Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Diese Nichtigkeit der Frauen ist es, was sie so rezeptiv macht. Alles, was die Frau ist, ist sie durch den Mann. Die Frau ist so re- zeptiv, dass sie selbst diese Rezeptivität verleugnen kann. So wird es möglich, «dass die männliche negative Wertung der Sexualität die positive weibliche vollständig im Bewusstsein des Weibes über- decke». So erhält das Weib vom Manne «eine zweite Natur, ohne auch nur zu ahnen, dass es seine echte nicht ist, es nimmt sich ernst, glaubt etwas zu sein und zu glauben, ... so tief sitzt die Lüge ...». Hier wird nun die Hysterie ins Feld geführt. «Auf die Blossle- gung des ‚psychischen Mechanismus‘ der Hysterie kann unendlich viel, ja ... alles ankommen», schreibt Weininger bedeutsam. Er hält die Hysterie nämlich für den Effekt der Kollision zwischen der ei- gentlichen kupplerischen nichtigen Natur des Weibes und ihrer vom Manne übernommenen Pseudopersönlichkeit, welche «sie in ihrer Passivität vor sich und aller Welt zu spielen übernommen hat». Die Hysterie ist die «organische Krisis der organischen Verlo- genheit des Weibes». Dass nicht alle Frauen hysterisch seien, obwohl ja doch alle ver- logen seien, erklärt sich damit, dass es noch «Megären» gibt. Die Megären, so nennt Weininger seine bösen Hexen, sind zwar auch verlogen, aber nicht so nach innen hin wie die Hysterikerinnen. Megäre oder Hysterika - das sind nach Weininger also die Möglich- keiten der Frau; Hexe oder Hysterika - das ist die Alternative der Misogynie. «Das Weib ist die Schuld des Mannes», schreibt Weininger, und in gewisser Beziehung hat er wohl recht. «Die Juden sind die Schuld des Ariers», hätte er auch sagen können. Denn er findet, vom be- kannten Selbsthass der sozial benachteiligten Gruppen erfüllt, grosse «Kongruenz» zwischen Juden und Frauen. Auch die Juden sind Kuppler, lüsterne, geile, seelenlose nichtige Geschöpfe, ohne Unsterblichkeitsbedürfnis, ohne Freiheit; «der echte Jude hat wie das Weib kein Ich und darum auch keinen Eigenwert». Der Arier ist von alledem das Gegenteil. Sagte nicht auch Kraepelin, die Juden neigten zu Hysterie mehr als die Germanen? «Trotz der abträglichen Wertung des echten Ju- den», fügt Weininger zu seinen Ausführungen ahnungsvoll hinzu, 47
«kann nichts mir weniger in den Sinn kommen, als... einer theore- tischen oder gar einer praktischen Judenverfolgung in die Hände arbeiten zu wollen. Ich spreche über das Judentum als platonische Idee ...» 67 . Weininger hat sich mit 23 Jahren erschossen. Ein Psychiater, der in ihm kein Genie erblicken konnte und sein Buch als Unsinn be- trachtete, hat bei ihm retrospektive eine Hysterie diagnostiziert. «Darum konnte sich auch Möbius», schreibt er, «trotz alles Abscheus vor dem Buche doch des Bedauerns nicht erwehren» 68 . Moebius hat nämlich Weiningers Werk unter dem Titel «Geschlecht und Unbe- scheidenheit» kritisiert. Er hat nachgewiesen, «dass alles Tatsächli- che bereits in seinem ,physiologischen Schwachsinn des Weibes’ und anderen seiner Schriften enthalten sei» 69 . - Heute würde man bei Weininger wahrscheinlich eine paranoide Schizophrenie dia- gnostizieren. Weiningers Zehntausende von Lesern und der grosse Neurologe Möbius aber sind nicht einfach geistesgestört zu nennen. Die Einstellung gegen das weibliche Geschlecht, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet hat, gleicht einem Massenwahn, speziell demjenigen, der den Hexenverfolgun- gen des 16./17. Jahrhunderts zugrunde gelegen hat. Die daraus er- wachsene Verfolgung hat aber bekanntlich diesmal nicht die Frauen, sondern die Juden getroffen. Die Juden glichen ja den Frauen, sie neigten ja, wie diese, zur Hysterie. Es ist über die soziologischen Ähnlichkeiten zwischen Hexenver- folgung und Judenverfolgung schon viel gesagt worden. Insofern die Diagnose Hysterie auf eine bestimmte soziologische Situation der Diagnostizierten hinweist, gehört offenbar auch sie zu diesen Ähnlichkeiten. Hysterie und Misogynie war unser Thema. Ich habe versucht, an vier Beispielen aus der Geschichte, Plato, Jorden, Kraepelin und Weininger, zu zeigen, dass, wo die Hysterie diagnostiziert wird, die Misogynie meist nicht fern ist - ob sie nun durch die Diagnose neutralisiert und verdeckt oder ausgedrückt werde. Wenn es aber diese eine Korrelation gibt zwischen einer soziolo- gischen Situation und einer psychiatrischen Diagnose, könnte es nicht noch mehrere geben? 48
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Diese Nichtigkeit der <strong>Frau</strong>en ist es, was sie so rezeptiv macht.<br />
Alles, was die <strong>Frau</strong> ist, ist sie durch den Mann. Die <strong>Frau</strong> ist so re-<br />
zeptiv, dass sie selbst diese Rezeptivität verleugnen kann. So wird<br />
es möglich, «dass die männliche negative Wertung der Sexualität<br />
die positive weibliche vollständig im Bewusstsein des Weibes über-<br />
decke». So erhält das Weib vom Manne «eine zweite Natur, ohne<br />
auch nur zu ahnen, dass es seine echte nicht ist, es nimmt sich ernst,<br />
glaubt etwas zu sein und zu glauben, ... so tief sitzt die Lüge ...».<br />
Hier wird nun die Hysterie ins Feld geführt. «Auf die Blossle-<br />
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viel, ja ... alles ankommen», schreibt Weininger bedeutsam. Er hält<br />
die Hysterie nämlich für den Effekt der Kollision zwischen der ei-<br />
gentlichen kupplerischen nichtigen Natur des Weibes und ihrer<br />
vom Manne übernommenen Pseudopersönlichkeit, welche «sie in<br />
ihrer Passivität vor sich und aller Welt zu spielen übernommen<br />
hat». Die Hysterie ist die «organische Krisis der organischen Verlo-<br />
genheit des Weibes».<br />
Dass nicht alle <strong>Frau</strong>en hysterisch seien, obwohl ja doch alle ver-<br />
logen seien, erklärt sich damit, dass es noch «Megären» gibt. Die<br />
Megären, so nennt Weininger seine bösen Hexen, sind zwar auch<br />
verlogen, aber nicht so nach innen hin wie die Hysterikerinnen.<br />
Megäre oder Hysterika - das sind nach Weininger also die Möglich-<br />
keiten der <strong>Frau</strong>; Hexe oder Hysterika - das ist die Alternative der<br />
Misogynie.<br />
«Das Weib ist die Schuld des Mannes», schreibt Weininger, und in<br />
gewisser Beziehung hat er wohl recht. «Die Juden sind die Schuld<br />
des Ariers», hätte er auch sagen können. Denn er findet, vom be-<br />
kannten Selbsthass der sozial benachteiligten Gruppen erfüllt,<br />
grosse «Kongruenz» zwischen Juden und <strong>Frau</strong>en. Auch die Juden<br />
sind Kuppler, lüsterne, geile, seelenlose nichtige Geschöpfe, ohne<br />
Unsterblichkeitsbedürfnis, ohne Freiheit; «der echte Jude hat wie<br />
das Weib kein Ich und darum auch keinen Eigenwert». Der Arier<br />
ist von alledem das Gegenteil.<br />
Sagte nicht auch Kraepelin, die Juden neigten zu Hysterie mehr<br />
als die Germanen? «Trotz der abträglichen Wertung des echten Ju-<br />
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