intime(n) Zusammengang der psy-<br />
chischen <strong>Krankheit</strong>scurve mit der Menstrualwelle» 164 . In unserem<br />
Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass man seinerzeit<br />
zwischen periodischem Verlauf von Geistesstörungen und<br />
hereditär-degenerativ belastetem Nervensystem - was man oft<br />
auch als «minderwertiges Nervensystem» bezeichnete - innige Zu-<br />
sammenhänge postulierte. Gerade Schuele kennt die Periodizität als<br />
Merkmal hereditär-degenerativer Irreseinsformen. Er ordnet perio-<br />
disches und zirkuläres Irresein denn auch den «Degenerescenz-Zu-<br />
ständen» zu, wie das erbliche Irresein und das «Irresein aus<br />
schweren Neurosen» (samt Hysterie) 16 .<br />
In der forensischen Psychiatrie wurden diese neueren Erkennt-<br />
nisse über die weibliche Schwäche wiederum praktisch angewen-<br />
det - wiederum vielfach zugunsten einzelner straffällig gewordener<br />
<strong>Frau</strong>en. Die Medaille der weiblichen Minderwertigkeit hatte ja<br />
wie alle derartigen Medaillen durchaus auch eine Vorderseite. Man<br />
denke nur an die Zuvorkommenheit und grosse Höflichkeit, mit<br />
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