Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger
gemessen; praktisch einziger - medizinischer - Scheidungsgrund für eine Frau ist entsprechend die Impotenz des Mannes. Heira- ten hiess auch »eine Frau heimführen«. Manche heiraten nur, schreibt der Gerichtsmediziner Fortunatus Fidelis 1602, um Kinder - pueri - zu bekommen, die dann ihren (d. h. der Väter) Ruhm und Namen in die Zukunft forttragen (pueri sind damit wiederum im Idealfalle Knaben). Dabei bedeutete Familiengrün- dung damals sozial sehr viel mehr als später. In Zeiten der agrarischen Produktionsweise war sie wichtigste Basis der sozia- len Integration, Überlebensgemeinschaft und Element der Ge- sellschaft. Auch in unmittelbarerer Weise war die soziale Reife eines Mannes an seine sexuelle Potenz gebunden: nicht zufällig deutet das Wort »testieren« auf die »testes«, »zeugen« auf das generative »zeugen«; es müsste hier die Rechtsgeschichte weiter befragt werden. Dieses Muster tritt im 17. und 18. Jahrhundert allmählich gegenüber einem neuen Muster zurück, im Rahmen dessen vor allem der Geist dazu dient, seinem Inhaber die Welt zu erschlie- ssen. Im 19. Jahrhundert wird sexuelle Potenz noch verlangt werden können, wenn es um die Gründung einer Familie geht; die Übernahme höherer sozialer Funktionen aber ist nicht mehr an sexuelle Potenz gebunden. Und die Familie ist in weit geringerem Masse Basis übergeordneter sozialer Kompetenzen. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts steigt innerhalb des Organismus vielmehr das Nervensystem allmählich zum überge- ordneten und dominanten, organisierenden System auf. Im 19. Jahrhundert etabliert sich schliesslich fest das Gehirn als höchstes der Organe innerhalb des Körpers. Nun ist es das Funktionieren dieses Körperteils, das die gesell- schaftliche Position eines Menschen begründet oder doch ratio- nalisiert: organisierende Vernunft, Wille, Intelligenz, Geist, geistige Schöpferkraft, geistige Überlegenheit im Kampf ums Dasein. Die Vernunft, schreibt Johann Christian Heinroth (1773-1843) 1825 in seinem »System der psychisch-gerichtlichen Medicin«, mache das Wesen des Menschen aus, aus seiner Vernunft seien Wissenschaft, Kunst, die Entstehung der Staaten 97
abzuleiten, die Vernunft sei daher Voraussetzung aller Rechts- und Pflichtfähigkeit. Wie der Staat andererseits eine geist- und vernunftdurchwirkte höhere Einheit ist, »so folgt, dass [. . .] die Gesammtkraft des Staats der Intelligenz untergeordnet [. . .] seyn müsse«. Dieser Aufstieg des Geistes gegenüber dem Samen, geistiger Potenz gegenüber sexueller Potenz, findet etwa in demselben Zeitraum statt, in welchem der weibliche Zeugungsbeitrag, das weibliche Ei, definitiv beschrieben und anerkannt wird (17. bis frühes 19. Jahrhundert; vgl. S. 137 f.) - als ob die Anerkennung eines dem männlichen ebenbürtigen Zeugungsbeitrags erst mög- lich geworden wäre mit der Entwertung der sozialen Bedeutung dieses Beitrags, als ob andererseits diese Anerkennung eine Verschiebung der sozial bedeutsamen Geschlechtsunterschiede auf das Gebiet des Geistes bedingt hätte. Denn die Verschiebung der sozial relevanten Potenz vom Sexuellen auf Geistiges bringt keineswegs eine soziale Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne mit sich - wiewohl gerade das 18. Jahrhundert, die Zeit des Überganges, dergleichen folgerichtigerweise erwogen hat. Gerade das 19. Jahrhundert zeichnet sich aus durch sehr klare, fast überklare Vorstellungen von den geistigen Geschlechtsun- terschieden und dem entscheidenden Mangel der Frau an geisti- ger Potenz. Dabei scheint dem Diskurs über Geistiges sehr oft das sexuelle Modell zugrunde zu liegen. War der Mann bis dahin kraft seines »schöpferischen Safts« (Albrecht von Haller) ein voller Mensch gewesen, so ist er es nun kraft seines schöpferischen Geistes. Am Anfang unseres Jahrhunderts wird der Trivialphilosoph Otto Weininger (1880-1903) schreiben, »dass Genialität an die Männ- lichkeit geknüpft ist, dass sie eine ideale, potenzierte Männlich- keit vorstellt«. Es ist, als ob dem Manne im 19. Jahrhundert der Samen buchstäblich in den Kopf gestiegen wäre. Geistige Aktivi- tät, Fruchtbarkeit, Intelligenz, Unternehmergeist, Genie, Erfin- dertum, Entdeckertum charakterisieren nun den rechten Mann. Mit Ideen, Forschungsergebnissen, Erfindungen und Geld schwängert er seine Bezugsgruppe, wenn er sehr potent ist, die 98
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gemessen; praktisch einziger - medizinischer - Scheidungsgrund<br />
für eine <strong>Frau</strong> ist entsprechend die Impotenz des Mannes. Heira-<br />
ten hiess auch »eine <strong>Frau</strong> heimführen«. Manche heiraten nur,<br />
schreibt der Gerichtsmediziner Fortunatus Fidelis 1602, um<br />
Kinder - pueri - zu bekommen, die dann ihren (d. h. der Väter)<br />
Ruhm und Namen in die Zukunft forttragen (pueri sind damit<br />
wiederum im Idealfalle Knaben). Dabei bedeutete Familiengrün-<br />
dung damals sozial sehr viel mehr als später. In Zeiten der<br />
agrarischen Produktionsweise war sie wichtigste Basis der sozia-<br />
len Integration, Überlebensgemeinschaft und Element der Ge-<br />
sellschaft. Auch in unmittelbarerer Weise war die soziale Reife<br />
eines Mannes an seine sexuelle Potenz gebunden: nicht zufällig<br />
deutet das Wort »testieren« auf die »testes«, »zeugen« auf das<br />
generative »zeugen«; es müsste hier die Rechtsgeschichte weiter<br />
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Dieses Muster tritt im 17. und 18. Jahrhundert allmählich<br />
gegenüber einem neuen Muster zurück, im Rahmen dessen vor<br />
allem der Geist dazu dient, seinem Inhaber die Welt zu erschlie-<br />
ssen. Im 19. Jahrhundert wird sexuelle Potenz noch verlangt<br />
werden können, wenn es um die Gründung einer Familie geht;<br />
die Übernahme höherer sozialer Funktionen aber ist nicht mehr<br />
an sexuelle Potenz gebunden. Und die Familie ist in weit<br />
geringerem Masse Basis übergeordneter sozialer Kompetenzen.<br />
Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts steigt innerhalb des<br />
Organismus vielmehr das Nervensystem allmählich zum überge-<br />
ordneten und dominanten, organisierenden System auf. Im<br />
19. Jahrhundert etabliert sich schliesslich fest das Gehirn als<br />
höchstes der Organe innerhalb des Körpers.<br />
Nun ist es das Funktionieren dieses Körperteils, das die gesell-<br />
schaftliche Position eines Menschen begründet oder doch ratio-<br />
nalisiert: organisierende Vernunft, Wille, Intelligenz, Geist,<br />
geistige Schöpferkraft, geistige Überlegenheit im Kampf ums<br />
Dasein. Die Vernunft, schreibt Johann Christian Heinroth<br />
(1773-1843) 1825 in seinem »System der psychisch-gerichtlichen<br />
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Vernunft seien Wissenschaft, Kunst, die Entstehung der Staaten<br />
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