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Krankheit Frau - Esther Fischer-Homberger

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ESTHER FISCHER-HOMBERGER<br />

KRANKHEIT<br />

FRAU<br />

UND ANDERE ARBEITEN<br />

ZUR MEDIZINGESCHICHTE<br />

DER FRAU<br />

Inklusive zwei Aufsätze aus der Lizenzausgabe.<br />

HANS HUBER


James Ensor (1860-1949): L’étonnement du masque Wouse (1889).


ESTHER FISCHER-HOMBERGER<br />

KRANKHEIT FRAU<br />

UND ANDERE ARBEITEN<br />

ZUR MEDIZINGESCHICHTE DER FRAU<br />

VERLAG HANS HUBER<br />

BERN STUTTGART WIEN


FÜR ERIKA MÜLLER-BENZ<br />

©<br />

1979 Verlag Hans Huber Bern<br />

Satz und Druck: Bentli AG Bern<br />

Printed in Switzerland


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Vorbemerkung 7<br />

Geleitwort 8<br />

Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe -<br />

Überblick (197 )<br />

I. Die stumme <strong>Frau</strong> 11<br />

II. Antike 11<br />

III. Mittelalter 16<br />

IV. Neuzeit 20<br />

Hysterie und Misogynie - ein Aspekt der Hysteriegeschichte<br />

(1969) 32<br />

<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong> - aus der Geschichte der Menstruation in ih-<br />

rem Aspekt als Zeichen eines Fehlers (1974/78)<br />

I. Menstruation ah Zeichen der Überfeuchtung und Unter-<br />

wärmung - die Antike 49<br />

II. Menstruation als Zeichen von Bosheit und Giftigkeit -<br />

Mittelalter und Renaissance 3<br />

III. Menstruation als Folge einer zivilisatorischen Fehlent-<br />

wicklung - 18. und frühes 19. Jahrhundert 61<br />

IV. Menstruation als Äquivalent verbrecherischer Taten - die<br />

forensische Psychiatrie des früheren 19. Jahrhunderts 63<br />

V. Menstruation als Zeichen der verfehlten Bestimmung -<br />

die Sexual- und Fortpflanzungsethik des 19. Jahrhunderts 68<br />

VI. Menstruation als Zeichen einer nervösen Schwäche - spä-<br />

teres 19. und früheres 20. Jahrhundert 72<br />

VII. Die Menstruation verliert an Symptom- und Symbolwert<br />

- nach den beiden Weltkriegen 80<br />

Hebammen und Hymen (1977)<br />

I. Einleitung und Zusammenfassung 8<br />

II. Die Negierung des Hymens 88<br />

III. Die Neuentdeckung der Jungfernhaut 96<br />

IV. Die Anerkennung des Hymens 102


Aus der Medizingeschichte der Einbildungen (1978)<br />

I. Einbildung, Idee und Kreativität: Psychogenie der Erschei-<br />

nung im 16./17. Jahrhundert 106<br />

II. Milz (Oberbauch) und Hypochondrie: Die Idea morbosa<br />

wird zur <strong>Krankheit</strong>seinbildung 111<br />

III. Gebärmutter und Hysterie: Die Einbildung bleibt an der<br />

Macht 11<br />

IV. Einbildungskraft, Idee und Kreativität: Psychogenie der Er-<br />

scheinung im 20. Jahrhundert 127<br />

V. Epilog 129<br />

Anmerkungen 130<br />

Herkunft der Illustrationen 1 4<br />

Register 1 6<br />

Aus der Lizenzausgabe Sammlung Luchterhand 2. Auflage (1988)<br />

6<br />

- Herr und Weib: Zur Geschichte der Beziehung<br />

zwischen ordnendem Geist und anderen Impulsen (1984)<br />

- Wie männlich ist die Wissenschaft?<br />

Wie mänlich ist die Wissenschaftlerin? (1988)


VORBEMERKUNG<br />

«<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>», die Titelarbeit der vorliegenden Sammlung, war<br />

auch der Anlass zu deren Herausgabe, indem sie, als sie nach Jahren<br />

des Liegenbleibens endlich ausgeschrieben war, sich als zu dick für<br />

einen Artikel und zu dünn für ein Buch erwies. Dieses unglückli-<br />

che Format wäre für die Autorin zum Problem geworden - denn<br />

«publish or perish» heisst es ja - hätte H. Weder vom Huber-Verlag<br />

nicht wiedereinmal in liebenswürdigster Weise Rat geschaffen.<br />

Ihm sei hier speziell gedankt.<br />

Gedankt sei auch dem Schweizerischen Nationalfonds, ohne des-<br />

sen grosszügige Unterstützung «<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>», «Hebammen und<br />

Hymen» und «Aus der Medizingeschichte der Einbildungen» nicht<br />

hätten geschrieben und diese ganze Sammlung nicht hätte redigiert<br />

werden können.<br />

Zum Buche selbst: ich habe eine einführende Übersichtsarbeit an<br />

den Anfang gestellt, im übrigen in der Reihenfolge der Entstehung<br />

der verschiedenen Arbeiten angeordnet. Die Artikel sind im we-<br />

sentlichen unverändert, «Hysterie und Misogynie» allerdings war<br />

ziemlich überholungsbedürftig - in diesem Zusammenhang sei<br />

noch mein Dank an Cecile Ernst ausgesprochen - ferner wurde da<br />

und dort zwecks Koordination und Komplettierung des Ganzen<br />

bald etwas gekürzt, bald etwas ergänzt. Gewisse Wiederholungen<br />

waren leider unvermeidlich - von Lücken kann bei einer Samm-<br />

lung von Fragmenten nicht gesprochen werden. Die Querverweise<br />

sind natürlich alle neu, die Bibliographie wurde vereinheitlicht.<br />

Die Illustrationen sind zum Teil hier erstmals beigegeben.<br />

7


8<br />

GELEITWORT<br />

Geschichte ist nicht einfach Vergangenheit. Geschichte dient der<br />

Herstellung einer Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegen-<br />

wart. Sie kann dies in sehr verschiedener Weise tun, im Grunde tut<br />

sie es wohl für jeden wieder etwas anders. Mich selbst fasziniert sie<br />

einmal dadurch, dass sie die in manchem Gegenwärtigen - in Ge-<br />

bäuden, Gesetzen, Institutionen, Sitten, Worten usw. - stillschwei-<br />

gend und selbstverständlich präsente Vergangenheit als solche<br />

wahrnehmen lehrt, dass sie also auf die historische Dimension des<br />

Jetzt aufmerksam macht. Auch dadurch, dass sie die Vergangenheit<br />

als eine Aufeinanderfolge von Gegenwarten betrachtet, in deren je-<br />

der Menschen sich mehr oder weniger frei bewegten.<br />

Geschichte kann einen lehren, sich von der Gegenwart zu distan-<br />

zieren, ohne sich von ihr zu entfernen: Sie führt einem die Wan-<br />

delbarkeit alles Gegenwärtigen vor Augen, sie weist den Einfluss<br />

der Vergangenheit auf die Gegenwart nach und setzt diesen gerade<br />

dadurch in Grenzen - ein altbewährter Beschwörungseffekt; sie<br />

zeigt, dass manches, was ist, auch anders geworden sein könnte.<br />

Allenfalls kann sie sogar wahrnehmen lehren, dass selbst Unab-<br />

änderlich-Gegenwärtigem die Möglichkeit innewohnt, anders zu<br />

sein. Was einem begegnet, ist ja immer nur eine Auslese von dem,<br />

was es «gibt» - so begegnen verschiedene Zeiten denselben Dingen<br />

oft mit ganz verschiedenen Fragestellungen, Akzentsetzungen, Vor-<br />

eingenommenheiten. Diese Tatsache realisiert man im aktuellen<br />

Augenblick gewöhnlich nicht, es würde einen dies ja oft sogar am<br />

Handeln, am Treffen von Entscheidungen, am Antworten und Rea-<br />

gieren hindern. Bei der Beschäftigung mit Geschichte aber realisiert<br />

man sie auf Schritt und Tritt. Dies schon, weil man da ja gerade die<br />

Wandelbarkeit der Voraussetzungen menschlicher Äusserungen be-<br />

arbeitet, dann, weil man schon im Arbeitsprozess, beim Zusammen-<br />

suchen des Materials, auf dem man sein Bild von der Vergangenheit<br />

aufbauen kann, immer und immer wieder auf Lücken, Unvollstän-<br />

digkeiten und Einseitigkeiten stösst. In der Geschichte muss man<br />

mit Wandelbarkeit, Lücken und Einseitigkeit sogar rechnen - man<br />

muss da ja auch nicht handelnd oder entscheidend teilnehmen.


So kann Geschichte ein gelöstes Verhältnis zur Gegenwart her-<br />

stellen helfen - indem sie Spielraum schafft für einen kreativen<br />

Umgang mit dem Jetzt.<br />

Gerade, wenn man von den Fragen, die sich in den letzten zehn<br />

Jahren an die Situation der <strong>Frau</strong> knüpften, berührt wurde, konnte<br />

man solchen Spielraum sehr wohl gebrauchen, und ich bin bei der<br />

Beschäftigung mit den hier versammelten Arbeiten, zu welcher<br />

mich Vorwortspflicht zwang, auf die Idee gekommen, es könnte<br />

mich gerade dies zum historiographischen Beruf mitbestimmt<br />

haben. Zwar bin ich immer der Überzeugung gewesen, meine Ar-<br />

beiten zur Geschichte der <strong>Frau</strong> seien reine Neben- und Randpro-<br />

dukte meiner im wesentlichen psychiatrie-historischen Tätigkeit.<br />

Auch glaubte ich immer, es beruhe auf Zufall, dass sich am Beispiel<br />

der Geschichte der <strong>Frau</strong> mancher zentrale historische Mechanismus<br />

besonders anschaulich aufzeigen Hesse. Hinterher frage ich mich<br />

aber, ob «die <strong>Frau</strong>« mir nicht gelegentlich Modell gestanden habe<br />

beim Entwurf meiner allgemeineren Fragestellungen und ob das<br />

nicht der Grund sei, weshalb sich diese Fragestellungen dann an der<br />

Geschichte der <strong>Frau</strong> speziell bewährt haben. Dies etwa im Falle der<br />

Frage nach der Funktion der psychiatrischen Diagnose, deren Aus-<br />

druckswert in bezug auf die Arzt-Patienten-Beziehung sich an der<br />

Hysterie besonders deutlich zeigen lässt, oder im Fall der noch all-<br />

gemeineren Frage nach der sozialen Funktion sprachlicher Aus-<br />

drucksweisen überhaupt, die in der Hebammen-Hymen-Ge-<br />

schichte besonders klar zutage tritt - vielleicht deshalb, weil keine<br />

Gegenpublikationen seitens der <strong>Frau</strong>en das Bild komplizieren.<br />

Es wäre in diesem Sinne vielleicht kein Zufall, dass die früheste<br />

der hier vorgelegten Arbeiten («Hysterie und Misogynie», 1969 -<br />

übrigens mein erster medizinhistorischer Artikel überhaupt) in<br />

frühemanzipatorischem Zorn vorwiegend die entfaltungsbehin-<br />

dernde Wirkung männlich-allzumännlichen <strong>Frau</strong>enverständnisses<br />

hervorhebt (ähnlich die ebenfalls noch vor dem «Jahr der <strong>Frau</strong>»<br />

197 angelegte, wenn auch erst jetzt fertiggeschriebene «<strong>Krankheit</strong><br />

<strong>Frau</strong>»), während die bisher letzte («Aus der Medizingeschichte der<br />

Einbildungen», 1977) vielmehr die Chance wahrnimmt, die darin<br />

liegt, dass die <strong>Frau</strong> als Ort der Verwirklichung von Geschöpfen der<br />

9


Einbildungskraft auf eine so alte Tradition zurückblicken kann.<br />

Vielleicht ist es, so besehen, auch kein Zufall, dass jene erste Arbeit<br />

den Uterus vorwiegend als historische «Ursache von tausend<br />

Übeln», wie Demokrit sich ausgedrückt haben soll, behandelt,<br />

während diese letzte ihn mehr in seiner historischen Funktion als<br />

Vorbild für das heute wieder aufgewertete Ernstnehmen von Phan-<br />

tasien und Ideen sieht.<br />

Bern, Mai 1978 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />

10


GESCHICHTE DER GYNÄKOLOGIE<br />

UND GEBURTSHILFE -<br />

ÜBERBLICK (197 )<br />

I. DIE STUMME FRAU<br />

Die Geschichte der Gynäkologie und der Geburtshilfe ist zunächst<br />

durch ihre enge Beziehung zur Geschichte der <strong>Frau</strong> charakterisiert.<br />

Die <strong>Frau</strong> ist historisch weitgehend stumm. Sie äussert sich offiziell,<br />

wenn überhaupt, vorwiegend durch Vermittlung ihres Mannes und<br />

ihrer Söhne - womit über ihre inoffizielle Stellung und Äus-<br />

serungsfähigkeit nichts gesagt ist. Auch das literarische Objekt<br />

«<strong>Frau</strong>» ist durch diese Stummheit geprägt. So sind weite Gebiete<br />

der Vergangenheit der Gynäkologie und Geburtshilfe historiogra-<br />

phisch nicht erfassbar und nicht erfasst. Was aber erfassbar und er-<br />

fasst ist, wirkt noch mehr als das, was man von der Geschichte an-<br />

derer Spezialitäten weiss, wie die Spitze eines Eisbergs - dem un-<br />

sichtbar bleibenden Hauptbrocken entsprächen Arbeit und Erfah-<br />

rung und mündliche Tradition der Hebammen, Hexen, Chirurgen,<br />

Nachbarinnen usw. und das viele, was ungesagt bleibt, auch wo<br />

über die <strong>Frau</strong> gesprochen wird.<br />

Von der Geschichte der Pädiatrie und des Kindes liesse sich ähn-<br />

liches sagen. <strong>Frau</strong> und Kind sind sich historisch in vielem ähnlich.<br />

Die Geschichte der Pädiatrie und der <strong>Frau</strong>enheilkunde, vor allem<br />

der Geburtshilfe, haben auch bedeutende gemeinsame Wurzeln.<br />

Zahlreiche frühe Klassiker des einen Gebiets sind zugleich solche<br />

des anderen. Dies sei aber nur am Rande bemerkt.<br />

II. ANTIKE<br />

Die antike Gynäkologie-Geburtshilfe, wie sie sich im ägyptischen<br />

Papyrus Ebers (Niederschrift ca. 1 0 v. Chr.) 1 , in der hippokrati-<br />

schen Schrift «Über die <strong>Krankheit</strong>en der <strong>Frau</strong>en» 2 und im Werk<br />

des Soranus von Ephesus (frühes 2. Jahrhundert) 3 darstellt, kreist um<br />

11


die Themen Sterilität, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett,<br />

Uterus, Menses, Lochien und andere Flüsse. Soran, der wichtigste<br />

antike Autor auf diesem Gebiet, der auch auf das Mittelalter über-<br />

ragenden Einfluss ausübte, hat zusätzlich die alexandrinische<br />

Kenntnis vom Ovar, doch kümmert er sich um dieses anatomische<br />

Detail nicht weiter. Die Sterilität kommt als behandlungsbedürfti-<br />

ges Leiden wie als therapeutisches Ziel vor - namentlich Soran gibt<br />

eine ausführliche antikonzeptionelle Beratung, da er Schwanger-<br />

schaft und Geburt für zwar normale, den betroffenen <strong>Frau</strong>en aber<br />

unzuträgliche Ereignisse ansieht. Er weist darauf hin, dass die<br />

Grenzen zwischen Antikonzeption und Abort oft fliessend sind. Er<br />

diskutiert auch die ethische Seite des Problems, namentlich das hip-<br />

pokratische Abtreibungsverbot 4 ; er selbst zieht die Antikonzeption<br />

dem Abort aus gesundheitlichen Gründen vor.<br />

Die Frage, inwieweit die <strong>Frau</strong> als solche ein zwar normales, aber<br />

doch nicht vollwertiges, ein hilfsbedürftiges Wesen sei, zeichnet<br />

sich schon hier ab. Soran hält nicht nur Schwangerschaft und Ge-<br />

burt, sondern auch die Menstruation für ein zwar normales, aber<br />

der <strong>Frau</strong> nicht zuträgliches Geschehen. Der hippokratische Autor<br />

stellt die Menstruation im Gegenteil als eine Reinigung der <strong>Frau</strong><br />

von schädlichen Säften dar, als einen Aderlass der Natur, dessen<br />

Ausbleiben eine allenfalls tödliche Störung des inneren Säftegleich-<br />

gewichts zur Folge haben kann (vgl. S. 49- 0). Auch da ist die <strong>Frau</strong><br />

indessen ihrem Wesen nach therapiebedürftig.<br />

Dem empirischen Zugang zum Phänomen <strong>Krankheit</strong>, beim Hip-<br />

pokratiker auch der humoralpathologischen Orientierung entspre-<br />

chend, finden Mensesanomalien, rote und weisse Flüsse, Lochien,<br />

Gonorrhoe (Fluss von weiblichem Samen) in den genannten<br />

Schriften grosses Interesse. Der Uterus ist der zentrale Teil des<br />

weiblichen Organismus. Auch darauf ist zurückzuführen, dass die<br />

Antike und ihre Nachfolger zwischen Gynäkologie und Geburts-<br />

hilfe nicht unsere scharfe Trennung machten. Dislokationen des<br />

Uterus sind ein wichtiges pathologisches Kapitel. Diese Dislokatio-<br />

nen konnten in den heute noch bekannten Lageveränderungen be-<br />

stehen. Der antike Uterus war indessen in noch viel weiteren<br />

Grenzen beweglich. Er konnte sich in den Oberbauch bewegen,<br />

12


sich an die Leber oder ans Herz krallen, er konnte noch weiter<br />

kopfwärts steigen und entsprechend alle möglichen Symptome<br />

verursachen: Angst im Herzen, Zusammenschnüren der Kehle,<br />

Kopfschmerzen, Schwinden der Sinne, Krämpfe . Die durch Dislo-<br />

kationen des Uterus verursachten Leiden werden «hysterisch» ge-<br />

nannt (vgl. S. 34). Als die Wissenschaft die Gebärmutter später ih-<br />

rer freien Beweglichkeit beraubte, erfuhr die «Hysterie» mannigfa-<br />

che Interpretationswandlungen; die Idee von einem vorwiegend<br />

weiblichen Leiden mit prinzipiell vielfältiger und launischer<br />

Symptomatik aber hat sich durch die Jahrhunderte erhalten (vgl.<br />

S. 126).<br />

Entsprechend einer handwerklich-praktischen Orientierung<br />

werden beim hippokratischen Autor wie bei Soran die gynäkologi-<br />

sche Chirurgie und die Geburtshilfe eingehend behandelt. Bei<br />

Soran nimmt die Hebamme eine sehr prominente Stellung ein.<br />

Viele Hebammenhandgriffe werden im Detail angegeben, als ob<br />

eine Hebamme dieses Werk geschrieben hätte. Im kritischen Mo-<br />

ment aber muss die Hebamme den Arzt zuziehen - ihm fallen die<br />

Leitung komplizierter Geburten und die in erschütternder Aus-<br />

führlichkeit beschriebenen Embryotomien und Extraktionen des<br />

toten Kindes zu.<br />

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett waren offensichtlich<br />

damals und bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ernste<br />

Gesundheits- und Lebensgefährdungen für die <strong>Frau</strong>. Da die perina-<br />

tale Sterblichkeit der Kinder aus ähnlichen Gründen ebenfalls sehr<br />

erheblich war, hatten die <strong>Frau</strong>en um so häufiger zu gebären, noch<br />

ganz abgesehen von den meist höheren Lebendkinderzahlen frü-<br />

herer Familien gegenüber heutigen (unseres Kulturkreises), was die<br />

Mortalität der verheirateten <strong>Frau</strong> weiterhin erhöhte. Es lässt sich<br />

denken, dass dies, kombiniert mit der Armseligkeit des therapeu-<br />

tisch-geburtshilflichen Arsenals dieser Zeiten mit an der Wurzel<br />

der Tendenz liegt, die <strong>Frau</strong> gegenüber dem Manne minderzuach-<br />

ten. Abwertung und Abwendung sind ja geläufige menschliche<br />

Reaktionsformen in Schmerzsituationen - die auch prophylaktisch<br />

eingesetzt werden. Man trauert nicht so empfindlich um etwas, was<br />

man nicht zu sehr schätzte und liebte.<br />

13


Jedenfalls hat uns schon die klassische Antike neben den bespro-<br />

chenen eher praktisch geburtshilflich-gynäkologischen Schriften<br />

auch theoretische Schriften über das Wesen der <strong>Frau</strong> hinterlassen,<br />

welche die Minderwertigkeit der <strong>Frau</strong> gegenüber dem Manne fest-<br />

halten. Schon bei der Entstehung der <strong>Frau</strong> fängt es an. In Platos Al-<br />

terswerk «Timaios» entsteht die <strong>Frau</strong> aus Menschen, die für ein un-<br />

rechtes Leben in der nächsten Inkarnation strafweise mit einem<br />

Uterus versehen wurden, unter dessen Tyrannei sie dann ihr trauri-<br />

ges Leben zu verbringen hatte (vgl. S. 34). Aristoteles (384-ca. 322<br />

v. Chr.), dem das Ziel als Ursache der Entstehung von Dingen so<br />

sehr am Herzen lag, betrachtete als Ziel aller Zeugung die Erzeu-<br />

gung von seinesgleichen. Wie bei den Vorsokratikern 6 - denen<br />

aber nicht das Ziel als vielmehr der Ursprung der Dinge wichtig<br />

war - gibt es bei Aristoteles assoziative Beziehungen zwischen Sa-<br />

men und Pneuma, Wärme, Leben, Seele. Da nun aber für ihn nur<br />

der Mann zeugungsfähig war, weil der weibliche Organismus in-<br />

folge eines Minus an Wärme die Nahrung nicht zur Vollendung<br />

des Samens verarbeiten («kochen») konnte, war das Ziel aller Zeu-<br />

gung für Aristoteles der Mann. Die <strong>Frau</strong> war demgegenüber sozusa-<br />

gen eine Missgeburt, ein impotenter Mann, wiewohl Aristoteles zu-<br />

gestand, dass derartige Geschöpfe zur Erhaltung der Art nötig seien<br />

(vgl. S. 0 und 116).<br />

Der hocheinflussreiche Galenos von Pergamon (um 130-200<br />

n. Chr.) zeigte dann, in Verarbeitung dieser wie auch vorsokrati-<br />

scher Gedanken, dass auf der rechten, besseren Seite des Uterus<br />

eher Knaben als Mädchen entstünden, weil es da infolge der Leber-<br />

nähe und der speziellen Gefässverläufe wärmer sei als links, wobei<br />

auch hier «Wärme» mit «Leben», «Kraft», «Seele» und hohem<br />

Wert assoziiert war. Links aber entstanden eher Mädchen, welche<br />

nichtausgereiften Knaben glichen, deren Geschlechtsorgane noch<br />

nicht nach aussen durchgetreten waren, ähnlich nicht durchgebro-<br />

chenen Zähnen bei Feten. Die «testes muliebres» (= Ovarien, eine<br />

alexandrinische Entdeckung) lagen noch innerlich, das Scrotum lag<br />

in Form des Uterus noch unausgestülpt im Inneren der Bauch-<br />

höhle, ebenso der noch nicht zum Penis ausgewachsene Hals der<br />

Gebärmutter. Entsprechend lagen die äusseren weiblichen Scham-<br />

14


Weibliche Genitalien aus Vesal «Fabrica» - eine Illustration zu Galens «Analogie».<br />

1


teile, das Analog des männlichen Präputium, noch am Rumpf. Die<br />

Galensche Analogie ist z. T. für die bis in die Neuzeit andauernde<br />

Begriffsverwirrung um Cervix und Vagina verantwortlich. Galen<br />

hat der <strong>Frau</strong> in hippokratischer Tradition eigenen Samen zuer-<br />

kannt, doch spärlicheren, dünneren und kälteren als dem Manne 7 .<br />

16<br />

III. MITTELALTER<br />

Das Mittelalter, speziell mit und nach der sogenannten arabischen<br />

Rezeption 8 , hat dieses Gedankengut neben der hippokratisch-so-<br />

ranischen Überlieferung mehr praktischer Art gepflegt, wobei die<br />

körperlich-seelische Minderwertigkeit und Schwäche der <strong>Frau</strong><br />

Züge der theologischen Minderwertigkeit annahm (im 19. Jahr-<br />

hundert sollte demgegenüber die nervöse Minderwertigkeit in den<br />

Vordergrund treten, vgl. S. 44 und 72-80, speziell 77-78). Schon<br />

der Kirchenvater Tertullian (nach 1 0 bis um 22 ) hatte der <strong>Frau</strong><br />

geraten, als Angeklagte Gottes zu leben. «Du bist die Pforte des<br />

Teufels», spricht er sie an, «du hast jenen Baum angetastet (wört-<br />

lich: entsiegelt), du hast dich zuerst vom göttlichen Gesetz abge-<br />

wendet, du hast denjenigen verführt, dem der Teufel nichts an-<br />

haben konnte ... Du verdienst den Tod ...» «Du gebärst in Angst<br />

und Schmerzen, <strong>Frau</strong> ... und vergisst, dass du Eva bist?» 9 Den Süh-<br />

necharakter des Gebärens hatte schon Paulus ausformuliert 10 .<br />

Den Scholastikern (etwa Thomas von Aquin) wurde solches Den-<br />

ken sehr geläufig 11 . Sozusagen gegen ihre Absichten kam es dabei<br />

aber zu einem gewissen Verlust der männlich-kirchlichen Kon-<br />

trolle über wesentliche Bereiche des täglichen Lebens und zu ent-<br />

sprechenden Ängsten. Die Praxis der Gynäkologie und Geburts-<br />

hilfe kam wieder sehr in die Hände von Nichtgelehrten und vor al-<br />

lem von <strong>Frau</strong>en - die denn diesen Kompetenzbereich auch eifer-<br />

süchtig hüteten. Als Hebammen konnten <strong>Frau</strong>en zu angesehenen<br />

Stellungen, ja zu klerikalen Würden kommen. So wurde den<br />

Stadthebammen vielfach das Recht zuerkannt, zu taufen, damit un-<br />

ter der Geburt sterbende Kinder dieses Sakramentes nicht verlustig


gingen. Denn Hebammen waren nicht so sehr ärztliche Hilfsperso-<br />

nen als vielmehr primär spezialisierte <strong>Frau</strong>enärztinnen - sie sind hi-<br />

storisch auch die Ahnfrauen der weiblichen Doktoren der Medizin<br />

(die sich denn auch anfangs meist sekundär auf die <strong>Frau</strong>enheil-<br />

kunde spezialisiert haben). Regelungen, welche Kindsmord, Abort,<br />

eigenmächtige Antikonzeption durch Hebammen verhindern soll-<br />

ten, spiegeln die Ängste vor unkontrollierten Kompetenzüber-<br />

schreitungen seitens dieser <strong>Frau</strong>en wider. Zum klassischen Teufels-<br />

kreis sind solche Ängste mit der gedanklichen Assoziation von<br />

Hebammen und Hexen verschaltet gewesen.<br />

Die Entwicklung des Hebammenstandes wie der Geburtshilfe<br />

und Gynäkologie hat viel mit derjenigen der Chirurgen und der<br />

Chirurgie gemeinsam. Sie hat ähnlichen fördernden und hemmen-<br />

den Einflüssen unterlegen, auch fachlich und personell bestehen<br />

enge Beziehungen. Wenn die mittelalterliche Kirche das chirurgi-<br />

sche Blutvergiessen nicht schätzte (was nicht hiess, dass die mittel-<br />

alterlichen Kleriker ihre Leibchirurgen nicht geschätzt hätten),<br />

wieviel weniger konnte sie das gynäkologisch-geburtshilfliche<br />

Blutvergiessen schätzen. War doch die Schwierigkeit des Geburts-<br />

geschäftes nur die Folge von Evas Sünden, galt doch die Menstrua-<br />

tion selbst dem Mittelalter als giftiger Ausfluss der Sünde (vgl.<br />

S. 3- 7). Wo die Chirurgie im Mittelalter andererseits günstigen<br />

Boden fand, ging es auch der Geburtshilfe und Gynäkologie besser:<br />

in Italien und Frankreich etwa, oder in den Städten. In Salerno 12<br />

studierten und lehrten <strong>Frau</strong>en; eines der berühmtesten Werke der<br />

Schule von Salerno ist das gynäkologisch-geburtshilflich-kosmeti-<br />

sche Werk, das unter dem Namen Trotula läuft (wobei es unklar ist,<br />

ob dies ein <strong>Frau</strong>enname und ob es überhaupt ein Autorenname sei).<br />

17


Frontispiz und Titel eines Hebammenlehrbuchs von 1 80: Scham verbietet unverhüllte<br />

Geburt.<br />

18


Erinnerung an den Sündenfall (vgl. l. Mos. 3,16).<br />

19


20<br />

IV. NEUZEIT<br />

In der Neuzeit wurde dann Frankreich zum Land der grossen Heb-<br />

ammen; Louise Bougeois/Boursier (1 63-1636), geschworene Heb-<br />

amme der Stadt Paris und Hebamme der Maria von Medici, Gattin<br />

eines Chirurgen, die auch den Steinschnitt und andere chirurgische<br />

Operationen ausführte, ist hier zu nennen, ferner z. B. Marie-Louise<br />

Lachapelle (1769-1821), ebenfalls Chirurgengattin und Tochter<br />

einer Hebamme und eines Chirurgen. Mme Lachapelles Neffe, spä-<br />

terer Professor der Geburtshilfe in Montpellier, hat die Lehren<br />

seiner Tante in Buchform herausgegeben, ihre Schülerin Marie-<br />

Anne-Victoire Boivin (1773-1841) hat es mit ihrem selbstverfassten<br />

Werk zum Ehrendoktor der Universität Marburg gebracht, wäh-<br />

rend es in den deutschen Landen nur eine ebenso namhafte Heb-<br />

amme gegeben hat: die chur-brandenburgische Hof-Wehe-Mut-<br />

ter Justine Siegemundin (1648/ 0-170 ), welche ebenfalls ein Buch<br />

geschrieben hat 13 . «Dieses Buch ... soll, weil ich keine Kinder zur<br />

Welt gebohren, das seyn, was ich der Welt hinterlasse: Habe ich<br />

also nicht nöthig weitläufftig die Ursachen des Drucks zu rechtfer-<br />

tigen» 14 .<br />

Doch die Emanzipation der Gynäkologie und Geburtshilfe (zum<br />

medizinischen Fach) eilte der Emanzipation der <strong>Frau</strong> (zur Medi-<br />

zinerin) voraus 1 . Sie war deshalb zunächst mit einem allmählichen<br />

Übergang in männliche Hände verbunden. So äussert sich schon<br />

der Autor des ersten Hebammenlehrbuchs («Der Swangern <strong>Frau</strong>en<br />

Rosengarten», 1 13), der Chirurge Eucharius Roesslin (gest. 1 26),<br />

recht abschätzig über «die hebammen alle sampt, die also gar kein<br />

wissen handt» 16 . Sogar in Frankreich haben die Hebammen vor<br />

männlichen Geburtshelfern zurücktreten müssen. Der berühmte<br />

Renaissance-Chirurg Ambroise Paré (1 10-1 90), dessen Lehrbuch<br />

ein ausführliches gynäkologisch-geburtshilfliches Kapitel enthält,<br />

hat seine diesbezüglichen Schüler hinterlassen - Frangois Mauriceau<br />

(1637-1709) sollte dann der erste Chirurg werden, der sich fast aus-<br />

schliesslich mit Geburtshilfe und Gynäkologie befasste. Mauriceau<br />

hat an der Gebärabteilung des Pariser Hôtel-Dieu gewirkt, die<br />

vielleicht unter dem Einfluss der Mme Louise Boursier entstanden


war 17 . Sein Name überlebt, wie der der Siegemundin, in einem ge-<br />

burtshilflichen Handgriff, nur dass dieser offenbar von den Hebam-<br />

men des Hotel Dieu schon vor ihm praktiziert (aber nicht publi-<br />

ziert) worden ist. An Mauriceaus Name knüpfen sich auch viele an-<br />

dere Fortschritte seines Faches, ausserdem aber die Verzögerung der<br />

Einführung der Zange in die Geburtshilfe. Als nämlich 1670 der<br />

abenteuerliche Hugh Chamberlen (geb. um 1630), der Spross einer<br />

Familie, die die Zange seit Generationen als Geheimnis hütete,<br />

nach Paris kam, um diese Erfindung zu demonstrieren und zu ver-<br />

kaufen, war Mauriceau am Misslingen dieser Aktion nicht ganz un-<br />

beteiligt, er scheint sich darüber als über eine Bestätigung des eige-<br />

nen Könnens geradezu gefreut haben 18 .<br />

Im Jahrhundert der Aufklärung ist das Chamberlensche Geheim-<br />

nis dann aber doch herausgekommen, ausserdem war die Neuerfin-<br />

dung der Zange unvermeidlich in einer Zeit, die die Geburtshilfe<br />

anatomisch-physiologisch begründete. Ausser der Zange sind im<br />

Laufe des 18. Jahrhunderts auch andere geburtshilfliche Instrumente<br />

aufgekommen - Georg Wilhelm Stein (1731-1803), der sich um die<br />

Beckenmessung so sehr verdient gemacht hat, ist der Erfinder<br />

zweier Pelvimeter, eines Cliseometers, eines Cephalo-, eines Labi-<br />

und eines Baromakrometers 19 - einen Gebärstuhl und eine eigene<br />

Modifikation der Zange hat damals ohnehin jeder Geburtshelfer<br />

herausgegeben, der etwas auf sich gab. André Levret (1703-1780),<br />

der sich um eine sachgemässe Entwicklung der Zangenform sehr<br />

bemüht hat, gilt ausserdem als Erfinder der Uterussonde, von der<br />

noch die Rede sein wird. So ist das Durchdringen der Zange im<br />

Lauf des 18. Jahrhunderts auch ein Aspekt der allgemeinen<br />

männlich-geburtshelferischen Bewaffnung mit Hilfsinstrumenten<br />

gewesen. Im Ursprungsland der Zange war man derartigen In-<br />

strumenten gegenüber skeptischer. William Smellie (1697-1763) be-<br />

mühte sich vor allem um eine klare Indikationsstellung für den Ge-<br />

brauch der Zange; William Hunter (1718-1783) erarbeitete wichtige<br />

anatomische und physiologische Grundlagen der Geburtshilfe 20 .<br />

Aber auch in England hat die Aufklärung eine Verwissenschaftli-<br />

chung, Literaturfähigkeit und vor allem eine Eingliederung der<br />

21


Die beiden gegenüberliegenden Seiten: Justine Siegemundin und Francis Mauriceau - man<br />

beachte die Betonung der «geschickten Hand» bei der Hebamme gegenüber dem mit<br />

Geburtshilfe in die Medizin gebracht, die dieses Fach (bei der Be-<br />

schränktheit der Bildungsmöglichkeiten für <strong>Frau</strong>en) in die Hände<br />

von Männern brachte. Diese Entwicklung war ja eine ganz allge-<br />

meine, wenn sie auch durch Instrumente gelegentlich vorangetrie-<br />

ben worden sein mag. Die Aufklärung hat ja auch Kind und Kin<br />

22


dem Bändchen «mulierum salus» versehenen Instrumentenschmuck des männlichen Ge-<br />

burtshelfers - «hic sol non umbra regit».<br />

derkrankheiten in ärztliche Hände gebracht. Die Entwicklung der<br />

Orthopädie (das Wort stammt von Nicholas Andry, 16 8-1742, der<br />

es aus orthos = gerade und paidion = Kind zusammensetzte) kann<br />

hier als repräsentativ gelten. Für die weiblichen Hebammen wur-<br />

den nun überall spezielle Schulen gegründet, die ihnen die Beleh<br />

23


ung vermittelten, derer sie als medizinische Hilfspersonen bedurf-<br />

ten 21 .<br />

Die Gynäkologie hat sich eigentlich erst im 19. Jahrhundert als<br />

mehr oder weniger selbständiges Fach konstituiert. Sie hatte bis da-<br />

hin teils in chirurgischen, teils in internmedizinischen, teils in ge-<br />

burtshilflichen Händen gelegen. (Im 19. Jahr hundert hat sich auch<br />

die Pädiatrie endgültig von der Geburtshilfe losgelöst - im Rahmen<br />

der Neonatologie und deren assoziierten Fächern hat sie sich ihr<br />

neuerdings wieder genähert.) Die Grundlagen zur Verselbständi-<br />

gung der Gynäkologie hat vor allem das 17. Jahrhundert gelegt.<br />

Dieses Zeitalter hat mit seinem barocken Interesse für die Natur-<br />

wissenschaft der Schöpfung, Embryologie und Eier, aber auch mit<br />

dem ihm eigentümlichen Interesse für Drüsen und Mikroskope 22<br />

das weibliche Ei und das nun so genannte «Ovar» als sein Träger<br />

ins Gespräch gebracht. Der Name des Sylvius-Schülers Regnier de<br />

Graaf (1641-1673), der die nach ihm benannten Follikel mit dem<br />

Menschliches Ovar, von Graaf auch noch «testiculus mulieris» genannt. Legende: «BB<br />

ova diversae magnitudinis...».<br />

24


weiblichen Ei assoziierte und die weiblichen Hoden deshalb Ova-<br />

rien nannte, ist hier vor allem zu nennen 23 . Das Ovar aber sollte<br />

zum Kristallisationskern einer von der weiterhin gebärmutterzen-<br />

trierten Geburtshilfe losgelösten selbständigen Gynäkologie wer-<br />

den.<br />

Die wissenschaftliche Eigenwürde, die Ovar und Ei der <strong>Frau</strong><br />

verliehen, wurde natürlich nicht unwidersprochen hingenommen.<br />

Geradezu anekdotenhaft mutet der Streit der «Animalculisten» ge-<br />

gen die «Ovisten» an, welcher am Anfang des 18. Jahrhunderts ent-<br />

brannte. Die einen, so etwa Leeuwenhoek, leiteten den Menschen<br />

ganz aus dem neuentdeckten Spermatozoon her - sie sahen ihn da<br />

auch mikroskopisch vollständig vorgebildet - während die anderen<br />

das Ei als den ursprünglichen Keim betrachteten. Gemeinsam war<br />

den streitenden Parteien die Annahme der sogenannten «Präforma-<br />

tion» des Keimes in der Keimzelle - ihr Streit nahm denn auch sein<br />

Ende mit dem Durchdringen der «Epigenese»-Theorie, die in der<br />

Samentierchen, wie es der Animalkulist Nicolaas Hartsoeker (16 6-172 ) sah.<br />

2


Keimentwicklung nicht ein allmähliches Erscheinen von Vorbeste-<br />

hendem, sondern einen allmählichen Bildungsvorgang erblickte 24 .<br />

Doch das «Ovar» blieb fortan im Bewusstsein der Mediziner, die<br />

sich beruflich um die <strong>Frau</strong> kümmerten, und verdrängte da allmäh-<br />

lich den Uterus aus seiner zentralen Stellung. Ganz deutlich wurde<br />

dies dann im 19. Jahrhundert - 1828 durch Karl Ernst von Baers<br />

(1792-1876) Entdeckung des Säugetiereis neu aktualisiert 2 (Graaf<br />

hatte das Ei erst postuliert, gesehen hatte er nur die Follikel).<br />

Nicht mehr Johann Baptista van Helmonts (1 79-1644) «nur der<br />

Uterus macht die <strong>Frau</strong> zu dem, was sie ist», sei als richtig zu be-<br />

trachten, wird auch der hochberühmte Rudolf Virchow (1821-1902)<br />

1848 schreiben, sondern: «Das Weib ist eben Weib nur durch seine<br />

Generationsdrüse » 26 .<br />

Doch die Betrachtung der <strong>Frau</strong> als eine Folge ihrer Ovarien und<br />

die ersten operativen Behandlungen ovarieller <strong>Krankheit</strong>en (vgl.<br />

«Eine Wärterin, welche Sims’ Speculum hält.» Die physikalisch-diagnostischen Rituale<br />

und Instrumente des früheren 19. Jahrhunderts dienten unter anderem auch der Überwin-<br />

dung der Scheu vor der körperlichen Berührung des Patienten durch den Arzt, die bis<br />

dahin keineswegs gebräuchlich gewesen war. Für das Speculum gilt dies wohl in beson-<br />

derem Masse.<br />

26


S. 29, übrigens die ersten erfolgreichen intra-abdo-<br />

minellen Eingriffe, noch vor der Aera der Asepsis<br />

und Anaesthesie) waren nicht die einzigen Gründe<br />

für die Entstehung der Spezialität Gynäkologie im<br />

19. Jahrhundert. Ganz allgemein lag dieser viel eher<br />

das Aufkommen des organizistischen und speziali-<br />

stisch-technischen Denkens jener Zeit zugrunde 27 .<br />

Dieses dürfte auch das Interesse für das Ovar stimu-<br />

liert haben. Es hat aber auch den Uterus zum Objekt<br />

eines neuen, organizistischen Interesses und zum Ziel<br />

neuer diagnostischer Manipulationen und Instru-<br />

mente gemacht, was das Entstehen des Spezialfachs<br />

Gynäkologie seinerseits gefördert hat. Besonders die<br />

Einführung der Uterussonde - das «unschätzbarste<br />

aller diagnostischen Mittel» nennt es ein sehr verbrei-<br />

tetes Lehrbuch der zweiten Jahrhunderthälfte - und<br />

die Einführung des Speculums als routinemässiges<br />

Untersuchungsinstrument durch den Internisten Jo-<br />

seph-Claude-Anthelme Récamier (1774-18 6) sind hier<br />

wichtig. Das Speculum war zwar längst bekannt ge-<br />

wesen, aber erst mit Récamier assoziierte sich mit die-<br />

sem Instrument der prinzipielle Anspruch des Arztes,<br />

die Organe des lebenden Körpers seinen Sinnen dia-<br />

gnostisch zu erschliessen 28 . Dieser Anspruch ist ja<br />

für den Mediziner des 19. Jahrhunderts, des Jahrhun-<br />

derts der physikalischen Diagnostik, ausserordentlich<br />

typisch. Er liegt auch an der Wurzel der Erfindung<br />

des Stethoskops durch Théophile-Hyacinthe Laënnec<br />

(1781-1826), welches damals zum eigentlichen Kenn-<br />

zeichen des Arztes wurde (übrigens war Récamier<br />

Laënnecs Nachfolger als Professor am Collège de<br />

France). Von der Uterussonde, die vielfach ebenfalls<br />

routinemässig benützt wurde, kann ähnliches gesagt<br />

Uterussonde. Der Autor schreibt dazu, dass «einzelne Gynäkologen<br />

sie fast ausnahmslos bei jeder Kranken anwenden» (1874).<br />

27


werden. Mit Hilfe dieses septischen Zauberstabs mag sich ausser-<br />

dem mancher gynäkologische Spezialist ungewollt, wenn auch<br />

nicht unerwünscht, ein reiches, an den verschiedensten speziellen<br />

Entzündungen der Genitalorgane krankendes Patientengut herbei-<br />

geschafft haben. Die bimanuelle Palpation, die sogenannte «com-<br />

binierte Untersuchung» hat die Uterussonde dann aber in den Hin-<br />

tergrund gedrängt.<br />

Der grosse Aufschwung der Gynäkologie und der Geburtshilfe<br />

aber knüpft sich an die Einführung von Anaesthesie und Antisepsis,<br />

an deren Entwicklung sie selbst historisch übrigens nicht unwesent-<br />

lich mitbeteiligt sind. Auch hier zeigt sich wieder die Beziehung<br />

zwischen Gynäkologie-Geburtshilfe und Chirurgie.<br />

Schon in den Jahren 1847-1849 hat der in Wien arbeitende Un-<br />

gar Ignaz Philipp Semmelweis (1818-186 ) zeigen können, dass dem<br />

Kindbettfieber, welches an seiner Klinik rund 10% der Wöchnerin-<br />

nen hinraffte, durch Chlorwaschungen der untersuchenden Hände<br />

der vom Sezieren kommenden Studenten vorgebeugt werden<br />

konnte. Als Ursache des Kindbettfiebers hat er, seinen Erfahrungen<br />

entsprechend, einen «zersetzten tierisch-organischen Stoff» betrach-<br />

tet, wobei er zwar die Bazillen übersehen, aber doch eine rationale<br />

Antisepsis begründet hat. Vor ihm waren psychische Momente<br />

(Angst, verletztes Schamgefühl, schreckenerregender Eindruck des<br />

Sterbeglöckchens), spezielle Auswahl des Patientengutes, grobe<br />

Untersuchungsweise der Studenten, schlechte Ventilation, Diätfeh-<br />

ler usw. für das Kindbettfieber verantwortlich gemacht worden,<br />

und entsprechend hatte keine wirksame Prophylaxe gefunden wer-<br />

den können. So schreibt Semmelweis 1861 in seiner klassischen<br />

Schrift «Aetiologie, Begriff und Prophylaxis des Kindbettfiebers» 29 .<br />

Dass er seine Erkenntnisse so spät erst publizierte, hat seinen Grund<br />

offenbar darin, dass er schreibfaul und kompliziert war, aber auch<br />

darin, dass er damit auf Widerstände stiess. Die Koryphäen der<br />

Wiener Schule, Skoda und Rokitansky, förderten Semmelweis zwar<br />

entschieden 30 . Aber für den dortigen Professor der Geburtshilfe,<br />

Johann Klein (1788-18 6) hätte die Anerkennung von Semmelweis’<br />

Ideen eine Selbstkritik bedeutet, die nur seltene Menschen zu lei-<br />

sten imstande sind.<br />

28


Die Entdeckung der narkotischen Wirkung des Chloroforms durch Simpson und die<br />

Doktoren Keith und Duncan am späten Abend des 4.11.1847.<br />

Auch in der Geschichte der Anaesthesie nimmt ein Geburtshelfer<br />

eine prominente Stellung ein: James Young Simpson (1811-1870),<br />

berühmter Geburtshelfer in Edinburgh, hat 1847 das Chloroform<br />

in die Anaesthesiologie eingeführt, nachdem im Oktober 1846 un-<br />

ter Äther die erste schmerzlose Operation gelungen war. Simpson<br />

hat das Chloroform speziell zur schmerzlosen Geburt verwendet,<br />

ist aber damit auf den Widerstand kirchlicher Kreise gestossen, die<br />

es als sündig empfanden, den gottgewollten Geburtsschmerz (heute<br />

würde da wohl psychologisch argumentiert) zu unterdrücken.<br />

Noch im Jahr seiner Entdeckung ist er auf diese Argumente schrift-<br />

lich eingegangen 31 .<br />

Es wurde bereits erwähnt, dass das Prunkstück der frühen Gynä-<br />

kologie, die operative Behandlung von Ovarialtumoren, schon vor<br />

der Aera der Anaesthesie und Antisepsis durchgeführt wurde.<br />

Amerikanische Chirurgen (zuerst Ephraim Mac Dowell, 1771-1830,<br />

im Jahre 1809) haben diese Pionierarbeit geleistet. Ebenfalls noch<br />

ohne Anaesthesie und systematische Antisepsis hat James Marion<br />

Sims (1813-1883) im amerikanischen Süden an Sklavinnen seine<br />

berühmte Operation der damals sehr häufigen und invalidisieren-<br />

29


den (Arbeitsunfähigkeit!) Vesico-Vaginalfistel entwickelt 32 . Nun<br />

aber, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, waren der operati-<br />

ven Gynäkologie weite Felder geöffnet. Durch den Pariser Chirur-<br />

gen Jules Emile Pean (1830-1898), fand die amerikanische Ovarioto-<br />

mie in Europa Eingang. Péan war ein berühmter Abdominalchir-<br />

urg und hat auch selber wichtige gynäkologische Operationen<br />

entwickelt 33 . Der Kaiserschnitt konnte sich nun ebenfalls allmählich<br />

zum gebräuchlichen Eingriff entwickeln. Bis dahin war er meist<br />

nur in verzweifelten Fällen, wenn überhaupt, ausgeführt worden,<br />

ursprünglich nur an der Toten 34 .<br />

Die Chirurgie ist aus ihrer Vorrangstellung in der Gynäkologie<br />

erst nach dem Ersten Weltkrieg etwas zurückgetreten, als nämlich<br />

die Endokrinologie für die Gynäkologie brauchbare Resultate zu<br />

liefern begann - was übrigens Gynäkologie und Geburtshilfe<br />

einander wieder näher brachte. Die Endokrinologie hat es mit sich<br />

gebracht, dass die <strong>Frau</strong> nicht mehr so sehr mit ihrer Gebärmutter<br />

oder ihrem Ovar identifiziert wurde (in einem gewissen Gegensatz<br />

zum Mann, der traditionellerweise eher als ein Mensch und Ich be-<br />

Ovanotomie nach Simpson. Die Anregung zu der Operation, heisst es im zugehörigen<br />

Text, sei alt und eigentlich europäischen Ursprungs, «der Ruhm der ersten Ausführung<br />

derselben gebührt aber, um mit Piorry zu reden, einer ,audace Américaine’, welche von<br />

Mc. Dowell begangen wurde».<br />

30


trachtet wird, dem sein Geschlecht attributartig zugegeben ist), als<br />

vielmehr mit ihrer hormonellen Balance. Doch haben gerade die<br />

endokrinologischen Forschungen auch die moderne Antikonzep-<br />

tion gebracht, welche geeignet ist, die enge Assoziation von <strong>Frau</strong><br />

und weiblichen Geschlechtsorganen zu lockern, indem sie die<br />

weibliche Sexualität von der Fortpflanzung loslöst.<br />

Die Geschichte der Antikonzeption beginnt, wie die des Aborts<br />

mit der Medizingeschichte überhaupt (die Ägypter verwendeten<br />

Krokodilsmist als Antikonzeptivum), medizingeschichtlich bedeut-<br />

sam ist sie aber eigentlich erst im 19. Jahrhundert geworden, wo die<br />

<strong>Frau</strong>en definitiv und offiziell in medizinische Hände kamen, Réca-<br />

mier die Curette und der amerikanische Berufserfinder Charles Good-<br />

year die Vulkanisierung des Gummis erfand. Die Kämpfe des<br />

19. Jahrhunderts um die Antikonzeption gleichen in vielem den<br />

modernen Diskussionen um die Schwangerschaftsunterbrechung.<br />

Die Betrachtung der Fortpflanzung als zur Normalität der <strong>Frau</strong> ge-<br />

hörig (wobei das Konzeptionsoptimum z. Z. der Menstruation an-<br />

genommen und die Menstruation vielfach als abortähnliches Ge-<br />

schehen betrachtet wurde [vgl. S. 68-72]) und Ängste um traditio-<br />

nelle Werte und Ordnungs- bzw. Machtstrukturen standen da auf<br />

der einen Seite. Auf der anderen Seite bestand die im Sinn der<br />

<strong>Frau</strong>enemanzipation liegende Tendenz, das Fortpflanzungsgeschäft<br />

auch für die <strong>Frau</strong> freiwillig zu erklären. Bevölkerungspolitische<br />

Argumente wurden von beiden Seiten ins Feld geführt, ethische<br />

selbstverständlich auch (vgl. S. 71-72). Eine leicht und für jede<br />

<strong>Frau</strong> erreichbare, wirksame Antikonzeption gibt es aber im Grunde<br />

erst seit kurzer Zeit. Die Verlegung des Konzeptionsoptimums<br />

vom traditionellen Zeitpunkt um die Menstruation auf das Inter-<br />

menstruum durch D. Ogino und Hermann Knaus (1892-1970) datiert<br />

aus den 1930er Jahren, die Entwicklung der antikonzeptionellen<br />

Pillen und der modernen IUDs aus den 60er Jahren 3 . Die sicher<br />

enorme Bedeutung dieser Entwicklungen für die Geschichte der<br />

<strong>Frau</strong> und damit auch der Geburtshilfe und Gynäkologie ist noch<br />

nicht abzusehen.<br />

31


32<br />

HYSTERIE UND MISOGYNIE -<br />

EIN ASPEKT<br />

DER HYSTERIEGESCHICHTE (1969)<br />

Hysterie - ein psychisches Leiden, das typischerweise beim weibli-<br />

chen Geschlecht beobachtet wird;<br />

Misogynie - die Abneigung gegen das weibliche Geschlecht; un-<br />

sere Frage ist: gibt es, historisch gesehen, einen Zusammenhang<br />

zwischen den beiden?<br />

Im heutigen Gebrauch des Wortes Hysterie schwingt nicht selten<br />

ein unfreundlicher Ton mit. Mit der Diagnose Hysterie scheint oft<br />

weniger ein Patient als das Verhältnis des Arztes zum Patienten be-<br />

zeichnet, und zwar kein gutes. Wenn es sich um weibliche Pa-<br />

tienten handelt, wird oft kaum von Patienten, sondern von Wei-<br />

bern oder <strong>Frau</strong>enzimmern gesprochen. Wenn es sich um männliche<br />

handelt, werden sie oft in für die <strong>Frau</strong>en wenig schmeichelhafter<br />

Art mit diesen verglichen. Ganz ähnlich hat Ackerknecht aus der<br />

psychopathologischen Etikettierung der sogenannten Primitiven<br />

(z. B. des Medizinmanns) einen abschätzenden Unterton herausge-<br />

hört.<br />

Nun ist aber die Diagnose Hysterie doch nicht nur ein Schimpf-<br />

name. Sie entschuldigt ja auch in gewissem Sinne. Viele soge-<br />

nannte weibliche Tücken gehen unter der Diagnose Hysterie<br />

straflos hin. Durch die psychiatrische Diagnose wird ja die Verant-<br />

wortlichkeit für ein bestimmtes, meist unbeliebtes Verhalten eines<br />

Individuums von diesem weg auf eine <strong>Krankheit</strong> verlegt - damit<br />

entgeht der Unbeliebte dann der sonst verdienten Strafe. Er ist mit<br />

seiner <strong>Krankheit</strong> hinreichend bestraft. Ackerknecht spricht von psy-<br />

chopathologischer Etikettierung als Ausdruck erhöhter mitmensch-<br />

licher Toleranz, ja Über-Toleranz 36 .<br />

So gleicht die Diagnose Hysterie, da sie als für das weibliche Ge-<br />

schlecht so typisch angesehen wird, zwar einerseits einer misogy-<br />

nen Beleidigung dieses Geschlechts, andrerseits aber wirkt sie als<br />

ärztlicher Schutz gegen eine tätige Misogynie.


Hat diese beschimpfend-entschuldigende soziologische Doppel-<br />

funktion der Diagnose Hysterie ihre historischen Hintergründe<br />

und Verdeutlichungen?<br />

Die Hysterie ist ursprünglich eine ausschliesslich bei <strong>Frau</strong>en vor-<br />

kommende <strong>Krankheit</strong> - ausschliesslich bei <strong>Frau</strong>en, weil sie eine<br />

<strong>Krankheit</strong> der weiblichen Geschlechtsorgane war. Das griechische<br />

ὑστἑρα wird mit «Gebärmutter» übersetzt.<br />

Eines der ersten griechischen Dokumente, das man auf die Hy-<br />

sterie bezogen hat, ist ein sogenannter Brief des Demokrit an Hippo-<br />

krates («Über die Natur des Menschen» 37 ). In diesem Briefe steht,<br />

der Uterus sei «die Ursache von 1000 Übeln». Thomas Sydenham<br />

(1624-1689) zitiert diesen Brief in seiner berühmten Abhandlung<br />

über die Hysterie; er versteht Demokrits Äusserung als ein Äus-<br />

serung über die Hysterie, welche eben so verschiedene Formen an-<br />

nehmen könne 38 . Der Terminus «Hysterie» kommt zuerst im Hip-<br />

pokratischen Aphorismus , 3 vor - wobei man über seine genaue<br />

Bedeutung im Zweifel bleiben kann. Häufiger findet man das<br />

Wort in der griechischen Literatur in seiner adjektivischen Form 39 .<br />

Gegen die Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus schafft der ein-<br />

flussreiche Plato (427-348/47 v. Chr.) in seinem «Timaios» eine<br />

Hysterie-Theorie. Nachdem er da die «Entstehung des Weltalls bis<br />

zu der des Menschen», womit die Männer gemeint sind, dargestellt<br />

hat, merkt er nämlich folgendes noch an: «Von den Männern, die<br />

entstanden waren, wurden ... diejenigen, die furchtsam waren und<br />

ihr Leben unrichtig verbrachten, bei der zweiten Entstehung in<br />

Weiber umgestaltet.»<br />

Plato, der für <strong>Frau</strong>en ohnehin wenig übrig hatte - sie wohl be-<br />

stenfalls platonisch liebte -, zählte diese gar nicht zu den Menschen.<br />

«Unsere Zusammensetzer wussten», schreibt er, «dass aus Männern<br />

einmal Weiber und die sonstigen Tiere entstehen würden.» Nicht<br />

jeder Mann, der nicht recht gelebt hat, musste jedoch gleich zur<br />

<strong>Frau</strong> werden. Aus Männern, die nicht gerade schlecht, nur leicht-<br />

sinnig ihr Leben verbracht hatten, entwickelten sich die Vögel, die<br />

anstatt Haaren Federn erhielten. Es gab aber auch schwerere Stra-<br />

fen als die Verwandlung in eine <strong>Frau</strong>. Aus den allerunvernünftig-<br />

33


sten Männern wurden bei der nächsten Entstehung Fische und Mu-<br />

scheln.<br />

Die strafweise Umgestaltung des Mannes zur <strong>Frau</strong> durch Platos<br />

Götter geschieht dadurch, dass der Organismus mit weiblichen Ge-<br />

schlechtsteilen versehen wird: «... sie sind ein Lebewesen mit der<br />

innewohnenden Begierde nach Gebären eines Kindes», schreibt<br />

Plato über diese Teile. - «Wenn nun in der Blüte ihres Lebens lange<br />

Zeit vergeht ohne dass sie eine Frucht bringen, so führt dies zu<br />

einem Zustand schwer zu ertragender Unzufriedenheit, er zieht<br />

überall im ganzen Körper umher [der Uterus], versperrt die<br />

Durchgänge der Luft und lässt keine Luft aufnehmen. Dieser Zu-<br />

stand führt die Weiber in die äusserste Auswegslosigkeit und berei-<br />

tet ihnen mannigfache andere <strong>Krankheit</strong>en ...» 40<br />

Platos Hysterie ist also eigentlich eine veterinärmedizinische Pa-<br />

rasitenerkrankung. Plato kennt aber keine hysterische <strong>Krankheit</strong>s-<br />

einheit. Die Gebärmutter ist bei ihm Ursache mannigfaltiger<br />

<strong>Krankheit</strong>en, Ursache von Zuständen, die andere hysterisch nen-<br />

nen, selbst aber nicht <strong>Krankheit</strong>sfokus, sondern Strafe der Götter.<br />

Die ent-schuldigende Funktion der Diagnose entfällt also bei Plato.<br />

Antike Ärzte, welche das <strong>Frau</strong>-Sein weniger als Strafe denn als<br />

Schicksal, die Gebärmutter weniger als Schandmal denn als anato-<br />

mische Gegebenheit betrachten, sprechen eher von der hysterischen<br />

«<strong>Krankheit</strong>». Der Uterus im Weibe verhält sich «wie ein Wesen im<br />

Wesen» schreibt Aretaeus der Kappadocier (ca. 0 n. Chr.). «Wenn<br />

er nun plötzlich in die Höhe steigt, hier eine längere Zeit verweilt<br />

und die Eingeweide mit Gewalt verdrängt, so bekommen die<br />

<strong>Frau</strong>en Erstickungs-Anfälle, wie bei der Epilepsie ... Aber auch die<br />

Carotiden werden ... zusammengedrückt, worin wiederum die<br />

Schwere im Kopf, die Gefühllosigkeit und die Schlafsucht ihren<br />

Grund hat» 41 .<br />

Im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dämonenglauben<br />

finden sich manche Mängel, die die antike <strong>Frau</strong> zu hysterischen<br />

Leiden disponierten, als Prädisposition zum hexischen Pakt mit<br />

dem Bösen wieder. Die Hexenlehre mutet in manchem wie eine<br />

34


Rückverwandlung der medizinischen Hysterielehre in die alte<br />

Lehre von der Schlechtigkeit der <strong>Frau</strong>en an. Was den «Hippokrati-<br />

schen Schriften» und Aretaeus <strong>Krankheit</strong> war, welche <strong>Frau</strong>en über-<br />

fallen kann, ist nun wieder persönliche Schuld der <strong>Frau</strong>en. Die<br />

Weiblichkeit wird wieder zum platonesken Schandmal. Es erheben<br />

sich Gelehrtenstreite über die Frage, ob die <strong>Frau</strong>en eine Seele hät-<br />

ten, Menschen seien, oder nicht.<br />

Der «Hexenhammer», jenes Kompendium der Hexenverfolger,<br />

das 1486 von den anscheinend auch an ihrem Zölibat leidenden In-<br />

quisitoren Jakob Sprenger (um 1436-149 ) und Heinrich Institoris<br />

(1430-1 0 ) geschaffen worden ist, findet den Grund, «warum in<br />

dem so gebrechlichen Geschlechte der Weiber eine grössere Menge<br />

Hexen sich findet als unter den Männern» in der Erfahrung und in<br />

den Zeugnissen der Schriften und glaubwürdiger Männer, die alle<br />

bestätigen, dass die <strong>Frau</strong>en von Natur schwach sind - wegen der<br />

«Flüssigkeit ihrer Komplexion», ihrem «Mangel ... des Verstandes»<br />

und «an memorativer Kraft» - der Hexenhammer stellt fest, dass<br />

«das Weib nur ein unvollkommenes Tier ist». Dies kombiniert sich<br />

sehr unvorteilhaft mit der Tatsache, dass die <strong>Frau</strong> «fleischlicher ge-<br />

sinnt ist als der Mann», indem die <strong>Frau</strong> mehr zum Abfall von Gott<br />

neigt als der Mann - «was alles auch die Etymologie des Wortes<br />

sagt: das Wort femina nämlich kommt von fe und minus (fe — fi-<br />

des, Glaube, minus = weniger, also femina = die weniger Glauben<br />

hat), weil sie immer geringeren Glauben hat und bewahrt».<br />

«Schliessen wir: Alles geschieht aus fleischlicher Begierde, die bei<br />

ihnen unersättlich ist ... Darum haben sie auch mit Dämonen zu<br />

schaffen, um ihre Begierden zu stillen ... kein Wunder, wenn von<br />

der Ketzerei der Hexer mehr Weiber als Männer besudelt gefunden<br />

werden...» So bedeutet die <strong>Frau</strong> für den Mann eine grosse Gefahr.<br />

«Und wie die Sünde der Eva uns weder leiblichen noch seelischen<br />

Tod gebracht hätte, wenn nicht in Adam die Schuld gefolgt wäre,<br />

wozu Eva und nicht der Teufel ihn verleitete, deshalb ist sie [die<br />

<strong>Frau</strong>] bitterer als der Tod.» Gefahr bedeutet sie namentlich infolge<br />

ihres Umgangs mit dem Bösen, der sie zur Hexerei befähigt. Sie<br />

hext ihren Opfern beliebige sexuelle Impulse oder Störungen, aber<br />

auch <strong>Krankheit</strong> und Tod an. Besessenheit kann Hexenwerk sein;<br />

3


Besessene oder von Dämonen Gefährdete vermögen oft anzuge-<br />

ben, welche Hexe für ihr Leiden verantwortlich ist 42 .<br />

Manche Erscheinungen, die in der Folge zu klassischen hysteri-<br />

schen Symptomen werden, treten in der klassischen Hexen- und<br />

Besessenheitslehre als Zeichen teuflischer Einwirkung auf. Kreisbo-<br />

gen, Erstickungsanfälle und Krämpfe finden sich bei Besessenen,<br />

Anästhesien gelten als Hexenzeichen 43 . Die anästhetische Zone ist<br />

das eigentliche «stigma diaboli», an dem der Teufel die Seinen auf<br />

Erden erkennt, denn er selbst hat es mit den Klauen seiner linken<br />

Hand geprägt. Eine der gängigsten Hexenproben war daher die so-<br />

genannte Nadelprobe. Diese bestand darin, dass ein Gerichts-<br />

knecht, Scharfrichter oder auch Chirurg mit einer Nadel in alle<br />

auffälligen Hautstellen der als Hexen Verdächtigten stach. Wenn<br />

dann keine Äusserung des Schmerzes erfolgte (oder kein Blut<br />

herausdrang), so war der Verdacht bestätigt 44 . Auch Krämpfe<br />

konnten die Hexe charakterisieren.<br />

Der Unterschied zwischen Hexen und Besessenen war, wie das<br />

Cécile Ernst herausgearbeitet hat, praktisch von grösster Bedeutung:<br />

Hexen wurden eingeäschert, wie Sprenger und Institoris sich aus-<br />

drücken, Besessene exorziert, hatten Hexen doch böswillig-wil-<br />

lentlich einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen, während Beses-<br />

36<br />

Hexenverbrennung, 16. Jh.


sene eher als arme Opfer des Bösen galten. Im Einzelfall allerdings<br />

konnte es eine Frage haarfeiner Einzelheiten, sogar des Zufalls sein,<br />

ob man das eine oder das andere annahm - in der Alternative «kri-<br />

minell oder geisteskrank» mag die alte Problematik nachklingen.<br />

Der Dämonenglaube hatte weittragende Folgen: die Hexenaus-<br />

rottung des 16. und 17. Jahrhunderts hat bezüglich der Zahl von<br />

Exorzismus.<br />

37


Todesopfern Ausmasse angenommen, die nur denjenigen der Ju-<br />

denverfolgungen unseres Jahrhunderts vergleichbar sind 4 .<br />

Es waren bekanntlich zuerst Ärzte, die gegen den Dämonenglau-<br />

ben aufzutreten wagten. Der Berühmteste unter diesen war wohl<br />

Johan Wier (1 1 -1 88). Wier riet, Besessene von ihrer Melancholie<br />

zu purgieren, bevor man sie geistlich behandle und zuzusehen, dass<br />

man nicht alte melancholische Weiblein als Hexen verkenne 46 . Em-<br />

pört über Wier und seinesgleichen veröffentlichte hierauf König<br />

James VI von Schottland (der spätere James I von England, 1 66-<br />

162 ) 1 97 eine «Dämonologie», eine neue Rechtfertigung des Dä-<br />

monenglaubens 47 . Auf diese «Dämonologie» nun erschien als Ant-<br />

wort ein Werk, das uns hier interessiert, Edward Jordens (1 69-1632)<br />

Abhandlung über die Hysterie. Es ist das erste englische Buch über<br />

dieses Thema. Jorden war Experte in Hexensachen und auch von<br />

James VI oft konsultiert worden. Der unmittelbare Anlass zum<br />

Verfassen seines Buches war ihm ein Hexenprozess, in dem sein<br />

ärztlicher Rettungsversuch der Angeklagten vergeblich geblieben<br />

war.<br />

Jorden leugnet so wenig wie Wier, dass es Besessenheit und He-<br />

xerei gebe. Doch sei solches heutzutage sehr selten, schreibt er, und<br />

man müsse um Gottes Willen vorsichtig sein, bevor man eine Be-<br />

sessenheit annehme. Denn alle Symptome dämonischer Einwirkun-<br />

gen seien auch für die Hysterie typisch. Die Hysterie aber sei kein<br />

Teufelswerk, sondern eine <strong>Krankheit</strong> des Uterus. Die Hysterie äus-<br />

sere sich in den sonderbarsten Zeichen, welche nur der sehr geübte<br />

Arzt überhaupt als solche erkenne. Jorden deutet an, dass es seinen<br />

weniger geschulten Kollegen passieren könnte, dass sie mangels ge-<br />

nauer Kenntnis der Hysterie hysterische Zeichen als dämonisch be-<br />

dingt verkennten. So hätten gewisse Zeitgenossen des Hippokrates<br />

alles, was sie nicht gekannt oder zu behandeln gewusst hätten, auf<br />

übernatürliche Ursachen zurückgeführt, ihre tatsächliche Ignoranz<br />

mit Wissen um Übernatürliches bemäntelnd 48 .<br />

Bei Jorden findet sich also sehr deutlich die ent-schuldigende<br />

Funktion der Diagnose: die Diagnose Hysterie vermag Wirkungen<br />

des Bösen in <strong>Krankheit</strong>ssymptome zu verwandeln, hexische Bos-<br />

heit durch körperliche, dem Einfluss des Willens entzogene Krank-<br />

38


heitsursachen zu ersetzen und so allenfalls strafwürdige Hexen vor<br />

dem Scheiterhaufen zu retten. Sie antagonisiert hier also die Effekte<br />

der Misogynie.<br />

Das 18. Jahrhundert ist im ganzen ein eher frauen-freundliches<br />

Jahrhundert. Die Aufklärung tritt für bisher sozial benachteiligte<br />

Gruppen ein, auch für <strong>Frau</strong>en. Den Hexen- und Dämonenglauben<br />

lässt sie als Aberglauben fallen.<br />

Auch die <strong>Frau</strong>enkrankheit Hysterie tritt in den Hintergrund.<br />

Sydenham hatte Hysterie und Hypochondrie identisch genannt, für<br />

ihn war es dieselbe <strong>Krankheit</strong>, die bei den <strong>Frau</strong>en Hysterie, bei den<br />

Männern Hypochondrie heisse 49 . Nach seinem Muster löst sich nun<br />

im 18. Jahrhundert die <strong>Krankheit</strong> Hysterie in der Hystero-Hypo-<br />

chondrie oder einfach in der Hypochondrie weitgehend auf (Black-<br />

more, Whytt und andere) 0 .<br />

Das 19. Jahrhundert, das sogenannte «Jahrhundert der <strong>Frau</strong>en-<br />

emanzipation», das Jahrhundert auch der Reaktionen auf die Eman-<br />

zipation der <strong>Frau</strong>en, hat, besonders in seiner zweiten Hälfte, eine<br />

Renaissance platonischen <strong>Frau</strong>enhasses - und des medizinischen In-<br />

teresses an der Hysterie - gebracht.<br />

Die Theologie neigte wieder vermehrt zum Glauben an die He-<br />

xerei. 1886 kam eine Schrift des Pastors Ernst Muehe bereits in<br />

2. Auflage heraus, in welcher es unter anderem heisst: «Die ... He-<br />

xen stehen als Werkzeuge und Agenten der unsichtbaren Geister-<br />

wesen im Besitz grosser Macht. ... Sie massen sich ... die Stellung<br />

Gottes selbst an. Das ist aber die eigentliche Stellung des Teufels, ...<br />

der Höhepunkt menschlicher Teufelei» und später: «Der Glaube an<br />

Hexen hat viel Unfug in der Welt angerichtet, und manche arme<br />

... <strong>Frau</strong> mag durch den ‚Hexenhammer‘ unschuldig ... verbrannt<br />

sein. Doch wollen wir’s uns nicht verhehlen, dass doch auch man-<br />

ches Wahre daran ist.» Der Pastor bedauert: «Leider bietet die neue<br />

Gesetzgebung den Obrigkeiten keine genügende Handhaben, um<br />

diesem Frevel wirksam zu steuern.» 1 Die Tendenz, die Wirklich-<br />

keit des Hexenwesens in Betracht zu ziehen, scheint bis in unser<br />

Jahrhundert hinein noch zugenommen zu haben. Während im<br />

39


Soldan-Heppe von 1880 «nur eine Stimme von Bedeutung für den<br />

Glauben an die Wirklichkeit der Hexerei» verzeichnet war, stellt<br />

der Bearbeiter der Ausgabe von 1911 fest, dass «der ,Stimmen von<br />

Bedeutung‘ ... gar manche laut geworden» seien 2 . 1906 gibt<br />

Schmidt die erste deutsche Übersetzung des Hexenhammers heraus,<br />

über dessen «Verfasser wie ... Inhalt» seiner Ansicht nach «zu hart»<br />

geurteilt worden sei 3 .<br />

Auch die Mediziner samt Psychiatern interessierten sich im<br />

19. Jahrhundert neuerdings für Hexen (Esquirol, Feuchtersieben, Cal-<br />

meil, der Neurologe Charcot und seine Schüler, der Internist Bern-<br />

heim u. a.). Und indem diese versuchen, sich die Erscheinungen des<br />

Hexenwesens und der Besessenheit, die nun nicht mehr scharf un-<br />

terschieden wurden, zu erklären, kommen sie wieder auf die Hy-<br />

sterie. Besonders durch die Hypnose- und Suggestionsforschungen<br />

etabliert sich dann die Überzeugung, dass die Mehrzahl oder sogar<br />

Die Charcot-Schule unterschied im Verlauf der hysterischen Attacke eine epileptoide<br />

Phase, eine Phase der grossen Bewegungen und der Krämpfe, eine Phase der Leiden-<br />

schaftlichkeit und zum Schluss eine deliriöse Phase. Der klassische «Arc de cercle», der<br />

Kreisbogen, war Bestandteil der zweiten Phase. Im Rahmen dieser Phase konnte auch die<br />

regelrechte «attaque démoniaque» auftreten.<br />

40


alle Hexen Hysterikerinnen gewesen seien 4 . Charcots Hysterikerin-<br />

nen weisen Lähmungen, Krämpfe, besonders Arc de cercle, und<br />

Anästhesien auf. Die Nadelprobe wird von der Hexenprobe zur<br />

diagnostischen Untersuchung.<br />

Die Diagnose Hysterie aber ist im 19. Jahrhundert nicht mehr,<br />

wie im 17. Jahrhundert, etwa bei Jorden, hauptsächlich ein begriffli-<br />

ches Instrument zur Abwehr misogyner Tendenzen. Sie erscheint<br />

nun vielmehr auch als Instrument solcher Tendenzen selbst. Die<br />

Hysterikerin ist die säkularisierte Hexe.<br />

41


Die Hysterie wird wieder zur ausschliesslichen <strong>Frau</strong>enkrankheit<br />

(Louyer-Villermay, Landouzy, Georget, Broussais usw. ). Falls sie<br />

nicht wieder als eine <strong>Krankheit</strong> der Gebärmutter, sondern - wie<br />

schon im 18. Jahrhundert - als eine <strong>Krankheit</strong> des Nervensystems<br />

betrachtet wird, so befällt sie nun doch hauptsächlich weibliche<br />

Nervensysteme, und nicht männliche. Denn, so heisst es, nur das<br />

unreife, unentwickelte Nervensystem, wie es die <strong>Frau</strong> hat, neigt<br />

zur hysterischen Reaktionsweise. So wird die beobachtete Häufung<br />

der Hysterie beim weiblichen Geschlecht zum Beweis für dessen<br />

nervliche Minderwertigkeit - denn im Jahrhundert der Entwick-<br />

lungslehre fallen Wertordnung und Entwicklungsreihe zusammen.<br />

So wird der Glaubensdefekt der fe-mina des «Hexenhammers»<br />

zum Intelligenzdefekt der <strong>Frau</strong> des 19. und 20. Jahrhunderts, zur<br />

angeborenen Willensschwäche, zur Infantilität, zu Möbius’ physio-<br />

logischem Schwachsinn des Weibes.<br />

So wird die Hysterika zur Hexe. Der hysterische Charakter äus-<br />

sert sich anerkanntermassen in einer «... Neigung, alles auf sich zu<br />

beziehen, ... Launen, ... Neigung zu Täuschungen und Lügen, ...<br />

Züge von ausgesprochenem Neid, von kleineren oder grösseren<br />

Bosheiten ...» 6 .<br />

Emil Kraepelin (18 6-1926) beschreibt die Hysteriker als «...<br />

gleichgültig gegen fremdes Leid, rücksichtslos gegen ihre Umge-<br />

bung ...», als «Virtuosen des Egoismus», die «nicht selten in un-<br />

glaublichster Weise» ihre Umgebung «tyrannisiren und ausbeu-<br />

ten». Es charakterisiert sie ausserdem neben der «Gewohnheit, sich<br />

in alle möglichen fremden Angelegenheiten unberufen einzumi-<br />

schen» und «zu intriguieren», die Neigung zu «Verdrehung von<br />

Thatsachen, zur Lüge und Verläumdung», eine Neigung, «die ei-<br />

gene Person auf ein gewisses Piedestal zu setzen», eine «nimmer ru-<br />

hende Unzufriedenheit [wie schon bei Plato], das ungemein an-<br />

spruchsvolle Wesen», eine «schadenfrohe, kleinliche Rachsucht»<br />

sowie ein «Hang, zu klatschen, zu schmähen, zu medisiren, ...<br />

Aus Paul Julius Möbius: «Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-Unterschieden», Heft ►<br />

«Geschlecht und Kopfgrösse», welches beginnt mit dem Satz «Der Umfang des... Kopfes<br />

wächst ... mit den geistigen Kräften.» Die Umfänge wurden mit Hilfe eines Instruments<br />

gemessen, welches die Hutmacher gebrauchten, um die Hutweite zu bestimmen.<br />

42


durch welche Hysterische ... zum Schrecken der Ärzte und Anstal-<br />

ten werden können, welche mit ihrer Behandlung sich zu befassen<br />

gezwungen sind».<br />

Man kann sich beim Lesen der Kraepelinschen Beschreibung der<br />

Hysteriker des Eindrucks kaum erwehren, dass Kraepelin anstelle<br />

der Spitalbetten für die Hysteriker am liebsten Straflager oder<br />

Scheiterhaufen substituiert hätte. Auch hat man unwillkürlich den<br />

Eindruck, Kraepelin ziele mit dieser Beschreibung fast ausschliess-<br />

lich auf weibliche Personen. Tatsächlich fügt er hinzu, dass die ge-<br />

nannten Charakterveränderungen beim weiblichen Geschlechte<br />

«eine viel grössere Ausdehnung und typischere Entwickelung» er-<br />

längen als bei der männlichen Hysterie 7 .<br />

In späteren Auflagen seiner Psychiatrie mässigt Kraepelin seinen<br />

Ton zu sachlicher klingender Ärztlichkeit. Weniger spitz, aber<br />

nicht weniger scharf, richten sich nun seine Feststellungen gegen<br />

die <strong>Frau</strong>en. Wie Francotte findet nun Kraepelin die Hysterie eine<br />

«amplification de la mentalité féminine». Er stellt die Hysterie nun<br />

in «enge Beziehungen zu den natürlichen, dauernden Eigentüm-<br />

lichkeiten des weiblichen Geschlechtes ...» Sie ist nämlich «eine Er-<br />

krankungsform des unentwickelten, naiven Seelenlebens». Hierauf<br />

weisen der Umstand, dass viele hysterische Dienstboten aus ländli-<br />

chen Verhältnissen stammen, und wiederum «die starke Beteili-<br />

gung des weiblichen Geschlechtes» hin.<br />

Wenn Männer hysterisch werden, so ist dies meist «auf Grund-<br />

lage psychopathischer Minderwertigkeit», während «die Hysterie<br />

der <strong>Frau</strong>en im allgemeinen mehr einer natürlichen Entwicklungs-<br />

richtung entspricht, unter Umständen auch einem Zurückbleiben<br />

auf kindlicher Stufe ...» 8 . Es sind nach allgemeiner Ansicht nur<br />

schlechte, nämlich «weibische (höflicher: weibliche) Männer» 9 , die<br />

hysterisch werden können. «Ein Gelehrter, ein Verstandesmensch<br />

kann ... niemals ein echter Hysterischer sein», schreibt Dubois.<br />

Höchstens Männer mit «weibische[r] Gemütsart», worunter eine<br />

«kindische Gemütsart» und «geistige und moralische Schwäche»<br />

verstanden sind, werden auch seiner Ansicht nach hysterisch 60 .<br />

Übrigens sollen, um auf Kraepelin zurückzukommen, die Juden<br />

leichter hysterisch werden als die germanischen Völker 61 .<br />

44


Wir haben die Werke von drei Autoren, Plato, Jorden, Kraepelin,<br />

auf Zusammenhänge zwischen einer misogynen Haltung und der<br />

Diagnose Hysterie hin etwas näher betrachtet. Es soll nun noch das<br />

Werk eines vierten Autors, ein Feuerwerk von Misogynie, solcher<br />

Betrachtung unterzogen werden: das des Otto Weininger (1880-<br />

1903) 62 .<br />

Otto Weininger hat 1903, 23jährig, sein über 400 Seiten dickes<br />

Buch «Geschlecht und Charakter, eine prinzipielle Untersuchung»,<br />

herausgebracht. Weininger war Jude. Er war, während er sein Buch<br />

schrieb, für unsere Begriffe und auch für diejenigen damals Leben-<br />

der 63 offensichtlich geisteskrank; nichtsdestoweniger hatte er seiner-<br />

zeit grossen Einfluss auf die Gemüter. Sein Werk hat innerhalb von<br />

zwei Jahren fünf Auflagen erlebt und dann noch weitere. Stefan<br />

Zweig (1881-1942) war nur einer von den Tausenden, die Weininger<br />

für ein Genie hielten 64 . August Strindberg glaubte, Weininger habe<br />

«das schwerste aller Probleme gelöst» - «Voilà un homme!» rief er<br />

über ihn aus 6 . Das Buch ist unter dem Einfluss der Möbiusschen<br />

Schrift (Paul Julius Möbius, 18 3-1907) «Über den physiologischen<br />

Schwachsinn des Weibes» geschrieben worden 66 . Doch möchte<br />

Weininger nicht, dass man seinen Standpunkt mit «den hausbacke-<br />

nen, und nur als tapfere Reaktion gegen die Massenströmung [ge-<br />

meint ist die Emanzipation der <strong>Frau</strong>] erfreulichen Ansichten von<br />

P. J. Möbius» verwechsle. Denn ihm scheint, das Weib sei nicht<br />

schwachsinnig, da es eine regelmässige «Schlauheit, Berechnung,<br />

,Gescheitheit‘» besässe zur «Erreichung naheliegender egoistischer<br />

Zwecke». Es sei vielmehr «weder tiefsinnig noch hochsinnig, we-<br />

der scharfsinnig noch gradsinnig, es ist vielmehr ..., so weit wir<br />

bisher sehen, überhaupt... als Ganzes ...un-sinnig».<br />

Folgendes Bild entwirft Weininger von der <strong>Frau</strong>: ihr Lebens-<br />

zweck, ihr einziger, ist die Kuppelei. Ähnlich wie im Hexenglau-<br />

ben tritt die weibliche Geilheit in ihrer Gefährlichkeit für den<br />

Mann wieder in den Vordergrund des <strong>Frau</strong>enbildes. Lust steht bei<br />

der <strong>Frau</strong>, wo beim Manne Wert steht, Geschlechtstrieb, wo der<br />

Mann liebt, Trieb, wo dem Mann Willen gegeben ist, Wiederer-<br />

kennen statt Gedächtnis, Individuation statt der Individualität des<br />

Mannes - «der tiefststehende Mann steht also noch unendlich hoch<br />

4


über dem höchststehenden Weibe». Die <strong>Frau</strong>en haben keine Frei-<br />

heit, keinen Unsterblichkeitsdrang, kein Ich. Weininger fragt sich,<br />

ob die <strong>Frau</strong>en überhaupt Menschen seien, verneint die Frage, zählt<br />

die <strong>Frau</strong>en aber auch nicht zu den Tieren oder Pflanzen. Sie sind<br />

für ihn vor allem Nichts.<br />

So mass Möbius den Schwachsinn des Weibes (vgl. Abb. S. 43). «Der ,Conformateur‘ oder<br />

Kopfformer besteht aus einem Kranze von sechzig Tasten, die den Kopf umfassen und<br />

durch Federkraft zusammengehalten werden. Am oberen Ende tragen die Tasten conver-<br />

girende Drähte, die in Spitzen endigen, sodass die Anordnung der Spitzen ein verkleiner-<br />

tes Bild der Tasten-Stellung giebt. Beim Gebrauche wird der Tastenkranz wie ein Hut<br />

auf den Kopf gesetzt, und zwar so, dass er den grössten Umfang des Kopfes fasst. Ist das<br />

geschehen, so wird die Klappe, an deren unterer Fläche ein Stück Papier befestigt ist, nie-<br />

dergedrückt, und die Spitzen dringen durch das Papier. Die auf dem Papier entstehende<br />

Figur wird die Reduction genannt; sie ist ein in die Länge gezogenes verkleinertes Bild<br />

des Kopfumfanges. Will man aus der Reduction den wirklichen Kopfumfang finden, wie<br />

es beim Hutmachen nöthig ist, so verfährt man folgendermaassen. Die Reduction wird<br />

auf Pappe geklebt und ausgeschnitten, der Ausschnitt aber wird in die Nebenform gelegt,<br />

d. h. auf einem Brettchen befestigt, das einen Kranz von horizontal verschieblichen Zap-<br />

fen trägt. Jeder Zapfen ist fünf Centimeter lang, und sie werden von allen Seiten so an die<br />

Reduction aus Pappe herangeschoben, dass dem Umfange dieser überall fünf Centimeter<br />

zugesetzt werden. Ist dies geschehen, so werden die Zapfen in ihrer Lage durch Schrau-<br />

ben fixirt, die Reduction wird herausgenommen, und nun entspricht der äussere Umfang<br />

des Zapfenkranzes dem Kopfumfange.»<br />

46


Diese Nichtigkeit der <strong>Frau</strong>en ist es, was sie so rezeptiv macht.<br />

Alles, was die <strong>Frau</strong> ist, ist sie durch den Mann. Die <strong>Frau</strong> ist so re-<br />

zeptiv, dass sie selbst diese Rezeptivität verleugnen kann. So wird<br />

es möglich, «dass die männliche negative Wertung der Sexualität<br />

die positive weibliche vollständig im Bewusstsein des Weibes über-<br />

decke». So erhält das Weib vom Manne «eine zweite Natur, ohne<br />

auch nur zu ahnen, dass es seine echte nicht ist, es nimmt sich ernst,<br />

glaubt etwas zu sein und zu glauben, ... so tief sitzt die Lüge ...».<br />

Hier wird nun die Hysterie ins Feld geführt. «Auf die Blossle-<br />

gung des ‚psychischen Mechanismus‘ der Hysterie kann unendlich<br />

viel, ja ... alles ankommen», schreibt Weininger bedeutsam. Er hält<br />

die Hysterie nämlich für den Effekt der Kollision zwischen der ei-<br />

gentlichen kupplerischen nichtigen Natur des Weibes und ihrer<br />

vom Manne übernommenen Pseudopersönlichkeit, welche «sie in<br />

ihrer Passivität vor sich und aller Welt zu spielen übernommen<br />

hat». Die Hysterie ist die «organische Krisis der organischen Verlo-<br />

genheit des Weibes».<br />

Dass nicht alle <strong>Frau</strong>en hysterisch seien, obwohl ja doch alle ver-<br />

logen seien, erklärt sich damit, dass es noch «Megären» gibt. Die<br />

Megären, so nennt Weininger seine bösen Hexen, sind zwar auch<br />

verlogen, aber nicht so nach innen hin wie die Hysterikerinnen.<br />

Megäre oder Hysterika - das sind nach Weininger also die Möglich-<br />

keiten der <strong>Frau</strong>; Hexe oder Hysterika - das ist die Alternative der<br />

Misogynie.<br />

«Das Weib ist die Schuld des Mannes», schreibt Weininger, und in<br />

gewisser Beziehung hat er wohl recht. «Die Juden sind die Schuld<br />

des Ariers», hätte er auch sagen können. Denn er findet, vom be-<br />

kannten Selbsthass der sozial benachteiligten Gruppen erfüllt,<br />

grosse «Kongruenz» zwischen Juden und <strong>Frau</strong>en. Auch die Juden<br />

sind Kuppler, lüsterne, geile, seelenlose nichtige Geschöpfe, ohne<br />

Unsterblichkeitsbedürfnis, ohne Freiheit; «der echte Jude hat wie<br />

das Weib kein Ich und darum auch keinen Eigenwert». Der Arier<br />

ist von alledem das Gegenteil.<br />

Sagte nicht auch Kraepelin, die Juden neigten zu Hysterie mehr<br />

als die Germanen? «Trotz der abträglichen Wertung des echten Ju-<br />

den», fügt Weininger zu seinen Ausführungen ahnungsvoll hinzu,<br />

47


«kann nichts mir weniger in den Sinn kommen, als... einer theore-<br />

tischen oder gar einer praktischen Judenverfolgung in die Hände<br />

arbeiten zu wollen. Ich spreche über das Judentum als platonische<br />

Idee ...» 67 .<br />

Weininger hat sich mit 23 Jahren erschossen. Ein Psychiater, der in<br />

ihm kein Genie erblicken konnte und sein Buch als Unsinn be-<br />

trachtete, hat bei ihm retrospektive eine Hysterie diagnostiziert.<br />

«Darum konnte sich auch Möbius», schreibt er, «trotz alles Abscheus<br />

vor dem Buche doch des Bedauerns nicht erwehren» 68 . Moebius hat<br />

nämlich Weiningers Werk unter dem Titel «Geschlecht und Unbe-<br />

scheidenheit» kritisiert. Er hat nachgewiesen, «dass alles Tatsächli-<br />

che bereits in seinem ,physiologischen Schwachsinn des Weibes’<br />

und anderen seiner Schriften enthalten sei» 69 . - Heute würde man<br />

bei Weininger wahrscheinlich eine paranoide Schizophrenie dia-<br />

gnostizieren. Weiningers Zehntausende von Lesern und der grosse<br />

Neurologe Möbius aber sind nicht einfach geistesgestört zu nennen.<br />

Die Einstellung gegen das weibliche Geschlecht, die sich Ende<br />

des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet hat, gleicht<br />

einem Massenwahn, speziell demjenigen, der den Hexenverfolgun-<br />

gen des 16./17. Jahrhunderts zugrunde gelegen hat. Die daraus er-<br />

wachsene Verfolgung hat aber bekanntlich diesmal nicht die<br />

<strong>Frau</strong>en, sondern die Juden getroffen. Die Juden glichen ja den<br />

<strong>Frau</strong>en, sie neigten ja, wie diese, zur Hysterie.<br />

Es ist über die soziologischen Ähnlichkeiten zwischen Hexenver-<br />

folgung und Judenverfolgung schon viel gesagt worden. Insofern<br />

die Diagnose Hysterie auf eine bestimmte soziologische Situation<br />

der Diagnostizierten hinweist, gehört offenbar auch sie zu diesen<br />

Ähnlichkeiten.<br />

Hysterie und Misogynie war unser Thema. Ich habe versucht, an<br />

vier Beispielen aus der Geschichte, Plato, Jorden, Kraepelin und<br />

Weininger, zu zeigen, dass, wo die Hysterie diagnostiziert wird, die<br />

Misogynie meist nicht fern ist - ob sie nun durch die Diagnose<br />

neutralisiert und verdeckt oder ausgedrückt werde.<br />

Wenn es aber diese eine Korrelation gibt zwischen einer soziolo-<br />

gischen Situation und einer psychiatrischen Diagnose, könnte es<br />

nicht noch mehrere geben?<br />

48


KRANKHEIT FRAU - AUS DER<br />

GESCHICHTE DER MENSTRUATION<br />

IN IHREM ASPEKT ALS ZEICHEN<br />

EINES FEHLERS (1974/78)<br />

I. MENSTRUATION<br />

ALS ZEICHEN DER ÜBERFEUCHTUNG<br />

UND UNTERWÄRMUNG -<br />

DIE ANTIKE<br />

«Schon Hippokrates hat erkannt», so könnte man klassisch-medizin-<br />

geschichtlich beginnen, dass die Menstruation mit der Schwäche<br />

des weiblichen Geschlechts in engstem Zusammenhang steht. Der<br />

historischen Präzision halber muss allerdings gleich beigefügt wer-<br />

den, dass die sogenannte «Hippokratische Schrift» «Über die<br />

<strong>Krankheit</strong>en der <strong>Frau</strong>en», welcher man dies entnimmt, nicht auf<br />

Hippokrates selbst zurückgeht - die in den «Hippokratischen Schrif-<br />

ten» zusammengefassten Werke gehen nur zum kleinsten Teil si-<br />

cher auf ihn zurück. Nun, in dieser Schrift stellt sich die Menstrua-<br />

tion als ein Ausdruck der weiblichen Konstitution dar. Diese ist<br />

feuchter, weniger dicht, weniger stark als die des Mannes. Wie<br />

lockere Wolle viel Nässe in sich aufsaugt, saugt sich das lockere<br />

weibliche Gewebe mit vieler Flüssigkeit voll und übervoll - die<br />

Menstruation ist, so besehen, ein regulatives Abtropfen des Über-<br />

flüssigen. Sie zeigt an, dass der weibliche Körper sein humorales<br />

Gleichgewicht verloren hat, zugleich behebt sie diesen Zustand -<br />

im Symptom verbinden sich ja häufig Zeichen eines Leidens und<br />

heilsame Reaktion darauf. Verhaltung der Menses bedeutet daher<br />

Dekompensation: Frösteln, Rückenweh, Fieber, schleimiges Erbre-<br />

chen, blutiger Urin, Tod. Bei einigen wird der verhaltene Blutfluss<br />

nach zwei Monaten in die Lunge verschoben und die Kranke wird<br />

schwindsüchtig. Das nichtevakuierte pathogene Blut kann sich<br />

auch irgendwo lokal festsetzen und dort Geschwüre, Eiteransamm-<br />

lungen und Schwellungen machen, ein Glied lähmen, Krämpfe<br />

49


verursachen. «Manchmal bilden sich auch Geschwüre in der Ge-<br />

bärmutter» 70 . Es ist anzunehmen, dass die Hippokratiker auch die<br />

Amenorrhoe infolge organischer Veränderungen, etwa Cervixkar-<br />

zinom, nicht für sekundär, sondern für primär angesehen haben.<br />

Wie sie andrerseits auch Zwischenblutungen als Menstruationen<br />

aufgefasst haben müssen.<br />

Die hippokratische Lehre von der Menstruation muss natürlich<br />

auf dem Hintergrund der antiken Humoralpathologie gesehen<br />

werden, welche den menschlichen Organismus im wesentlichen als<br />

ein Ensemble von Säften betrachtet. Gesundheit ist der Zustand des<br />

Gleichgewichtes dieser humores, <strong>Krankheit</strong>, Dyskrasie, das Ge-<br />

genteil - meist sind es Säfteüberschüsse, die dafür verantwortlich<br />

sind. Die humoralpathologische Therapie besteht daher zu wesent-<br />

lichen Teilen im Austreiben und Ablassen der pathogenen Säfte -<br />

Schwitzen, Erbrechen, Abführen und Aderlass. Humoralpatholo-<br />

gisch besehen ist die <strong>Frau</strong> an ihrer weiblichen Konstitution im<br />

Grunde natürlicherweise krank, und ihre Menstruation hat den<br />

Charakter eines regelmässigen natürlichen Aderlasses, der sie vor<br />

den Folgen ihres Leidens bewahrt. Daher die «monatliche Reini-<br />

gung».<br />

Es ist der Vergleich mit dem Mann, der die <strong>Frau</strong> als nicht ganz<br />

vollkommen erscheinen lässt. Im Vergleich mit der männlichen ist<br />

die weibliche Konstitution feuchter, weniger dicht, weniger stark.<br />

In ihrer Ergänzungsfunktion im Bezug auf den Mann allerdings ist<br />

die <strong>Frau</strong> eben doch normal und richtig gebaut. Namentlich hat die<br />

<strong>Frau</strong> dem Manne ja Kinder zu schenken - tatsächlich steht für die<br />

Hippokratiker die Tatsache, dass die <strong>Frau</strong> überfeucht ist, im Dienst<br />

der Fortpflanzung. In der Schwangerschaft nämlich wird ihr sonst<br />

überschüssiges Menstrualblut für den Aufbau und die Ernährung<br />

des Kindes verwendet 71 . Die Gefahren einer Menstruationsstörung<br />

drohen denn auch vor allem <strong>Frau</strong>en, die keine Kinder gehabt<br />

haben 72 .<br />

Das Menstrualblut ist damit ein wesentlicher Zeugungsbeitrag<br />

der <strong>Frau</strong>. Doch wird in der hippokratischen Schriftensammlung als<br />

eigentlicher Zeugungsbeitrag ein «weiblicher Samen» angenom-<br />

men 73 .<br />

0


Bei Aristoteles wird das Menstrualblut klar zum eigentlichen und<br />

einzigen Beitrag der <strong>Frau</strong> zur Herstellung eines Kindes - es wird<br />

zum Analog des männlichen Samens. Allerdings zum etwas min-<br />

deren Analog. Während der männliche Same Träger des in seinem<br />

Wesen immateriellen, dynamischen, geistigen Prinzips der Form<br />

ist, des eigentlichen schöpferischen Zeugungsprinzips (vgl. S. 116),<br />

liefert die <strong>Frau</strong> in ihrem Menstrualblut lediglich die rohe Materie,<br />

aus der das Kind gebildet wird 74 . Zweifellos wurzelt dieses Konzept<br />

zum Teil in ackerbauerischen Erfahrungen. Wie die Frucht des Fel-<br />

des fraglos dem Bauern und nicht dem Acker gehört und wie er<br />

bestimmt, was da wachsen soll, gehört das Kind dem Vater - der<br />

Vater bestimmt Namen, Art und Aussehen des Kinds. So ist das<br />

Kind nach Aristoteles im Prinzip eine einfache Replika des Vaters:<br />

ein Knabe, der genau so aussieht wie er. Wenn das Kind nicht dem<br />

Vater gleicht oder gar ein Mädchen ist, ist das die missgeburtsartige<br />

Folge einer Abbremsung des väterlich-schöpferischen Impulses<br />

durch die rohe, kalte Materie des Menstrualblutes 7 . Denn die Qua-<br />

lität «kalt» kommt diesem auch bei Aristoteles zu. Dass das Men-<br />

strualblut rot ist und nicht hell wie der männliche Same, hängt<br />

nach ihm wiederum mit der weiblichen Konstitution zusammen.<br />

Die <strong>Frau</strong> ist «kälter» als der Mann. «Kälte» bedeutet dabei nicht<br />

eine mit dem Thermometer gemessene, nicht eine messbare Tem-<br />

peratur, sondern eine Grösse abstrakt-philosophischer Natur, zu-<br />

nächst einmal das Gegenteil von Wärme. Wärme aber war mit<br />

Feuer, Kraft, Leben und einem hohen Wertbegriff assoziiert 76 .<br />

Wärme hatte ihren Hauptsitz und Ausgangspunkt im Herzen, das<br />

nach Aristoteles das erste und wichtigste Organ des ganzen Körpers<br />

und Sitz der übergeordneten Seele war 77 . Wärme war die wichtig-<br />

ste Antriebskraft des physiologischen Funktionierens - dem ent-<br />

spricht der Umstand, dass die Antike physiologische Vorgänge mit<br />

Vorliebe nach dem Modell des Kochens deutete, was wieder im<br />

Zusammenhang damit steht, dass der Verdauungsapparat die ei-<br />

gentliche Achse der Physiologie war, ähnlich wie mit dem späten<br />

18. und 19. Jahrhundert das Zentralnervensystem zum «Rückgrat»<br />

der Physiologie und übergeordneten Organsystem wurde. Jede<br />

Zeit tendiert dazu, die Lebensvorgänge entsprechend ihrer Techno-<br />

1


logie zu deuten: im späten 18. und 19. Jahrhundert haben die sich<br />

selbst bewegenden und dem Menschen gehorchenden Maschinen<br />

dem physiologischen Denken Modell gestanden, in der Antike wa-<br />

ren es die Vorgänge in Küche und bäuerlichem Betrieb: Gerin-<br />

nung, Gärung und vor allem das Kochen. Wie man durch Kochen<br />

rohes Material zu feinen Gerichten verarbeitete, so verarbeitete der<br />

menschliche Organismus kraft seiner Wärme die aufgenommene<br />

Nahrung zu Feinerem; zu Säften und Geweben. Wenn die <strong>Frau</strong><br />

nun infolge ihrer Kälte beziehungsweise ihrem Mangel an Wärme<br />

statt hellen Samens rotes Menstrualblut hervorbrachte, so war das<br />

im Grunde Zeichen eines physiologischen Mangels. Ihr Organis-<br />

mus, namentlich Leber und Venen, war unfähig, die aufgenom-<br />

mene rohe Nahrung so gut durchzukochen und zu vervollkomm-<br />

nen wie der des Mannes. Dies erscheint um so einleuchtender, als<br />

Aristoteles umgekehrt den männlichen Samen als hämatogen, d. h.<br />

in den Blutgefässen hergestellt, betrachtete. Aristoteles setzt kon-<br />

tinuierliche Übergänge zwischen Venen und Samenkanälen vor-<br />

aus, die der kontinuierlichen Verarbeitung des roheren Blutes zum<br />

Feinsten, dem männlichen Samen, dienen. Nach sexuellen Exzessen<br />

nimmt dieser daher bisweilen blutartigen Aspekt an 78 . «Somit ist<br />

die <strong>Frau</strong> eine Art zeugungsunfähiger Mann. Denn Weibchen sein<br />

bedeutet eine gewisse Schwäche, weil es nicht imstande ist, aus der<br />

letzten Nahrungsstufe Samen ausreifen zu lassen. Diese Stufe ist<br />

Blut ... und der Grund ist die Kälte des Wesens. Wie nun in den<br />

Gedärmen bei Verdauungsstörungen der Durchfall entsteht und in<br />

den Adern sonstige Blutflüsse, so ist auch der Monatsfluss aufzufas-<br />

sen. Auch dieser ist ein Blutfluss. Aber» - Aristoteles scheint sich<br />

von der Idee distanzieren zu wollen, dass man die Menstruation<br />

mithin als <strong>Krankheit</strong>ssymptom aufzufassen habe - «Aber während<br />

jene krankhaft sind, ist dieser natürlich» 79 . Dies wieder passt zu<br />

Aristoteles’ Auffassung der <strong>Frau</strong> als Missbildung bzw. Minderge-<br />

burt, die aber aus Gründen der Arterhaltung unentbehrlich sei 80 -<br />

Auffassung, die das Abendland in zahllosen Modifikationen und<br />

Ausformungen weiter gepflegt hat 81 .<br />

Soranus von Ephesus (vgl. S. 12) hat der Frage nach der Nützlich-<br />

keit der Menstruation ein ganzes Kapitel gewidmet, in welchem er<br />

2


auch die Krankhaftigkeit der Menstruation als solcher diskutiert. Er<br />

lehnt die humoralpathologische Auffassung der Menstruation als<br />

Reinigung ab mit dem Argument, die Natur hätte das Entstehen<br />

überflüssiger Stoffe im weiblichen Körper durchaus vermeiden<br />

können. Auch die Rückführung der Menstruation auf widernatür-<br />

liche Ulzerationen in der Gebärmutter weist er zurück. Seiner<br />

Meinung nach ist die Menstruation Voraussetzung der weiblichen<br />

Fruchtbarkeit, doch schadet sie der <strong>Frau</strong>, denn nichtmen-<br />

struierende, männliche <strong>Frau</strong>en pflegen sehr robust zu sein und<br />

junge Mädchen geniessen die strahlendste Gesundheit 82 .<br />

II. MENSTRUATION ALS ZEICHEN<br />

VON BOSHEIT UND GIFTIGKEIT -<br />

MITTELALTER UND RENAISSANCE<br />

Im Mittelalter, wo die Begriffe von <strong>Krankheit</strong> und Sünde beson-<br />

ders eng und bisweilen bis zur Identifikation assoziiert werden,<br />

nimmt die Menstruation - wie die Pflicht der <strong>Frau</strong>, in Schmerzen<br />

zu gebären (vgl. S. 16, 18, 19), Züge einer Folge der Versündigung<br />

an. «Wenn ein Weib den Monatsfluss hat«, so steht es schon in<br />

Mose 3, 1 , 19-33, «so bleibt sie sieben Tage lang in ihrer Unrein-<br />

heit, und jeder, der sie berührt, wird unrein bis zum Abend. Auch<br />

alles, worauf sie während ihrer Unreinheit liegt, wird unrein, und<br />

alles, worauf sie sitzt, wird unrein.» Wer irgendetwas berührt, wo-<br />

mit sie in Berührung gekommen ist, wird unrein. «Wenn aber ein<br />

Weib den Blutfluss lange Zeit hindurch hat, nicht zur Zeit ihres<br />

Monatsflusses ..., so ist sie während der ganzen Zeit ihres unreinen<br />

Flusses unrein ... Wenn sie aber rein geworden ist von ihrem<br />

Flusse, so soll sie sieben Tage zählen; darnach gilt sie als rein. Und<br />

am achten Tage nehme sie zwei ... Tauben und bringe sie zum<br />

Priester ...; der Priester aber soll die eine als Sündopfer und die an-<br />

dre als Brandopfer darbringen, und so soll ihr der Priester Sühne<br />

schaffen vor dem Herrn wegen ihres unreinen Flusses. So sollt ihr<br />

die Israeliten von ihrer Unreinheit befreien, damit sie nicht um ih-<br />

rer Unreinheit willen sterben ... Das ist das Gesetz über den, der an<br />

einem Fluss leidet, und über den, der einen Samenerguss hat, sodass<br />

3


er dadurch unrein wird, und über die, welche am Monatsfluss lei-<br />

det ...» 83 . Dieser Text enthält neben der Beschreibung der Unrein-<br />

heit der Menstruierenden den deutlichen Hinweis auf die Unschä-<br />

rfe der Grenze zwischen normaler, regelmässiger Menstruation und<br />

einer genitalen Blutung, die man heute als Symptom einer Krank-<br />

heit auffassen würde. Ferner gibt er am Schluss die Analogie von<br />

Monatsblutung und Samenerguss, Analogie, in deren Licht die<br />

Menstruation deshalb als Sünde erscheint, weil sie in den Dienst<br />

der Fortpflanzung gestelltes Material nutzlos verschüttet.<br />

Wie aber ein Symptom Zeichen einer <strong>Krankheit</strong> und zugleich<br />

Ausdruck einer Selbstheilungstendenz sein kann, kann das Sünden-<br />

mal auch zugleich Strafe und damit einen Schritt in Richtung der<br />

Versöhnung bedeuten.<br />

Unter den Schriften der Hildegard von Bingen (1098-1179), einer<br />

Äbtissin, die mit sehr vielen massgebenden Persönlichkeiten ihrer<br />

Zeit brieflich und persönlich verkehrte, hochangesehen, einfluss-<br />

reich und repräsentativ für ihre Zeit - unter den Schriften dieser<br />

<strong>Frau</strong> also befindet sich auch eine medizinische: «causae et curae».<br />

Diese belegt uns das Verfliessen von Sündenmal, physischem Makel<br />

und reinigender Strafe im Begriff der Menstruation in recht typi-<br />

scher Weise. «Als der Fluss der Begierde in Eva eingezogen war»,<br />

heisst es da, «wurden alle ihre Gefässe dem Blutstrom geöffnet. Da-<br />

her erlebt jede <strong>Frau</strong> bei sich stürmische Vorgänge im Blute, so dass<br />

sie, ähnlich dem Ansichhalten und Ausfliessen des Mondes, die<br />

Tropfen ihres Blutes bei sich behält und vergiesst ... Denn wie der<br />

Mond zu- und abnimmt, werden beim Weibe Blut und Säfte wäh-<br />

rend der Zeit des Monatsflusses gereinigt. Andernfalls würde es<br />

nicht am Leben bleiben können, weil es reicher an Flüssigkeit ist<br />

wie der Mann, und in schwere <strong>Krankheit</strong> verfallen ... Alle Gefässe<br />

des Weibes würden unversehrt und gesund geblieben sein, wenn<br />

Eva allezeit im Paradiese verblieben wäre.» Der Straf- und Sühne-<br />

charakter der Menstruation äussert sich auch darin, dass nach<br />

Hildegard «in dieser Zeit das Haupt des Weibes krank, seine Augen<br />

matt und sein ganzer Leib schwach» wird 84 . Die religiöse These<br />

vom Ursprung der Periode aus Evas Sünde, kommentiert Paul<br />

Diepgen, war keineswegs eine Privatmeinung der heiligen Hilde-<br />

4


gard, sondern eine allgemeine Überzeugung der im Mittelalter ton-<br />

angebenden Gelehrten, der Theologen 8 . Und sie hat bis weit in die<br />

Neuzeit hinein, sogar in nicht-säkularisierter Form, fortgelebt.<br />

Noch im 17. Jahrhundert schreibt ein wiederum repräsentativer<br />

Autor, der Iatrochemiker Johann Baptista van Helmont aus Brüssel:<br />

«Will man aber nach der Ursache dieser Blödigkeit fragen» - er<br />

nennt die Menstruation «monatlichen Zoll» oder «monatliche Blö-<br />

digkeit» - «so ist gewiss, dass die Eva nach der Essung des verbote-<br />

nen Apffels sich den (sic!) Kützel der geylen Lust unterwürffig ge-<br />

macht, auch den Mann zur fleischlichen Vermischung angereitzet<br />

und zugelassen: Daher die hiervon empfange Menschliche Natur<br />

ins Verderben gerathen, und fortan in solcher Unart geblieben: um<br />

welches Verderbens willen die Nachkommen der vorigen unver-<br />

gleichlichen Reinigkeit beraubet worden. Dannenhero die Vermu-<br />

thung entstehet, dass Eva ... das Zeugnüs auf alle ihre Nachkom-<br />

men bringen müssen, wie nicht nur sie gefallen, sondern diese<br />

Schuld ... auch auf die ihrigen gerathen, und dieselben dieser bluti-<br />

gen Verunstaltung an ihrer Natur entgelten müssen. ... Solcher Ge-<br />

stalt nun ist dieser Fluch in die Natur eingegangen und wird auch<br />

so bleiben. Und um eben dieser Ursache willen ist auch die Noth-<br />

wendigkeit dieser Monathlichen Schwachheit entstanden. ... Dan-<br />

nenhero möchte man aus dem bisshero gemeldeten diesen Schluss<br />

machen: dass die unvergleichliche Mutter Christi, ... weil sie nie-<br />

mahlen keine Verderbung bey sich statt finden lassen, folglich auch<br />

nie dieser Monathlichen Blödigkeit unterworffen gewesen ...» 86 .<br />

Die Lehre von der Menstruation als Sündenmal klingt auch in je-<br />

ner Ansicht eines iatrochemisch interessierten späteren Autors nach,<br />

über die Müller-Hess in seiner überaus reichhaltigen Arbeit berich-<br />

tet, nach welchem «das menstruationserregende Ferment in dem<br />

Apfel der Eva enthalten gewesen sei» 87 .<br />

Die Sünde ist in diesem Zusammenhang engstens mit der Sexua-<br />

lität assoziiert - wobei auf Eva eine doppelte Last zu liegen kommt:<br />

die der eigenen Sexualität und dazu noch die derjenigen Adams,<br />

denn sie ist die Verführerin - und gleichsam zur eigenen Entlastung<br />

scheint Adam dann Evas Menstruation als gerechte Strafe zu emp-<br />

finden.


War die Menstruierende unrein und sündig, so leuchtete es ein,<br />

dass die von ihr abgeschiedene Materie ein Gift sein müsse - wobei,<br />

da das Mittelalter aus materieller und geistiger Schädlichkeit<br />

keinen Gegensatz machte, der Giftbegriff mit dem Begriff des bö-<br />

sen Zaubers verfloss. Die Auffassung des Menstrualblutes als Gift<br />

hat seine antiken Wurzeln in der Naturgeschichte des Plinius (Gaius<br />

Plinius Secundus, 23-79 n. Chr.). Es kann nichts Bemerkenswerteres<br />

gefunden werden als der Fluss der <strong>Frau</strong>en, heisst es da. «Denn Wein<br />

so im Most ist, machet er zu seiner Zeit sauer, die Früchten ange-<br />

griffen welck, was gepflantzet verdoret davon. Er verbrennet das<br />

Gewechs der Gärten, die Frücht an den Böumen thut er abfallen.<br />

Der Widerschein der Spiegel wirt dardurch verduncklet, das Eisen,<br />

so es gleich wol gescherpffet, wirt stümpff, des Helffenbeins Weisse<br />

gelb. Es sterben davon die Immen in ihren Stöcken, und verrostet<br />

gleich was er berüret. So ihnen die Hund schlecken, werden sie un-<br />

sinnig, unnd ist kein Artzney für derselbigen Hund Biss. ... Und<br />

dise gantz beschwerliche kranckheit kömmet alle malh in dreissig<br />

Tagen ... Ettliche haben ihn mehr ... ettliche gar nimmer. Aber<br />

dieselbigen sind unfruchtbar» 88 . Auch Aristoteles kennt das Phäno-<br />

men, dass sich in Anwesenheit Menstruierender Spiegel trübten.<br />

Diese Wirkung wird für ihn durch den Blick vermittelt. Aristoteles<br />

erkennt dem Sehorgan einige eigene Strahlkraft zu, und diese äus-<br />

sert sich im Fall der fiebrigen Störung des Bluts der Menstruieren-<br />

den am blanken Spiegel durch roten Beschlag 89 . Die Giftwirkung<br />

des Menstrualblutes wird hier zum bösen Blick. Der böse Blick der<br />

Menstruierenden und die Giftwirkung des Menstrualblutes waren<br />

dem Mittelalter geläufige Dinge. Den bösen Blick findet man bei<br />

Albertus Magnus (1193-1280) 90 , bei Konrad von Megenberg (1309-<br />

1374) verursacht er die Pocken 91 . Eine Viermeisterglosse zur saler-<br />

nitanischen Chirurgie des Meisters Roger Frugardi (2. Hälfte des<br />

12. Jh.), die nach der Mitte des 13. Jahrhunderts in Südfrankreich<br />

entstanden sein soll, rät dem Chirurgen, vor der Trepanation die<br />

Unterhaltung mit menstruierenden <strong>Frau</strong>en zu vermeiden, weil sol-<br />

che die Wundheilung gefährden 92 . Volksmedizinische Traditionen<br />

spielen zweifellos in diese Lehren hinein. Ausserdem dürfte die so-<br />

genannte «arabische Rezeption», im Verlaufe derer das Abendland<br />

6


die von den Arabern speziell gepflegten Wissenschaften wie Alchi-<br />

mie, Pharmazie, Toxikologie - orientalische Wissenschaften, die zu<br />

wesentlichen Teilen aus Persien, Indien und dem noch ferneren<br />

Osten kommen - so gut wie möglich integrierte, das chemisch-to-<br />

xikologische, laboratoriumstechnische Verständnis der Menstrua-<br />

tion genährt und den Giftcharakter des Menstrualbluts hervorgeho-<br />

ben haben. Der «Fasciculus Medicinae» des Johannes von Ketham, ein<br />

früher medizinischer Druck von 1491, antwortet auf die Frage,<br />

wieso der Blick der Menstruierenden den Spiegel trübe, die gifti-<br />

gen Menstruationsdämpfe stiegen eben in den Kopf und suchten da<br />

einen Ausgang. Deshalb auch verschlimmere sich das Kopfweh der<br />

Menstruierenden durch Tragen eines Schleiers. Dass diese Dämp-<br />

fe gerade durch die Augen entwichen, hänge mit deren Porosi-<br />

tät zusammen, heisst es weiter. Und es wird auf die Gefahr auf-<br />

merksam gemacht, die sich daraus ergibt, dass die Augen damit<br />

auch Eingangspforten für das von Menstruierenden Ausgestrahlte<br />

sind. Wieso sich die giftigen <strong>Frau</strong>en nicht selbst vergiften? fragt der<br />

Text auch - und antwortet: weil sie sich an das eigene Gift ge-<br />

wöhnt haben 93 .<br />

War die giftige <strong>Frau</strong> zu meiden, so war auch das Gift selbst zu<br />

fürchten. Der an sich alte Giftcharakter des Menstrualbluts tritt in<br />

der Renaissance vermehrt hervor. In der Renaissance - die wissen-<br />

schaftliche Renaissance fällt ins späte 1 . und 16. Jahrhundert - ak-<br />

zentuiert sich ganz allgemein das wissenschaftliche Interesse am<br />

Phänomen Gift. Das Bekanntwerden neuer Gifte aus der Neuen<br />

Welt mag dabei seine Rolle gespielt haben, die spektakulären Gift-<br />

affären an päpstlichen und weltlichen Höfen - Medici und Borgia -<br />

eine andere 94 . Zum allgemeineren Hintergrund des speziellen toxi-<br />

kologischen Interesses der Renaissance gehört wohl deren Anti-<br />

arabismus, der die Angst vor der orientalischen Giftkunde erhöhte<br />

und wohl zuweilen auf die gesamtenchemisch-pharmazeutischen<br />

Wissenschaften den Schatten der Giftmischerei war 9 . Ferner<br />

haben ja bekanntlich in der Renaissance, im Zusammenhang mit<br />

Religionswirren und Wertunsicherheiten, die Hexenverfolgungen<br />

ihren grossen Aufschwung genommen. Wie weit auch hier anti-<br />

7


arabistische Tendenzen hineinspielten, wäre abzuklären. Jedenfalls<br />

bestehen alte Beziehungen zwischen <strong>Frau</strong> und Giftmischerei; schon<br />

in der klassischen Antike war die Vergiftung ein klassisch weibli-<br />

ches Delikt. Von der Küche zum Hexenkessel haben die <strong>Frau</strong>en<br />

durch die Jahrhunderte von ihrer zum grossen Teil wohl durch die<br />

Tradition des <strong>Frau</strong>engeflüsters übermittelten Giftkunde Gebrauch<br />

gemacht, ihrem stummen Zorn Genüge zu tun. So fürchtete man in<br />

der Hexe nicht nur die böse Zauberin und Teufelshörige, sondern<br />

auch die Giftmischerin, um so mehr als Zaubern und Giftmischen<br />

bis ins 17. Jahrhundert hinein fliessend ineinander übergingen und<br />

über weite Strecken identisch waren. Wenn Hieronymus Cardanus<br />

(1 01-1 76) in seinen berühmten Büchern über die Gifte als Kenn-<br />

zeichen des Giftes die Unbekanntheit seiner Wirkungsweise an-<br />

gibt 96 , ist «Gift» und «Zauber» sozusagen zum Vornherein nicht dif-<br />

ferenziert. Cardanos Giftbegriff verschwimmt aber auch mit den<br />

Begriffen der Infektion und der rätselhaften akuten inneren Krank-<br />

heit bzw. der akuten endogenen Vergiftung - in unserem Zusam-<br />

menhang denkt man da an die altehrwürdige Selbstvergiftung an<br />

verhaltenem Menstrualblut. Zur Assoziation von <strong>Frau</strong> und Gift ge-<br />

hört natürlich ausser der Hexe auch die Sexualität. Ob es sich dabei<br />

um die männliche oder die weibliche Sexualität handelt, ist wohl<br />

nicht auszumachen; jedenfalls ist die Literatur, die ja bis vor kur-<br />

zem so gut wie gänzlich aus männlicher Feder stammte, voll der<br />

mannigfaltigsten Zusammenhänge zwischen <strong>Frau</strong>en, Hexen, Giften<br />

und sexueller Verführbarkeit der <strong>Frau</strong>, weiblicher Abhängigkeit<br />

von der eigenen Sexualität, sexuellen Enttäuschungen, Frustratio-<br />

nen, Rachegelüsten und weiblicher Beherrschung der sexuellen<br />

Materie samt Verführungskunst. Der böse Blick, der meist <strong>Frau</strong>en<br />

eigen ist 97 , gehört natürlich in diesen Zusammenhang.<br />

All dies gehört zum speziellen Hintergrund des speziellen In-<br />

teresses der Renaissance am Menstrualblut. Nach Paracelsus (Philip-<br />

pus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Para-<br />

celsus, 1493-1 41) ist das Menstrualblut der «stercus matricis wie der<br />

merda ist stercus stomachi» 98 - ein Unflat, «dem kein Gift auf Erden<br />

gleichen mag, schedlicher und strenger» 99 . Menstrualblut gehört zu<br />

den Ursachen von allerlei <strong>Krankheit</strong>en - der «Franzosen» 100 , der<br />

8


Lepra 101 und der Pest 102 , nach Laurentius († 1609) auch der Masern<br />

und der Pocken 103 . Der Arzt und Botaniker Petrus Andreas Matthio-<br />

lus (1 00-1 77) weiss, dass man vom Trinken von Menstrualblut,<br />

speziell demjenigen galliger und zänkischer <strong>Frau</strong>en, wahnsinnig<br />

werde. Viele böse und giftige Weiber («maleficae veneficaeque<br />

mulieres» haben dazu noch die dämonologische Dimension) ver-<br />

abreichen solches, von Kakodämonen verführt, ihren Gatten oder<br />

anderen Menschen, die sie hassen 104 . «Sanguis menstruus corrumpit<br />

sanguinem, et generat amorem heroicum», das Menstrualblut ver-<br />

dirbt das Blut und ruft die Liebeskrankheit hervor, schreibt Cardano<br />

in seinen Giftbüchern 10 . Damit stellt er die Beziehung des Men-<br />

strualbluts zum Liebestrank bzw. Liebeszauber (Philtrum) her. Das<br />

Philtrum, ein aktuelles Thema der medizinischen Literatur der Re-<br />

naissance, ist ein Gift oder Zauber, das Liebe herzustellen vermag,<br />

und zwar Liebe zu einer ganz bestimmten Person. So kann das<br />

Philtrum auch Ursache der unfreiwilligen «Liebeskrankheit» wer-<br />

den, die der Renaissance so wohlbekannt war 106 . Es pflegt aus sehr<br />

verschiedenen materiellen und magisch-dämonischen Dingen zu-<br />

sammengemischt zu sein; das Menstrualblut aber, so schreibt Birch-<br />

ler, «gehört zu den meist gebrauchten Liebestrank-Ingredien-<br />

zien» 107 . In seinem Aspekt als wesentlicher Bestandteil des Philtrums<br />

sieht man das Menstrualblut in geradezu paradigmatischer Weise<br />

das materielle Gift und den immateriellen Zauber in sich vereini-<br />

gen, wobei der Hexenzauber nahtlos in den Zauber der schönen<br />

<strong>Frau</strong> übergeht. Die Betrachtung der <strong>Frau</strong> als ein sozusagen physio-<br />

logischerweise innerlich vergiftetes, gifthaltiges, auf psychischer<br />

Ebene zänkisches, giftiges («die Giftspritze») Wesen erscheint in<br />

diesem Zusammenhang dann als die andere Seite der Medaille ihrer<br />

Liebenswürdigkeit.<br />

Im 17. und 18. Jahrhundert werden die alten humoralpathologi-<br />

schen und toxikologischen Ideen um das Menstrualblut vermehrt in<br />

chemisch-biochemische Deutungen gefasst. Die iatrochemischen<br />

Autoren des 17. Jahrhunderts lieben es, die Menstruation als Aus-<br />

druck fermentativer Vorgänge im Geblüt zu betrachten. Dabei<br />

wird einerseits der Anschluss an die humoralpathologische Tradi-<br />

tion hergestellt, andrerseits - fortschrittsgeschichtlich besehen - der<br />

9


60<br />

Nachklänge der alten Gift- und Säftelehre.<br />

Weg in Richtung des endokrinologischen Gedankens gewiesen.<br />

Heydentryk Overkamp (16 1-1693), Arzt in Amsterdam, nimmt an,<br />

dass fermentative Vorgänge in den Graafschen Follikeln (Regnier de<br />

Graaf, 1641-1673) dadurch, dass sie sich auf das gesamte Blut über-<br />

tragen, die Menstruation verursachten 108 . Gegen Ende des Jahrhun-<br />

derts datiert jene Idee vom menstruationserregenden Ferment in<br />

der Frucht vom Baum der Erkenntnis 109 . Nachdem durch Lavoisiers<br />

Forschungen (Antoine-Laurent Lavoisier, 1743-1794) der chemische<br />

Gedanke in der Medizin neu aktualisiert worden war, kam im frü-<br />

hen 19. Jahrhundert die Auffassung der Menstruation als Akt der<br />

Ausscheidung eines Übermasses an «Kohlenstoff» aus dem - wie-<br />

derum besonders bedrohten - weiblichen Organismus auf 110 .<br />

Aber auch die eigentliche Giftigkeit des Menstrualblutes hat fort-<br />

bestanden, und bis in unser Jahrhundert hinein. Man sprach jetzt<br />

von «Menotoxin». «Man darf wohl annehmen», schreibt Ludwig<br />

Fraenkel (1870-19 3) 1924, «dass es diese erwähnten Giftstoffe<br />

[Schwefel, Kalk usw.] sind, deren sich der Organismus entledigen<br />

muss ... Das mit dem Menstrualblut zur Ausscheidung gelangende<br />

Gift, als Menstruationsgift oder Menotoxin bezeichnet, soll... auch<br />

in ... sonstigen Ausscheidungen» vorhanden sein. «Neuerdings hat<br />

sich Schick mit dieser Angelegenheit beschäftigt und behauptet, dass<br />

kaum aufgeblühte Rosen, die eine menstruierende <strong>Frau</strong> zehn Minu-<br />

ten lang in der Hand ... hielt, nach einigen Stunden zugrunde<br />

gingen» 111 .


III. MENSTRUATION ALS FOLGE<br />

EINER ZIVILISATORISCHEN<br />

FEHLENTWICKLUNG -<br />

18. UND FRÜHES 19. JAHRHUNDERT<br />

Das 18. Jahrhundert hat entdeckt, dass die Menstruation Folge eines<br />

Zivilisationsschadens sei. Mit Rousseau (Jean-Jacques Rousseau, 1712-<br />

1778) hat das 18. Jahrhundert, sozusagen als Ausgleich für seinen<br />

Vernunftglauben und Zivilisationsoptimismus, einen gewissen Zi-<br />

vilisationspessimismus gepflegt und in diesem Zusammenhang sich<br />

darauf geeinigt, dass die Menschheit einen wesentlichen Teil ihrer<br />

Leiden ihrer Entfernung von der Natur (daher «zurück zur Na-<br />

61


tur!») verdanke. Die Menstruation war in diesem Sinne Folge des<br />

allzu-üppigen Lebensstils - zu vieles Herumsitzen, zu vieles Essen,<br />

was vor allem von <strong>Frau</strong>en nicht durch harte körperliche Arbeit<br />

und Ertüchtigung kompensiert wurde - ferner Folge einer allzu<br />

strengen, unliberalen Sexualerziehung, die wiederum speziell den<br />

<strong>Frau</strong>en zu Schaden gereichte.<br />

So schreibt Samuel Schaarschmidt (1709-1747), es sei «die Vollblü-<br />

tigkeit bey dem weiblichen Geschlechte die Ursach ihrer monatli-<br />

chen Reinigung». Eine Vollblütigkeit aber «erfolget, wenn man<br />

mehrere Nahrungs-Mittel zu sich nimmt, als ... nöthig; und wenn<br />

man dabey weniger Bewegung hat, als zu Verzehrung des Uber-<br />

flüssigen nöthig ist ... Bey Menschen macht die Lüsternheit, und<br />

die Kunstgriffe, so man bey Bereitung derer Speisen zu Reitzung<br />

des Appetits anwendet, ... dass sie insgemein mehr essen, als der<br />

wahre natürliche Hunger erfordert; und die Gemächlichkeit ...<br />

verhindert, dass ... <strong>Frau</strong>enzimmer sich ... genugsame Bewegung<br />

machen; daher es denn auch kommt, dass bey denen wenigsten ...<br />

die natürlichen Auswürffe so von statten gehen, als sie billig solten.<br />

Keinen dieser Umstände wird man bey denen Thieren gewahr ...<br />

so können sie ja auch nicht vollblütig werden» - deshalb men-<br />

struieren sie nicht 112 . Die Idee, die sexuelle Zurückhaltung, die vor<br />

allem der <strong>Frau</strong> durch die Gesellschaft auferlegt werde, sei die ei-<br />

gentliche Ursache der Menstruation, kommt im Ausspruch eines<br />

gewissen Heinrich Nudow (geb. 17 2) von 1791 zum Ausdruck, wel-<br />

cher sagt: «Im wahren Ideal des Weibes findet kein Monatsfluss<br />

statt» 113 , und in Lorenz Okens (1779-18 1) Erklärung, die Periode<br />

komme zustande infolge der «fortdauernden Aussetzung der Emp-<br />

fängniss». «Sie, ... Product der Eingeschränktheit des Geschlechts-<br />

triebes, erbte sich von der Mutter zur Tochter fort, da auch dieser<br />

der Geschlechtsgenuss versagt, und meistens jahrelang versagt<br />

wurde, ungeachtet die Natur des zur vollständigen Ausbildung ge-<br />

diehenen Weibes es forderte. ... Die ersten Generationen des<br />

weiblichen Geschlechts waren sicher von diesem Blutflusse befreit<br />

...» 114 .<br />

Die Wurzeln der aufklärerischen Auffassungen der Menstruation<br />

als Ausdruck eines Zivilisationsschadens sind zum Teil alt. Schon<br />

62


Soran diskutierte das zu viele Essen und zuwenig Arbeiten der<br />

<strong>Frau</strong>en als Ursache der Menstruation 11 . Dass die Menstruation die<br />

Folge des aufrechten Ganges sei, war eine Idee schon der sogenann-<br />

ten Iatrophysiker des 17. Jahrhunderts, welche Lebens- und Krank-<br />

heitsphänomene mechanisch-physikalisch zu deuten liebten, in<br />

demselben Zug der naturwissenschaftlichen Begründung der medi-<br />

zinischen Wissenschaften, der auch die sogenannte Iatrochemie je-<br />

ner Zeit hervorrief. Die Iatrophysiker leiteten die Menstruation<br />

bald von einer Feuchtigkeitsretention im weiblichen Organismus<br />

infolge der besonders dicken Haut der <strong>Frau</strong> her, bald von erhöhtem<br />

Druck in den Uterusgefässen infolge von deren speziellem Bau und<br />

einer Blutüberfülle (die Plethora ist ein altes pathogenes Prinzip<br />

der Säftelehre), bald eben von einem übermässigen Druck der<br />

Blutsäule auf die Unterleibsorgane infolge des aufrechten Ganges,<br />

Druck, der speziell die schwachen weiblichen Gefässe zum Bersten<br />

bringe 116 .<br />

Ein Novum des 18. Jahrhunderts scheint indessen die Idee von<br />

der durch fehlerhafte Erziehung unterdrückten weiblichen Sexuali-<br />

tät zu sein. Dies hängt mit der aufklärerischen Hochblüte des li-<br />

beralen Gedankens zusammen, die sich auch in einem ausgespro-<br />

chenen, wenn auch noch nicht in breiterem Masse praktizierbaren<br />

sexuellen Liberalismus äusserte. In dieser Sicht ist der sexuelle Ver-<br />

kehr ein Tauschgeschäft zum Vorteil beider und hat die Behin-<br />

derung der <strong>Frau</strong> an der Realisierung ihrer Wünsche den Charakter<br />

einer Behinderung der freien Wirtschaft und damit des Vergehens<br />

gegen das höhere Wohl der Gesellschaft.<br />

IV. MENSTRUATION ALS ÄQUIVALENT<br />

VERBRECHERISCHER TATEN -<br />

DIE FORENSISCHE PSYCHIATRIE<br />

DES FRÜHEREN 19. JAHRHUNDERTS<br />

Auch im Bereich der Rechtspflege zeichnet sich im späteren 18.<br />

und frühen 19. Jahrhundert eine Liberalisierung ab. Namentlich<br />

auch <strong>Frau</strong>en gegenüber wird das mildere Urteil gepflegt, zum Teil<br />

63


mit forensisch-medizinischen Argumenten. Der Kindermord spielt<br />

bei der Entwicklung dieser Milde eine kristallisationskernartige<br />

Rolle. Bevölkerungspolitische und humanitäre Überlegungen stüt-<br />

zen sie. Es wird argumentiert, die weiblichen Schwächen - phy-<br />

sisch wie psychisch - seien die Voraussetzung dafür, dass die <strong>Frau</strong><br />

ihre gesellschaftliche Rolle als Gattin und Mutter erfüllen könne,<br />

und wenn eine <strong>Frau</strong> infolge dieser Schwächen straffällig werde, sei<br />

das Urteil deshalb fairerweise zu mildern. Diesem Gedankengang<br />

lag ganz allgemein die aufklärerische Assoziation von Gesundheit,<br />

Kraft und Tugend beziehungsweise Bosheit als Ausdruck eines Lei-<br />

dens zugrunde. In diesem Zusammenhang begann nun auch die<br />

Menstruation forensisch neu zu interessieren. Bis dahin war sie in<br />

der Gerichtsmedizin höchstens als Entschuldigungsgrund im Bezug<br />

auf die eheliche Pflicht und allenfalls auf die Folter vorgekommen.<br />

Jetzt wurde sie als Leiden im Dienst von Familie und Vaterland zur<br />

Basis gewisser Privilegien.<br />

Bei dem Pionier der französischen Gerichtsmedizin und -psych-<br />

iatrie, Francois Emmanuel Fodéré (1764-183 ) figuriert sie im Jahr 7<br />

der Französischen Revolution erst als Hafterleichterungsgrund 117 . In<br />

der romantischen Frühzeit der deutschen Gerichtspsychiatrie aber<br />

tritt sie in Zusammenhang mit den Wurzeln gewisser Delikte und<br />

gewinnt damit die Züge einer naturalistischen Entschuldigung kri-<br />

mineller Taten.<br />

Zunächst allerdings ist es vor allem die pubertäre Umwälzung,<br />

die berücksichtigt wird. Das Einsetzen der Menstruation in der Pu-<br />

bertät ist nur eines der Zeichen dieser kritischen Zeit - ein anderes<br />

ist das Auftreten des Sexualtriebes. Die leisesten Störungen können<br />

in den Entwicklungsjahren zu den merkwürdigsten Triebentglei-<br />

sungen führen, namentlich kann eine gestörte Menstruation einen<br />

Trieb zum Brandstiften mit sich bringen. Dies beschäftigte die Au-<br />

toren - speziell die deutschsprachigen - des früheren 19. Jahrhun-<br />

derts stark. Tatsächlich scheint die Brandstiftung durch junge Mäd-<br />

chen in jener Zeit speziell in den deutschen Landen ein erhebliches<br />

soziales, juristisches und psychologisches Problem gewesen zu sein,<br />

um so mehr als die Brandstiftung damals zu den am härtesten ge-<br />

64


ahndeten Delikten - Todesstrafe - gehörte 118 . Andrerseits scheint<br />

das seinerzeitige Interesse an der Pubertät auch vom romantischen<br />

Interesse an der Metamorphose sich genährt zu haben.<br />

Ernst Plattier (1744-1818), der Schöpfer des in der Praxis, Theorie<br />

und Geschichte der forensischen Psychiatrie so wichtig gewesenen<br />

Begriffs der «amentia occulta», des «versteckten Wahnsinns»<br />

(1797), gibt im zweiten seiner beiden berühmt gewordenen Artikel<br />

über diesen Gegenstand die Geschichte einer Brandstifterin wieder:<br />

«Ein Mädchen auf dem Lande, noch nicht völlig 17 Jahr alt, legt<br />

zweimal in dem Gehöfte ihres Dienstherrn Feuer an ... Dabei war<br />

sie so begierig auf das Feuer, dass sie, als dasselbe allmälich zum<br />

Ausbruche kam ... in eine Art von angenehmer Erwartung gerieth<br />

...» Dieses Mädchen hatte keinerlei Zwist gehabt mit ihrem Dienst-<br />

herrn noch irgendein «deutliches Zeichen von Wahnsinn verrathen<br />

... Aber ihr körperliches Übelbefinden war ausser allem Zweifel»,<br />

denn sie litt an epileptischen Krämpfen, «und von den Anfällen<br />

dieser <strong>Krankheit</strong> wurde sie dann um so heftiger heimgesucht, wenn<br />

sie in die Zeit fielen, wo ihre Regeln bevorstanden. Denn dieses<br />

Ankämpfen zweier sich entgegengesetzter Anstrengungen quälte<br />

und peinigte das Mädchen auf bewundernswürdige Weise; dies<br />

war ihr gerade wenige Tage vor dem Anlegen des Feuers begeg-<br />

net.» Die medizinische Fakultät zu Leipzig nahm Zusammenhänge<br />

an zwischen der Tat dieses Mädchens und ihren Krampfleiden und<br />

Menstruationsverhältnissen und befand, «es stehe ... nicht ... zu be-<br />

haupten, dass die Inquisitin, ihrer körperlichen Beschaffenheit<br />

nach, zu den Zeiten, als sie Feuer angelegt, den freien Gebrauch ih-<br />

res Verstandes gehabt habe» 119 .<br />

Friedrich Benjamin Osiander (17 9-1822) hat die Brandstiftungsten-<br />

denz junger Mädchen mit deren hämatologischer Situation in eng-<br />

ste Beziehung gebracht. Junge Mädchen sind von einer übermässi-<br />

gen «Venosität» beherrscht. «In dieser Venosität ist ... eine beson-<br />

dere ... Eigenschaft der Seele in den Entwickelungsjahren des<br />

weiblichen Geschlechts begründet, nemlich die Feuerlust, oder der<br />

Hang Feuer anzulegen 120 ... Wahrscheinlich liegt diese Feuerlust,<br />

diese ausserordentliche Lichtgier in der Entweichung des arteriösen<br />

Blutes an einer, und Anhäufung des venösen Blutes an einer andern<br />

6


Stelle, besonders in der Gegend der Augennerven; denn gerade als-<br />

dann, wenn bey der Pubertätsentwickelung das Blut überhaupt<br />

dunkler, mit Kohlenstoff übersättigter ist, wie vor jeder Menstrua-<br />

tion 121 , und die Anhäufung des venösen Blutes im Gehirn grösser<br />

ist, ... äussert sich die Begierde nach Feuer, das ist, nach dem Licht-<br />

reitz der irritabilitätsarmen Sehwerkzeuge» 122 . Die Brandstiftung er-<br />

scheint hier also als Äquivalent der Menstruation, wie diese einge-<br />

setzt zur Kompensation eines physischen Ungleichgewichts - analog<br />

dem säftepathologischen Abtropfen. Adolph Henke (177 -1843), der<br />

noch vor Osiander ein Werk «über die Entwicklungen und Entwick-<br />

lungs-<strong>Krankheit</strong>en» publiziert hatte, sollte dann zum Schöpfer eines<br />

eigentlichen Brandstiftungstriebes junger Leute, namentlich aber<br />

doch junger Mädchen, werden. Denn das Weib, so schreibt er schon<br />

in dem erwähnten Werk von 1814, werde von den Vorgängen der<br />

Pubertät ungleich mehr betroffen als der Mann, da bei ihm die<br />

Geschlechtssphäre «die ganze Organisation und das innerste Le-<br />

ben beherrscht». Die «pathogenische Wirkung» dieses Entwick-<br />

lungsprozesses ist daher enorm. «Daraus erklärt sich der ziemlich<br />

allgemein verbreitete Glaube, von dem selbst manche Ärzte sich<br />

nicht frei machen können, dass die Entwicklung der Pubertät eine<br />

nothwendige <strong>Krankheit</strong> sey, wie man die Menstruation überhaupt<br />

eine gesundheitsgemässe <strong>Krankheit</strong> des weiblichen Geschlechts ge-<br />

nannt hat» 123 . Die Pubertät ist eine Zeit äusserster Empfindlichkeit<br />

und <strong>Krankheit</strong>sanfälligkeit, speziell vor der ersten Regel und ganz<br />

besonders bei den geringsten Unregelmässigkeiten derselben. Na-<br />

mentlich treten in dieser Entwicklungsphase «molimina menstrua-<br />

tionis», Chlorosis oder Bleichsucht und «Affektionen des Nerven-<br />

systemes» in Form von Krämpfen oder psychischen Bildern auf 24 .<br />

1817 aber publiziert Henke, unter Bezugnahme auf Platner und<br />

Osianders frühe Andeutungen, «über Geisteszerrüttung und Hang<br />

zur Brandstiftung als Wirkung unregelmässiger Entwickelung<br />

beim Eintritte der Mannbarkeit» 12 ; 1818, nach Osianders expliziten<br />

Ausführungen, nochmals ähnlich 126 . Damit wird er zum offiziellen<br />

Stifter der aufsehenerregenden und kontroversen Lehre vom sozu-<br />

sagen physiologischen Brandstiftungstrieb der Jugendlichen 127 .<br />

Johannes Baptist Friedreich (1796-1862) nimmt die Ideen seiner<br />

66


Vorläufer in sein massgebendes «Handbuch der gerichtlichen Psy-<br />

chologie» von 183 auf und bringt sie vollends in ein romantisches<br />

Gefüge. Bei ihm ist der Brandstiftungstrieb der jungen Mädchen<br />

die ziemlich natürliche Folge der durch die eintretende Menstrua-<br />

tion noch nicht kompensierten weiblichen Venosität, die nach Ar-<br />

teriellem, Hellem, Heissem, Feurigem sich sehnt und die, wenn<br />

diese körperlich-geistige Sehnsucht nicht durch einen Mann gestillt<br />

wird, in Brandstiftung münden kann. Begierde nach Licht und an-<br />

haltendes, trübsinniges, starres Ins-Feuer-Blicken sind daher cha-<br />

rakteristische Zeichen einer pubertären Störung. Friedreich ver-<br />

gleicht den Feuerhunger junger Mädchen mit den Gelüsten der<br />

Schwangeren - auch diese stehen im umfassenden Zusammenhang<br />

mit einem psychophysischen Zustand, der letztlich der Fortpflan-<br />

zung dient, auch Diebstähle Schwangerer sind daher allenfalls von<br />

Strafe zu befreien 128 .<br />

Nicht nur Brandstiftung konnte aber auf Grund der Menstrua-<br />

tionsverhältnisse entschuldigt werden. Auch Mord - «auffallend<br />

häufig ... Mord an den eigenen Kindern» - Selbstmord und Dieb-<br />

stahl konnten menstruell bedingt sein. Krafft-Ebing hat die entspre-<br />

chende Kasuistik - zu einem guten Teil aus der französischen Li-<br />

teratur, nebst eigenen Beobachtungen - sorgfältig zusammen-<br />

gestellt 129 . Nicht nur die ein- oder aussetzende Menstruation kam<br />

dabei als Entschuldigungsgrund in Frage, sondern auch die ganz re-<br />

guläre Periode, namentlich als Faktor, der ein bestehendes Gemüts-<br />

leiden so verstärkte, dass es in ein Verbrechen mündete 130 . Doch<br />

scheint sich der Kreis der im Zusammenhang mit der Menstruation<br />

als anormal anerkannten Leiden im Lauf des 19. Jahrhunderts stetig<br />

erweitert zu haben - in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sollte<br />

auch die normale Menstruation weitherum als Leidenszustand gel-<br />

ten. «Jeder Menstruationsprocess ist», so schreibt schon 1812 Franz<br />

Carl Naegele (1778-18 1), die Brücke von der pubertären Entwick-<br />

lungskrankheit zur Regel schlagend, «als eine neue Entwicklungs-<br />

periode anzusehen, die aber, wie andere Entwicklungen, z. B. das<br />

Zahnen, der Eintritt der Pubertät, von mannigfaltigen krankhaften<br />

Gefühlen und Erscheinungen häufig begleitet wird» 131 .<br />

67


68<br />

V. MENSTRUATION ALS ZEICHEN<br />

DER VERFEHLTEN BESTIMMUNG -<br />

DIE SEXUAL- UND FORTPFLANZUNGSETHIK<br />

DES 19. JAHRHUNDERTS<br />

Wenn im späteren 18. Jahrhundert unter anderem bevölkerungspo-<br />

litische Überlegungen hinter der Einstufung der Menstruation als<br />

widernatürlicher Vorgang standen, schwingt da wohl wiederum<br />

die Auffassung der Menstruation als Verschüttung von Material,<br />

welches eigentlich der Fortpflanzung zu dienen hätte, mit: Men-<br />

struation als ein Analog zum Abort - eine Assoziation, die durch<br />

die Beobachtung, dass Schwangere nicht menstruieren, natürlich<br />

genährt wird. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts tritt die Beziehung<br />

der Menstruation zur Fortpflanzung noch weiter hervor. Mehr und<br />

mehr einigten sich nämlich die Gelehrten, dass das mittlerweile<br />

entdeckte 132 weibliche Ei sich allmonatlich zur Zeit der Menstrua-<br />

tion vom Ovar löse 133 . Die aristotelische Tradition, die im Men-<br />

strualblut den eigentlichen Zeugungsbeitrag der <strong>Frau</strong> gesehen<br />

hatte, mag in diese Auffassung hineingespielt haben. Offiziell aller-<br />

dings hat die aristotelische Sicht der Menstruation seit dem 17. Jahr-<br />

hundert, welches ein weibliches Ei postulierte und dem 18. Jahr-<br />

hundert, welches einen dem männlichen ebenbürtigen Zeugungs-<br />

beitrag annahm, kaum mehr gegolten. Aber Ideen sterben ja nicht,<br />

weil sie offiziell nicht mehr gelten. Eher pflegen sie sich abzukap-<br />

seln, oft sich in dem, was man mit kluger Ungenauigkeit als Volks-<br />

seele bezeichnet, einzunisten und da sozusagen als Sporen, immer<br />

zu neuem Aufkeimen in der Welt der Wissenschaft bereit, fortzule-<br />

ben. Mit der Lehre, dass Eisprung und Menstruation gleichzeitige,<br />

zusammenhängende Ereignisse seien, war auch die klassische Auf-<br />

fassung, das Konzeptionsoptimum liege in der Zeit der Menstrua-<br />

tion, neu rationalisiert. Dieser Auffassung mögen viehzüchterische<br />

Erfahrungen Pate gestanden haben, sie wird aber von Hippokrates 134<br />

über Franz Carl Naegele 13 und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein<br />

auch von der humanmedizinischen Wissenschaft vertreten.<br />

Im Licht der Lehre vom zeitlichen Zusammenfallen und ursächli-<br />

chen Zusammenhang von Eisprung und Menstruation nun intensi-


vierte sich der Aspekt der Menstruation als Brunst und nichtausge-<br />

lebte Schwangerschaft. So schrieb Robert Remak (181 -186 ), einer<br />

der hervorragendsten Mikroskopiker seiner Zeit, der sich 1847 an<br />

der Universität Berlin habilitierte, und so der erste jüdische Privat-<br />

dozent in Preussen wurde, 1839 eine Arbeit (publiziert erst 1843)<br />

«Über Menstruation und Brunst». Bemerkenswerterweise erscheint<br />

die Menstruation in dieser Publikation wiederum, wie schon um<br />

die Wende zum 19. Jahrhundert, als Ausfluss einer pathologischen<br />

weiblichen Sexualität. Nur ist es diesmal nicht die unterdrückte,<br />

sondern die überreizte Sexualität, die da pathogen ist. Remaks Ar-<br />

beit ist unter dem Titel «Die abnorme Natur des Menstrualblutflus-<br />

ses erläutert» offenbar auch separat gedruckt erschienen 136 . «Der<br />

Menstrualblutfluss wird hier aus der Physiologie vor das Forum der<br />

Pathologie verwiesen», heisst es da. Die physiologische Menstrua-<br />

tion geht ohne Blutung vonstatten. Eine begleitende Blutung ist<br />

pathologisch, bedingt durch die sexuelle Freiheit im Intermen-<br />

struum, also ausserhalb der eigentlichen Brunstzeit - «spontane Be-<br />

gierde bei <strong>Frau</strong>en ist wohl immer ein krankhaftes Zeichen». Sie<br />

lässt sich verhindern durch «Leibesübungen, passende geistige Be-<br />

schäftigung und Vermeidung aller psychischen und somatischen<br />

geschlechtlichen Aufregungen» 137 .<br />

Den Aspekt der Menstruation als nichtausgelebte Schwanger-<br />

schaft hebt demgegenüber Virchow, der Schöpfer der Zellularpa-<br />

thologie und spätere Papst der Medizin seiner Zeit 1848 hervor.<br />

«Seitdem die Physiologen sich dahin geeinigt haben, dass jede<br />

Menstruation mit der Loslösung einer Eizelle und dem Übergehen<br />

derselben in die Geschlechtswege verbunden ist, musste natürlich<br />

der absolute Unterschied zwischen Schwangerschaft und Men-<br />

struation fortfallen», schreibt Virchow. «Die Menstruation ist eine<br />

Schwangerschaft im kleinsten Maassstabe ...» Dass eine Schwan-<br />

gerschaft im grösseren Massstabe aber das Gesundere gewesen<br />

wäre, deutet sich im pathologisch-anatomischen Befund an, den<br />

Virchow erhebt: «eine leicht verdickte, succulente, hyperämische<br />

Schleimhaut, vermehrte Absonderung von Schleim (...) und Epi-<br />

thelialzellen mit Beimischung von Blut, so wird jeder pathologi-<br />

sche Anatom, dem man nicht vorher von Menstruation geredet<br />

69


hat, einen acuten Katarrh von grosser Intensität diagnosticiren» 138 .<br />

Eduard Pflüger (1829-1910), auf dessen Lehre von der Menstruation<br />

wir noch zu sprechen kommen werden, nennt die Menstruation<br />

186 eine «brünstige Congestion nach den Genitalien» und «Inocu-<br />

lationsschnitt der Natur zur Aufimpfung des befruchteten Eies auf<br />

den mütterlichen Organismus» und schreibt: «Man hat sich gleich-<br />

sam gewöhnt, die Nichtbefruchtung des reifen menschlichen Eies,<br />

und sein Zugrundegehen als eine berechtigte Erscheinung zu be-<br />

trachten. Wenn wir aber im Sinne der Natur denken, müssen wir<br />

annehmen, dass die Eier, welche zur Reife gediehen, auch zur Ent-<br />

wicklung bestimmt sind ...» 139 «Alles ist für die Konzeption bereit»,<br />

schreibt der englische Gynäkologe Robert Barnes (1817-1907) 1873<br />

über den Zeitpunkt der Menstruation. «Tritt das männliche Ele-<br />

ment hinzu, dann findet es ein für die Befruchtung reifes Ovulum.<br />

Tritt dieses Prinzip aber nicht hinzu, dann welkt das Ei hin und die<br />

Organe treten in Ruhe. Dieser Zyklus ist der Schwangerschaft sehr<br />

ähnlich. Die Menstruation kann ohne Übertreibung einem Abortus<br />

verglichen werden. Sie ist eine verfehlte oder enttäuschte Schwan-<br />

gerschaft» 140 . Und Wilhelm Loewenthal (18 0-1894) fasst es 1884 in<br />

«Eine neue Deutung des Menstruationsprocesses» zusammen: «Ge-<br />

nau genommen ist also die weder schwangere noch stillende und<br />

deshalb menstruirende geschlechtsreife <strong>Frau</strong> nicht das ... Normale,<br />

sondern nur eine durch unsere ... Verhältnisse ... alltäglich gewor-<br />

dene Erscheinung, deren grosse Verbreitung den der Blutung als<br />

solcher anhaftenden pathologischen Charakter wohl zu verdecken,<br />

aber nicht aufzuheben vermag». Die Menstrualblutung ist für ihn<br />

unphysiologisch, eine «Folge ... des Absterbens des menschlichen<br />

Eies, - so hat sie alle Eigenschaften und Wirkungen anderer und<br />

stets pathologischer Blutungen» 141 .<br />

Diese Auffassungen blieben nicht unwidersprochen. Ein Robert<br />

Möricke (18 1-1900) kritisierte sie 1880 methodologisch. Für ihn<br />

sind Virchows Befunde einfach Artefakte. «Jeden Unbefangenen<br />

musste von Anfang an die Ansicht, dass während der Menstruation<br />

die Uterusschleimhaut ... zu Grunde gehe und sich nachher allmäh-<br />

lich wieder aufbaue, mit ... Zweifeln erfüllen. Die Menstruation<br />

ist, wie Niemand läugnet, ein physiologischer Vorgang, sie würde<br />

70


ja, wenn sich solche degenerative Processe abspielten, einen ganz<br />

pathologischen Charakter bekommen. ... Der Grund, warum die<br />

früheren Untersucher zu solch eigenthümlichen Resultaten gekom-<br />

men sind, liegt eben einfach darin, dass sie ihre Präparate nie ganz<br />

frisch untersuchen konnten, die Veränderungen, welche sie sahen<br />

..., waren ... einfache Leichenerscheinungen» 142 . A. E. Feoktistow aus<br />

Petersburg hingegen kritisiert spezifisch die Implikationen der<br />

Abort-Lehre: Es liesse sich daraus, schreibt er, «folgende praktische<br />

Nutzanwendung deduciren: Jungfrauen, so jung oder so alt sie sein<br />

mögen, wenn sie nur menstruiren, hätten in der Ehe oder in einer<br />

anderweitigen Form geschlechtlichen Umganges das Heilmittel ge-<br />

gen die <strong>Krankheit</strong>, an der sie laboriren, also gegen die Menstrua-<br />

tion zu suchen.» Und ferner: «Es darf nicht unerwähnt bleiben,<br />

dass schon vor Löwenthal A. King (American Journal of Obstet-<br />

rics, August 187 ) dieselbe Idee vertheidigte, indem er sagte, die<br />

Menstruation sei nichts anderes als eine pathologische Blutung, ab-<br />

hängig von der Nichtbefriedigung normaler geschlechtlicher Be-<br />

dürfnisse, und dass die <strong>Frau</strong> normaliter nie aus dem Zustande der<br />

Schwangerschaft, der Nachgeburtsperiode und der Lactation kom-<br />

men dürfe. - Ein angenehmer Zeitvertreib!» 143 Zwischen Loewen-<br />

thal und Feoktistow entspann sich eine damit eingeleitete zeittypische<br />

kleine Kontroverse 144 , im Laufe derer Feoktistow seinem Partner<br />

nochmals die Ehre absprach, die Menstruationsblutung als erster als<br />

pathologische Blutung bezeichnet zu haben. «Leider ist Loewenthal<br />

mit der Arbeit King’s nicht bekannt ... Aber auch frühere Autoren<br />

vertreten dieselbe Meinung. Einer der frühesten war Robert Remak<br />

und die von ihm citirten Roussel und Oken» 145 .<br />

Diese explizite Kontroverse um die Krankhaftigkeit der Men-<br />

struation bzw. der sich nicht fortpflanzenden <strong>Frau</strong> muss auf dem<br />

Hintergrund der grossen Kontroverse um die Antikonzeption gese-<br />

hen werden, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stark<br />

bewegte 146 , ähnlich den Kontroversen, die 1977 in der Schweiz der<br />

Abstimmung über die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs<br />

vorangingen 147 . Die Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit der Anti-<br />

konzeption beziehungsweise der von der Willkür des Menschen,<br />

namentlich der <strong>Frau</strong> abhängigen menschlichen Vermehrung wurde<br />

71


damals unter Freisetzung grosser Emotionen diskutiert. Ängste vor<br />

Gleichgewichtsstörungen der Bevölkerung, aber auch um die gel-<br />

tenden Werte samt sozialer Ordnung, namentlich auch Angst vor<br />

unkontrollierbaren Entwicklungen auf dem Gebiet der <strong>Frau</strong>en-<br />

emanzipation standen hinter jenen Auseinandersetzungen. Auf<br />

diesem Hintergrund besehen war die Frage um Krankhaftigkeit<br />

oder Nicht-Krankhaftigkeit der Menstruation eine medizinische<br />

Form der Frage nach der Bestimmung der <strong>Frau</strong> beziehungsweise<br />

nach der Legitimität der Bestrebung beider Geschlechter, die<br />

Fortpflanzung in die eigenen Hände zu nehmen und selbst zu ge-<br />

stalten - und damit auch sexuell selbstverantwortlich zu werden.<br />

Die Auffassung der Menstruation als krankhaft brachte diese, so<br />

besehen, wiederum in die Nähe des Sündenmals. Zeichen der<br />

Sünde nicht gegenüber Gott, aber gegenüber der Natur, die die<br />

<strong>Frau</strong> zur bedingungslosen Fortpflanzung bestimmt hat und gegen-<br />

über einer Gesellschaft, die von ihr die Erfüllung dieser Bestim-<br />

mung erwartet. «Denn das Wesen des Weibes wird nur dann voll-<br />

endet», schreibt Adolph Henke 1814, «seine Bestimmung, sein Beruf<br />

nur dann erfüllt, wenn es Gattin und Mutter wird» 148 .<br />

72<br />

VI. MENSTRUATION ALS ZEICHEN<br />

EINER NERVÖSEN SCHWÄCHE -<br />

SPÄTERES 19. UND FRÜHERES<br />

20. JAHRHUNDERT<br />

Noch in einem anderen Zusammenhang erschien die Menstruation<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein pathologischer oder<br />

doch abnormer Zustand. Es ergab sich dies aus den Vorstellungen,<br />

die man sich über die Abhängigkeit der Menstruation von der<br />

Ovulation machte. Man hielt sich dabei im allgemeinen an das<br />

von dem obgenannten Physiologen Eduard Pflüger entworfene<br />

Konzept. Pflüger lehnt die vor ihm geläufige These ab, dass «die<br />

emissio ovuli ... die eigentliche directe Ursache der Menstruation<br />

sei, deren regelmässige Periodicität heute noch ebenso unerklärt ist,<br />

wie die gleiche der Eilösung. Das harmonische rhythmische Zusam-


menwirken ... sonst getrennter Organe weist auf eine Intervention<br />

des Nervensystemes hin.» Pflüger geht von der Reflexlehre aus.<br />

Sehr schwache Reize vermögen, wenn sie nur kurz dauern, die ih-<br />

nen entsprechende motorische Reflexaktion oft nicht auszulösen.<br />

Wenn sie aber anhalten, können sie sich summieren und so zu<br />

periodischen Entladungen führen. Pflüger erinnert hier an das seiner<br />

Zeit geläufige Konzept von der Reflexepilepsie mit periodischer<br />

Entladung. «Periodische Krämpfe nach schwachen aber dauernden<br />

Anlässen, die nicht die epileptische Form anzunehmen brauchen,<br />

sind keine seltnen Erfahrungen im Gebiete der Pathologie. Dieses<br />

Reflexprincip enthält, scheint mir, den Schlüssel zur Erklärung der<br />

rhythmischen Action der weiblichen Genitalien.» Das fortwäh-<br />

rende Wachstum von Zellen im Eierstock führt zu einer sehr<br />

schwachen aber kontinuierlichen Reizung der «Ovarialnerven»,<br />

diese summiert sich im «menstrualen Reflexcentrum des Rücken-<br />

markes» und wenn ein kritischer Wert erreicht ist, «erfolgt der<br />

reflectorische Ausschlag als gewaltige Blutcongestion nach den Ge-<br />

nitalien», die sowohl den Eisprung als auch die menstruale Blutung<br />

«Sitzbad. Da sich im Becken die wichtigsten Vorgänge abspielen, ist auch die Beeinflus-<br />

sung des unteren Rumpfes durch Wasser von grösster Bedeutung. Das sogenannte Sitzbad<br />

... ist daher eine viel gebräuchliche Badeform geworden.»<br />

73


auslöst. Die Molimina menstrualia, das regelmässige Unwohlbefin-<br />

den, sind ein anderer Effekt des nervösen Ausnahmezustandes wäh-<br />

rend der Menstruation 149 .<br />

Mit dieser Lehre nimmt Pflüger die Tendenz seiner Zeit auf, die<br />

Menstruation als Phänomen aus dem Umkreis der Hysterie und der<br />

Nervosität zu betrachten 1 0 - in deren Ätiologie ja Genitalorgane<br />

und Nervensystem ebenfalls in mannigfaltiger Weise verquickt<br />

sind - und verschafft dieser Tendenz ein plausibles neurophysiolo-<br />

gisches Rationale. Damit wurde er zur massgebenden Autoriät in<br />

Menstruationssachen und das Nervensystem zum zentralen Träger<br />

des Menstruationsprozesses bis zum Aufkommen der Hormone.<br />

Die Menstruation aber war nun klarer Ausdruck einer chronischen<br />

Reizung des Nervensystems und ein Analog reflexepileptischer und<br />

anderer pathologischer Krampferscheinungen.<br />

Die Reflexepilepsie aber war im 19. Jahrhundert ein wohlbe-<br />

kanntes Modell der Neurosen und Psychosen, die man ja damals<br />

gerne auf Funktionsstörungen in Organen zurückführte 1 1 . Reflex-<br />

neurotische Mechanismen wurden vielfach für die zahlreichen<br />

Symptome der Neurasthenie und für die zahllosen Symptome der<br />

Hysterie verantwortlich gemacht. In beiden Fällen wurde das ge-<br />

«Sitzbad mit nachfolgendem Bauch- und Kreuzguss. Nach einem warmen Sitzbad wir-<br />

ken diese Güsse ... sehr kräftigend.»<br />

74


gebene Leiden dann auf ein Zusammentreffen einer übermässigen<br />

allgemeinen Reizbarkeit des Nervensystems mit speziellen, von be-<br />

stimmten Organen ausgehenden Reizen zurückgeführt. Im Falle<br />

der Hysterie war es, sofern sie als Reflexneurose interpretiert<br />

wurde, die notorische Schwäche und Reizbarkeit des weiblichen<br />

Nervensystems, die zur Hysterie disponierte und irgendein vom<br />

Genitalsystem, namentlich den Ovarien, ausgehender spezieller<br />

Reiz, was die Attacken auslöste. Die Idee, die Hysterie der <strong>Frau</strong><br />

durch Ovarektomie zu behandeln, lag damit nahe 1 2 . Auch vom ge-<br />

sunden Ovar gingen hysterogene Reize aus. Wie ja auch das ge-<br />

sunde, d. h. das weibliche Nervensystem an sich zu Hysterie dispo-<br />

nierte, da es natürlicherweise zarter, schwächer und weniger robust<br />

gebaut war als das männliche - auch dies ein an sich unliebsamer,<br />

die <strong>Frau</strong> ständig gefährdender Umstand, der aber im Hinblick auf<br />

die Bestimmung der <strong>Frau</strong> als Gattin und Mutter wünschenswert<br />

und normal erschien.<br />

So besehen erscheint nun die Menstruation als ein der hysteri-<br />

schen Attacke analoger Zustand, als ein hysterisches Äquivalent,<br />

auch sie Ausdruck der physiologischen Reizbarkeit und Gereiztheit<br />

des weiblichen Nervensystems, auch sie im Hinblick auf die Fort-<br />

pflanzungspflichten der <strong>Frau</strong> normal und erwünscht, an sich aber<br />

ein Zustand des Leidens. «Die Menstruation ist ein Zustand, darin<br />

auch das normale Weib ... an der Grenze ist zwischen Gesund- und<br />

Kranksein», schreibt Erwin Stransky noch 1927, «gleichwohl gehört<br />

die Menstruation ... zur Norm ... Weib und Hysterie, das ist eben<br />

überhaupt eine nahe Wahlverwandtschaft ...» 1 3 . Viele <strong>Frau</strong>en des<br />

19. und des früheren 20. Jahrhunderts scheinen ihre Menstruation<br />

auch entsprechend erlebt zu haben - um den Gewinn, dass die Ge-<br />

sellschaft, repräsentiert in ihren Ärzten, ihren Leidenszustand ihrer-<br />

seits anerkannte und respektierte. Die Molimina menstrualia neh-<br />

men in der Soziologie der <strong>Frau</strong> des 19. Jahrhunderts eine recht<br />

wichtige Stellung ein, es scheint ihnen damals einige Ausdrucks-,<br />

Kanalisierungs- und Ventilfunktion zugekommen zu sein, die ih-<br />

nen unterdessen abhanden gekommen ist. «Reizbare Schwäche»,<br />

Nervosität bis hin zur Hysterie, Kopfweh, Erbrechen, Verstop-<br />

fung, Herpeseruptionen und andere Ausschläge, Veränderungen<br />

7


der Sehschärfe, Schwellungen der Nasenschleimhaut 1 4 - Wilhelm<br />

Fliess (18 8-1928) prägte den Begriff der «nasalen Dysmenorrhoe»,<br />

womit die Menstruation als Schnupfen dasteht 1 - wurden zu Pa-<br />

rallelerscheinungen der Menstruation und zeigten an, dass auch<br />

diese Zeichen eines der <strong>Krankheit</strong> nahen Grundzustandes sei. Kurz,<br />

schreibt 1902 Max Runge (1849-1909), der das ganze teils als Stö-<br />

rung vasomotorischer Natur, teils als Reflexneurose deutet, «die<br />

Menstruierende ist ,unwohl‘ das heisst, jedes ... Weib geräth alle 4<br />

Wochen in einen Zustand, welcher eine Abweichung von ihren<br />

normalen körperlichen und geistigen Functionen erkennen lässt» ...<br />

Und dann die Folgerung, die eigentlich Prämisse ist: «So liegt die<br />

geistige und körperliche Abhängigkeit des Weibes von der sexuel-<br />

len Sphäre klar zu Tage und wir verzeichnen damit einen durch-<br />

greifenden Unterschied gegenüber dem männlichen Geschlecht» 1 6 .<br />

76<br />

Holzstich aus «Bilder aus dem modernen Leben», 1890er Jahre.


Die sozusagen physiologischen Geistesstörungen der Men-<br />

struierenden haben die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders<br />

beschäftigt. Georg Sigismund Eduard Krieger (1816-1870) betont in<br />

seiner (der Gesellschaft für Geburtshülfe zu Berlin zu ihrem 2 jäh-<br />

rigen Stiftungsfest 1869 gewidmeten) Monographie über die Men-<br />

struation, dass Menstruierende nur in den seltensten Fällen keine<br />

Veränderungen ihres Befindens durchmachten. «In den bei weitem<br />

meisten Fällen findet eine ... Erregung des Nervensystems statt ...<br />

Diese nervöse Erregtheit lässt sich in solche Erscheinungen zerle-<br />

gen, die von dem vasomotorischen oder Gangliennervensystem ab-<br />

zuleiten sind, in solche, die als cerebrale Symptome erscheinen und<br />

in solche, die auf die Spinalnerven zurückgeführt werden müs-<br />

sen» 1 7 . Ein Freund Kriegers, Louis Mayer (1829-1890) aus Berlin,<br />

verfasste wenig später «Menstruation im Zusammenhange mit psy-<br />

chischen Störungen», wo er nochmals festhält, dass auch «bei sehr<br />

vielen anscheinend ganz gesunden Individuen» die Menstruation<br />

psychische Reizzustände mit sich bringe. Solche zeigen sich in<br />

«Verstimmung, Verdriesslichkeit, Disposition zum Weinen, Hin-<br />

brüten ... Abneigung gegen die Umgebung ... Launen, Heftigkeit,<br />

Jähzorn, Unruhe ... Abschwächung des Denkens und Urtheilens...<br />

Es können auch üble Eigenschaften und Angewohnheiten (...) ver-<br />

stärkt werden oder in diesen Zeiten überhaupt hervorbrechen<br />

...» 1 8 . Auf eine allgemeinere Arbeit Mayers bezieht sich Horatio Ro-<br />

binson Storer in seinem Buch «Reflex insanity in women», Boston<br />

1871, welches die Menstruationspsychiatrie wieder in den grösseren<br />

Rahmen der physiologischen <strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong> stellt 1 9 .<br />

Im späteren 19. Jahrhundert wurde dieses Interesse an psychischen<br />

Störungen der Menstruierenden offenbar durch ein intensives In-<br />

teresse an regelmässigen Verläufen und an greifbaren Ursachen der<br />

Neurosen und Psychosen verstärkt 160 . Die menstruelle Geistesstö-<br />

rung bot in diesem Sinne als ein periodisch von bekannten ovariel-<br />

len Reizungen her ausgelöstes Reflexleiden auf der Basis einer<br />

wohlbekannten Reizbarkeit und Schwäche des weiblichen Ner-<br />

vensystems ein willkommenes Modell für die Geistesstörung über-<br />

haupt. 1878 publiziert Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), einer<br />

77


der massgebendsten Psychiater seiner Zeit, «Untersuchungen über<br />

Irresein zur Zeit der Menstruation» als einen «Beitrag zur Lehre<br />

vom periodischen Irresein». Darin bezeichnet er die menstruellen<br />

Geistesstörungen als «die reinste Form innerhalb der ... Vesania<br />

periodica» und statuiert, «dass der normale Menstruationsvorgang<br />

an und für sich genügen kann, um das abnorm erregbare Gehirn im<br />

Sinn einer acuten Psychose zu beeinflussen». Nachtragsweise disku-<br />

tiert er die Auffassung der «menstrualen Irreseinsanfälle ... als eine<br />

Art ,psychischer Epilepsie‘» 161 . Noch im selben Jahr 1878 veröffent-<br />

licht Ludwig Kirn (1839-1899) seine Schrift über «Die periodischen<br />

Psychosen», in welche er, sich auf Krafft-Ebings Arbeit beziehend,<br />

die Ovulationspsychosen als Reflexpsychosen auf der Basis eines<br />

abnorm erregbaren Gehirns einbaut 162 .<br />

Gegen Ende des Jahrhunderts stieg die Periodizität, die Wellen-<br />

bewegung der gesamten weiblichen Physiologie samt psychischen<br />

Funktionen, in der Lehre von den Menstruationspsychosen vielfach<br />

zum ätiologischen Faktor auf. Die Menstruation selbst war dann<br />

eine Parallelerscheinung der psychiatrischen Phänomene 163 . Heinrich<br />

Schuele (1840-1916) fand einen «intime(n) Zusammengang der psy-<br />

chischen <strong>Krankheit</strong>scurve mit der Menstrualwelle» 164 . In unserem<br />

Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass man seinerzeit<br />

zwischen periodischem Verlauf von Geistesstörungen und<br />

hereditär-degenerativ belastetem Nervensystem - was man oft<br />

auch als «minderwertiges Nervensystem» bezeichnete - innige Zu-<br />

sammenhänge postulierte. Gerade Schuele kennt die Periodizität als<br />

Merkmal hereditär-degenerativer Irreseinsformen. Er ordnet perio-<br />

disches und zirkuläres Irresein denn auch den «Degenerescenz-Zu-<br />

ständen» zu, wie das erbliche Irresein und das «Irresein aus<br />

schweren Neurosen» (samt Hysterie) 16 .<br />

In der forensischen Psychiatrie wurden diese neueren Erkennt-<br />

nisse über die weibliche Schwäche wiederum praktisch angewen-<br />

det - wiederum vielfach zugunsten einzelner straffällig gewordener<br />

<strong>Frau</strong>en. Die Medaille der weiblichen Minderwertigkeit hatte ja<br />

wie alle derartigen Medaillen durchaus auch eine Vorderseite. Man<br />

denke nur an die Zuvorkommenheit und grosse Höflichkeit, mit<br />

78


welcher im 19. Jahrhundert gerade den <strong>Frau</strong>en aus bürgerlichen<br />

Kreisen, unter denen die Nervenschwäche am grausamsten wütete,<br />

behandelt wurden. Auch im einzelnen aber konnte die Annahme<br />

der weiblichen Schwäche als Schutz vor Aggression funktionieren,<br />

im 19. Jahrhundert sogar vor Gericht. Wir berichteten oben von<br />

der exkulpierenden Wirkung der gestörten Menstruation im frü-<br />

heren 19. Jahrhundert - später konnte sogar die reguläre Menstrua-<br />

tion entschuldigen. Der k. k. Landesgerichtsarzt und Dozent der<br />

forensischen Psychiatrie Ludwig Schlager (1828-188 ) beschliesst<br />

schon 18 8 eine Arbeit über «die Bedeutung des Menstrualproces-<br />

ses ...» mit den Worten: «Unter allen Verhältnissen wird es daher<br />

der Gerichtsarzt bei weiblichen Individuen, bei denen es sich um<br />

die Dispositionsfähigkeit ... oder ... um die Imputationsfähigkeit<br />

strafbarer Handlungen handelt, nicht unterlassen, ... die ... Men-<br />

strualfunction ... und deren Rückwirkung auf das psychische Leben<br />

ins Auge zu fassen» 166 . Um 1900 aber statuiert Krafft-Ebing in seinem<br />

Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie: «Die geistige Inte-<br />

grität des menstruierenden Weibes ist forensisch fraglich.» Krafft-<br />

Ebing, einer der Väter sowohl der forensischen Psychiatrie als auch<br />

der Sexologie, behandelt den «Einfluss der Menstruation auf das<br />

Geistesleben» als Anhang zum Kapitel über «die psychischen Entar-<br />

tungen» 167 . 1902 widmet er der «Psychosis menstrualis» eine eigene<br />

«klinisch-forensische Studie» 168 . «Das menstruirende Weib hat An-<br />

spruch auf die Milde des Strafrichters, denn es ist ,unwohl‘ ... und<br />

psychisch mehr oder weniger afficirt.» Es handelt sich um Störun-<br />

gen des Gemütslebens und «um daraus resultirende elementare Stö-<br />

rungen in der Psyche, die die Zurechnungsfähigkeit allerdings<br />

nicht aufheben, aber immerhin ... als Milderungsgründe ... Berück-<br />

sichtigung finden müssen. ... Abnorme Reizbarkeit ... bis zu ... pa-<br />

thologischen Affekten ... sind gewöhnliche Erscheinungen. Un-<br />

verträglichkeit mit dem Gatten, mit dem Gesinde, üble Behand-<br />

lung der sonst geliebten Kinder bis zu Misshandlungen, Zornex-<br />

plosionen, Ehrenbeleidigungen, Hausfriedensbruch, Unbotmässig-<br />

keit gegen Amtspersonen, Eifersuchtsscenen gegenüber dem Mann,<br />

Bedürfniss nach Alkoholicis ... sind der Alltagserfahrung entlehnte<br />

Vorkommnisse bei unzähligen weiblichen Individuen, die ... in ih-<br />

79


em ,Sturm‘ ... wahre Furien und Xantippen, gemieden und ge-<br />

fürchtet sind, intervallär als brave Gattinnen, zärtliche Mütter ...<br />

angenehme Elemente in der Gesellschaft erscheinen können» 169 .<br />

«Bedenklicher», fährt Krafft-Ebing fort, «wird der Einfluss der<br />

Menses bei dem belasteten und so häufig schon längst nervös und<br />

psychisch nicht mehr normalen Weib. Da regen sich menstrual<br />

wieder Neurosen, wie z. B. Hemicranie, Hysterie, Epilepsie,<br />

Neurasthenie ..., milde, sonst vollkommen beherrschbare krank-<br />

hafte Gemüthszustände exacerbiren ... und führen zu feindlicher<br />

Reaction gegen die Aussenwelt ... Endlich sind die verschiedenen<br />

Formen des menstrualen Irreseins möglich.» Die Zeit der Men-<br />

struation ist die Zeit gehäuften Selbstmords. «Von menstrualen Im-<br />

pulsen zu Mord enthält namentlich die französische Literatur klassi-<br />

sche Beispiele.» «Gross ist die Literatur über Brandstiftungen auf<br />

Grund von Zwangsvorstellungen, die menstrual nicht beherrschbar<br />

waren. Schon E. Platner, Osiander, Henke u. a. kannten die Thatsa-<br />

che des häufigen Zusammentreffens von Brandstiftungen bei<br />

weiblichen Individuen in der Zeit der Pubertätsentwicklung mit<br />

der Menstruation, besonders bei gestörter ... Nicht selten sind men-<br />

strual unwiderstehliche Antriebe zum Diebstahl ... Eine weitere<br />

Möglichkeit für Verletzungen des Strafgesetzes bilden pathologi-<br />

sche Affekte zur Zeit der Menses ... Am 1.12. [18]97 gerieth <strong>Frau</strong><br />

G. mit ihrem Mann über eine Kleinigkeit in Streit, sie wurde<br />

schrecklich aufgeregt, warf eine Anzahl Porzellanteller ihrem<br />

Mann nach und verletzte ihn ...» Und Krafft-Ebing beschliesst seine<br />

Studie mit «Thesen für die forensische Beurtheilung von tempore<br />

menstr. zustandegekommenen Delicten», wovon Nummer 1: «Die<br />

geistige Integrität des menstruirenden Weibes ist forensisch frag-<br />

lich» 170 .<br />

80<br />

VII. DIE MENSTRUATION VERLIERT<br />

AN SYMPTOM- UND SYMBOLWERT -<br />

NACH DEN BEIDEN WELTKRIEGEN<br />

Mit und nach den beiden Weltkriegen hat die Menstruation zuse-<br />

hends an Symbol- und Symptomwert für die weibliche Schwach-


heit verloren. Sie hat auch ganz allgemein an sozialer und kulturel-<br />

ler Bedeutung verloren und ist vermehrt zum Spezialistenthema<br />

von beschränkt allgemeinem Interesse geworden.<br />

Die Hintergründe dieses Bedeutungsverlustes sind komplex.<br />

Zum Teil sind sie wissenschaftlicher Art. Mit dem Aufschwung der<br />

Endokrinologie hat das Hormon als Träger genereller Betrachtun-<br />

gen über «die <strong>Frau</strong>» die Menstruation etwas abgelöst und ver-<br />

drängt. Überdies hat die Endokrinologie zur Lockerung der Asso-<br />

ziation von Nervensystem und Menstruation beigetragen 171 und da-<br />

mit die Beziehung zwischen weiblichem Seelenleben und weibli-<br />

chen «Tagen» etwas mittelbarer erscheinen lassen, um so mehr als<br />

auch alle operativen Eingriffe am Genitalapparat geistesgestörter<br />

<strong>Frau</strong>en kaum je die erwarteten Besserungen zeitigten. «Das Nahe-<br />

liegendste scheint zunächst», schreibt Gottfried Ewald (1888-1963)<br />

zwischen den beiden Weltkriegen, «dass irgendein endokriner<br />

Reiz, der mit der Menstruation oder Ovulation verbunden ist, zu<br />

einer zentralnervösen Erregung führt, die die Psychose ins Rollen<br />

bringt. ... Dem widersprechen aber die operativen oder röntgeno-<br />

logischen Kastrationserfolge. Uns selbst lehrte die völlige Erfolglo-<br />

sigkeit von Röntgenkastration, Ovariektomie und schliesslich sogar<br />

Totalexstirpation bei einer klassischen menstruell rezidivierenden<br />

Psychose ..., dass die Dinge keineswegs so einfach endokrinolo-<br />

gisch zu lösen sind» 72 . Insofern die Endokrinologie zur Basis neuer<br />

antikonzeptioneller Techniken wurde, hat sie auch als solche zur<br />

Ent-Aktualisierung der Menstruation beigetragen. Man hat sich an<br />

die Antikonzeption allmählich gewöhnt, die im 19. Jahrhundert an<br />

dieselbe geknüpften Befürchtungen bevölkerungspolitischer, se-<br />

xualpolitischer, moralischer, ethischer Art haben sich gelegt. Zwi-<br />

schen den beiden Weltkriegen wurde das Konzeptionsoptimum<br />

allgemein von der Menstruation auf das Intermenstruum verlegt,<br />

Knaus und Ogino (Hermann Knaus, 1892-1970 und D. Ogino) basier-<br />

ten hierauf ihre antikonzeptionellen Empfehlungen 173 . Damit ver-<br />

lor sich der Abortcharakter der Menstruation vollends.<br />

Auch die Entwicklung der Psychiatrie hat zur Ent-Aktuali-<br />

sierung der Menstruation beigetragen. «Man hat früher einmal ge-<br />

glaubt», schreibt Ewald, «den Psychosen, die sich im Verlaufe des<br />

81


Generations- und Gestationsgeschäftes des Weibes entwickeln, eine<br />

Sonderstellung einräumen zu sollen ... Das eingehende Studium<br />

der Symptomatologie und des Verlaufes, die Herausstellung der<br />

grossen <strong>Krankheit</strong>skreise des manisch-melancholischen Irreseins<br />

und der Dementia praecox, das tiefere Eindringen in das Wesen<br />

der reaktiven, psychogenen Psychosen und die Zusammenfassung<br />

aller symptomatischen Psychosen in den exogenen Reaktionsfor-<br />

men hat aber schliesslich zu der Erkenntnis geführt, dass hier doch<br />

wohl eine Überschätzung des ätiologischen Faktors vorlag, dass<br />

man ein propter hoc für das post hoc setzte, und so hat die Betrach-<br />

tung der Generationspsychosen ... weitgehend mehr historisches<br />

Interesse.» Interessanterweise bespricht Ewald die Generationspsy-<br />

chosen als Anhang zu «Psychosen bei akuten Infektionen, bei All-<br />

gemeinleiden und bei Erkrankungen innerer Organe» - wobei er<br />

allerdings betont, «dass man weder die Generations- noch die Ge-<br />

stationsvorgänge als ,Erkrankungen der Genitalorgane‘ bezeichnen<br />

darf ...» 174 . Auch der Aufschwung der medizinischen Psychologie<br />

und der Psychogenielehre, den die Weltkriege nach sich zogen 17 ,<br />

trug zur Entthronung der Menstruation bei. Manches, was vor die-<br />

sen Kriegen als körperliche Ursache psychischer Erscheinungen an-<br />

gesprochen worden ist, ist nachdem zum psychogenen Symptom<br />

geworden 176 . «Einen nicht geringen Prozentsatz von menstruellen<br />

Psychosen», schreibt Ewald 1927, «dürften ... die psychogenen Psy-<br />

chosen stellen.» Ein Jahr später aber statuiert er, «dass man in Um-<br />

kehr der Verhältnisse die Menstruationsstörungen für das verursa-<br />

chende Moment» mancher Psychosen gehalten habe. «Heute wis-<br />

sen wir, dass die so häufige Amenorrhoe im Verlauf der Psychosen<br />

nur eine körperliche Begleiterscheinung der psychischen Erkran-<br />

kung ist ...» 177 . Selbst Hauptmann, der seine «Menstruation und Psy-<br />

che» (1924) eigentlich den ihm problematisch und unergiebig er-<br />

scheinenden «psychologisierenden Tendenzen» seiner Zeit entge-<br />

genstellt, berücksichtigt den Aspekt der Menstruation als «Erleb-<br />

nis» 178 . Insgesamt kann man den Aufschwung der medizinischen<br />

Psychologie nach den Weltkriegen als ein Zeichen eines gewissen<br />

Vertrauens- und Prestigeverlusts der somatisch-naturwissenschaft-<br />

lich begründeten Medizin betrachten, welcher körpermedizinische<br />

82


Aussagen über die <strong>Frau</strong> an sich ihrer sozialen Aussagekraft und ih-<br />

res Symbolwerts und damit die Menstruation ihrer Aktualität et-<br />

was beraubte.<br />

Sozialgeschichtlich gesehen ist die mit den beiden Weltkriegen<br />

in breiterem Umfange durchdringende Emanzipation der <strong>Frau</strong> der<br />

wohl wichtigste Hintergrund des Interesseverlusts der Menstrua-<br />

tion. Mit einigem Verzug scheinen die Verhältnisse im Gebiet der<br />

Lehre vom Klimakterium, die mit der Lehre von der Menstruation<br />

natürlich vielfach verquickt ist, ähnlich zu liegen zu kommen.<br />

Auch hier spielen sozialgeschichtliche Faktoren offenbar eine be-<br />

deutende Rolle 179 . Zum Teil ist die <strong>Frau</strong>enemanzipation eine eigen-<br />

ständige Entwicklung, zum Teil ist sie mit ökonomischen, kulturel-<br />

len und medizinischen Entwicklungen verquickt. Gerade die Anti-<br />

konzeption hat sie wahrscheinlich entscheidend vorangetrieben, in-<br />

dem sie die Beziehung zwischen der <strong>Frau</strong> als solcher und der Fort-<br />

pflanzung etwas lockerte. Damit verliert, was an der <strong>Frau</strong> im<br />

Dienst der Fortpflanzung steht, an Bedeutung als pars pro toto und<br />

damit auch die Menstruation an Symbolwert. Zudem ist, was die<br />

Menstruation in unserem Zusammenhange symbolisierte, nämlich<br />

die <strong>Krankheit</strong>sartigkeit des <strong>Frau</strong>seins an sich bzw. die körperliche<br />

und geistige Minderwertigkeit der <strong>Frau</strong> gegenüber dem Mann, aus<br />

der offiziellen Diskussion in intimere Bereiche zurückgedrängt<br />

worden, vielfach geradezu dem Tabu verfallen und damit natürlich<br />

- für den Augenblick - auch die zugehörige wissenschaftliche Un-<br />

termauerung einer derartigen Annahme.<br />

Ferner scheint die emanzipatorische Erweiterung des Spektrums<br />

der für die <strong>Frau</strong> zugelassenen sozialen Tätigkeits- und Ausdrucks-<br />

formen einerseits zum Abbau der im 19. Jahrhundert offenbar üp-<br />

pig florierenden Ressentiments und Aggressionen vieler <strong>Frau</strong>en ge-<br />

genüber ihren Gatten und Familien beigetragen zu haben, so ist es<br />

der <strong>Frau</strong> ja seit rund 100 Jahren (in Amerika länger, in Deutschland<br />

weniger) auch verstattet, Medizin zu studieren und sich gynäkolo-<br />

gisch, psychiatrisch, medizingeschichtlich zu äussern - auch über<br />

die Menstruation, wenn sie derartiges beschäftigt - was ja dann<br />

wiederum seine Rückwirkung auf die offiziellen Lehrmeinungen<br />

haben kann.<br />

83


Im speziellen hat die Menstruationslehre des 19. Jahrhunderts<br />

auch in der forensischen Medizin an Bedeutung verloren. Die Dif-<br />

ferenzierung und Etablierung der forensischen Psychiatrie, die ver-<br />

mehrte Zulassung psychologischer und soziologischer Argumenta-<br />

tionen in der Rechtssprechnung haben auch hier die Menstruation<br />

gewissermassen ihrer Ventilfunktion enthoben. Zudem hat der Ge-<br />

setzgeber dem Arzt das Instrumentarium der Verteidigung zum<br />

Teil aus der Hand genommen, indem er die medizinischen Voraus-<br />

setzungen einer Strafmilderung oder Exkulpation in den Gesetzes-<br />

text aufnahm. Die Menstruation hat er aber als solche nie über-<br />

nommen.<br />

So nimmt die Menstruation schon in Karl Birnbaums (1878- frühe<br />

19 0er Jahre) «Kriminalpsychopathologie» von 1921 nur noch we-<br />

nig Platz ein. Eher nebenbei erwähnt Birnbaum, auf einer halben<br />

Seite «Affektdelikte aus temporär geschwächter Selbstbeherr-<br />

schung, impulsive Delikte, wie Warenhausdiebstähle, durch episo-<br />

disch erhöhte Nachgiebigkeit gegen gefährdende Anreize, triebar-<br />

tige Brandstiftungen und Kindertötungen aus passageren Men-<br />

strual- und Pubertätsverstimmungen u. dgl. mehr» 180 .<br />

Albrecht Langelueddeke schliesst sich mit seinen gerichtspsychiatri-<br />

schen Ausführungen über die Generationspsychosen noch 1971<br />

Ewalds Meinungen an, unter Betonung allerdings von dessen Zu-<br />

rückhaltung und Skepsis 181 . Im zweibändigen, 1700 Seiten dicken<br />

«Handbuch der forensischen Psychiatrie» von 1972 bzw. in dessen<br />

fast 30 Seiten langem Index aber figuriert die «Menstruation» nicht<br />

mehr 182 .<br />

84


HEBAMMEN UND HYMEN (1977)<br />

I. EINLEITUNG UND ZUSAMMENFASSUNG<br />

Sowohl die Hebammen als auch der Hymen haben eine ehrwür-<br />

dige Vergangenheit. Die Hebammen waren einst, im Mittelalter,<br />

nicht viel anderes als weibliche Ärzte, gynäkologisch-geburtshilfli-<br />

che Spezialistinnen, die sich weitgehender Autonomie und Hoch-<br />

achtung erfreuten, nicht unähnlich den damaligen Chirurgen, die,<br />

wenn sie auch von der Schulmedizin mehr oder weniger verachtet<br />

waren, doch im Volk und im gesamten Verarztungssystem eine<br />

wichtige Rolle spielten. Besonders auch als Stadthebammen konn-<br />

ten diese <strong>Frau</strong>en zu hohem Status kommen 183 (vgl. S. 16). Diese<br />

Vergangenheit wird um so leichter vergessen, als sie schlecht do-<br />

kumentiert ist. Hebammen schrieben noch weniger als Chirurgen,<br />

und so wenig ihr Analphabetismus im Mittelalter, das die mündli-<br />

che Tradition ja sehr pflegte und hochhielt, sie vom Bildungsgut<br />

der eigenen Zeit abschnitt, so sehr hat er sie von der späteren Ge-<br />

schichtsschreibung abgeschnitten.<br />

Der Hymen aber galt im Mittelalter offenbar vielfach als Zei-<br />

chen der Virginität - die ja während Jahrhunderten ein grosses,<br />

wichtiges Thema gewesen ist, welches über unmittelbar körperli-<br />

che Fragen weit hinausging. Auch die Geschichte des Hymens liegt<br />

zu grossen Stücken im Dunkeln.<br />

Aristoteles braucht den Namen Hymen indifferent für alle mögli-<br />

chen Membranen, und nur unter vielen anderen membranösen Ge-<br />

bilden erwähnt er auch den Hymen, den wir heute speziell so nen-<br />

nen 184 . Es ist auffällig, dass «Hymen» auch der Name des Gotts der<br />

Ehe war; er erhebt sich da natürlich die Frage, ob ausserhalb der<br />

Wissenschaft der Name Hymen doch schon in der Antike mit dem,<br />

was wir so nennen, mehr als mit anderen Membranen assoziiert<br />

wurde, oder ob es sich dabei um eine die spätere Entwicklung an-<br />

regende Homonymie handelt 18 - das eine schliesst das andere nicht<br />

aus. Bei den Klassikern der antiken Medizin findet man keine Er-<br />

wähnung oder Beschreibung des Hymens. Von Soran ist die Aner-<br />

8


kennung einer jungfräulichen Enge der Vagina bei ausdrücklicher<br />

Ablehnung einer Membran überliefert 186 . Hingegen wird der arabi-<br />

sche Gelehrte Avicenna (980-1037) oft als der früheste medizinische<br />

Autor angegeben, der ein Jungfrauenhäutchen beschrieben hat -<br />

tatsächlich spricht er in seinem Canon von einem aus Ligamenten<br />

und Gefässen bestehenden panniculus, den man bei Jungfrauen<br />

finde 187 . Immer wieder wird ferner in der medizinischen Literatur<br />

die Frage nach dem Hymen mit dem biblischen Jungfernschaftszei-<br />

chen der Deflorationsblutung assoziiert (das mit Blut befleckte<br />

Tuch, das nach der Hochzeitsnacht vorgewiesen wird 188 ).<br />

Es scheint, dass die mittelalterliche Wissenschaft ihr Wissen vom<br />

Hymen vor allem aus jüdischer und arabischer Tradition bezog.<br />

Zwar dürfte auch die Tradition des <strong>Frau</strong>engeflüsters da eine Rolle<br />

gespielt haben, doch ist diese naturgemäss nicht quellenkundig. Hi-<br />

storisch spricht für ihr Wirken nur, was wir im folgenden sehen<br />

werden, dass nämlich die frühe neuzeitliche Wissenschaft den Hy-<br />

men mit den Hebammen recht eng assoziierte. Auf welche Tradi-<br />

tion die Bemerkung des Jacopo Berengario da Carpi (1470-1 0) 189<br />

über den Hymen - ausser auf die Beobachtung - zurückgeht, ist aus<br />

derselben nicht ersichtlich; Andreas Vesalius (1 14-1 64) zitiert -<br />

mindestens in der ersten Fassung seiner «Fabrica» 190 - die Araber als<br />

Autoritäten in Sachen der Anatomie des Hymens (in der Folio-<br />

Ausgabe von 1 distanziert er sich von den Arabern zugunsten<br />

eigener Befunde 191 ).<br />

Wenn in der Folgezeit zahlreiche Autoren die Existenz des Hy-<br />

mens negiert haben, liegt es dem Historiker demnach nahe, hierin<br />

einerseits den Ausdruck der realen Probleme zu sehen, denen die<br />

wissenschaftliche Untersuchung des Hymens begegnet sein wird,<br />

andererseits aber auch den Ausdruck des für die Renaissance typi-<br />

schen In-den-Vordergrund-Tretens der klassisch-antiken und der<br />

schriftlichen Tradition (Humanismus, Buchdruck) gegenüber den<br />

arabischen, jüdischen und den hausärztlich-mündlich-wehmütterli-<br />

chen Traditionsströmen.<br />

In der vorliegenden Arbeit soll aus all den Problemen, die bei<br />

diesen Überlegungen auftauchen, ein kleines Teilproblem heraus-<br />

gegriffen werden: die Geschichte der Beziehung zwischen dem<br />

86


Hymen und den Hebammen, wie sie sich in der medizinischen,<br />

speziell gerichtsmedizinischen Literatur der Neuzeit präsentiert, die<br />

Geschichte also der Beziehung zwischen einem Beruf und einem<br />

anatomischen Detail, zwischen einem Stück Standesgeschichte und<br />

einem Stück Wissenschaftsgeschichte.<br />

Diese Geschichte sei kurz zusammengefasst. Sie lässt sich in drei<br />

Phasen aufteilen. In der ersten Phase (16. Jh.) wurde dem Hymen<br />

sein Wert als Virginitätszeichen, vielfach sogar seine Existenz abge-<br />

sprochen und dies dann als Argument gegen die Sachkunde der<br />

Hebammen, speziell gegen ihre Kompetenz, in foro über die Vir-<br />

ginität auszusagen, verwendet. In einer zweiten Phase hielt der Hy-<br />

men allmählich wieder Einzug in die medizinische Wissenschaft,<br />

dabei wurde seine Assoziation mit den Hebammen vermieden, was<br />

sich zum Teil in neuen Namengebungen äussert (17. Jh.). In einer<br />

dritten Phase (18. Jh.) wird «Hymen» wieder zur gebräuchlichen<br />

Bezeichnung der nun wieder als Virginitätszeichen anerkannten<br />

Jungfernhaut. Man hätte sagen können, damit sei die Auffassung<br />

der alten Hebammen zur Auffassung der medizinischen Wissen-<br />

schaft geworden. Die Hebammen waren aber unterdessen sehr<br />

weitgehend heruntergekommen, und so wurde das Bedürfnis nicht<br />

laut, hierauf hinzuweisen. Eine Ausnahme bildet Giovanni Battista<br />

Morgagni, der ja auch historisch hochgebildet war. Aber Morgagni<br />

konnte anhand der Literatur zeigen, dass die Hebammen sich geirrt<br />

hatten.<br />

An der Geschichte der Beziehung zwischen Hebammen und Hy-<br />

men zeigt sich etwas von der Wechselwirkung, die da zwischen<br />

Wissenschaftlichem und anderem - vom individuellen Erleben und<br />

Streben bis zum organisiert-gesellschaftlichen Phänomen - be-<br />

stehen kann. Es zeigt sich vielleicht auch etwas von der Schlüssel-<br />

stellung der Sprache in dieser Wechselwirkung. Die Sprache dient<br />

auch hier nicht allein der Abbildung und Wiedergabe von Dingen,<br />

sondern auch deren Integration in übergeordnete menschliche Si-<br />

tuationen; Worte sind ja nicht nur Instrumente der Informations-<br />

übertragung, sie sind auch die Information selbst und damit mäch-<br />

tige Werkzeuge der Gestaltung - Gestaltung von wissenschaftlicher<br />

87


Erkenntnis sowohl als von menschlichen Beziehungen. Im Wort<br />

sind menschliches Erleben und menschliches Verhalten gewisser-<br />

massen in eine Form gegossen.<br />

88<br />

II. DIE NEGIERUNG DES HYMENS<br />

Wenn man sich zuerst darüber klar zu werden versucht, welches<br />

die Hintergründe der Bestrebungen der neuzeitlichen Mediziner<br />

waren, den Hebammen die Untauglichkeit ihres Virginitätskri-<br />

teriums «Jungfernhaut» nachzuweisen und sie damit für gerichts-<br />

ärztliche Tätigkeit zu disqualifizieren, muss man sich vor Augen<br />

halten, welches Paradox es bedeutete, dass die gerichtsmedizinische<br />

Beurteilung der Virginität im Mittelalter in den Händen der<br />

Hebammen lag.<br />

Es war im späteren Mittelalter schon schlimm genug, dass sozu-<br />

sagen die gesamte gynäkologisch-geburtshilfliche Tätigkeit in den<br />

Händen von <strong>Frau</strong>en lag, denn so sehr diese Tätigkeit von der<br />

Schulmedizin verachtet war, bedeutete sie doch, dass wichtige<br />

Bereiche des täglichen Lebens der Kontrolle der Männer mehr oder<br />

weniger entzogen waren. Dass dies nicht ohne Spannung abging,<br />

spiegelt sich in häufig anzutreffenden Zeichen der männlichen<br />

Angst, Wehmütter vermittelten Antikonzeptiva, Liebesmittel, Ab-<br />

ortiva, leisteten Beihilfe zum Kindsmord usw., wobei dann das<br />

Image der Wehmutter in dasjenige der Kupplerin und der Hexe<br />

überzugehen pflegt 192 .<br />

Mit der Begutachtung der Virginität lag nun ein Tätigkeitsfeld<br />

in <strong>Frau</strong>enhänden, das den Mann noch ausschliesslicher interessierte<br />

und noch brennender insofern, als es dabei doch häufig um Streit-<br />

fälle zwischen den Geschlechtern ging. Es ist anzunehmen, dass in<br />

dieser Situation bei den Männern der Wunsch Raum gewann, die<br />

Begutachtung der Virginität selbst zu übernehmen, um so mehr als<br />

sich keineswegs ausschliessen lässt, dass diese Begutachtung, wenn<br />

sie von <strong>Frau</strong>en vorgenommen wurde, effektiv gelegentlich über-<br />

mässig stark zugunsten der Geschlechtsgenossin ausfiel.<br />

Ein anderer Grund, weshalb die Gutachtertätigkeit der Hebam-<br />

men zu Spannungen führte, war wohl der, dass gerichtliche Tätig-


keit im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein ganz besonders<br />

hochgeachtet war. Denn der Jurisprudenz kam im Mittelalter ähn-<br />

lich hoher Rang zu wie der Theologie, ein höherer jedenfalls als<br />

der Medizin 193 . So lag mit der Gutachtertätigkeit eine Tätigkeit in<br />

den Händen der Hebammen (wie der Chirurgen), die selbst einem<br />

Mann vom Status des gelehrten Mediziners Ehre machen konnte -<br />

eine weitere Inkonsistenz, die nicht ohne Spannungen abgehen<br />

konnte. In der Frage der Virginität aber spitzte sich auch diese Si-<br />

tuation zu, denn diese Frage wurde - im Gegensatz etwa zur Frage<br />

nach dem Vorhandensein einer Schwangerschaft und anderen<br />

geburtshilflich-gynäkologischen Fragen - praktisch nur in der fo-<br />

rensischen Situation gestellt.<br />

Es kann daher nicht wundernehmen, dass die gutachterliche Tä-<br />

tigkeit der Hebammen in Sachen der Virginität eine besonders be-<br />

liebte Zielscheibe der Ärzte wurde, die sich in der Neuzeit für<br />

gerichtliche Medizin zu interessieren begannen, wobei eben vor al-<br />

lem kritisiert wurde, dass die Hebammen ihre Virginitätsdiagnose<br />

auf die Präsenz des Hymens abstellten. So schreibt etwa der grosse<br />

Paré: «Also begibt sichs auch offtmals ..., dass etwan von dieser<br />

oder jener Weibs Personen Jungfrawschafft disputiret und gefragt<br />

wird: Und zwar so ist von diesen fast schwärlich zu judicieren und<br />

zu antworten. Etliche Matronen und Hebammen geben für, es<br />

haben diejenige, so noch Jungfrawen unnd ungeschwächt seyen, in<br />

dem Halse oder Eingang zu ihrer Gebärmutter ein Häutlin ... das-<br />

selbe, sagen sie, werde in dem ersten Beyschlaff zerrissen ... Wie<br />

betrüglich unnd ungewiss aber diese Kenn- unnd Merckzeichen<br />

seyen, wird auss ... Historien unnd Zeugnussen mehr dann genug-<br />

sam erwiesen. Denn ... das Häutlin belangendt, so ist dasselbig ein<br />

unnatürlich Ding, und wird unter viel tausent jungen Mägdlein<br />

kaum in einem gefunden ...» 194 Im Buch «Von dess Menschen Ge-<br />

burt» widmet Paré dem Hymen nochmals ein ganzes Kapitel.<br />

«Zwar die Hebammen rühmen, dass sie auss diesem eine Jungfraw<br />

von einer, so geschwächt und beschlaffen worden, leichtlich unter-<br />

scheiden können, nach dem es nemlich gantz und unverletzt oder<br />

zerrissen sey, und feilen die Richter oder Oberkeiten, in dem sie ih-<br />

89


nen allzubald gläuben und meynen, es könne solche ihre Aussag<br />

nicht fehlen, manchmal sehr unbilliche Urtheil. Denn dass diese<br />

freche unnd unverschämpte Weiber von diesem Häutlin nichts ge-<br />

wisses haben können, ist auss diesem gnugsam abzunemen, dieweil<br />

etliche auss ihnen fürgeben, es (dieses Häutlin) beruhe aller eusserst<br />

und in dem ersten Anblick zwischen den Wänden oder Lefftzen<br />

dess Gemächts, etliche in der Mitte dess Halses oder Eingangs in die<br />

Gebärmutter: etliche weitter darinnen, nächst bey dem inwendi-<br />

gern Mundtloch der Gebärmutter ... Und fürwar, so kan man von<br />

einem solchen Ding, so dermassen selten erscheinet, unnd auch wi-<br />

der die Natur ist, meines Erachtens nichts gewisses schliessen ...» 19 .<br />

Natürlich taucht beim Lesen dieses Textes die Frage nach der<br />

realen Basis einer derartigen Stellungnahme auf. Diese Frage ist<br />

letztlich wahrscheinlich nicht lösbar, weil Erwartungsstruktur und<br />

Erfahrung auch in der Geschichte als eine Einheit gesehen werden<br />

müssen, deren innere Organisation immer höchstens teilweise er-<br />

schlossen werden kann. Im vorliegenden Falle glaubt man aller-<br />

dings, die Vermengung von Hymen und Atresie 196 und die alte ter-<br />

minologische Verwirrung um das weibliche Genitale durchzuspü-<br />

ren, welche sich aus der Galen’schen Analogie ergab (vgl. S. 14-16).<br />

Ähnlich wie Pari und auf diesen sich stützend äussert sich der Leib-<br />

chirurg Philipps II. (regierte 1 6-1 98), Juan Fragoso - auch ihm<br />

ist der Hymen kein aussagekräftiges Virginitätszeichen. Er schreibe<br />

über diese Sache, beschliesst Fragoso sein Kapitel über die Jungfern-<br />

schaftsbestimmung, damit die Richter den Hebammen nicht immer<br />

Glauben schenkten, wenn diese darüber aussagten, auch, um die<br />

Ärzte und Chirurgen zu unterrichten 197 .<br />

Giovanni Battista Codronchi (1 47-1628), der wohl erste medizini-<br />

sche Autor, der das Thema Gerichtsmedizin einigermassen zusam-<br />

menfassend behandelte, ist ebenfalls der Meinung, die Virginitäts-<br />

untersuchung sollte den Medizinern übertragen werden. Denn die<br />

Hebammen, denen die Rechtsgelehrten die Sache zu überlassen<br />

pflegten, irrten sich wieder und wieder, weil sie - mangels Sach-<br />

kenntnis - die Virginität nach Kriterien beurteilten, deren erstes,<br />

ein Häutchen, Hymen genannt, nach der Meinung der gewiegte-<br />

sten Anatomen kaum je vorhanden ist - wenn aber, so wird es oft-<br />

90


mals von den Heranwachsenden selbst zerstört. Deshalb ist der auf<br />

dem Hymen basierende Schluss auf die Virginität irreführend und<br />

zweifelhaft. Wenn die Sache den Medizinern übertragen wird,<br />

muss daher nach Virginitätszeichen gesucht werden, welche eine<br />

sicherere Entscheidungsbasis abgeben; hierfür biete sich zuerst die<br />

Besichtigung des Urins an, welcher nach der Meinung der gelehr-<br />

testen Männer bei Jungfrauen klarer und dünner ist als bei <strong>Frau</strong>en.<br />

Zweitens gibt es gewisse Virginitätsproben - Codronchi gibt u. a. die<br />

genitale Räucherung an - von welchen die Jungfrau in Nase und<br />

Mund keine Dämpfe und Exhalationen verspürt, die <strong>Frau</strong> aber<br />

wohl 198 .<br />

In einem Brief an einen Geistlichen hat sich gegen Ende des<br />

16. Jh. Horatius Augenius (1 27-1603) über den Hymen und die Un-<br />

sicherheit der Virginitätszeichen ausgelassen 199 . Augenius liebte es,<br />

sich in Briefen mit anderen Gelehrten zu streiten; er hat seine Lauf-<br />

bahn als Professor der Logik und der theoretischen Medizin begon-<br />

nen (was damals recht körperabgewandte Disziplinen waren), war<br />

später aber in der Praxis tätig. Speziell auch scheint er sich für<br />

gerichtsmedizinische Fragen interessiert zu haben.<br />

Augenius lehnte den Hymen als Virginitätszeichen ab. Für ihn<br />

gibt es keine sichere Unterscheidung zwischen der Jungfrau und<br />

der <strong>Frau</strong>. Als geschulter Logiker und Argumentator bringt er aber<br />

zunächst die Zweifel zu Papier, die seiner These entgegengehalten<br />

werden könnten. Da ist einmal die Meinung vieler Rechtsgelehr-<br />

ter, die am Hymen nicht zweifeln. Auch das Volk sei der Meinung.<br />

Aristoteles und Avicenna sprechen ebenfalls von dieser Membran. Es<br />

ist auch zu sagen, dass es ja Verschliessungen durch starke Mem-<br />

branen gibt, wieso soll es denn nicht zarte, schwache geben? Ferner<br />

steht die Autorität des Anatomen Berengario da Carpi hinter dem<br />

Hymen 200 . Und schliesslich ist dieses sichere Virginitätszeichen<br />

durch die Bibel und profane Schriften, auch durch die Autorität<br />

der Kirchenväter bezeugt - und durch die Aussagen der Hebam-<br />

men. Und warum soll man den Hebammen denn in Sachen ihrer<br />

Kunst misstrauen? Man urteilt sicherer über das eigene Handwerk<br />

als über fremdes.<br />

Dann kommt Augenius aber zu den Argumenten, die gegen den<br />

91


Hymen sprechen. Weder die Erfahrung noch die Vernunft spre-<br />

chen für die Existenz eines speziellen Jungfernhäutchens. Er berich-<br />

tet, dass sich Eustachius (Bartolommeo Eustachi, geb. um 1 20 bis<br />

1 74) und Columbus (Realdo Colombo, 1 16-1 9) hierüber einmal<br />

gestritten haben, da Colombus an die Existenz des Hymens glaubte.<br />

Sie beschlossen, die Sektion entscheiden zu lassen, und sezierten<br />

zwei Mädchen. Da sie bei keinem einen Hymen fanden, gab sich<br />

Columbus geschlagen. In seiner Anatomie beschreibt er den Hymen<br />

dann als selten und pathologisch, nämlich Coitus-behindernd 201 .<br />

Auch der Leibarzt Philipps II., Franciscus Vallesius (1 24-1 92),<br />

versichert in seinem Buch über die heilige Naturkunde 202 , man<br />

finde an der Jungfrau keine Membran, die die Jungfernschaft hüte,<br />

man finde nur eine starke Enge, die beim ersten Beischlaf zerreisse.<br />

Ähnlich glaubt Johannes Fernelius (1497-1 8), es liege bei den<br />

Jungfrauen kein Häutchen vor, wie es die Alten unter dem Namen<br />

Hymen gekannt hätten, sondern bloss eine Art von Verklebung,<br />

die dann zerreisse 203 . Augenius zieht noch weitere Autoritäten zur<br />

Stützung seiner These herbei, darunter natürlich Paré - und<br />

schliesslich hat Galen selbst den Hymen mit keinem Wort erwähnt.<br />

Dann folgen seine Vernunftgründe. Erstens: Auch wenn der Hy-<br />

men ein Teil der Jungfrau wäre, so könnte er doch höchstens ein<br />

akzidenteller Teil sein, wie ein Blasenstein, ein sechster Finger oder<br />

eine Geschwulst. Zweitens arbeitet die Natur ja immer optimal. Es<br />

gäbe aber bessere und einfachere Methoden, die Virginität zu<br />

schützen, als so eine Membran. Drittens ist nicht einzusehen, wozu<br />

die Natur den Hymen überhaupt gemacht hätte, da sie ja doch<br />

nichts Unnützes tut. Ein Hymen kann deshalb höchstens entstehen<br />

wie ein Monstrum entsteht, und wie die Würmer im Leib des<br />

Menschen. Und viertens findet man kaum zwei Hebammen, die in<br />

Sachen Hymen einig wären. Die einen sagen dies, die andern das -<br />

das nimmt ja auch nicht wunder von unwissenden und ungebilde-<br />

ten Weibern in dieser so schweren Frage.<br />

Später spricht Augenius noch ausführlicher von den Hebammen.<br />

Vor Zeiten war eine Hebamme gewissermassen eine <strong>Frau</strong>enärztin.<br />

Die heutigen Hebammen aber können mit jenen kaum verglichen<br />

werden. Denn sie verstehen nichts von Medizin und können nichts<br />

92


anderes, als das Neugeborene in ihrem Schoss auffangen und seine<br />

Nabelschnur durchschneiden und abbinden. Zu allem anderen sind<br />

sie so geeignet wie der Esel zum Leierspiel. So taugen die Hebam-<br />

men auch nicht, die Virginität zu beurteilen, wie es das päpstliche<br />

Recht zulässt. Denn Auge und Hand der Hebammen irren oft, so-<br />

gar durch das päpstliche Recht selbst ist dies bezeugt.<br />

Fortunatus Fidelis (1 0-1630), der erste gerichtsmedizinische Sy-<br />

stematiker («De relationibus medicorum», Erstausgabe Palermo<br />

1602), hat sich Augenius angeschlossen; er argumentiert wie dieser<br />

gegen den Hymen, zitiert dieselben Autoritäten, und betrachtet<br />

einen allenfalls vorhandenen Hymen als Missbildung. Auch er<br />

wendet sich in demselben Atemzug entschieden gegen die Beurtei-<br />

lung der Virginitätsfrage durch Hebammen, da deren Beobachtun-<br />

gen gewöhnlich unsicher und irreführend seien. Der Tadel, den<br />

Augenius über die Hebammen ausschüttet, nämlich, jede beschriebe<br />

den Hymen wieder anders, trifft bei ihm aber auch die Anatomen.<br />

Vesal 204 beschreibe ihn als fleischige, Falloppius 205 als nervige Mem-<br />

bran, schreibt Fidelis, andere noch anders. Damit schützt er einen<br />

schwachen Punkt von Augenius’ Plädoyer gegen allfällige Angriffe:<br />

Augenius hatte nämlich von Vesal und Falloppius nichts gesagt. Fide-<br />

lis findet noch andere Argumente, dem Zeugnis dieser beiden gros-<br />

sen Anatomen die Spitze zu brechen: Vesal habe den Hymen zwar<br />

anerkannt, seinen Wert als Virginitätszeichen aber skeptisch beur-<br />

teilt - einerseits zerreisse er oft nicht so leicht, selbst bei einem Bei-<br />

schlaf, andererseits gebe es die Sitte, dass die Hebammen bei der<br />

Geburt dieses unnütze Gebilde sprengen, wie die Juden die Be-<br />

schneidung pflegen 206 . Zudem habe Vesal später einmal, in seinem<br />

Brief über die Chinawurzel (1 46), geschrieben, er habe nur ein-<br />

mal ein Mädchen seziert, dabei zwar einen Hymen gefunden, dar-<br />

aus indessen nichts sicheres zu schliessen gewagt 207 . Des Falloppius<br />

Aussage aber stehe die von anderen Ärzten von ebenso grosser Au-<br />

torität entgegen. Fidelis traut aber auch den übrigen Virginitätszei-<br />

chen - Urinproben, Räucherungen, Zeichen des dicken Halses und<br />

der breiten Nasenspitze von Entjungferten - nicht. Alles in allem:<br />

Es gibt keine sicheren Jungfernschaftszeichen, wie auch Augenius<br />

bestätigt habe. Ein Starrkopf wäre also, beschliesst Fidelis seine Lek-<br />

93


Ausschnitt aus einem Titelblatt zu Fidelis’ «De relationibus ...», auf welchem in solchen<br />

Bildchen die Hauptthemen der seinerzeitigen Gerichtsmedizin dargestellt sind.<br />

tion über die Jungfernschaft, wer gegen so viele berühmte medi-<br />

zinische Autoren aufrecht erhalten wollte, diese Membran finde<br />

sich bei allen Jungfrauen und man könne hieraus ein sicheres Urteil<br />

über die Virginität ableiten 208 .<br />

Interessant ist ein Einleitungsgedicht zu Fidelis’ Werk aus der<br />

Leipziger Ausgabe von 1674, welches die Frage der Virginität<br />

gleich als erste anführt, während sie im Werke selbst als eine eher<br />

seltene Frage bezeichnet wird. Wieviel Tränen, wieviel Ehrverlust,<br />

heisst es da sinngemäss, wenn die Jungfrauschaft bezweifelt wird!<br />

Die Hebamme kommt dann, berührt die Jungfrau, sucht nach dem<br />

Hymen und urteilt danach - «o falsa matrum signa!» durch welche<br />

kaum zwischen Buhldirne und der Reinheit der Jungfrau unter-<br />

schieden wird 209 . Hier erscheint der medizinische Begutachter also<br />

als Erretter der Angeklagten - ein immer wiederkehrendes Motiv<br />

der poetischen Seite des Faches - und gerade das verlangt ihm die<br />

Ablehnung von Hebammen und Hymen ab.<br />

Die Auffassung, es gebe keinen Hymen und die Verwendung<br />

dieser Auffassung als Argument gegen die Gutachtertätigkeit und<br />

gegen die Sachkunde der Hebammen überhaupt, finden sich auch<br />

im weiteren Verlauf des Jahrhunderts. Sie findet sich in Roderico a<br />

Castros (um 1 46-1627) «Medicus politicus» von 1614 210 und noch<br />

1704 in dem brillanten und einflussreichen Buch des Leipzigers<br />

Johannes Bohn (1640-1718) «De officio medici duplici, clinici nimi-<br />

rum ac forensis» 211 . Bohn tritt zwar «männlich und gründlich», wie<br />

ihm ein späterer Historiker zuerkennt 212 , bereits sehr allgemein ge-<br />

gen alle Gutachtertätigkeiten der Hebammen auf, doch sein erstes<br />

94


spezielles Argument ist dabei immer noch die Virginitätsbegutach-<br />

tung und die Inexistenz von Virginitätszeichen, vor allem des Hy-<br />

mens 213 . Der Brauch, im Zusammenhang mit der Frage der Virgini-<br />

tät auf die Untauglichkeit der Hebammen zu sprechen zu kommen,<br />

hat sich noch länger gehalten, bis weit in die Zeit hinein, in der der<br />

Hymen bereits wieder als Virginitätszeichen anerkannt war - als ob<br />

die alte Assoziation ohne ihr altes Rationale fortbestanden hätte 214 .<br />

Vielleicht hat auch der Brauch der Hebammen, die Virginitätsbe-<br />

gutachtung für sich zu beanspruchen, und der juristische Brauch,<br />

sie hierfür beizuziehen, hier eine assoziationsverstärkende Rolle ge-<br />

spielt. «Diese Frage wäre sehr lächerlich», scheint jedenfalls Albrecht<br />

von Haller (1708-1777) in seiner gerichtsmedizinischen Vorlesung<br />

von 17 1 zur Frage der Gutachtertätigkeit der Hebammen gesagt<br />

zu haben, «wenn die Rechtsgelehrsamkeit nicht für gut gefunden<br />

hätte, ihr das Gepräge des Ernsthaften zu geben» 21 .<br />

Wenn hier zunächst versucht wurde, diese Frühphase unseres<br />

Themas auf ihre Standes- und sexualpolitischen Hintergründe hin<br />

zu durchleuchten, so heisst das nicht, dass in diesen Hintergründen<br />

die Motive der beschriebenen Entwicklung gefunden sein wollten.<br />

Schon mancher Historiker hat sich auf der Jagd nach Motiven<br />

verirrt; Motive sind Privatsache, auch bei historischen Persönlich-<br />

keiten, und der Historiker tut gut daran, mit seinem Verständnis<br />

nicht totalitär zu werden, sondern Diskretion walten zu lassen. Er<br />

muss froh sein, wenn er die Motive im Bereich der eigenen Person<br />

halbwegs zu fassen bekommt. Dass man aber auch für die Vergan-<br />

genheit versucht, die geschichtemachenden Funktionskreise zu re-<br />

konstruieren, in welche die überlieferten Quellen eingebaut waren,<br />

ist wohl legitim - und fruchtbar insofern, als man dabei lernen<br />

kann, auch den eigenen sprachlichen Ausdrucksweisen gegenüber<br />

funktionskritisch zu werden.<br />

9


96<br />

III. DIE NEUENTDECKUNG<br />

DER JUNGFERNHAUT<br />

In der zweiten Phase unseres Themas löste sich in der gerichtsmedi-<br />

zinischen Literatur der enge Zusammenhang von Hymen und Heb-<br />

ammen - es fällt diese Phase grob mit dem 17. Jahrhundert zu-<br />

sammen. Der Hymen wurde allmählich in seiner Existenz ganz, in<br />

seiner Aussagekraft über die Virginität bedingt, akzeptiert. Die<br />

Hebamme wurde weiter abgelehnt, aber nicht mehr nur als Gut-<br />

achterin, sondern als Praktikerin überhaupt, wobei anstelle des<br />

Einzelarguments, sie verstünde von ihrem gutachterlichen Kernge-<br />

biet, der Virginität, nichts, das Argument trat, sie sei ganz allge-<br />

mein inkompetent, woraus sich ihre forensische Inkompetenz ganz<br />

von selbst ergab 216 .<br />

Die Wiedereinführung des Hymens in die Gerichtsmedizin ge-<br />

schah unter dem Druck der anatomischen Befunde. Es war deshalb<br />

nicht der Hymen der Hebammen, der nun doch anerkannt worden<br />

wäre, sondern es war der Hymen der Anatomen (Berengario da<br />

Carpi, Vesal, Falloppius), wie ihn etwa Melchior Sebitz (1 78-1674)<br />

1630 in seiner «Disputatio de notis virginitatis» darstellte 217 . Melchior<br />

Sebitz war der Sohn eines gleichnamigen Stadtarztes im Elsass und<br />

selbst Anatomieprofessor und Stadtarzt in Strassburg. In seiner<br />

Schrift legt er den Streit um den Hymen dar; als Autoritäten, die<br />

dessen Existenz anerkennten, zitiert er die neuzeitlichen Anatomen,<br />

als Gegner vor allem Augenius. Er selbst findet die Ablehnung des<br />

Hymens lächerlich und missbilligt seine Betrachtung als selten und<br />

wider die Natur. Denn diese Membran existiere, er selbst habe sie<br />

oft gefunden und zweifle nicht, dass man sie bei Jungfern meistens<br />

finden könne. Der Hymen sei eine dünne Membran, die ohne wei-<br />

teres sichtbar werde, wenn man die Schamlippen, ohne Instrument,<br />

etwas spreize. Sie sei bald mondförmig, bald voller und lasse im-<br />

mer den Blasenausgang frei. Mit der Enge der Geburtswege, der<br />

Deflorationsblutung und dem Deflorationsschmerz zusammen<br />

halte er den Hymen für ein wahrscheinliches Virginitätszeichen.<br />

Sebitzens Arbeit ist später zum medizinhistorischen Klassiker ge-<br />

worden 218 .


Seinerzeit aber scheinen andere Formen der Re-integration des<br />

Hymens in die medizinische Wissenschaft eher vorgezogen worden<br />

zu sein. Es sind deren auch viele unterbreitet worden: die Veren-<br />

gung des Vallesius, die Verklebung des Fernel (s. S. 92), die beiden<br />

durch eine Art von Leim aneinanderhaftenden Membranen, wel-<br />

che Laurent Joubert (1 29-1 82) fand, als er, von Falloppius dazu an-<br />

geregt, nochmals nach dem schon ins Reich der Fabeln verwiese-<br />

nen Hymen suchte 219 .<br />

Mauriceau sah den Hymen wie Pineau, nämlich als: «I.I.I.I. Les caruncules myrthiformes.»<br />

97


Auch des Severinus Pinaeus (Mitte 16. Jh. bis 1619) Formel von<br />

1 98 gehört hierher. Pineau schreibt, alles, was über den Hymen<br />

gesagt und geschrieben worden sei, sei müssig und falsch. Es gibt<br />

keine transversale, perforierte Virginitäts-Membran. Aber einen<br />

Hymen gibt es eben doch, und zwar besteht er aus vier Mem-<br />

branen, welche nach abwärts gerichtet sind, und vier dazwischen<br />

befindlichen Carunceln. Eine solche Jungfernhaut ist nun wirklich<br />

bei den Jungfrauen vorhanden, und die Defloration besteht in der<br />

Zerreissung und Auseinandersprengung dieses blumenartigen Ge-<br />

bildes 220 . (Auch dieses Caruncel-Konzept hat seine Tradition, und<br />

caruncel-artige Gebilde als Virginitätszeichen finden sich schon in<br />

den drei von Joubert wiedergegebenen, die Virginität betreffenden<br />

Berichten von Hebammen 221 .) Übrigens zeigt die Titelseite einer<br />

Pineau-Ausgabe von 1639 - dies ein anderer Aspekt der poetischen<br />

Seite der Gerichtsmedizin - den Jäger Aktaion, der die jungfräuli-<br />

98


che Artemis beim Bade belauscht: das Hirschgeweih spriesst bereits<br />

auf seinem Kopf 222 .<br />

Jean Riolan der Jüngere (1 80-16 7) hat Pineaus Carunceln ver-<br />

worfen und stattdessen eine Enge des Scheideneingangs gefunden,<br />

welche durch eine Duplikatur des Uterushalses (= Vagina) gebil-<br />

det werde, und die zur Diagnose der Jungfernschaft beitrage 223 . Bei<br />

Riolan entwickelt sich also ein jungfernhautartiges Gebilde aus der<br />

alten, von den Medizinern immer anerkannten «Enge» - bei Re-<br />

gnier de Graaf (1641-1673) wird man die «Enge» dann voll zur Jung-<br />

fernhaut entwickelt finden 224 . Graafs wichtiges Werk über die<br />

weiblichen Genitalorgane von 1672 enthält nämlich im Kapitel<br />

«Hymen» eine modern anmutende Beschreibung dieser Formation,<br />

doch wird dabei der Name «Hymen» vorsichtig vermieden und<br />

von «vaginae orificii coarctatio» gesprochen. Diese Coarctatio be-<br />

De Graaf sah den Hymen als «jungfräuliche Enge». Legende: «E.E.E. Vaginae orificii<br />

coarctatio, prout eam in virgine 24. annorum invenimus.»<br />

99


greift, schreibt Graaf, alles in sich, was bisher als Hymen, caruncu-<br />

lae myrtiformes, jungfräuliche Verschliessung der Scheide beschrie-<br />

ben worden sei - man müsse sie allerdings von der Atresie scharf<br />

unterscheiden. Graafs Werk enthält auch eine Abbildung dieser<br />

Coarctatio - sie lässt sich von einem modernen Hymen nicht unter-<br />

scheiden. Als Stützen seiner Befunde zieht Graaf Autoritäten wie<br />

Berengario, Vesal, Falloppio herbei, aber auch solche, die wir als Geg-<br />

ner des Hymens kennengelernt haben, wie Vallesius, Fernel - und<br />

eben Riolan: so ist die von den Medizinern immer als Virginitätszei-<br />

chen anerkannte, nur ihrer Simulierbarkeit wegen skeptisch be-<br />

trachtete «Enge der Geburtswege» 22 zum nominell verworfenen<br />

«Hymen» umfunktioniert.<br />

Dem «Vater der Gerichtsmedizin», Paolo Zacchias (1 84-16 9),<br />

aber hat Pineaus Version am meisten eingeleuchtet. Wollten die<br />

Rechtsgelehrten wissen, schreibt er, ob eine Jungfernschaft ver-<br />

letzt sei, gäben sie, wo das Urteil der Hebammen kein sicheres sei,<br />

oder diese unter sich uneinig seien, diese Frage an die Ärzte weiter.<br />

Und wenn auch die Menge glaubt, es gebe sichere Virginitätszei-<br />

chen, namentlich den Hymen, so stimmten doch alle neueren Au-<br />

toren - Paré, Augenius, Joubert, Codronchi, Fidelis, Vallesius usw. -<br />

darin überein, dass der Hymen nicht als solches gelten könne. Denn<br />

wenn er überhaupt vorhanden ist, so muss er doch beim Beischlaf<br />

keineswegs zerreissen, namentlich wenn er hoch liegt, hart oder<br />

von der Menstruation etwas aufgeweicht ist. Es bestehe somit im<br />

Bezug auf den Hymen eine grosse Verwirrung. Wenn man unter<br />

dem Hymen aber mit Pinaeus vier durch Membranen verbundene<br />

Carunkeln versteht, welche aussehen wie Myrtenblätter, so ist die<br />

Sache klarer. Dieses Gebilde lässt auch Schlüsse über die Virginität<br />

zu. Und zwar ist auf Farbe, Grösse und Zusammenhalt der Carun-<br />

keln zu achten, denn diese sind bei Jungfrauen fetter, roter und<br />

durch vier Membranen verbunden. Diese Zeichen, wenn sie alle<br />

vorhanden sind, lassen nun allerdings doch einen gewissen Wahr-<br />

scheinlichkeitsschluss auf bestehende Virginität zu 226 .<br />

Unter dem grossen Einfluss Zacchias’ haben sich die Carunculae<br />

dann in der Gerichtsmedizin sehr lange gehalten. Gaspare a Rejes<br />

(geb. um 1600) nennt es mehr als sicher, dass es keinen Hymen<br />

100


gebe, während er die Existenz eines blumenähnlichen Caruncel-<br />

Gebildes konzediert 227 , und noch in Michael Albertis (1682-17 7) 228<br />

und in Hermann Friedrich Teichmeyers (168 -1746) Lehrbuch stehen<br />

die carunculae als Virginitätszeichen. Aber sie stehen da bereits ne-<br />

ben dem Hymen 229 .<br />

Die Hebammen haben von der allmählichen Rehabilitation der<br />

Jungfernhaut nichts gehabt. Ihre Geschichte hat sich von der des<br />

Hymens getrennt, als dessen Wiederaufstieg begann. Nicht durch<br />

die Autorität der Hebammen, sondern durch diejenige der Anato-<br />

men ist der Hymen wieder in Kurs gekommen; von den Anato-<br />

men, nicht von den Hebammen haben ihn die Gerichtsmediziner<br />

übernommen. So konnte dies auch keinen Einfluss haben auf die<br />

Beziehung der Ärzte zu den unterdessen recht heruntergekomme-<br />

nen Hebammen, die im 18. Jh. dann reif wurden, ihr Wissen in<br />

ärztlich geleiteten Hebammenschulen zu beziehen. Die Rehabilita-<br />

tion des Hymens bedeutete auch darum noch lange keine Rehabili-<br />

tation der Hebammen, weil die Gerichtsmediziner die Aussagekraft<br />

des Hymens in Bezug auf die Virginität vielfach viel weniger zu<br />

anerkennen geneigt waren als seine Existenz - was zum Teil wohl<br />

durch die Tradition, zum Teil aber gewiss auch durch die realen<br />

Schwierigkeiten der Virginitätsbeurteilung bedingt war. Man sieht<br />

das in der Fallsammlung von Michael Bernhard Valentini (16 7-1729)<br />

von 1722 230 , man liest es, scharf ausgesprochen, bei Johannes Bohn<br />

aus Leipzig in seinem massgebenden gerichtsmedizinischen Werk<br />

von 1704 231 , auch Alberti 232 und Teichmeyer 233 betonen sehr, dass es<br />

keine sicheren Virginitätszeichen gebe. Wiewohl gerade Teichmeyer<br />

eigentlich bereits in die dritte Phase unserer Geschichte gehört,<br />

denn er führt den «Hymen» bereits als Jungfernschaftszeichen Nr. 1<br />

auf 234 .<br />

101


102<br />

IV. DIE ANERKENNUNG DES HYMENS<br />

Es ist immer eine Portion Willkür bei Periodisierungen und der<br />

Bezeichnung von Autoren als Vorläufer, Väter oder Nachzügler.<br />

In gewissem Sinne leitet Sebitz jene dritte Phase, in welcher die<br />

Jungfernhaut «Hymen» genannt und als Virginitätszeichen aner-<br />

kannt wird, schon 1630 ein - aber man hat sich seinerzeit nicht auf<br />

seine Lösung des Problems geeinigt. Eine solche Einigung kam vor<br />

allem im 18. Jh., und zwar wahrscheinlich unter dem Einfluss des<br />

Giovanni Battista Morgagni (1682-1771) zustande. Der junge<br />

Morgagni hat am Anfange jenes Jahrhunderts (1706) 23 bereits ver-<br />

kündet, der Hymen könne bei Jungfrauen regelmässig gefunden<br />

werden - schon Vesal habe ihn beschrieben - und wer die caruncu-<br />

las myrtiformes als Hymen ansehe, habe entweder keine Jung-<br />

frauen seziert oder nicht genau beobachtet, denn die Carunculae<br />

seien nur die Überreste des Hymens, und nur bei Entjungferten zu<br />

sehen. In dieser Sache sei dem gelehrten Riolan 236 und Munnickius<br />

(Johannes Munnicks, 16 2-1701) zuzustimmen. Tatsächlich findet<br />

man in Munnicks «Anatomia nova» (1699) die Bemerkung, die drei<br />

carunculae myrtiformes - die Zahl der Carunkeln variiert im Laufe<br />

der Geschichte 237 - seien nichts als die Überreste des infolge des Bei-<br />

schlafs zerrissenen Hymens 238 . Morgagni hat diese Ansicht später<br />

wiederholt und noch weitere Autoritäten dafür beigebracht 239 .<br />

Und diese Lösung hat sich dann, wohl auch im Zusammenhang<br />

mit Morgagnis wachsender Autorität, im Laufe des Jahrhunderts<br />

durchgesetzt.<br />

Teichmeyer kannte Morgagnis Ansicht bereits 240 ; sein prominenter<br />

Schwiegersohn Albrecht von Haller aber, der aufgrund von Teich-<br />

meyers Lehrbuch gerichtsmedizinische Vorlesungen hielt, hat sie of-<br />

fenbar zur seinen gemacht. Die myrtenförmigen Drüsen, heisst es<br />

in der Übersetzung einer Niederschrift seiner Vorlesungen, «hätte<br />

... der Autor aus der Zal der Zeichen ausstreichen sollen ... diss von<br />

Pinaeus zuerst gelehrte, und durch ihn nach der Hand in so manches<br />

Buch eingeschlichne falsche Zeichen, ist weiter nichts, als ein desto<br />

deutlicheres Merkmal einer verabschiedeten Keuschheit» 241 . Wäh-<br />

rend Haller weder an der Existenz des Hymens noch an seiner


Tauglichkeit als Virginitätszeichen zweifelt. Die Erfahrung wider-<br />

spreche den Gegnern des Hymens, soll er gesagt haben, «und ich<br />

selbst bewahre ein Hymen von einer Jungfer von 4 Jahren ...»<br />

Und: man könne «sicher im allgemeinen die Gegenwart des Hy-<br />

mens als ein Zeichen der Jungferschaft gelten lassen» 242 . Diese An-<br />

sicht hat sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts dann durchge-<br />

setzt, und gegen Ende des Jahrhunderts findet man in Joseph Jakob<br />

Plenks (1738-1807) durchaus unoriginellem Kompendium der<br />

gerichtlichen Medizin (1782) den Zustand des Jungfernhäutchens<br />

ganz einfach als das Hauptkennzeichen der unverletzten bezie-<br />

hungsweise verletzten Jungfrauschaft deklariert 243 .<br />

Damit konnte sich nun aber doch - und sei es nur des histori-<br />

schen Interesses wegen - die Frage erheben, ob denn die medizini-<br />

sche Wissenschaft nun auf die Virginitätsdiagnostik der alten Heb-<br />

ammen gekommen sei, und ob nun die Hebammen rückwirkend<br />

rehabilitiert werden müssten? Es ist wohl kein barer Zufall, dass<br />

sich gerade Morgagni der Beantwortung dieser Frage angenommen<br />

hat. 1763 244 hat er - in seinem und seiner Kollegen Namen, wie es<br />

heisst - ein Gutachten verfasst über die Frage, ob die Beurteilung<br />

der Virginität den Hebammen zu überlassen sei 24 . Und hier wird<br />

nun nochmals über «Hebammen und Hymen» gesprochen. Die<br />

Zeichen der Jungfernschaft sind unsicher, beginnt der Autor, das<br />

bezeugten die Doktoren von jeher. Wenn aber die Doktoren in<br />

dieser Sache unsicher sind, wieviel weniger werden die Hebam-<br />

men, die über keine Doktrin und keine Anatomie verfügen, da zu-<br />

ständig sein?<br />

Immerhin gibt es zwei Zeichen, die auf Virginität hinweisen<br />

können: die Enge beim Orificium vaginae und die Membran, die<br />

Hymen genannt wird. Die Enge kann sich spontan oder durch<br />

<strong>Krankheit</strong> wieder herstellen oder durch die Bosheit der <strong>Frau</strong>en si-<br />

muliert werden - nach Michael Alberti können <strong>Frau</strong>en ihre Vagina<br />

auch durch einen speziellen Muskel so zusammenziehen, dass eine<br />

jungfräuliche Enge resultiert.<br />

Der Hymen kann als Virginitätszeichen ebenfalls täuschen. Doch<br />

zuerst muss gesagt werden, was überhaupt ein Hymen ist und was<br />

nicht. Denn es ist nicht mit den Hebammen zu irren und als Hy-<br />

103


men zu betrachten, was Paré als widernatürliche Verschliessung<br />

nachgewiesen hat, weshalb auch viele andere Autoren dieses Ge-<br />

bilde als widernatürlich und sehr selten beschrieben haben. Eigent-<br />

lich hätten die Hebammen, die sich mit ihrer Erfahrung in Jung-<br />

fernschaftssachen so sehr brüsten, diesen Irrtum am ersten fallenlas-<br />

sen sollen -, doch sie haben im Gegenteil, wie wiederum Paré be-<br />

zeugt, versichert, sie könnten anhand dieser Membran mit Gewiss-<br />

heit eine Jungfrau von einer Angetasteten unterscheiden. Wenn<br />

aber die Pariser Hebammen, die doch als einigermassen fachkundig<br />

gelten, in diesen Irrtum fallen, wieviel mehr ist von unseren Heb-<br />

ammen zu befürchten. Wie ja auch Schurig (Martin Schurig, 16 6-<br />

1733, ein berühmter gynäkologisch-geburtshilflich-embryologi-<br />

scher Kompilator) schreibe, früher seien die Hebammen gelehrte<br />

und fachkundige <strong>Frau</strong>enärztinnen gewesen, während sie heute nur<br />

noch zum Nabelabschneiden und zum Auffangen des Neugebore-<br />

nen taugten. Deshalb auch übertrüge ihnen der Magistrat nie mehr<br />

die Besichtigung und Begutachtung von <strong>Frau</strong>en, die Hebamme<br />

werde lediglich noch als Helferin des Arztes gebraucht.<br />

Wenn wir die Berichte unserer Hebammen lesen, fährt Morgagni<br />

fort, ist es verwunderlich, was da an monströsen und wunderbaren<br />

Dingen steht über ein Jungfernhäutchen, über die Kohärenz der<br />

Teile und was sie sonst alles gefunden haben wollen. Und wenn<br />

man sie dann fragt, was sie meinten, wissen sie entweder nichts<br />

oder etwas ganz falsches zu antworten. Denn sie kennen die Litera-<br />

tur nicht. Sie kennen Pineaus Werk nicht, und wenn sie’s sähen,<br />

würden sie’s nicht verstehen, denn auch er irrt insofern, als er die<br />

Überreste des Hymens, die Carunculae, als Virginitätszeichen be-<br />

trachtet.<br />

Abgesehen von diesen fälschlicherweise als Hymen bezeichneten<br />

seltenen Missbildungen - gibt es nicht vielleicht doch ein Gebilde,<br />

das zu recht als Hymen bezeichnet wird? Gewiss, nämlich immer<br />

an demselben Ort, im Eingang der Vagina, findet man eine Dupli-<br />

catur der Scheidenwand, die etwas ringförmig so gelegen ist, dass<br />

ein Foramen freibleibt. Die besten Anatomen haben dieses Gebilde<br />

beschrieben - es folgt auch hier reichliches Autoritätenmaterial.<br />

Wieso aber haben so viele andere hochgelehrte Männer den Hy-<br />

104


men nicht gefunden? Hierfür hat Morgagni zwei Antworten. Er-<br />

stens sieht der Hymen nicht bei allen Jungfrauen gleich aus. Zwei-<br />

tens aber suchten diese Autoren ein verschliessendes Gewebe statt<br />

eines ringförmigen, und diese «animi dispositio» war ihrer For-<br />

schung ein schweres Hindernis. Nirgends zeigt sich das klarer als<br />

bei Regnerus de Graaf, der den Hymen korrekt abgebildet hat und<br />

dennoch schreibt, er habe ausser einer Verengung des Scheidenein-<br />

gangs keinen Schutz der Virginität gefunden. Wenn aber so geübte<br />

Anatomen den schon vor ihnen beschriebenen Hymen sehen kön-<br />

nen, ohne ihn infolge einer vorgefassten Meinung als Hymen an-<br />

zuerkennen, wie sollen dann die Hebammen, die nie eine solche<br />

Beschreibung gelesen haben, ihn erkennen? Deshalb urteilen wir,<br />

schreibt der Autor, es sei den Hebammen kein Vertrauen zu schen-<br />

ken. Und nach einem Exkurs über die Täuschungsmöglichkeiten<br />

bei der Beurteilung des Hymens - er kann sehr wohl intakt einen<br />

Beischlaf überstehen und die Beurteilung ist sehr schwierig - noch-<br />

mals: Wir Ärzte meinen einstimmig, es sei das Urteil der Hebam-<br />

men über die Virginität der <strong>Frau</strong> unsicher.<br />

10


106<br />

AUS DER MEDIZINGESCHICHTE<br />

DER EINBILDUNGEN (1978)<br />

I. EINBILDUNG, IDEE UND KREATIVITÄT:<br />

PSYCHOGENIE DER ERSCHEINUNG<br />

IM 16./17. JAHRHUNDERT<br />

Wenn man im Brockhaus, Ausgabe 1960, unter «Einbildung» nach-<br />

schlägt, so findet man diese definiert als «Vorstellung, der keine<br />

Wirklichkeit entspricht». Als zweite Bedeutung steht da noch «der<br />

Dünkel» - auch der dünkelhaften Vorstellung von der eigenen Per-<br />

son entspricht ja keine Wirklichkeit 246 .<br />

Wenn man nun aber die «Einbildung» im neuesten Brockhaus von<br />

1968 sucht, findet man sie nicht mehr. Hingegen findet man da,<br />

zum Hauptschlagwort aufgerückt, die viel ernster genommene, mit<br />

der Phantasie und schöpferischer Potenz verwandte «Einbildungs-<br />

kraft» 247 .<br />

Nun, das könnte ein Zufall sein, ein Versehen, ein personeller<br />

Wechsel in der Brockhaus-Redaktion. Es könnte aber auch die Wi-<br />

derspiegelung einer Entwicklung sein, die seit den späteren 60er<br />

Jahren tatsächlich ein ganz neues Ernstnehmen der Einbildungs-<br />

kraft mit sich gebracht hat, ein Ernstnehmen, welches in der Auf-<br />

fassung der Einbildung als «Vorstellung, der keine Wirklichkeit<br />

entspricht» unsicher gemacht hat. Tatsächlich erscheint heute die<br />

Beziehung zwischen Einbildung und Wirklichkeit auch weiteren<br />

Kreisen nicht mehr so einfach wie noch 1960, und keineswegs mehr<br />

einfach die eines gegenseitigen Ausschlusses.<br />

Historisch gesehen kann man dieses neue Ernstnehmen der Kraft<br />

der Einbildung als eine Renaissance bezeichnen - als eine Wieder-<br />

geburt alten Gedankenguts in neuer Form. In ähnlicher Weise wie<br />

manche moderne Gelehrte nahmen die Gelehrten der frühen Neu-<br />

zeit die Einbildung, die Idee, die Phantasie ernst. Sie gestanden den<br />

Einbildungen vielfach einen erheblichen Wirklichkeitscharakter zu<br />

und sprachen dabei respektvoll auch von «Imaginatio». Auch die<br />

Medizin rechnete mit der Realität von Einbildungen.


Es sollen nun hier zwei medizinhistorische Entwicklungslinien<br />

verfolgt werden, die jene frühe «Imaginatio» mit der modernen<br />

Einbildung und Einbildungskraft verbinden. Die eine führt - etwas<br />

kurz und etwas grob gesagt - über den Oberbauch, die andere über<br />

die Gebärmutter.<br />

Doch zunächst ein allgemeiner Umriss der Imaginatiolehre des<br />

16. und frühen 17. Jahrhunderts.<br />

1 86 ist in Mantua ein Buch bzw. sind «Sechs Bücher über Wun-<br />

dermedizin» herausgekommen. Der Autor dieses Werks war Mar-<br />

cellus Donatus (1 38-1603). Im ersten Kapitel des zweiten Buches<br />

behandelt Donatus ziemlich eingehend die wunderbaren Wirkun-<br />

gen der Einbildungskraft 248 . Die Imaginatio wirkt durch Vermitt-<br />

lung anderer - verdauender, ausscheidender, generativer usw. -<br />

Kräfte auf den Körper ein. So gähnen wir, wenn wir andere gäh-<br />

nen sehen, und erbrechen, wenn wir Abscheuliches sehen. Eine<br />

<strong>Frau</strong> gebar ein Mädchen, welches über und über mit Haaren be-<br />

deckt war, weil die Mutter während der Schwangerschaft oft das<br />

Bild des St. Johannes ( Johannes der Täufer in Fellkleidung) be-<br />

trachtet hatte. Einer Wirkung der Einbildungskraft ist es auch zu<br />

verdanken, dass es in schneeigen Gegenden viele weisse Hasen,<br />

weisse Füchse, Bären, Raben, Mäuse, Pfauen gibt. Eine <strong>Frau</strong>, die<br />

ums Fest der heiligen drei Könige schwanger war, gebar drei<br />

Söhne, deren einer schwarz war wie der Mohrenkönig. Eine<br />

Schwangere, die von ihrem Gatten bedroht wurde, er spalte ihr den<br />

Schädel, gebar später ein Kind mit gespaltenem Schädel, welches<br />

gleich nach der Geburt verblutete. Eine <strong>Frau</strong>, die einen Wasserkopf<br />

sah, gebar ein wasserköpfiges Kind. In typischer Weise ist die Ima-<br />

ginatio bei der hypochondrischen Melancholie gestört - da folgen<br />

die Geschichten von denen, die glauben, Frösche im Bauch zu<br />

haben, die nicht zu gehen wagen, weil sie glauben, gläserne Füsse<br />

zu haben, die glauben, Wölfe oder Dämonen zu sein oder mit Dä-<br />

monen Umgang zu haben. Donatus diskutiert die Frage, wie weit<br />

die Imaginatio auf äussere Gegenstände einwirken könne? Er ist da<br />

sehr zurückhaltend. Dass man per imaginationem Regen, Hagel,<br />

<strong>Krankheit</strong>en von Feinden behebig herstellen könne, lehnt er ab. Es<br />

107


wäre absurd, der Imaginatio unendliche Kräfte zuzuschreiben. Die<br />

Wirkung der Imaginatio setzt eine gewisse Nähe voraus. Donatus<br />

beschäftigt sich recht eingehend mit der Beziehung der Imaginatio<br />

zu den traditionellerweise der Hexerei und dämonischen Einwir-<br />

kungen zugeschriebenen Phänomenen - er zeigt sich dabei vorsich-<br />

tig und kritisch. Die Lehre, dass die Wunden einer Leiche in An-<br />

wesenheit des Mörders bluten, hält er für falsch.<br />

Die «Einbildung» ist also nicht immer etwas «Eingebildetes» ge-<br />

wesen. Sie war einst eine Kraft von ziemlichem Wirkungsradius<br />

und etwas sehr Reales. Sie war ein philosophisch-naturwissen-<br />

schaftliches Prinzip von hohen Würden, verwandt mit Begriffen<br />

aus dem Umkreis der Phantasie, der Idee, der Schöpferkraft und<br />

des Gedächtnisses 249 . Sie war ein physiologisches Prinzip von er-<br />

heblicher Bedeutung und diente zur Erklärung der verschieden-<br />

sten, in moderner Sicht heterogensten Phänomene, nicht unähnlich<br />

demjenigen von Sympathie und Antipathie und den bis heute,<br />

wenngleich unter teilweisem Bedeutungswandel fortlebenden<br />

Prinzipien der Kontagien und des Giftes.<br />

Die damalige Medizin war eben genau wie die unsrige eingebet-<br />

tet in das weitere Weltverständnis ihrer Zeit. Man sieht das deut-<br />

lich in dem Büchlein «De viribus imaginationis» des Löwener Me-<br />

dizinprofessors Thomas Fienus (1 67-1631) von 163 . Fienus stellt<br />

die medizinischen Wirkungen der Einbildungskraft (physiologisch,<br />

pathologisch und therapeutisch) ganz in den Rahmen einer umfas-<br />

senderen Lehre von der Leib-Seele-Beziehung und der Beziehung<br />

des Menschen zu seiner sichtbaren und unsichtbaren Umwelt 2 0 .<br />

Eine zentrale Stellung hat die Lehre von den Einbildungen im<br />

medizinischen Werk des Johannes Baptista van Helmont (1 77-1644)<br />

inne 2 1 . Helmont hat vor seinem Medizinstudium Philosophie und<br />

zahlreiche Wissenschaften studiert. Er ist heute vor allem berühmt<br />

als Entdecker der Kohlensäure und Schöpfer des Begriffs «Gas»; er<br />

hat, von Paracelsus beeinflusst, den chemischen Gesichtspunkt in der<br />

Medizin sehr gepflegt. Unter dem Einfluss von Paracelsus (1493-<br />

1 41) und des Philosophen Platon Ideenlehre hat van Helmont auch<br />

seine Lehre vom «Archaeus» entwickelt. Der Archaeus influus ist<br />

108


das oberste physiologische Prinzip im menschlichen Organismus.<br />

Ihm unterstehen die Archaei der einzelnen Organe. Der oberste<br />

Archaeus hat seinen Sitz in Magen und Milz bzw. in der Magen-<br />

grube. Der Archaeus ist zugleich ein psychisches Prinzip. Krank-<br />

heit ist nun bei Helmont im wesentlichen ein Zustand, in welchem<br />

der Archaeus, veranlasst durch eine Idea morbosa, die sich ihm ein-<br />

geprägt hat, die Funktion des Organismus nicht mehr in normaler<br />

Weise regelt. Damit ist <strong>Krankheit</strong> bei Helmont im wesentlichen ein-<br />

gebildete <strong>Krankheit</strong> im eigentlichen Sinn des Wortes - aber «Ein-<br />

bildung» bedeutet hier nicht Unwirklichkeit. Sie ist allerdings zu-<br />

nächst immateriell - setzt sich dann aber in materielle Wirklichkeit<br />

um.<br />

Das Bild einer <strong>Krankheit</strong> kann also ganz realiter zur Ursache<br />

eben dieser <strong>Krankheit</strong> werden. «So siehet man nun auch manche<br />

Pest», schreibt Helmont, «welche alleine herkommet aus thörichter<br />

Einbildung und Schrecken, ohne dass jemand in angesteckten Or-<br />

ten sey: Und diese ist gantz schnell und gifftig» 2 2 - es handelt sich<br />

dabei um Bilder, die sich dem Magen eingeprägt oder, wie Helmont<br />

sich ausdrückt, «eingesiegelt» haben, um «Eindrücke» im engsten<br />

Sinn des Wortes. Aber auch Blutungen, die Gelbsucht, Epilepsie,<br />

Engbrüstigkeit, Herzzittern, Amenorrhoe, Paralysis können ideo-<br />

gen sein 2 3 . «Auf solche Weise kan der Geifer eines wütenden Hun-<br />

des, der Biss einer Tarantelspinne oder Schlange, wie auch der Saft<br />

von Eisenhütlein (napelli) ... oder Nachtschatten (solani) uns wie-<br />

der unserm Willen das Bild der Raserey mittheilen» 2 4 .<br />

Übrigens setzte van Helmont seine Bilder-Lehre auch zur Ratio-<br />

nalisierung der Auffassung ein, dass die Leiche eines Ermordeten in<br />

Gegenwart des Mörders zu bluten beginne. Er führte dieses Phäno-<br />

men auf das ins Geblüte «eingedruckte Bild der Rache» zurück 2 .<br />

Dies nur, um festzuhalten, dass die Lehre von den Einbildungen<br />

wohl eine graue Theorie gewesen sein mag, dass sie aber, wie alle<br />

grauen Theorien, durchaus blutige Konsequenzen haben konnte.<br />

Denn auf Mord stand seinerzeit Todesstrafe. «Ob gleich das einge-<br />

bildete Dinge», sagt van Helmont, «am Anfange nichts anders ist als<br />

ein blosses phantastisches Getichte, so bleib(t) es doch nit so; sinte-<br />

mal die Phantasie eine Siegel-mässige Krafft ist, welche deswegen<br />

109


die Einbildungs-Krafft genennet wird, weil sie von den eingebilde-<br />

ten Dingen Bilder oder Gestalten formieret» 2 6 .<br />

An sich konnte jedes Organ als Sitz irgendeines untergeordneten<br />

Archaeus Ort von Imaginationes sein. So konnte das Blut, das<br />

Herz, der Magenmund, bei der <strong>Frau</strong> auch die Gebärmutter, Sitz<br />

pathogener Einbildungen werden. Ein Hauptsitz blieb aber immer,<br />

mindestens beim Mann, ihrer Beziehung zum obersten Archaeus<br />

wegen, die Milz. «Der Milz», schreibt Helmont, «hat seine stelle<br />

mitten in dem Stamm des Leibes» - zwischen Magen, Herz und<br />

Uterus, «weil er gleichsam die Wurtzel ist des gantzen Leibes.»<br />

<strong>Krankheit</strong> aber nimmt ihren Anfang oft «von einer gewissen unbän-<br />

digen Einbildungs-Krafft, so sich unter die Macht des Willens nit<br />

zwingen läst, und ihren Sitz in dem Miltz hat.» Die Milz ist da also<br />

ein Zentrum, «ein Brunn-Quell», sagt Helmont, «so wohl der jeni-<br />

gen Bilder, die formiret werden in der Einbildung des Menschen,<br />

als auch der Bilder des Lebens-Geistes» 2 7 . Auch Träume entstehen<br />

in der Milz - und die fleischlichen Begierden, namentlich die des<br />

Mannes 2 8 . Bei der <strong>Frau</strong> kommt als zweiter Brunn-Quell die Gebär-<br />

mutter hinzu - «woraus ... zu sehen ist, dass in einem Weibs-Bilde<br />

ein zweyfaches Regiment zu finden sey». «Nemlich es ist die Mut-<br />

ter ... gleichsam wie ein ander Miltz.» «Und ist demnach eine<br />

Weibs-Person wol eine elende Creatur, die einer solchen Obrigkeit<br />

unterthänig seyn muss: Denn sie ist erstlich vielen Kranckheiten<br />

unterworffen als ein Mensch; und muss hernach denselben eben<br />

auch abermal unterworffen seyn, von dem Wesen, das aus der<br />

Mutter herkommt. Nemlich sie muss biss auf den heutigen Tag eine<br />

zwiefache Straffe ausstehen, eben als wenn sie sich in Eva doppelt<br />

versündiget hätte» 2 9 .<br />

Damit stehen die vom Uterus und die von der Milz ausgehenden<br />

Einbildungs-<strong>Krankheit</strong>en bei Helmont sozusagen als Modellkrank-<br />

heiten. Wir wollen diese beiden Modelle nun ins 18. und 19. Jahr-<br />

hundert verfolgen und sehen, was daraus geworden ist.<br />

110


II. MILZ (OBERBAUCH)<br />

UND HYPOCHONDRIE:<br />

DIE IDEA MORBOSA<br />

WIRD ZUR KRANKHEITSEINBILDUNG<br />

Die von der Milz ausgehende Einbildungskrankheit ist in recht di-<br />

rekter Linie zum Zustand der <strong>Krankheit</strong>seinbildungen, der Noso-<br />

phobie, geworden. Der Begriff der Einbildung hat sich dabei all-<br />

mählich entrealisiert, die «Imaginatio» unserer Väter wurde zur<br />

«Einbildung» des Brockhaus 1960. Helmonts Hypochondrie wurde<br />

zur Hypochondrie modernen Verständnisses. Denn um ein eigent-<br />

lich «hypochondrisches», nämlich in den Hypochondrien gelegenes<br />

Leiden handelt es sich wirklich bei Helmont («hypo» heisst grie-<br />

chisch «unter», «chondros» «der Knorpel»; «to hypochondrion»:<br />

der weiche Teil des Leibes unter und hinter den Rippenknorpeln,<br />

die Gegend von Magen, Leber - und Milz). Und so sagt Helmont<br />

von den der Milz innewohnenden Bildern: «Daher sie auch etwas<br />

Miltz-süchtiges (hypochondriam) von sich spüren lassen.» Es sind<br />

Bilder, welche oft «solche Zustände gebähren, die ... Zeichen von<br />

einem Miltz-süchtigen Aberwitz, wie auch von allerhand Verwir-<br />

rung und Zerstörung von sich geben» 260 . Helmont betrachtete sein<br />

Milz-Einbildungsleiden also als etwas Hypochondrisches - nur dass<br />

er den körperlichen Leiden seiner Hypochonder körperliche Reali-<br />

tät zubilligte. Die Imaginatio war für ihr ja nichts Imaginäres.<br />

Im 18. Jahrhundert wurde die Hypochondrie zur überaus weit-<br />

verbreiteten Volksseuche 261 . Man nannte sie nun auch «die Milz-<br />

sucht» oder einfach «die Milz», englisch «the Spleen» (auch der<br />

Spleen ist erst später zum wirklichkeitsfremden Spleen unseres Ver-<br />

ständnisses geworden).<br />

Es muss nun aber hier etwas nachgetragen werden. Es waren<br />

nämlich nicht nur krankmachende Bilder in der Milz, es waren<br />

auch - und das war sogar die weit geläufigere Version - krankma-<br />

chende Säfte, namentlich die schwarze Galle, auf die man die Hy-<br />

pochondrie in alter Tradition zurückzuführen pflegte. Im Rahmen<br />

der Viersäftelehre betrachtete man den Organismus ja als ein En-<br />

111


semble von Blut, Schleim, gelber Galle und schwarzer Galle.<br />

<strong>Krankheit</strong> war die Folge eines Ungleichgewichts in dieser Vier-<br />

heit, einer Dyskrasie, ähnlich wie <strong>Krankheit</strong> für Helmont die Folge<br />

einer Störung im Ideen-Haushalt war. Interessant ist allerdings, dass<br />

auch im Rahmen der Humoralpathologie die Milz eine besondere<br />

Rolle spielte: sie war nämlich der Ort der Bildung oder mindestens<br />

der Anstauung der schwarzen Galle. Die schwarze Galle aber war<br />

im Rahmen der Viersäftelehre sozusagen der pathogene Saft par<br />

excellence. Sie trug, in einem gewissen Gegensatz zu den drei an-<br />

deren Säften, sozusagen von Anfang an den Keim zum Pathologi-<br />

schen in sich. Ein Übermass an schwarzer Galle machte die «Me-<br />

lancholie» aus (melas = schwarz; chole = die Galle) - die schwarze<br />

Galle konnte ursprünglich für Verstimmungen, aber auch für<br />

Magen-Darm-Leiden, Krebs und Malaria verantwortlich sein. Bei<br />

Malaria konnte man die von schwarzer Galle aufgeschwollene<br />

Milz ja sogar palpieren und die schwärzlich-gallig verfärbte Haut<br />

sehen.<br />

Die «Hypochondrie» des 18. Jahrhunderts hat in gewissem Sinne<br />

die klassische Melancholie abgelöst. Das 18. Jahrhundert glaubte<br />

nicht mehr so recht an die Viersäftelehre, und es waren Zweifel<br />

daran durchgedrungen, ob es einen schwarzgalligen Saft wirklich<br />

gebe. Man war anatomischer und lokalistischer geworden. So<br />

sprach man nun lieber von der Milz und der «hypochondrischen<br />

Gegend» als von der schwarzen Galle, lieber von «Hypochondrie»<br />

als von «Melancholie». In Form schwarzer oder schwärzlicher<br />

Dünste und Dämpfe allerdings mochte der alte schwarze Saft noch<br />

nachspuken. Solche Dämpfe im Oberbauch verursachten die<br />

berühmten Blähungen der Hypochonder des 18. Jahrhunderts und<br />

ihre Winde, um die sie sich so liebevoll und intensiv kümmerten,<br />

dass man die Hypochondrie bzw. die Milzsucht auch «windige<br />

Melancholey», «Blähsucht», «Windsucht» nannte, in England «va-<br />

pours», in Frankreich «les vapeurs» 262 .<br />

Die Hypochondrie des 18. Jahrhunderts konnte die allermannig-<br />

faltigsten Symptome haben, nicht anders als die ältere Melancholie<br />

und die Störungen des Milz-Archaeus des Helmont. Wie diese war<br />

sie ursprünglich ein keineswegs harmloses Leiden - es konnten<br />

112


auch Tetanus, schwarzes Erbrechen, Gelbsucht 263 dazugehören, und<br />

es gab Autoren, welche die im 18. Jahrhundert so panisch gefürch-<br />

tete Entvölkerung des Erdballs darauf zurückführten 264 . Typischer-<br />

weise gehörten dazu aber auch psychische Störungen, und dies vor<br />

allem dann, wenn die hypochondrischen Gase und Schadstoffe in<br />

den Kopf aufstiegen 26 . Denn das 18. Jahrhundert hatte die alte Tra-<br />

dition, die Seele mindestens zum Teil im Oberbauch zu lokalisieren<br />

(die mit der Melancholielehre wie mit Helmonts Ideenlehre in enger<br />

Beziehung steht), weitgehend vergessen und stattdessen das Zen-<br />

tralnervensystem bzw. das Gehirn als einzigen Seelenträger gesetzt.<br />

Auch Einbildungen, fixe Ideen, Spleens, Grillen entstanden vor-<br />

wiegend durch ein derartiges Mit-Leiden des Gehirns - man spricht<br />

ja heute noch davon, dass jemandem etwas «in den Kopf gestiegen»<br />

sei, wenn man ihn als «eingebildet» empfindet.<br />

Einbildungen gehörten allgemein zu den wichtigsten psychi-<br />

schen Erscheinungen der Hypochondrie - man nannte diese daher<br />

auch «Grillenkrankheit». Eine geradezu zentrale Stellung nahmen<br />

Der scharlataneske Doktor von Kalabrien (ca. 17. Jh.) befreit seine Patienten durch che-<br />

miatrische Methoden von ihren Einbildungen in Kopf und Bauch: Würmer, Hasen, wis-<br />

senschaftliche und künstlerische Dinge, allerlei Mücken.<br />

113


speziell die eigentlichen «<strong>Krankheit</strong>seinbildungen» ein. Damit sind<br />

wir eigentlich wieder bei van Helmonts Assoziation von Milz,<br />

<strong>Krankheit</strong>, Hypochondrie und Einbildung. Nur dass die hypo-<br />

chondrische Einbildung des 18. Jahrhunderts gegenüber derjenigen<br />

Helmonts gewaltig an Realitätswert eingebüsst hat. Sie ist nicht<br />

mehr die reale Ursache wirklicher körperlicher Veränderungen, sie<br />

ist bestenfalls noch ein unspezifisches Symptom einer körperlichen<br />

Störung von immer mehr verschwindender Bedeutung. So wurde<br />

die Hypochondrie im Laufe des 18. Jahrhunderts zur eigentlichen<br />

«eingebildeten <strong>Krankheit</strong>» im modernen Sinn. So ordnet Carl von<br />

Linné (1707-1778), Arzt und Pflanzensystematiker, der nicht nur<br />

die Blumen, sondern auch die <strong>Krankheit</strong>en klassifiziert hat, die Hy-<br />

pochondrie der Klasse , morbi mentales, Ordnung 2, morbi ima-<br />

ginarii zu und definiert sie als «imaginatio fati lethalis ex levi<br />

malo» 266 . Ein anderer Systematiker jener Zeit nannte die Hypo-<br />

chondrie ein Leiden, «wobey der Kranke aus... leichten Übeln, die<br />

er empfindet, sich einbildet, in würklicher Todesgefahr zu seyn» 267 .<br />

Am Ende des Jahrhunderts findet man als hypochondrisch bezeich-<br />

net: die «Einbildung eines gewissen Zustandes des Körpers, in dem<br />

sich der Kranke nicht befindet» 268 .<br />

Ein gewisser Realitätscharakter blieb der Hypochondrie aber zu-<br />

erkannt - sonst wäre sie ja nichts gewesen, und vor allem nichts,<br />

womit der Arzt sich beschäftigt hätte. Die Realität, die man ihr zu-<br />

gestand, war entweder die eines Symptoms - das sich von einem<br />

realen körperlichen Leiden ableitet - oder dann eine psychologi-<br />

sche Realität. «Die hypochondrische <strong>Krankheit</strong> eine Einbildung zu<br />

nennen, ist Unwissenheit und Grausamkeit», schreibt 1766 der<br />

englische Naturforscher John Hill (1716-177 ). «Es ist eine wirkli-<br />

che und betrübte <strong>Krankheit</strong>: eine Verstopfung der Milz, welche<br />

von verdicktem unordentlichem Blute entstehet, und sich oft bis in<br />

die Leber und andere Theile ausbreitet» 269 . Ulrich Bilguer (1720-<br />

1796) führt die hypochondrische Verrücktheit 1767 auf eine «im<br />

Unterleibe liegende gallichte Materie» zurück, welche «die Werk-<br />

statt der Ideen belästiget» 270 . Und John Gregory (1724-1773) schreibt<br />

über die Hypochonder, die er nun Nervenkranke nennt: «Ob-<br />

gleich die Furcht dieser Patienten gemeiniglich ohne Grund ist, so<br />

114


sind doch ihre Leiden wirklich: ... Ihre Klagen mit Spott oder<br />

Verachtung, als Wirkungen einer zerrütteten Einbildungskraft zu<br />

behandeln, ist ebenso thöricht, als grausam. Diese Klagen entsprin-<br />

gen meistentheils aus körperlichen Übeln ... und gesetzt auch, dass<br />

sich die Sache anders verhielte, so bleibt es immer die Pflicht des<br />

Arztes, ... zur Erquickung der Leidenden beyzutragen. Zerrüttun-<br />

gen der Einbildungskraft gehören eben sowohl für den Arzt, als<br />

Gebrechen des Körpers ...» 271 . Immanuel Kant (1724-1804) unter-<br />

scheidet «die Grillenkrankheit (hypochondria vaga), welche gar<br />

keinen bestimmten Sitz im Körper hat, ein Geschöpf der Einbil-<br />

dungskraft ist, und daher auch die dichtende heissen könnte» und<br />

die «hypochondria abdominalis», die eine körperliche Grundlage<br />

hat. Die erste ist ebenso ernst zu nehmen wie die zweite - es ist so-<br />

zusagen ein seelisches Leiden, durch Vernunft nicht zu beheben -<br />

«ein vernünftiger Mensch statuirt keine solche Hypochondrie» 272 .<br />

Die Realität, die der <strong>Krankheit</strong>seinbildung in der Folge zuer-<br />

kannt wird, ist dann vor allem diese psychologische - man kann<br />

auch sagen, dass sie im 19. und 20. Jahrhundert vor allem darin be-<br />

standen habe, dass der Arzt die eingebildeten Kranken aus seiner<br />

Praxis nicht ganz ausgeschlossen habe. Er hat für sie ja auch einen<br />

diagnostischen Terminus - «Hypochondrie» - reserviert. So «gibt»<br />

es die Hypochondrie bis heute: die Arbeitsgemeinschaft für Metho-<br />

dik und Dokumentation in der Psychiatrie definiert sie als «ab-<br />

norme, ängstlich getönte Beziehung zum eigenen Leib: objektiv<br />

unbegründete Befürchtungen, krank zu sein oder zu werden» 273 .<br />

Aber sie ist gewissermassen das Paradigma eines Sichkrankbefin-<br />

dens, dem keine körperliche Realität entspricht.<br />

III. GEBÄRMUTTER UND HYSTERIE:<br />

DIE EINBILDUNG<br />

BLEIBT AN DER MACHT<br />

Mit den gebärmütterlichen Einbildungskrankheiten, der Hysterie<br />

im weitesten Sinne (hystéra = Gebärmutter), war das anders. Wir<br />

sagten oben, dass Helmont den Uterus gleichsam «ein ander Miltz»<br />

11


genannt hat. Man kann sich aber sogar fragen, wieweit der Uterus<br />

als Sitz von Einbildungen für die Lehre von den Einbildungen<br />

überhaupt Modell gestanden habe. In gewissem Sinne ist der<br />

Uterus ja der Inbegriff eines Organs der Einbildungen. In<br />

traditionell-aristotelischem Sinn ist er physiologischerweise dazu<br />

geschaffen, eine Ein-Bildung, das Bild des Mannes nämlich, zu<br />

empfangen.<br />

In Aristotelischer Tradition wird der Zeugungsakt ja weitgehend<br />

als die Übertragung des Bildes vom Mann auf die <strong>Frau</strong> verstanden<br />

bzw. als Einwirkung eines an den männlichen Samen gebundenen<br />

«formenden Prinzips» auf das Menstrualblut, die Materie, aus wel-<br />

cher das Kind dann «gebildet» wird. Zeugung schafft daher<br />

Knaben, d. h. Doppel des Vaters (vgl. S. 1) 274 .<br />

Damit ist das Verständnis der Schwängerung als Ein-Bildung ge-<br />

geben. Und damit lag es nun nicht so fern, auch eine sozusagen fal-<br />

sche, mutterinterne Zeugung oder Ein-Bildung zuzulassen. So<br />

Von allerlei Einbildungen geprägte wurmartige Kreaturen. Auch im Magen-Darm-Trakt<br />

konnte derartiges entstehen.<br />

116


konnte etwa eine Mole infolge einer «geilen Einbildung, ohne Be-<br />

gattung», entstehen 27 . Und wenn vollends unpassende Bilder in die<br />

Gebärmutter hineingeraten - kommt es zu hysterischen Einbil-<br />

dungsleiden im engeren Sinne. Der Uterus wird dann Sitz patho-<br />

gener Bilder - aber nicht «solche Miltz-süchtige verfluchte Bilder»,<br />

schreibt Helmont, «welche einem andern zu schaden gereichen, wie<br />

die Zauberinnen thun: Sondern ihnen selbst sind die Weibs-Bilder<br />

nur schädlich, und sich allein bezaubern, bethören und schwächen<br />

sie damit [das Wort ,Weibsbild‘ kriegt hier eine neue Dimension].<br />

Nemlich in sich pregen sie solche Bilder ein, von denen sie ... ge-<br />

trieben, und zu ... Dingen fortgerissen werden, die sie sonst nicht<br />

verlangen würden, also dass sie über ihrer eignen wider ihren Wil-<br />

len in ihnen entstandenen Unsinnigkeit nicht genug klagen kön-<br />

nen.» Helmont spricht dann von den Mutter-<strong>Krankheit</strong>en: die Hy-<br />

sterie entsteht für ihn «mehrentheils aus gewissen Gemüths-Bewe-<br />

gungen, und daraus entstandenen Bildern ...; also dass (nicht an-<br />

ders als wäre ein Wespen-Nest zerstöret worden) dadurch offtmals<br />

... die gantze Person ... zu Grunde gehet».<br />

So sind diese Ein-Bildungs-Leiden eigentlich pathologische<br />

Schwängerungen und Geburten. Die hysterische Schwangerschaft<br />

ist davon nur ein Spezialfall. «Nun kommen ... die Mutter-<br />

Kranckheiten nicht her aus einem verdorbenen Samen», schreibt<br />

Helmont, «sondern dieses sind vielmehr ... Früchte, ... die auf die<br />

Bilder ... erfolgen 276 .<br />

Aber auch die so häufig beobachtete Mutter-Ähnlichkeit von<br />

Kindern konnte man sich mit der Imaginatio erklären, und sogar<br />

besser als Aristoteles, ohne damit gleich einen weiblichen Samen an-<br />

nehmen zu müssen. Starke Mutterähnlichkeit eines Kindes konnte<br />

so darauf hinweisen, dass die Schwangere allzuviel Zeit hoffärtig<br />

vor dem Spiegel verbracht habe.<br />

Wenn aber Kinder statt dem Vater dem Nachbarn oder Haus-<br />

freunden glichen, musste das nicht unbedingt bedeuten, dass die<br />

Mutter sich diesen etwa in unzüchtiger Weise zugewendet hätte.<br />

An dieser Implikation der Imaginationslehre waren vor allem im-<br />

mer wieder die Gerichtsmediziner interessiert. Denn diese tendier-<br />

117


ten sowohl im Interesse der Angeklagten als auch in demjenigen<br />

des Staates immer, im Zweifelsfalle möglichst viele Kinder legitim<br />

zu erklären bzw. die Integrität der Familie zu erhalten. Und da er-<br />

wies sich die Imaginatio natürlich als ein nützliches gedankliches<br />

Instrument.<br />

So widmet schon Codronchi in seinem «Methodus» von 1 97<br />

(vgl. S. 90) ein längeres Kapitel der Frage, ob die Unähnlichkeit<br />

eines Neugeborenen mit seinen Eltern (gemeint ist natürlich der<br />

Vater) einen Ehebruch (natürlich der Mutter) beweisen könne? 277 .<br />

Dabei diskutiert er die verschiedenen klassisch-antiken Ähnlich-<br />

keitstheorien und ihre Schwächen - und die Lehre von der Ima-<br />

ginatio, die den klassischen Autoren nicht geläufig war. Doch<br />

Condronchi gelingt es, sich auch dabei auf die antiken Autoritäten zu<br />

berufen: er deutet eine Stelle der Aristotelischen Problemata etwas<br />

im Sinn der Imaginatiolehre um 278 und referiert einen Bericht des<br />

heiligen Hieronymus, wonach Hippokrates eine <strong>Frau</strong> vom Ehebruchs-<br />

verdacht befreite, indem er in ihrem Schlafzimmer ein für die<br />

Vater-Unähnlichkeit des Kindes verantwortliches Bildnis nach-<br />

wies 279 . Bei Pari (vgl. S. 20), dem andern frühen gerichtsmedizini-<br />

schen Autor, erscheint Hieronymus’ Kind übrigens als Negerkind<br />

eines weissen Paars, welches seine Schwärze dem Umstand ver-<br />

dankte, dass der Mutter immer das Bild eines Äthiopiers vor Augen<br />

schwebte 280 . Codronchi argumentiert auch mit der biblischen Stelle,<br />

wo Jakob gesprenkelte Schafe und Böcke züchtete, indem er dort,<br />

wo das Vieh sich begattete, Zweige anbrachte, die er stellenweise<br />

geschält hatte (1. Mos. 30, 37-42). Und er schliesst: Die Kraft des<br />

Gedankens bzw. der Imaginatio ist offenkundig, es können daher<br />

Mütter elternunähnlicher Kinder von übler Nachrede befreit wer-<br />

den.<br />

Die Imaginatio ist im Lauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts<br />

wohl in keiner anderen Funktion so intensiv beansprucht worden<br />

wie zur Erklärung eigentümlicher Geburten. Praktische Bedürf-<br />

nisse mögen hier bestimmend gewesen sein, ideengeschichtlich ge-<br />

sehen darf man nicht vergessen, dass die Imaginatiolehre als solche<br />

zum Teil in der Gebärmutter wurzelt.<br />

118


«Figur einer Jungfrawen, so da gantz harich, und eines Kinds, welches so schwartz, wie<br />

ein Mohr, auss der Eltern Imagination und Einbildung worden sind.» Die haarige Jung-<br />

frau verdankt ihr Aussehen dem Umstand, dass ihre Mutter im Augenblick ihrer Emp-<br />

fängnis «das Bildnuss Johannis dess Täuffers, mit seiner Cameishaut angethan, so sie in ih-<br />

rer Schlaffkammer gegen dem Bette hangen gehabt, allzufleissig angeschawet» hat. Aus<br />

Ambroise Pares «Buch von allerley Missgeburten und Wunderwercken der Natur», Ka-<br />

pitel «Von den Missgeburten, so durch die Krafft und Gewalt der Einbildung ... for-<br />

mieret werden».<br />

In Thomas Fienus’ Werk über die Kraft der Einbildungen spielt<br />

(wie auch bei Donatus) die Einwirkung der Imaginatio auf den Fö-<br />

tus als Paradigma ihrer Einwirkung auf einen fremden Körper eine<br />

hervorragende Rolle. Die Imaginatio bewirkt Aborte, Flecken,<br />

Deformitäten; Schrecken und Gelüste haben dabei eine wichtige<br />

Übermittlungsfunktion. <strong>Frau</strong>en, die während der Schwangerschaft<br />

119


durch einen Wolf erschreckt werden, gebären wolfsähnliche Kin-<br />

der, affen-, frosch- und katzenähnlich werden sie nach entspre-<br />

chenden Begegnungen mit Affen, Fröschen und Katzen 281 . Die<br />

«Wolfsrachen» und die «Hasenscharten» wurzeln zweifellos histo-<br />

risch in der Imaginationslehre 282 .<br />

Im Gebiet der Ähnlichkeitslehre und der Missbildungstheorie hat<br />

die Imaginatio im 18. Jahrhundert nicht nur überlebt, sondern sogar<br />

einen neuen Aufschwung genommen. Dieser Aufschwung war<br />

konzeptuell getragen von Georg Ernst Stahls (1660-1734) «Animis-<br />

mus» und dem damit verwandten, teilweise daraus abgeleiteten<br />

«Vitalismus» des 18. Jahrhunderts. Diese Lehren führten Leben, Ge-<br />

sundheit und <strong>Krankheit</strong> auf ein seelenartiges Prinzip, die Anima,<br />

oder auf die Nerven- und Lebenskraft - die man vorwiegend im<br />

Nervensystem lokalisierte - zurück. Sowohl der Animismus als<br />

auch der Vitalismus erlaubten dem 18. Jahrhundert, eine recht aus-<br />

gedehnte Psychosomatik aufzubauen - «Es ist der Geist, der sich<br />

den Körper baut», schrieb Schiller unter Stahls Einfluss 283 .<br />

Von diesen denkerischen Möglichkeiten nun machte die Lehre<br />

von den mütterlichen Einbildungen - in einem gewissen Gegensatz<br />

zur Lehre von den hypochondrischen Einbildungen - recht ausgie-<br />

big Gebrauch. Bei den Gerichtsmedizinern des früheren 18. Jahr-<br />

hunderts wird die Imaginatio sogar zum zentralen Problem im<br />

Rahmen der Frage nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von Kin-<br />

dern und Eltern, welche in Legitimitätssachen nach wie vor eine<br />

grosse Rolle spielte. Allerdings sollten Ärzte und Juristen achten,<br />

schreibt Stahls Freund Alberti zwar, dass sie nicht durch betrügeri-<br />

sche <strong>Frau</strong>en und korrupte Verteidiger betrogen werden, dass nicht<br />

Ungerechtigkeit und Bosheit als Effekt der Imaginatio hingehe -<br />

wenn etwa eine <strong>Frau</strong> per imaginationem empfangen haben<br />

wolle 284 . Vielleicht hat er hier jenen Fall von 1637 im Auge, da das<br />

Parlament von Grenoble entschied, es könne eine <strong>Frau</strong>, die<br />

Noch 1726 konnte Mary Toft mit ihren Hasengeburten die englische Gelehrtenwelt er- ►<br />

schüttern. Mit B. bezeichnet ist Sir Richard Manningham (1690-17 9), «der berühmteste<br />

Londoner Geburtshelfer der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts». Er stösst das Sprechband<br />

aus: «Es wölbt sich, es schwillt, es öffnet sich, es kommt!» Blatt des englischen Sitten-<br />

schilderers und Satirikers William Hogarth (1697-1764).<br />

120


121


träumte, sie verkehre mit ihrem seit vier Jahren abwesenden Mann,<br />

sehr wohl durch diese Imagination geschwängert worden sein. «Ast<br />

crederem potius Parlamenti Praesidem, vel alium Bonum Virum<br />

Rem habuisse cum hac Muliere», kommentiert schon Paulus<br />

Ammann (1634-1691), der Leipziger Kritiker gerichtsmedizinischer<br />

Gutachten 28 , es steckte wohl eher der Parlamentspräsident oder<br />

sonst ein Mann dahinter. Der andere berühmte Gerichtsmediziner<br />

der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Hermann Friedrich Teichmeyer<br />

aus Jena, vertritt die Sache der Imaginatio mit ganz besonderer<br />

Wärme: Wenn posthume Kinder dem Erzeuger mehr zu ähneln<br />

pflegen als andere, so deshalb, weil das Bild des Verstorbenen der<br />

Mutter ständig vor Augen schwebt 286 .<br />

In Sachen des Kindermords behielt die Imaginatio ebenfalls<br />

einige Bedeutung - hier zeigt sich wieder, wie eingreifende Konse-<br />

quenzen auch die luftigsten Theorien haben können. Wir sind der<br />

Möglichkeit des Kindermords «per imaginationem» ja schon bei<br />

Donatus begegnet, und der Schweizer Chirurg und Stadtarzt Fabri-<br />

zius Hildanus (1 60-1634) hat Fälle publiziert von Kindern, die,<br />

nachdem ihre Mütter bei Viehschlachtungen dabeigewesen oder<br />

durch Flintenschüsse erschreckt worden waren, wie geschlachtet<br />

oder erschossen zur Welt kamen 287 . 1714 schreibt ein Daniel Turner<br />

(1667-1740/1) der Imaginatio die Fähigkeit zu, «grosse und blutige<br />

Wunden auf dem Körper der Leibesfrucht zu machen, die die Mut-<br />

ter ... sich vorgestellt hatte» 288 . Und noch 1779 zieht Wilhelm Gott-<br />

fried Ploucquet (1744-1814) die Imaginatio als Alternative zum Kin-<br />

dermord in Betracht 289 - so einschneidende körperliche Wirkungen<br />

schrieb er der Einbildung im Zusammenhang mit dem Uterus noch<br />

immer zu.<br />

Doch im Lauf des 18. Jahrhunderts drang die naturwissenschaft-<br />

lich inspirierte Kritik an der Imaginatiolehre allmählich auch in die<br />

Gebärmutter vor. Eine Schrift des August Blondel (166 -1734) von<br />

1727 ist ein Markstein in dieser Entwicklung. Blondel vergleicht den<br />

Glauben an die Imaginatio mit dem Glauben an die Gerechtigkeit<br />

des Gottesurteils - er ist sich der praktischen Implikationen der<br />

122


Imaginationslehre sehr bewusst. Schuld am zähen Leben der Ima-<br />

ginationstheorie ist nach ihm zweierlei: «1. Dass unsere Weltwei-<br />

sen ... nicht vor dienlich erachtet, ... die natürliche Ursachen von<br />

diesen Flecken oder Ungestalten zu erklären ... 2. Da die Alten die<br />

göttliche Rache mit unter die Ursachen der Missgeburten gezehlet,<br />

so kommt es mir sehr glaubwürdig vor, dass dieses einen solchen<br />

erschrecklichen Eindruck in dem Gemüth der Älteren verursachte,<br />

dass man aus Liebe zu dem Nächsten für gut befunden, alle diese<br />

Übel der Einbildung zuzuschreiben ...» Rund 0 Jahre später<br />

schreibt ein Autor diese Übel aus Nächstenliebe nicht mehr der<br />

Einbildung, sondern natürlichen Ursachen zu 290 . Die Wunden und<br />

Verletzungen Neugeborener, sagt Blondel, seien eher Geburtsunfäl-<br />

len und schlechten Geburtshelfern zuzuschreiben als mütterlichen<br />

Phantasien. Es fällt auf, dass Blondel von Legitimität und Kinds-<br />

mord nicht speziell spricht - vielleicht hindert ihn eine aufkläreri-<br />

sche Philanthropie daran. Blondel argumentiert vorwiegend anato-<br />

misch, physiologisch, embryologisch gegen die Imaginationstheo-<br />

rie. Es gibt keine nervösen Verbindungen zwischen Mutter und<br />

Kind, und zudem ist das ganze Kind ja im Samen prädeterminiert.<br />

Andererseits gibt es plausiblere Gründe für Muttermale als die müt-<br />

terlichen Einbildungen: Anlagefehler, intrauterine <strong>Krankheit</strong>en,<br />

Entwicklungshemmungen, Vererbung. Ein Wasserkopf zum Bei-<br />

spiel entsteht, wenn das Gehirn im Blasenstadium verbleibt. Rote<br />

Flecken sieht man, wo die Haut noch zu dünn ist. Die Hasenscharte<br />

aber beruht, wie schon William Harvey beobachtete 291 , auf einer<br />

Entwicklungshemmung, und nicht auf der Begegnung der<br />

Schwangeren mit einem Hasen 292 .<br />

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb die Akademie der<br />

Wissenschaften zu Petersburg die Imaginationsfrage nochmals als<br />

Preisfrage aus. Prämiert wurde ein Befürworter der Imaginations-<br />

lehre, klassisch wurde aber die Gegenschrift des Johann Georg Roe-<br />

derer (1726-1763) 293 . Roederer war ein berühmter Göttinger Geburts-<br />

helfer. Er war gerichtsmedizinisch interessiert, hat auch einiges zur<br />

forensischen Geburtshilfe beigetragen. Er ist von Albrecht von Haller<br />

(1708-1777), dem Schwiegersohn des Gerichtsmediziners Teich-<br />

meyer, nach Göttingen berufen worden und hat später dessen Vorle-<br />

123


sung über die gerichtliche Medizin übernommen. Auch Haller<br />

selbst, der sich sonst in seiner Vorlesung über weite Strecken darauf<br />

beschränkt hat, seines Schwiegervaters Lehrbuch zu kommentieren<br />

und zu ergänzen, ist in Imaginationssachen gänzlich von diesem ab-<br />

gewichen. Basis seiner Kritik waren wohl vor allem seine For-<br />

schungen auf dem Gebiet der Missbildungen 294 . Auch Johann Ernst<br />

Hebenstreit (1703-17 7), Autor des führenden gerichtsmedizinischen<br />

124<br />

Aus I. E. Hebenstreit: Anthropologia forensis, Leipzig 17 3.


Lehrbuchs der zweiten Jahrhunderthälfte, lehnt die Imaginations-<br />

lehre ab. Sein Werk enthält übrigens als einzige Illustrationen vier<br />

Abbildungen von Missgeburten «ex Museo Autoris» - eine davon<br />

zeigt den Schädel eines mit Hasenscharte geborenen Kindes 29 . 177<br />

folgte Johann Friedrich Blumenbachs (17 2-1840) Arbeit über die<br />

menschlichen Rassen 296 , nach welcher die Imaginationstheorie in<br />

gewissen, jetzt als typisch betrachteten Fällen, nur mehr «eine<br />

schlechte Ausrede» blieb für <strong>Frau</strong>en, deren Kinder «Spuren eines<br />

mit einem Asiaten, Africaner u. d. gl. begangenen Ehebruchs» an<br />

sich tragen 297 .<br />

In Ploucquets zusammenfassendem Werk über die Erbfähigkeit<br />

samt Legitimität (1779) bleibt für die Einbildungskraft kaum mehr<br />

Raum: Rassenverschiedenheiten zwischen Vätern und Kindern er-<br />

klären sich leichter durch Ehebruch der Mutter, und im übrigen<br />

kann überhaupt «die vermeyntlich erforderliche Ähnlichkeit der<br />

Gestalt mit Vatter oder Mutter ... nichts entscheiden, da ein neuge-<br />

bohren Kind keine bestimmte Physiognomie hat, und Meynung<br />

oder Einbildung hier Ähnlichkeit und Unähnlichkeit nach belie-<br />

ben schaffen oder vertilgen kan» 298 . Man beachte den Bedeutungs-<br />

wandel des Begriffs der «Einbildung»: dass «Einbildung ... Ähn-<br />

lichkeit und Unähnlichkeit ... schaffen» könne, hätte man hundert<br />

Jahre früher durchaus auch sagen können, es hätte nur etwas an-<br />

deres bedeutet. Derselbe Bedeutungswandel spricht auch aus einem<br />

Zusatz zum Kapitel «Missgeburten» der Hallerschen Vorlesungen<br />

(1782): «Man schrieb in ältern Zeiten die Entstehung solcher We-<br />

sen auch auf Rechnung der Einbildungskraft. In den unsern nimmt<br />

man sie aber nur zu Hülfe, um die Misgeburten im Reiche der<br />

Wissenschaften daraus zu erklären» 299 .<br />

So hat die Einbildung auch hier mit der Zeit an Realitätswert<br />

verloren. Gestalt und Missgestalt von Kindern sind aus dem Bann-<br />

kreis der hysterischen Phänomene - im weitesten Sinne - hinaus-<br />

gerückt.<br />

Weitgehend erhalten hat sich die Lehre von der Imaginatio hin-<br />

gegen im engeren Umkreis des Hysterie. Im 18. Jahrhundert, einer<br />

Zeit des Liberalismus und des Gleichberechtigungsgedankens auch<br />

12


im Bezug auf die Geschlechter, sah es zwar aus, als ob die Hysterie<br />

ihre Beziehung zu <strong>Frau</strong> und Uterus verlieren und als ein nervöses<br />

Leiden mit der Hypochondrie identisch werden wollte (vgl. S. 39).<br />

Auch die hysterische Einbildung hätte damit ihre körperliche<br />

Wirklichkeit verloren. Das 19. Jahrhundert aber hat aus Hysterie<br />

und Hypochondrie wieder zweierlei gemacht: Die Hysterie wurde<br />

wieder vermehrt als ein spezifisch weibliches Leiden betrachtet, sei<br />

es in ihrer alten Beziehung zum Uterus, in ihrer moderneren Be-<br />

ziehung zum Ovar (vgl. S. 24-2 , 72-78) oder in ihrer modernsten<br />

Beziehung zur spezifischen Zartheit und Schwäche des weiblichen<br />

Nervensystems (vgl. S. 42, 72-80). Die Einbildungen wurden dabei<br />

wieder weitgehend in ihre alten ätiologischen Funktionen einge-<br />

setzt. Dies mag einerseits damit zusammenhängen, dass die <strong>Frau</strong>,<br />

ursprünglich repräsentiert in ihrem Uterus, traditionellerweise ein<br />

Prädilektionsort von realitätswirksamen Einbildungen ist. Andrer-<br />

seits findet man historisch nicht so selten, dass sich altes Ideengut im<br />

Rahmen der Lehre von der Seele eher konserviert als im Rahmen<br />

der somatischen Medizin, und innerhalb der somatischen Medizin<br />

eher im Rahmen der <strong>Frau</strong>enheilkunde als in anderen Fächern. So<br />

wird die Hysterielehre im 19. Jahrhundert recht eigentlich zum Re-<br />

servat der alten Lehre von den krankmachenden Vorstellungen und<br />

Bildern - mit Vorliebe sexuellen Inhalts. Sie wird zum Paradigma<br />

der Lehre von der psychogenen <strong>Krankheit</strong>. Gegen Ende des Jahr-<br />

hunderts wird Jean Martin Charcot (182 -1893), der weltbekannte<br />

Neuropathologe, am Beispiel Hysterie eine Psychogenielehre ent-<br />

werfen - speziell eine Lehre von der ideogenen Entstehung hysteri-<br />

scher (traumatisch-hysterischer) Lähmungen 300 . Auch für Joseph<br />

Babinski (18 7-1932) und Pierre Janet (18 9-1947), die beide in der<br />

unmittelbaren Umgebung Charcots arbeiteten, war die Hysterie das<br />

Paradigma eines psychischen, psychogenen Leidens mit körperli-<br />

chen Symptomen 301 . In Wien arbeitete Moriz Benedikt (183 -1920)<br />

mit dem Begriff des «Seelen-Binnenlebens», eines psychischen Ge-<br />

heimbereiches, der «Werkstätte der Einbildungskraft». «Unver-<br />

gleichlich reicher als beim männlichen Geschlechte ist im Allge-<br />

meinen das Binnen-Seelenleben beim weiblichen entwickelt. Die<br />

<strong>Frau</strong> muss in ihrem Existenzkampfe so unvergleichlich mehr von<br />

126


ihren inneren Vorgängen verbergen als der Mann, und diese unent-<br />

ladenen Spannungen sind es, welche die Eigenkrankheit des Wei-<br />

bes - die Hysterie - zum grossen Theile entfesseln» 302 - natürlich<br />

war es vor allem ihre sexuelle Phantasie, die die <strong>Frau</strong> damals ver-<br />

borgen zu halten hatte. Der Wiener Sigmund Freud (18 6-1939) hat<br />

sich einerseits bei Charcot inspiriert - er hat dessen berühmte<br />

Dienstags-Vorlesungen über die Hysterie besucht und übersetzt<br />

und dessen psychologische Interpretation der traumatischen Hy-<br />

sterie übernommen und generalisiert. Wie Benedikt haben er und<br />

Joseph Breuer (1842-192 ) andrerseits den sexuellen Vorstellungen<br />

(dem sexuellen Trauma) in der Psychogenielehre eine besonders<br />

wichtige Stellung eingeräumt, zunächst im Rahmen einer allge-<br />

meinen Hysterielehre, Freud allein später in modifizierter Form im<br />

Rahmen einer allgemeinen Neurosenlehre 303 . In ihrer ersten «Vor-<br />

läufigen Mitteilung» «Über den psychischen Mechanismus hysteri-<br />

scher Phänomene» verweisen Breuer und Freud übrigens auf Bene-<br />

dikts Ideen 304 .<br />

IV. EINBILDUNGSKRAFT, IDEE<br />

UND KREATIVITÄT: PSYCHOGENIE<br />

DER ERSCHEINUNG IM 20. JAHRHUNDERT<br />

Mit der vor allem nach den beiden Weltkriegen in Gang gekom-<br />

menen Verallgemeinerung der Neurosenlehre und der Erschüt-<br />

terung des Glaubens, dass die Naturwissenschaft der alleinige<br />

Schlüssel zur Wahrheit und Erlösung sein würden, hat die Idee von<br />

den pathogenen Vorstellungen, überhaupt von der Möglichkeit,<br />

dass sich Ideen und Bilder in körperliche Realität umzusetzen ver-<br />

möchten, wieder an Boden gewonnen. Nach diesen Kriegen, und<br />

vor allem nach dem zweiten, sprach man wieder allgemeiner von<br />

Bildern, Urbildern oder mindestens «Archetypen», die Verhaltens-<br />

forschung brachte das «Suchbild» und die «Prägung» wieder in die<br />

Wissenschaft; wir sprechen nicht mehr so sehr von Idealen und<br />

Imaginationes, aber doch von «Leitbildern» und «Images». Wir<br />

treiben «Image-Building»; wir beschäftigen uns mit dem Einfluss<br />

unserer Sprache auf unser Erleben der Welt und mit dem Einfluss<br />

127


unserer Erwartungsstrukturen auf unsere Welt. Die «Phantasie» hat<br />

in den letzten Jahren eine massive Aufwertung erfahren 30 . Die seit<br />

dem Zweiten Weltkrieg neu in Aufschwung gekommene Psycho-<br />

somatik liefert speziell der Medizin wieder eine theoretische Basis<br />

für die Annahme des allerweitesten Spektrums von körperlichen<br />

Symptomen und Leiden infolge psychologischer Gegebenheiten.<br />

Mit alledem sind wir, genau besehen, gar nicht so weit von der al-<br />

ten Imaginatiolehre entfernt - die entscheidendste Verschiedenheit<br />

der modernen Ideen von den alten besteht vielleicht darin, dass sie<br />

das persönliche Erleben weniger auszuklammern suchen. Insgesamt<br />

scheint sich im Laufe der 60er Jahre eben tatsächlich etwas an un-<br />

serem Wirklichkeitsbegriff verändert zu haben.<br />

«Das Suchbild vernichtet das Merkbild», unterschreibt Jakob Johann Baron Uexküll, ein<br />

Vater der Verhaltensforschung, diese Illustration aus seinem «Bilderbuch unsichtbarer<br />

Welten» (1934). «Als ich längere Zeit bei einem Freunde zu Gast war, wurde mir täglich<br />

zum Mittagessen ein irdener Wasserkrug vor meinen Platz gestellt. Eines Tages hatte der<br />

Diener den Tonkrug zerschlagen und mir statt dessen eine Glaskaraffe hingestellt. Als ich<br />

beim Essen nach dem Krug suchte, sah ich die Glaskaraffe nicht. ... Das Suchbild vernich-<br />

tet das Merkbild.»<br />

128


V. EPILOG<br />

Es fragt sich eben, was Wirklichkeit ist. Im ganzen scheint das<br />

Attribut der «Wirklichkeit» je nach Situation - auch nach histori-<br />

scher Situation - verschiedenen Dingen zuerkannt zu werden.<br />

Vielleicht ist «Wirklichkeit» am ehesten die Art, wie einem die<br />

Dinge erscheinen, hinter welcher die Macht und Autorität steht,<br />

der man sich unterzieht. Man unterzieht sich aber immer am lieb-<br />

sten Autoritäten und Mächten, die einem nützen bzw. an denen<br />

man irgendeinen Anteil zu haben glaubt oder hat. So empfand der<br />

Mann des 19. Jahrhunderts die Ergebnisse und Entwicklungen von<br />

Technik und Naturwissenschaften, die ihm so viel Angenehmes<br />

und Nützliches brachten, als besonders real - Einbildungen blieben<br />

den <strong>Frau</strong>en überlassen; der von diesen Ergebnissen und Entwick-<br />

lungen nachgerade ziemlich hilflos bedrohte Mensch des 20. Jahr-<br />

hunderts zieht es vielfach vor, nur seinem eigenen Erleben Wirk-<br />

lichkeitscharakter beizumessen, Wissenschaft und Technik aber als<br />

Science Fiction zu verstehen. Der Techniker allerdings empfindet<br />

seine Maschinen noch immer als die Wirklichkeit, wie der Sek-<br />

tierer seine Bekehrungserlebnisse. Der Politiker spricht von seinem<br />

schwanken Boden als von der harten Realität. Die somatischen<br />

Mediziner halten die somatischen <strong>Krankheit</strong>en für die einzig wirk-<br />

lichen, die Psychotherapeuten kämpfen für die Wirklichkeit der<br />

psychischen Leiden. Wenn man aber in sich geht: was hält man<br />

selbst wirklich für real?<br />

129


130<br />

ANMERKUNGEN<br />

Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe - Überblick<br />

Erstmals publiziert in: Geschichte der Medizin (Heidelberger Taschenbücher Band 16 ,<br />

Basistext Medizin). Berlin-Heidelberg-New York 197 , S. 14 -162; 2. Aufl. 1977, S. 148-<br />

16 . Separater Abdruck in: Sprechstunde 29, 5 (197 ) 7-10.<br />

1 Papyrus Ebers: The Papyrus Ebers. Übers. von B. Ebbell. Kopenhagen: Levin &<br />

Munksgaard 1937, S. 108-113 (XCIII-XCVII, Diseases of women).<br />

2 Hippokrates: Oeuvres completes. Übers, und mit dem griech. Text hrsg. v. E. Littre,<br />

10 Bde., Paris: Baillière 1839-1861, Bd. 8,18 3, S. 10-463 (Des maladies des femmes -<br />

Des femmes stériles, Bücher 1-3).<br />

3 Soranus’ Gynecology. Translated with an introduction by Owsei Temkin. Baltimore:<br />

Johns Hopkins Press 19 6.<br />

4 «... Auch werde ich keiner <strong>Frau</strong> ein Abtreibungsmittel geben», heisst es unter an-<br />

derem im «Eid des Hippokrates». Vgl. Hippokrates: Schriften. Übers, und eingef. u.<br />

mit einem Essay hrsg. von H. Diller (Rowohlts Klassiker der Literatur u. Wissen-<br />

schaft, griech. Literatur). Bd. 4. Hamburg: Rowohlt 1962, S. 7-9.<br />

Vgl. etwa Hippokrates (Anm. 2), S. 32-3 (Des maladies des femmes I, 7), S. 266-279<br />

(Des maladies des femmes II, 123-130);<br />

Aretaei Cappadocis Opera omnia, hrsg. v. C. G. Kuehn (Medicorum graecorum opera<br />

Vol. 24). Leipzig: Cnobloch 1828, S. 60-63 (De causis et signis acutorum morborum<br />

lib. 2, cap. 11). Übersetzung: Die auf uns gekommenen Schriften des Kappadocier<br />

Aretäus, übers, v. A. Mann. Halle: C. E. M. Pfeffer 18 8, S. 40 (Von den Ursachen und<br />

Kennzeichen akuter <strong>Krankheit</strong>en, 2. Buch, XI: Von dem hysterischen Erstickungsan-<br />

fall).<br />

6 Vgl. Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker (Rowohlts Klassiker der Li-<br />

teratur u. Wissenschaft). Hamburg: Rowohlt 19 7.<br />

Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lesky, Erna: Die Zeugungs- und Vererbungsleh-<br />

ren der Antike und ihr Nachwirken (Akademie der Wissenschaften und der Litera-<br />

tur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 19 0, Nr. 19).<br />

Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Wiesbaden:<br />

F. Steiner Verlag 19 0.<br />

7 Vgl. Galen: On the usefulness of the parts of the body - peri chreias morion - De usu<br />

partium. Ins Englische übers, v. M. T. May, 2 Bde, Ithaca, New York: Cornell Uni-<br />

versity Press 1968, Bd. 2, S. 628-638 (Buch 14, 6-7/II, 296-II, 310).<br />

8 Im Rahmen der «arabischen Reception» hat das bis dahin bildungsmässig recht ver-<br />

rohte Abendland in den ersten Jahrhunderten unseres Jahrtausends durch Vermittlung<br />

der mächtig und gebildet gewordenen Araber unter anderem auch manches verges-<br />

sene eigene antike Gedanken- und Kulturgut neu integriert.<br />

9 Tertullianus, Quintus Septimus Florens: La toilette des femmes (De cultu feminarum).<br />

Kritische Textausgabe u. Übers. v. M. Turcan. Paris: Les éditions du cerf 1971; S. 42-<br />

4 (I,1,11-20).<br />

10 1. Tim. 2, 11-1 : Eine <strong>Frau</strong> lerne still in aller Unterordnung; / zu lehren aber gestatte<br />

ich einer <strong>Frau</strong> nicht, auch nicht, sich über den Mann zu erheben, sondern (ich gebiete


ihr), sich still zu verhalten. / Denn Adam wurde zuerst geschaffen, darnach Eva. /<br />

Und Adam wurde nicht verführt, das Weib vielmehr wurde verführt und ist in<br />

Übertretung geraten. / Sie wird aber gerettet werden durch das Kindergebären ...»<br />

Übersetzung nach der Zürcher Bibel, Zürich: Verlag der Zwingli-Bibel 19 . Die<br />

Geschichte der mythologischen Dimension der Ersterschaffung Adams ist von psy-<br />

chologischer Seite herausgearbeitet worden: Hillman, James: First Adam, then Eve.<br />

Fantasies of female inferiority in changing consciousness. Art International 14 (1970)<br />

30-43.<br />

11 Vgl. Thomas von Aquin: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa.<br />

Übers. v. C. M. Schneider, 12 Bde., Regensburg: G. J. Manz 1886-1892, speziell Bd. 3,<br />

S. 482-487 (Pars l, Kap. 92) u. S. 491-492 (Pars 1, Kap. 93, Art. 4) und die entspre-<br />

chenden Stellen in der Deutschen Thomas-Ausgabe (Vollständige, ungekürzte<br />

deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica), Bd. 7, München-Heidelberg<br />

F. H. Kehrle 1941, S. 3 -47, 8-60. Thomas scheint sich hier vor allem für die dogma-<br />

tische Begründung der diesseitigen Unterordnung der <strong>Frau</strong> unter den Mann zu in-<br />

teressieren. Aristoteles ist ihm eine erstrangige naturwissenschaftliche Autorität. Die<br />

Unterordnung ist doppelt: sklavisch nur infolge des Sündenfalles; politisch (so über-<br />

setzt Schneider «oeconomica vel civilis» - «häuslich oder bürgerlich» die Domini-<br />

kaner und Benediktiner Deutschlands und Österreichs unseres Jahrhunderts) von Na-<br />

tur aus - «Es würde nämlich das Gut der Ordnung in der Menge der Menschen ge-<br />

fehlt haben, wenn sich einige nicht durch andere, weisere Menschen hätten leiten las-<br />

sen.»<br />

12 Salerno war im 11.-13. Jahrhundert, noch vor dem Aufblühen der Universitäten, Sitz<br />

einer hochberühmten medizinischen Schule, die für ihre soziale und wissenschaftliche<br />

Offenheit berühmt geworden ist.<br />

13 Vgl. Lipinska, Melina: Les femmes et le progrès des sciences médicales. Paris: Masson<br />

1930;<br />

Schoenfeld, Walther: <strong>Frau</strong>en in der abendländischen Heilkunde. Stuttgart: Enke 1947;<br />

Cutter, Irving S. und Viets, Henry R.: A short history of midwifery. Philadelphia-Lon-<br />

don: Saunders 1964.<br />

14 Siegemundin, Justine, geb. Dittrichin: Die königl. Preussische und Chur-Brandenb.<br />

Hof-Wehe-Mutter, Das ist: Ein höchst nöthiger Unterricht von schweren und<br />

unrecht-stehenden Gebuhrten. Berlin: Rüdiger 1723, Vorbericht, § 2.<br />

1 Die Universitäten haben regulärerweise bekanntlich über Jahrhunderte im allge-<br />

meinen keine <strong>Frau</strong>en zum Studium zugelassen. Frühe reguläre Möglichkeiten für<br />

<strong>Frau</strong>en, Medizin zu studieren, gab es im 19. Jahrhundert in Amerika; in Europa<br />

öffnete die Pariser Universität ab 1863, die Zürcher Universität ab 186 ihre Pfor-<br />

ten für <strong>Frau</strong>en, erst 1908 aber durfte die erste <strong>Frau</strong> an einer deutschen Universität<br />

studieren.<br />

Vgl. Rohner, Hanny: Die ersten 30 Jahre des medizinischen <strong>Frau</strong>enstudiums an der<br />

Universität Zürich 1867-1897 (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R.<br />

89). Zürich: Juris 1972;<br />

Lipinska, Melina: Histoire des femmes médecins. Diss., Paris: G. Jacques 1900.<br />

16 Roesslin, Eucharius: Eucharius Roesslins «Rosengarten», gedruckt im Jahre 1 13.<br />

Begleit-Text von Gustav Klein (Alte Meister der Medizin und Naturkunde 2). Mün-<br />

chen: C. Kuhn 1910, S. 8.<br />

131


17 Buess, Heinrich: Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Geburtshilfe. In:<br />

Lehrbuch der Geburtshilfe (Hrsg. Th. Koller), S. 1-26. Basel: Karger 1948, S. 11.<br />

18 Vgl. Radciffe, Walter: The secret Instrument (The birth of the midwifery forceps).<br />

London: Heinemann 1947;<br />

Maurkeau, Françis: Observations sur la grossesse et l’accouchement des femmes, et sur<br />

leurs maladies & celles des enfans nouveau-nez. Paris: chez l’Auteur 169 , S. 16-18<br />

(Obs. 26).<br />

19 Stein, Georg Wilhelm: Theoretische Anleitung zur Geburtshülfe, 2 Teile, 6. Aufl. Mar-<br />

burg: In der neuen akademischen Buchhandlung 1800, speziell Bd. 1, S. 289-292 und<br />

Tafeln 11-12; Bd. 2, S. 319-320, 322-323 u. Tafeln 7, 9.<br />

20 Thoms, Herbert: Classical contributions to obstetrics and gynecology. Springfield/Ill.:<br />

Ch. C. Thomas 193 , S. 1 -21,120-128;<br />

<strong>Fischer</strong>, Isidor: Geschichte der Gynäkologie. In: Halhan, Josef und Seite, Ludwig<br />

(Hrsg.): Biologie und Pathologie des Weibes. 8 Bde., Berlin-Wien: Urban &<br />

Schwarzenberg 1924-1929, Bd. 1, 1924, S. VII, 1-202.<br />

Zur Geschichte der Zange vgl. speziell: Das, Kedarnath: Obstetric forceps. Its history<br />

and evolution. Calcutta: The Art Press 1929.<br />

21 Vgl. Fasbender, Heinrich: Geschichte der Geburtshilfe. Jena 1906, Nachdruck Hildes-<br />

heim: Olms 1964, S. 24 -2 8.<br />

Vgl. auch <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Medizinische Wissenschaft in ihrem Zusammen-<br />

hang mit ärztlicher Standespolitik. Aus der Geschichte der Chirurgie, der Hebam-<br />

menkunst und der Apothekerwissenschaft. Schw. Ärzteztg. 7 (1976) 13 1-13 7, spe-<br />

ziell S. 13 4-13 .<br />

22 Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Geschichte der Medizin (Heidelberger Taschenbücher<br />

Bd. 16 , Basistext Medizin). 2. Aufl. Springer-Verlag: Berlin-Heidelberg-New York<br />

1977, S. 61-63.<br />

23 Graaf, Regnerus de: De mulierum organis generationi inservientibus tractatus novus,<br />

demonstrans tarn homines & animalia caetera omnia, quae vivipara dicuntur, haud<br />

minus quam ovipara, ab ovo originem ducere. In: Opera omnia, Amsterdam: Wet-<br />

stenius 170 , S. 113-326, speziell S. 224-237 (Kap. 12: De testibus muliebribus sive<br />

ovariis).<br />

24 Vgl. Bilikiewicz, Tadeusz: Die Embryologie im Zeitalter des Barock und des Rokoko<br />

(Arbeiten des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig 2).<br />

Leipzig: Thieme 1932.<br />

Needham, Joseph: A history of embryology, 2. Aufl. Cambridge: University Press<br />

19 9, S. 20 -223.<br />

2 Baer, Karl Ernst von: Über die Bildung des Eies der Säugetiere und des Menschen. Mit<br />

einer biographisch-geschichtlichen Einführung in deutscher Sprache, hrsg. v. B. Ot-<br />

tow, Leipzig: Voss 1927 (Originalausgabe: De ovi mammalium et hominis genesi.<br />

Leipzig: Voss 1827).<br />

26 Virchow, Rudolf: Der puerperale Zustand. Das Weib und die Zelle (1848). In: Gesam-<br />

melte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. Frankfurt a. M.: Meidinger<br />

18 6, S. 73 -779, speziell S. 747. Das volle Zitat lautet: «Das Weib ist eben Weib nur<br />

durch seine Generationsdrüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes<br />

oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süsse Zartheit und Rundung der<br />

Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brü-<br />

132


ste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares<br />

bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum<br />

diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanft-<br />

muth, Hingebung und Treue - kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibli-<br />

ches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme<br />

den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit mit den<br />

groben und harten Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen<br />

Stimme, der flachen Brust, dem missgünstigen und selbstsüchtigen Gemüth und dem<br />

schiefen Urtheil steht vor uns.»<br />

27 Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong> (Anm. 22), S. 24, 131-132.<br />

28 Vgl. Denejfe, V.: Le speculum de la matrice ä travers les ages. Anvers: H. Caals 1902.<br />

Zur Geschichte der Uterussonde vgl. den zitierten Autor Thomas, T. Gaillard: Lehr-<br />

buch der <strong>Frau</strong>enkrankheiten. Nach der 2. Aufl. übers. v. M. Jaquet, Berlin:<br />

Hirschwald 1873, S. 47;<br />

Schroeder, Carl: Handbuch der <strong>Krankheit</strong>en der weiblichen Geschlechtsorgane (=<br />

Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, hrsg. v. H. v. Ziemssen, Bd. 10),<br />

Leipzig: F. C. W. Vogel 1874, S. 4.<br />

29 Semmelweis, Ignaz Philipp: Ätiologie, Begriff und Prophylaxis des Kindbettfiebers<br />

(1861). Eingel. v. P. Zweifel (Klassiker der Medizin, hrsg. v. K. Sudhoff, 18) Leipzig:<br />

J. A. Barth 1912.<br />

30 Vgl. Lesky, Erna: Ignaz Philipp Semmelweis und die Wiener medizinische Schule<br />

(Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist.<br />

Klasse, Bd. 24 , Abh. 3) Wien: H. Böhlaus 1964.<br />

31 Keys, Thomas E.: The history of surgical anesthesia. New York: Schumann’s 194 .,<br />

S. 32-34;<br />

Thoms (Anm. 20), S. 29-34.<br />

Simpson, James Young: Answer to the religious objections advanced against the em-<br />

ployment of anaesthetic agents in midwifery and surgery. Edinburgh: Sutherland &<br />

Knox 1847, zit. n. Index-Catalogue of the library of the Surgeon-General’s office,<br />

Washington 1892.<br />

32 Schachner, August: Ephraim McDowell, «father of ovariotomy» and founder of abdo-<br />

minal surgery. Philadelphia-London: J. B. Lippincott 1921;<br />

Sims, James Marion: Meine Lebensgeschichte. Hrsg. von seinem Sohne H. Marion Sims,<br />

übers. v. L. Weiss, Stuttgart: Enke 188 ;<br />

Thoms (Anm. 20), S. 214-218, 23 -239.<br />

33 Didier, Robert: Pean. Paris: Maloine 1948.<br />

34 Pundel, J. Paul: Histoire de l’opération césarienne. Etude historique de la césarienne<br />

dans la médecine, I’art et la littérature, les religions et la législation. Brüssel: Presses<br />

académiques europeennes 1969.<br />

3 Vgl. Finch, B. E., und Green, Hugh: Contraception through the ages. London: P.<br />

Owen 1963;<br />

Wood, Clive und Suitters, Beryl: The fight for acceptance. A history of contraception<br />

Aylesbury: MTP Medical and Technical Publishing Co. Ltd. 1970.<br />

Zum Conceptionsoptimum im Intermenstruum vgl. auch Fraenkel, Ludwig: Physiolo-<br />

gie der weiblichen Genitalorgane. In: Halban/Seitz (Anm. 20), Bd. 1, 1924, S. 17-<br />

634, speziell S. 72- 77 (Teil II, : Das Zeitverhältnis von Ovulation und Menstrua-<br />

133


tion). Es liege da «das Befruchtungsoptimum etwa in der Mitte des Intermenstruum»,<br />

schreibt Fraenkel. Er habe diesbezügliche Resultate 1911 erstmals vorgetragen. «Von<br />

mir allein rührt das jetzt angenommene Zeitgesetz der Ovulation her», und<br />

Knaus, Hermann: Die periodische Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit des Weibes. Der<br />

Weg zur natürlichen Geburtenregelung. Wien: W. Maudrich 1934, besonders Kap. 8<br />

und 9: «Ogino und Knaus» und «Zur Geschichte der periodischen Fruchtbarkeit...»,<br />

S. 131-136.<br />

134<br />

Hysterie und Misogynie - ein Aspekt der Hysteriegeschichte<br />

Erstmals publiziert in: Gesnerus (Vierteljahrsschrift, hrsg. v. der Schweizerischen Gesell-<br />

schaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften) 26 (1969) 117-127.<br />

Neuabdruck in: Sprechstunde 2 , 5 (197 ) 7-10.<br />

36 Ackerknecht, Erwin H.: Psychopathology, primitive medicine and primitive culture.<br />

Bull. Hist. Med. 14 (1943) 30-67.<br />

37 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 9, 1861, S. 392-399 (Démocrite à Hippocrate, sur la nature<br />

de l’homme). S. 396-397 die Stelle, welche Littré übersetzt: «la mère des enfants, la<br />

source de vives douleurs, la cause de mille maux, la matrice».<br />

38 Sydenham, Thomas: An epistolary discourse to the learned Doctor William Cole, con-<br />

cerning some Observations of... hysterick diseases. In: The whole works, 8. Aufl.,<br />

London: M. Poulson, S. 266-338, S. 307.<br />

39 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 4, 1844, S. 44- 4 (Aphorismus , 3 und Littrés Anmer-<br />

kung zur Übersetzung).<br />

Vgl. auch Veith, Ilza: Hysteria: The history of a disease. Chicago-London: Univer-<br />

sity of Chicago Press 196 , S. 10-11.<br />

40 Platons Timaios oder die Schrift über die Natur. Übers. v. R. Kapferer u. A. Fingerle,<br />

Stuttgart: Hippokrates-Verlag 19 2, S. 91,110-111 (90e-92c, 76d-e).<br />

Diese Ausführungen sind auf Widerspruch gestossen. C. Ernst fragt sich, ob man statt<br />

«Tier» nicht «Lebewesen» übersetzen sollte. Dr. H.-R. Schwyzer, Zürich, ein nam-<br />

hafter Kenner der Antike und vor allem Platos, schrieb mir 197 , es werde durch sie<br />

Plato in ein falsches, mindestens sehr einseitiges Licht gestellt. Es sei zuzugestehen,<br />

dass an den beiden zitierten Timaios-Stellen (76d und 90e) die <strong>Frau</strong>en als minderwer-<br />

tig gegenüber den Männern erscheinen. Aber die erste Stelle (wo Platon von «Wei-<br />

bern und sonstigen Tieren» spricht), sei in der verwendeten Übersetzung falsch ver-<br />

standen. Die Worte «gynaikes kai talla theria» (γυναῖϰες ϰαὶ τάλλα θηρία) hiessen:<br />

«Weiber und selbst Tiere». Genauso spreche Homer von «Odysseus kai alloi Phaie-<br />

kes», was nicht heissen könne «Odysseus und die andern Phäaken», sondern nur:<br />

«Odysseus und mit ihm die Phäaken.» Andrerseits gebe es folgende Stellen, die Pia-<br />

ton als Vorkämpfer der Gleichberechtigung der Geschlechter auswiesen: Im 7. Buch<br />

der «Gesetze» verlangt Paton gleiche Ausbildung für Knaben und Mädchen (804e-<br />

80 a), Tanz- und Turnunterricht für beide Geschlechter (813b) und sogar militärische<br />

Ausbildung (813e-814b). Er verurteilt ausdrücklich die Gewohnheit der barbarischen<br />

Thraker, ihre <strong>Frau</strong>en wie Sklaven zu behandeln (80 e). Im 8. Buch der «Gesetze»<br />

spricht er mit grosser Hochachtung von der <strong>Frau</strong>, wo er die Reinheit der Ehe ver-<br />

langt (841cff.), und im 11. Buch spricht er von einem paritätisch aus 10 Männern und<br />

10 <strong>Frau</strong>en zusammengesetzten Scheidungsgericht (929e-930a). Auch der Hinweis auf


die verehrungswürdige Gestalt der Diotima im platonischen Symposion genüge, Pia-<br />

ton vom Vorwurf der Misogynie zu befreien (vgl. Sprechstunde 27, 5,197 , S. 2).<br />

Tatsächlich wird vielfach «Weiber und dann auch Tiere» (F. W. Wagner 1841),<br />

«Weiber und selbst Tiere» (F. Susemihl 18 6, J. Hegner 1967), «Weiber, und nicht<br />

bloss dies, sondern auch Tiere» (O. Apelt 1922), «women and afterwards ... beasts»<br />

(R. D. Archer-Hind 1888), «women and also ... beasts» (F. M. Cornford 1937) über-<br />

setzt. Andererseits allerdings finden sich auch Übersetzungen vom Typus der zitier-<br />

ten: «die <strong>Frau</strong>en sowie die übrigen Thiere» (H. Müller 18 7, ebenso nach F. Schleier-<br />

macher und H. Müller W. F. Otto, E. Grassi und G. Plamböck 19 9 - vgl. auch die<br />

Ausgabe der wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt von 1972), «Weiber und<br />

die anderen Tiere» (R. Rufener 1974), «des femmes et d’autres animaux» (V. Cousin<br />

1839).<br />

Zu Platons Gleichstellung von Mann und <strong>Frau</strong> in den «Gesetzen» ist zu bemerken,<br />

dass diese primär staatspolitisch motoviert erscheint (Mobilisierung der Reserven).<br />

Diotima aber war gewiss eine Ausnahme. Die «Ausnahme» ist ja die Regel, wenn<br />

Zugehörige einer diskriminierten Gruppe - falls sie in ihrer allfälligen Untauglichkeit<br />

nicht gegen sich selber sprechen - sozial hoch eingeordnet werden sollen.<br />

41 Aretaeus (Anm. ).<br />

42 Sprenger, Jakob und Institoris, Heinrich: Malleus Maleficarum / Der Hexenhammer.<br />

Zum ersten Male ins Deutsche übertragen u. eingel. v. J. W. R. Schmidt, 3 Teile, Ber-<br />

lin: H. Barsdorf 1906, Nachdr. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974,<br />

speziell l. Teil, S. 93, 97, 99, 102, 10 , 106. Diese Zitate fehlten in der Originalarbeit.<br />

43 Dieser ganze Abschnitt über Hexen, Besessene und deren Beziehung zur Hysterie-<br />

lehre ist neu geschrieben. Anstoss dazu gab Dr. med. Dr. phil. Cécile Ernst mit ihrem<br />

untenzitierten Buch. In der Originalarbeit wurden Hexen und Besessene in einen<br />

Topf geworfen, womit Verf. wohl zum Opfer einer im 19. Jahrhundert geläufigen<br />

Hysterielehre geworden ist. Ich danke Cecile Ernst für ihren Anstoss zur Klärung<br />

und kritische Durchsicht der hier abgedruckten Neufassung.<br />

Ernst, Cecile: Teufelaustreibungen. Die Praxis der katholischen Kirche im 16. und<br />

17. Jahrhundert. Huber: Bern-Stuttgart-Wien 1972, speziell auch S. 23-27, 117, 120-<br />

124.<br />

44 Vgl. Soldan-Heppe (Wilhelm Gottlieb Soldan und Heinrich Heppe): Geschichte der He-<br />

xenprozesse. Neu bearb. u. hrsg. v. M. Bauer, 2 Bde., Hanau/M.: Müller & Kiepen-<br />

heuer (1911), Bd. 1, S. 27 , 38 ;<br />

Cesbron, Henry: Histoire critique de l’hystérie. Thèse, Paris: Asselin & Houzeau 1909,<br />

S. 122; Ernst, C. (Anm. 43), S. 127-128.<br />

4 Ernst, Klaus: Zeitbedingtes und Zeitloses in der Behandlung seelisch Kranker. Über 7<br />

Protokolle von Exorzismen bei schizophrenieähnlichen Hysterien im 16. Jahrhundert.<br />

Neue Zürcher Zeitung, Sonntag, 31.1.196 , Nr. 399, Blatt 6.<br />

46 Wier, Johan: De praestigiis demonum. Von ihrem Ursprung, underscheid, vermögen-<br />

heit und rechtmessiger straaff, auch der beleidigten ordentlicher hilff sechs Bücher.<br />

Faksimile der Ausgabe von 1 78. Amsterdam: E. J. Bonset 1967, speziell Blatt 149-1 0<br />

(Buch , Kap. 9: Die auffrechte gewisse Kunst Zauberey zuvertreiben).<br />

Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. 2., verbesserte Aufl., Stutt-<br />

gart: Enke 1967, S. 20-21.<br />

47 James (VI of Scotland and I of England): Daemonologie, in forme of a dialogue. Edin-<br />

13


urgh: Walde-grave 1 97, zit. n. Hunter, Richard and Macalpine, Ida: Three hundred<br />

years of Psychiatry, 1 3 -1860, a history presented in selected English texts. 2. Aufl.,<br />

London: Oxford University Press 1964, S. 47-49.<br />

48 Jorden, Edward: A briefe discourse of a disease called the suffocation of the mother.<br />

Written uppon occasion which hath beene of late taken thereby, to suspect possession<br />

of an evill spirit, or some such like supernaturall power. Wherin is declared that di-<br />

vers strange actions and passions of the body of man, which in the common opinion,<br />

are imputed to the Divell, have their true naturall causes, and do accompanie this<br />

disease, London: Windet 1603, zit. u. kommentiert n. Hunter/Macalpine (Anm. 47),<br />

S. 68-73. Jorden bezieht sich hier zweifellos auf die hippokratische Schrift über die<br />

Epilepsie - vgl. Hippokrates (Anm. 2), Bd. 6, 1849, S. 3 2-3 9 (De la maladie sacrée,<br />

I).<br />

49 Sydenham (Anm. 38), S. 302.<br />

0 Whytt, Robert: Beobachtungen über die Natur, Ursachen und Heilung der Krankhei-<br />

ten, die man gemeiniglich Nerven-hypochondrische und hysterische Zufälle nennet.<br />

Übers. aus dem Englischen nach der 2. Aufl., Leipzig: C. Fritsch 1766;<br />

Mandeville, Bernard de: A treatise of the hypochondriack and hysterick diseases. In<br />

three dialogues. 2. Aufl., London: J. Tonson 1730;<br />

Vgl. auch <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krank-<br />

heiten und Zustandsbilder. Bern-Stuttgart-Wien: Huber 1970, S. 98-100.<br />

1 Mühe, Ernst: Der Aberglaube. Eine biblische Beleuchtung der finstern Gebiete der<br />

Sympathie, Zauberei, Geisterbeschwörung etc., 2. Aufl. Leipzig: G. Böhme 1886,<br />

S. 32-33, 39, 4 .<br />

2 Max Bauer als Bearbeiter von Soldan-Heppe (Anm. 44), Bd. 2, S. 336.<br />

3 Sprenger und Institoris (Anm. 42); Vorwort S. VII.<br />

4 Vgl. Veith (Anm. 39), S. 2 0;<br />

Ernst, Chile (Anm. 43), S. 8, 34, 120.<br />

Vgl. Hiller, Lee Miriam: Towards a definition of hysteria: Concepts in the late nine-<br />

teenth Century. Thesis (E. H. Ackerknecht) University of Wisconsin (o. D.);<br />

Bruttin, Jean-Marie: Differentes théories sur l’hystérie dans la première moitié du<br />

XIXe siècle (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 66). Zürich: Juris<br />

1969.<br />

Louyer-Villermay, Jean-Baptiste: Hypocondrie. In: Dictionaire des sciences médicales,<br />

Bd. 23, Paris: Panckoucke 1818, S. 107-191.<br />

-: Hysterie. Id., S. 226-272.<br />

Georget, Etienne-Jean: De la physiologie du Systeme nerveux et spécialement du cer-<br />

veau. Recherches sur les maladies nerveuses en général, et en particulier sur le siége, la<br />

nature et le traitement de l’hystérie, de l’hypochondrie, de l’épilepsie et de l’asthme<br />

convulsif. 2 Bde., Paris: Baillière 1821, speziell Bd. 2, S. 264.<br />

Dubois, E. Frederic: Über das Wesen und die gründliche Heilung der Hypochondrie<br />

und Hysterie. Eine von der Königl. medizin. Gesellschaft zu Bordeaux gekrönte<br />

Preisschrift. Hrsg. u. mit einer Einl. versehen v. K. W. Ideler, Berlin: Hirschwald<br />

1840;<br />

Brachet, Jean-Louis: Über die Hypochondrie. Eine von der Académie Royale de Mé-<br />

decine in Paris gekrönte Preisschrift. Übers. v. G. Krupp, 2 Hefte, Leipzig:<br />

Ch. E. Kollmann 184 -1846, 1. Heft S. 17 -179.<br />

136


Landouzy, Marc-Hector. Traité complet de l’hystérie. Ouvrage couronné par l’Acadé-<br />

mie royale de médecine. Paris-London: Baillière 1846;<br />

Loewenfeld, Leopold: Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie. Wies-<br />

baden: Bergmann 1894.<br />

6 Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen <strong>Krankheit</strong>en. 2.,<br />

umgearb. u. sehr vermehrte Aufl., Stuttgart: Krabbe 1861, S. 184.<br />

7 Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Ärzte. 4. Aufl.,<br />

Leipzig: A. Abel 1893, S. 492-493, 00.<br />

8 Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 8. Aufl.,<br />

4 Bde., Leipzig: J. A. Barth 1909-191 , S. 1646-1648, 16 4 (Bd. 4).<br />

9 Feuchtersieben, Ernst Freiherr von: Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde. Als Skizze zu<br />

Vorträgen bearbeitet. Wien: C. Gerold 184 , S. 24 .<br />

60 Dubois, Paul: Die Psychoneurosen und ihre seelische Behandlung. Übers. v. Ringier,<br />

Vorrede v. Déjerine, 2., durchges. Aufl., Bern: Francke 1910, S. 190-191.<br />

61 Kraepelin (Anm. 8), S. 16 6.<br />

62 Auf diesen Autor machte mich seinerzeit <strong>Frau</strong> Margret Curti aufmerksam.<br />

63 Probst, Ferdinand: Der Fall Otto Weininger (Grenzfragen des Nerven- und Seelenle-<br />

bens. Einzel-Darstellungen für Gebildete aller Stände, Heft 31). Wiesbaden: Berg-<br />

mann 1904;<br />

Forel, August: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische, hygie-<br />

nische und soziologische Studie für Gebildete. München: E. Reinhardt 190 , S. 66-<br />

67. Auf diesen Text hat mich Prof. E. H. Ackerknecht aufmerksam gemacht.<br />

64 Zweig, Stefan: Europäisches Erbe. Frankfurt a. M.: S. <strong>Fischer</strong> 1960, S. 223-226 (Vor-<br />

beigehen an einem unauffälligen Menschen - Otto Weininger).<br />

6 Nach Probst (Anm. 63), S. 2.<br />

66 Probst (Anm. 63), S. 8, 1 .<br />

Möbius, Paul Julius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (Sammlung<br />

zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten,<br />

hrsg. v. K. Alt, III, 3). Halle a. S.: Marhold 1900. 2. Aufl. 1901.<br />

Vgl. auch Möbius, Paul Julius: Geschlecht und Unbescheidenheit. Beurteilung des Bu-<br />

ches von O. Weininger «Über Geschlecht und Charakter». 3. Aufl., Halle a. S.: Mar-<br />

hold 1907, S. 7: Moebius glaubt, dass sogar der Titel von Weiningers Buch ein Pla-<br />

giat sei, indem er selbst gerade zur Zeit von dessen Entstehung im Begriffe war, seine<br />

«Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-Unterschieden» herauszugeben, von denen<br />

einige Titel vom Typ «Geschlecht und ...» trugen. Weininger schreibe, rechnet Mö-<br />

bius nach, «dass er vor der Veröffentlichung seines Buches meine Schrift ,Geschlecht<br />

und Entartung‘ gesehen habe. Auf dem Umschlage dieses Heftes steht fünfmal ,Ge-<br />

schlecht und -‘. Wenn jemand diese meine Titelreihe sieht und dann auch ,Geschlecht<br />

und -‘ wählt, so zeugt das denn doch von Mangel an Zartgefühl.»<br />

67 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. 3. Aufl.,<br />

Wien-Leipzig: W.Braumüller 1904, S. 34 -346, 3 8-362, 381, 388, 394, 407, 418<br />

(1. Aufl. 1903, . Aufl. 190 , 24. Aufl. 1922, 28. Aufl. 1947).<br />

68 Probst (Anm. 63), S. 38-39.<br />

69 Vgl. Möbius, Geschlecht und Unbescheidenheit (Anm. 66) samt dort zitiertem Text<br />

von S. 7, ferner speziell S. 3: «Der Verfasser trug ungefähr das vor, war ich vorgetra-<br />

gen habe, aber mit ... allerhand unerfreulichen Zusätzen. Der Eindruck, den diese<br />

137


Karrikatur meiner Anschauungen auf mich machte, wurde dadurch nicht verbessert,<br />

dass der Verfasser ungezogen über mich sprach.» Zitat aus Probst (Anm. 63), S. 8.<br />

138<br />

<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong> - aus der Geschichte der Menstruation<br />

in ihrem Aspekt als Zeichen eines Fehlers<br />

Erweiterte Fassung eines Vortrags vom März 1974. Bisher unpubliziert.<br />

70 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 8,18 3, S. 10-29 (Des maladies des femmes I, 1-4).<br />

71 Id., Bd. 7,18 1, S. 492-493 (De la génération. De la nature de l’enfant, XIV).<br />

72 Id., Bd. 8, S. 10-11 (Des maladies des femmes I, 1).<br />

73 Id., Bd. 7, S. 478-489 (De la génération VII-XII).<br />

74 Aristotle: Generation of animals. Griech. Text und englische Übersetzung v.<br />

A. L. Peck. London und Cambridge, Mass.: Heinemann und Harvard University<br />

Press 1963 (The Loeb classical library, Aristotle XIII), S. 88-111 (Gen. an. I, XIX-<br />

XX, 726a 29-729a 33).<br />

7 Id., S. 400-403 (Gen. an. IV, III, 767a 36-767b 24).<br />

76 Id., S. 92-9 und 102-103 (Gen. an. I, XIX und XX, 726b 31-727a 2 und 728a 18-2 ).<br />

Vgl. auch Lesky (Anm. 6), S. 12 9 (3 ).<br />

77 Aristotle: Parts of Animals. Griech. Text und englische Übersetzung v. E. S. Forster.<br />

London und Cambridge, Mass.: Heinemann und Harvard University Press 1968 (The<br />

Loeb classical library, Aristotle XII), S. 232-239 (Part. an III, IV, 66 b 6-666b 1).<br />

78 Aristoteles (Anm. 74), S. 90-91 (Gen. an. I, XIX, 726b -14).<br />

Vgl. hierzu Pare, Ambroise: Wund Artzney oder Artzneyspiegell. Aus der lat. Ausg.<br />

v. J. Guillemeau übers. v. P. Uffenbach, Frankfurt a. M.: Jacob <strong>Fischer</strong> 163 , S. 812<br />

(Buch 23, Von dess Menschen Geburt):<br />

«Gleich wie aber die Weiber dess Geblüts an der Mänge mehr in ihnen haben, also<br />

übertrifft das wenige, mit welchem die Männer begabet sind, jenes mit seiner für-<br />

trefflichen Qualitet unnd Eygenschafft sehr weit: Denn es ist nicht allein viel voll-<br />

kommener und eygentlicher aussbereitet, sondern hat auch eine viel grössere Mänge<br />

Geister in sich, also dass die Männer, als die da viel hitziger sind, leichtlich alles das,<br />

so sie gemessen unnd essen, in einen guten und heilsamen Safft und die Substantz ih-<br />

rer Leiber verwandeln, den Uberrest und Unrath aber durch die unvermerckliche<br />

Durchdämpffung ausslassen und vertheilen können: Ist derowegen (also zu reden) ein<br />

einig Quintlein ihres Bluts ... viel besser und kräfftiger, denn zwey Pfund dess Ge-<br />

blüts der Weiber ...»<br />

79 Aristoteles (Anm. 74), S. 102-103 (Gen. an. I, XX, 728a 18-2 ). Übers. v. Paul Gohlke<br />

(Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe. Paderborn: F. Schöningh 19 9, S. 9-<br />

60).<br />

80 Id., S. 400-403 (Gen. an. IV, III, 767b 6-1 ).<br />

81 Galen (Anm. 7), wo es S. 630 (Buch 14, 6/II, 299) heisst. «Indeed, you ought not to<br />

think that our Creator would purposely make half the whole race imperfect and, as it<br />

were, mutilated, unless there was to be some great advantage in such a mutilation.»<br />

Thomas von Aquin (Anm. 11) - vgl. auch die zugehörige Anmerkung in der Deut-<br />

schen Thomas-Ausgabe, S. 214: «Trotz der vielfachen Berührungen in den Gedan-<br />

kengängen bei Thomas und den heutigen Biologen bleibt der Irrtum bei Thomas be-


stehen: das Weibliche darf biologisch nicht als mas occasionatus [als ein verfehlter<br />

Mann] bezeichnet werden. Damit fallen bei Thomas zwar auch die biologisch unter-<br />

bauten Beweise für die theologische Folgerung: die soziale Unterordnung der <strong>Frau</strong> in<br />

der Ehegemeinschaft; nicht aber der Inhalt dieser Folgerung. Denn dieser ist dogma-<br />

tisch in der Offenbarung fundiert.»<br />

Demgegenüber Heinzelmann, Gertrud: Eingabe an die Hohe Vorbereitende Kommis-<br />

sion des II. Vatikanischen Konzils über Wertung und Stellung der <strong>Frau</strong> in der<br />

römisch-katholischen Kirche. In: Wir schweigen nicht länger! Zürich: Interfeminas-<br />

Verlag 196 , S. 20-44;<br />

Möbius 1900 (Anm. 66);<br />

Weininger (Anm. 67).<br />

82 Soranus (Anm. 3), S. 23-27 (Buch 1, Kap. 6, 27-29).<br />

83 Übersetzung n. der Zürcher Bibel (Anm. 10).<br />

84 Hildegardis causae et curae. Ed. Paulus Kaiser. Leipzig: B. G. Teubner 1903, S. 102-103<br />

(Lib. 2, Quare menstruum). Übersetzung aus: Der Äbtissin Hildegard von Bingen<br />

Ursachen und Behandlung der <strong>Krankheit</strong>en (causae et curae). Aus dem Lateinischen<br />

übers. v. H. Schulz. München: Verlag der ärztlichen Rundschau 1933, S. 99-101.<br />

8 Vgl. Diepgen, Paul: <strong>Frau</strong> und <strong>Frau</strong>enheilkunde in der Kultur des Mittelalters. Stutt-<br />

gart: Thieme 1963, S. 142-143.<br />

86 Helmont, Johann Baptista von: Aufgang der Artzney-Kunst. Das ist: Noch nie erhörte<br />

Grund-Lehren von der Natur zu einer neuen Beförderung der Artzney-Sachen.<br />

Deutsche Übersetzung Sulzbach: J. A. Endters Söhne 1683, S. 1230-1231 (Tractatus<br />

LV De vita longa, Vom langen Leben, Kap. 13: Von dem monatlichen Zoll).<br />

87 Müller-Hess, Hans Georg: Die Lehre von der Menstruation vom Beginn der Neuzeit<br />

bis zur Begründung der Zellenlehre (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und<br />

der Naturwissenschaften, Heft 27) Berlin: E. Ebering 1938, S. 37. Bei dem erwähnten<br />

Autor namens Duncan, zitiert bei Jean B. Verduc: Traité de l’usage des parties du corps<br />

humain, Paris 1696, Bd. 1, S. 238, könnte es sich nach Müller-Hess um Daniel Duncan,<br />

1649-173 , aus Montpellier, handeln.<br />

88 Plinius, Cajus Secundus: Des furtrefflichen hochgelehrten alten Philosophi Bücher und<br />

Schafften von der Natur ... Jetzt allererst gantz verstendtlich zusamen gezogen ...<br />

und dem gemeinen Manne zu sonderm Wolgefallen aus dem Latein verteutscht.<br />

Durch M. J. Heyden. Frankfurt/M.: S. Feyerabend u. S. Hütter 1 6 , S. 2 -26 (Buch 7,<br />

Kap. 1 «Von dem weiblichen Blumen»). Das Zitat ist leicht transskribiert wiederge-<br />

geben.<br />

Vgl. auch Buch 28, XXIII 77-86; und Diepgen, Paul: Die <strong>Frau</strong>enheilkunde der Alten<br />

Welt (Handbuch der Gynäkologie, hrsg. v. W. Stoeckel, Bd. 12, 1. Teil), München:<br />

Bergmann 1937.<br />

89 Aristotle: On Dreams. Griech. Text und englische Übersetzung v. W. S. Hett. London<br />

und Cambridge, Mass.: Heinemann und Harvard University Press 197 (The Loeb<br />

classical library, Aristotle VIII, S. 347-371), S. 3 6-3 9 (II 4 9b-460a).<br />

90 Nach Diepgen (Anm. 8 ), S. 143.<br />

91 Nach Seligmann, S.: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des<br />

Aberglaubens aller Zeiten und Völker. Bd. 1, Berlin: H. Barsdorf 1910, S. 94.<br />

92 Nach Diepgen (Anm. 8 ) S. 143.<br />

93 Johannes de Ketham Alemannus: Der Fasciculus medicinae. Facsimile des Venetianer<br />

139


Erstdruckes von 1491. Mit einer historischen Einführung herausgegeben von Karl<br />

Sudhoff (Monumenta medica, hrsg. v. H. E. Sigerist, Bd. 1) Mailand: R. Lier & Co.<br />

1923, S. 18.<br />

Es ist interessant, dass es eine Tradition gibt, die auch die Problematik von der gifti-<br />

gen <strong>Frau</strong> mit dem Namen des Aristoteles verbindet. Es ist dies die Tradition des Wer-<br />

kes «De secretis secretorum», welches Regeln und Sätze enthält, die Aristoteles seinem<br />

Schüler Alexander soll geschrieben haben. Der Text tauchte im 12. Jahrhundert im<br />

Zuge der arabischen Rezeption im Abendland auf, er hat mit Aristoteles an sich nichts<br />

zu tun, wurde aber zu einem der wichtigsten Träger des Ruhmes dieses Philosophen.<br />

Man findet da die folgende Erzählung: «Alexander, so schreibt Aristoteles, denk an<br />

die Tat der Königin von Indien, wie sie dir unter dem Vorwande der Freundschaft<br />

viele Angebinde und schöne Gaben übersandte. Darunter war auch jenes wunder-<br />

schöne Mädchen, das von Kindheit auf mit Schlangengift getränkt und genährt wor-<br />

den war, so dass sich seine Natur in die Natur der Schlangen verwandelt hatte. Und<br />

hätte ich sie in jener Stunde nicht aufmerksam beobachtet und durch meine Kunst er-<br />

kannt, da sie so furchtbar ungescheut und schamlos ihren Blick unablässig an das Ant-<br />

litz der Menschen heftete, hätte ich nicht daraus geschlossen, dass sie mit einem einzi-<br />

gen Bisse die Menschen töten würde, was sich dir hernach durch eine angestellte<br />

Probe bestätigt hat, so hättest du in der Hitze der Beiwohnung den Tod davon ge-<br />

habt.» Nach Hertz, Wilhelm: Die Sage vom Giftmädchen. In: Gesammelte Abhand-<br />

lungen, hrsg. v. F. v. d. Leyen, Stuttgart-Berlin: Cotta 190 , S. 1 6-277 (erstmals in<br />

den Abhandlungen der bayrischen Akademie der Wissenschaften, philos.-philol.<br />

Klasse XX, 1 (1893), hier vom Autor verbessert), S. 162. Diesen Hinweis verdanke<br />

ich Dr. med. U. B. Birchler.<br />

94 Vgl. Lewin, Louis: Die Gifte in der Weltgeschichte. Berlin: Julius Springer 1920,<br />

S. 288, 299-311, 487-492.<br />

Ein interessantes Detail ist in diesem Zusammenhang, dass Hieronymus Cardanus seine<br />

3 Bücher «De venenis» (enthalten in den Opera, Bd. 7, J. A. Huguetan & M. A. Ra-<br />

vaud: Leyden 1663, S. 27 -3 ), dem Papste widmet.<br />

9 Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Medizinische Wissenschaft in ihrem Zusammenhang<br />

mit ärztlicher Standespolitik. Aus der Geschichte der Chirurgie, der Hebammenkunst<br />

und der Apothekerwissenschaft. Schweiz. Ärzteztg. 7 (1976) 13 1-13 7, bes. S. 13 .<br />

96 Cardanus (Anm. 94) S. 277 (Lib. l, Cap. l) und S. 279 (Lib. l, Cap. 4).<br />

97 Seiigmann (Anm. 91), S. 99.<br />

98 Paracelsus, Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke (Hrsg. v.<br />

K. Sudhoff ). 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische<br />

Schriften, 14 Bde und 1 Registerband, München, Berlin und Einsiedeln: R. Olden-<br />

bourg (München-Berlin) O. W. Barth (München) Eberle (Einsiedeln) 1922-1960,<br />

Bd. 1, S. 26 (Das Buch von der Gebärung der empfindlichen Dinge in der Vernunft.<br />

[Von Gebärung des Menschen. Von des Menschen Eigenschaften, Tract. 2, Kap. 8.])<br />

Vgl. auch Bd. 9, S. 197 (Paramiri liber quartus de matrice).<br />

99 Id., Bd. 9, S. 198 (Paramiri liber quartus de matrice).<br />

100 Id., Bd. 6, S. 403-404 (Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern und Zittrachten der<br />

Franzosen und ihres gleichen, 6. Buch, l. Kap.)<br />

101 Id., Bd. , S. 238 (Nachschrift aus dem Kolleg «Der Paragraphen, 14 Bücher» speziel-<br />

ler Pathologie und Therapie, Kap. 2, § 2, de lepra a casu).<br />

140


102 Id., Bd. 14, S. 6 -660 (De pestilitate, Tract. 4, Kap. 2). Diese Schrift ist möglicher-<br />

weise keine echte Paracelsus-Schrift.<br />

103 Laurentius, Andreas: Opera anatomica et medica. Frankfurt 1627, S. 296, zit. n. Müller-<br />

Hess (Anm. 87), S. 1 .<br />

104 Matthiolus, Petrus Andreas: Commentarii in libros sex Pedacii Dioscoridis Anazarbei,<br />

de medica materia. Venedig: V. Valgrisius 1 4, S. 672 (Buch 6, Kap. 2 ).<br />

10 Cardanus (Anm. 94), S. 313 (Buch 2, Kap. l).<br />

106 Birchler, Urs Benno: Der Liebeszauber (Philtrum) und sein Zusammenhang mit der<br />

Liebeskrankheit in der Medizin, besonders des 16.-18. Jahrhunderts (Zürcher medi-<br />

zingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 110) Juris: Zürich 197 .<br />

107 Id., S. 93. Vgl. auch die entsprechenden Textstellen bzw. Stichwort «Menstrualblut»<br />

im Index.<br />

108 Nach <strong>Fischer</strong>, Isidor: Menstruation und Ovulation. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der<br />

inneren Sekretion der Ovarien. Wien. Med. Wschr. 13 (1923) 18 1-18 4.<br />

109 Vgl. Anm. 87.<br />

110 Müller-Hess (Anm. 87), S. 61-62. Vgl. auch S. 23 bzw. Anm.120<br />

111 Fraenkel (Anm. 3 ), S. 49- 0.<br />

112 Schaarschmidt, Samuel: Medicinischer und Chirurgischer Nachrichten Drey Jahr-<br />

gänge. Mit Vorrede von F. Hoffmann. Berlin: D. A. Gohls 1743, 3. Teil, S. 421-422.<br />

113 Nudow, Heinrich: Aphorismen über die Erkenntniss der Menschennatur im lebenden<br />

gesunden Zustande. Riga 1791, S. 137-140, zit. n. Müller-Hess (Anm. 87), S. 8.<br />

114 Oken, Lorenz: Die Zeugung. Bamberg-Würzburg: J. A. Goebhardt 180 , S. 201-203.<br />

11 Soran (Anm. 3), S. 23-24.<br />

116 Müller-Hess (Anm. 87), S. 24-29 und ff.<br />

117 Fodéré, François-Emmanuel: Les lois eclairees par les sciences physiques; ou traite de<br />

medecine-légale et d’hygiene publique. Bd. 1, Paris: Croullebois & Deterville an 7<br />

(1799), S. 136.<br />

Vgl. aber Belart-Gasser, Peider: Die Stellung der <strong>Frau</strong> in F. E. Foderes «Traité de<br />

médecine-légale et d’hygiene publique» (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlun-<br />

gen, N. R. 122) Zürich: Juris 1977.<br />

118 <strong>Fischer</strong>, Robert: Vortrag über die Geschichte der Brandstiftung, gehalten im Rahmen<br />

einer Vorlesung der Verfasserin über die Geschichte der forensischen Psychiatrie im<br />

SS 1977. Noch unpubliziert.<br />

119 Platner, Ernst: Untersuchungen über einige Hauptcapitel der gerichtlichen Arznei-<br />

Wissenschaft, durch ... Gutachten der Leipziger medicinischen Facultät erläutert. Aus<br />

dem Latein. übers. u. hrsg. v. C. E. Hedrich, Leipzig: P. G. Kummer 1820, S. 30-36.<br />

120 «Ich habe mich darüber schon an einem andern Orte geäussert», schreibt Osiander<br />

hierzu und verweist auf sein Buch «Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten,<br />

medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben», Hannover:<br />

Brüder Hahn 1813, S. 108, wo die Brandstiftung übrigens als pubertäres Äquivalent<br />

des Selbstmordes steht.<br />

121 «Den Beweis, dass die Anhäufung des venosen Blutes im weiblichen Körper vor der<br />

Menstruation jedesmal Statt finde, die Menstruation selbst in einer Ausleerung sehr<br />

dunkelgefärbten Blutes bestehe,... habe ich ... bereits angeführt...», bemerkt Osiander<br />

hierzu und verweist auf seine «Denkwürdigkeiten» und die Dissertation seines Sohnes<br />

(Göttingen 1808).<br />

141


122 Osiander, Friedrich Benjamin: Über die Entwickelungskrankheiten in den Blüthenjah-<br />

ren des weiblichen Geschlechts. l. Theil, enthaltend die seltenen und wunderbaren<br />

Geistes- und Leibeszufälle in diesem Alter. Göttingen: bey dem Verfasser 1817,<br />

S. 19 -197.<br />

123 Henke, Adolph: Über die Entwicklungen und Entwicklungs-<strong>Krankheit</strong>en des<br />

menschlichen Organismus. Nürnberg: J. L. Schrag 1814, S. 122,124, 141-142.<br />

124 Id., S. 143 ff., 146ff., 162ff.<br />

12 Henke, Adolph: Über Geisteszerrüttung und Hang zur Brandstiftung als Wirkung un-<br />

regelmässiger Entwickelung beim Eintritte der Mannbarkeit. Jahrbuch der Staatsarz-<br />

neikunde für das Jahr 1818, hrsg. v. J. H. Kopp, 10. Jahrgang. Frankfurt a. M.:<br />

J. Ch. Hermann 1817, S. 78-133.<br />

126 Henke, Adolph: Über die Wichtigkeit der Entwicklungskrankheiten im Bezug auf die<br />

gerichtliche Medicin. In: Abhandlungen aus dem Gebiete der gerichtlichen Medicin,<br />

Bd. 3, Bamberg: C. F. Kunz 1818, S. 187-238, speziell S. 211-23 .<br />

127 Friedreich, Johannes Baptist: Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie,<br />

für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger. Leipzig: O. Wigand 183 , S. 408.<br />

Vgl. Flemming, Karl Friedrich: Über die Existenz eines Brandstiftungstriebes, als<br />

krankhaft psychischen Zustandes. Arch. für mediz. Erfahrung (1830) 2 6-283;<br />

Henke, Adolph: Zur Lehre von dem Zusammenhange der bei Knaben und Mädchen<br />

vorkommenden Feuerlust und Neigung zur Brandstiftung mit den Entwicklungsvor-<br />

gängen bei dem Eintritte der Mannbarkeit, und Meyn, Andreas Ludwig Adolf: Über<br />

die Unzulässigkeit der Annahme eines Brandstiftungstriebes: als Einleitung zu einer<br />

Reihe ärztlicher Gutachten über den Gemüthszustand und die Zurechnungsfähigkeit<br />

dreier junger Brandstifter, Z. Staatsarzneik., hrsg. v. A. Henke, 14. Ergänzungsheft,<br />

zum 11. Jg. gehörend, Erlangen: Palm & Enke 1831, S. 189-239 und 240-302.<br />

128 Friedreich (Anm. 127), S. 388-436, speziell S. 412-414 und 424.<br />

129 Krafft-Ebing, Richard von: Psychosis menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie.<br />

Stuttgart: Enke 1902, S.7, 94-108.<br />

Zur Brandstiftungskasuistik vgl. nochmals Platner (Anm. 119);<br />

Klug, Fr. (Hrsg.): Auswahl medicinisch-gerichtlicher Gutachten der königl. wissen-<br />

schaftlichen Deputation für das Medicinalwesen, l. Bd., Berlin: G. Reimer 1828,<br />

S. 8 -108, Speziell S. 9 -96, 104-10 ;<br />

Schletter, Hermann Theodor (Hrsg.): J. C. A. Heinroth’s Gerichtsärztliche und Privat-<br />

Gutachten. Leipzig: Fest’sche Verlagshandlung 1847, S. - 8 (Brandstiftung), 87-90<br />

(Mord);<br />

Friedreich (Anm. 127), S. 393-436.<br />

130 Vgl. Geschichtlicher Rückblick auf die Lehre von den Menstruationspsychosen.<br />

Krafft-Ebing (Anm. 129) S. 7-8.<br />

Vgl. die klassischen Schriften der französischen Schule: Fodere, Françcois-Emmanuel:<br />

Traite du délire, applique à la médecine, à la morale et ä la legislation. 2 Bde, Paris:<br />

Croullebois 1817, vor allem wohl Bd. 2, S. 67ff. (Du rapport avec le delire, des âges,<br />

des sexes, du mariage ou du célibat...):<br />

Esquirol, Etienne: Des maladies mentales, considérées sous les rapports médical, hygié-<br />

ique et médico-légal, 2 Bde u. 1 Tafelband, Paris: Baillière 1838, Repr. New York:<br />

Arno Press 1976, Bd. l: S. 31, 69-70, 84, 301, 428; Bd.2: S. 140, 23 ;<br />

Guislain, Joseph: Abhandlung über die Phrenopathien oder neues System der Seelen-<br />

142


Störungen. Aus dem Französischen übers. v. Wunderlich, Stuttgart u. Leipzig: Rieger<br />

& Co. 1838, S. 281 - s. allerdings auch S. 43 und 190: «Wir müssen indessen mit Geor-<br />

get bemerken, dass die Menstruation zu oft für kritisch bei Seelenstörung gehalten<br />

wurde ...» Auch bei Guislain gehört das Interesse für die Menstruation in den grös-<br />

seren Zusammenhang des Interesses für das Phänomen der Periodizität überhaupt -<br />

vgl. Anm. 149, 1 4, 162.<br />

131 Naegele, Franz Carl: Erfahrungen und Abhandlungen auf dem Gebiethe der Krank-<br />

heiten des weiblichen Geschlechts. Mannheim: T. Löffler 1812, S. 277-279.<br />

132 Baer( Anm. 2 ).<br />

133 Vgl. Negrier, Charles: Recherches anatomiques et physiologiques sur les ovaires dans<br />

l’espèce humaine, considérés spécialement sous le rapport de leur influence dans la<br />

menstruation. Paris: Bechet & Labe 1840, speziell S. 1 -33 (Kap. 2: Etat anatomique<br />

des ovaires pendant la periode de la fécondité chez la femme): «Négrier und Andere»<br />

werden von Pflüger (Anm. 71), S. 3, zitiert für den Satz, «dass eine spontane Lösung<br />

der Eier aus dem Ovarium auch beim Menschen existire, welche ganz unabhängig<br />

von der Einwirkung des männlichen Geschlechts erfolgt und von der periodischen<br />

Blutung begleitet ist».<br />

134 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 8, S. 62-6 (Des maladies des femmes I, 24).<br />

13 Naegele (Anm. 131), S. 280-294. Pflüger (Anm. 139), S. 3 zitiert Naegele dafür, dass er<br />

«eine directe Beziehung der Menstruation zur Brunst der Thiere» herstelle.<br />

136 Remak, Robert: Über Menstruation und Brunst. Neue Zeitschrift für Geburtskunde 13<br />

(1843) 17 -233. Nach dem Surgeon General’s Index Catalogue ist diese Arbeit auch<br />

separat erschienen, unter dem Titel «Die abnorme Natur des Menstrualblutflusses er-<br />

läutert». Berlin: Hirschwald 1842.<br />

137 Id., S. 214, 228, 230.<br />

138 Virchow (Anm. 26), S. 73 , 7 0.<br />

139 Pflüger, Eduard: Über die Bedeutung und Ursache der Menstruation. In: E. Pflüger,<br />

Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium zu Bonn, Berlin 186 , S. 3-<br />

63, speziell S. 4- 8.<br />

140 Barnes, Robert:Lumleian Lectures on the convulsive diseases of women. Brit. med. J. 1<br />

(1873), S. 4 3, zit. n. Fels, Helene: Beiträge zur Lehre von der Menstruation vom Be-<br />

ginn der Zellenlehre bis zum Beginn der Lehre von der inneren Sekretion. Diss.,<br />

Berlin 1961, S. 13.<br />

141 Loewenthal, Wilhelm: Eine neue Deutung des Menstruationsprocesses. Arch. Gynäk.<br />

24 (1884) 169-261, S. 248-249, 260.<br />

142 Möricke, Robert: Verhalten der Uterusschleimhaut während der Menstruation. Vorläu-<br />

fige Mittheilung. Zbl. Gynäk. 4 (1880) 289-291, S. 290.<br />

143 Feoktistow, A. E.: Einige Worte über die Ursachen und den Zweck des Menstrualpro-<br />

cesses. Arch. Gynäk. 21 (1886) 379-418, S. 396-398.<br />

144 Loewenthal, Wilhelm: Bemerkungen zu E. A. Feoktistow’s «Einige Worte über die<br />

Ursachen und den Zweck des Menstrualprocesses». Arch. Gynäk. 28 (1886) 1 8-<br />

160.<br />

Feoktistow, A.: Antwort an Herrn Loewenthal. Arch. Gynäk. 28 (1886) 08- 10. Die<br />

Kontroverse hätte sich vielleicht noch weiter gezogen, wenn die Redaktion damit<br />

nicht «die Erwiderungen ... in diesem Archiv geschlossen» erklärt hätte.<br />

14 Feoktistow (Anm. 144), S. 09.<br />

143


146 Wood und Suitters (Anm. 3 ), S. 130-1 6;<br />

Finch und Green (Anm. 3 ), speziell S. 124-13 .<br />

147 Vgl. Michel-Alder, Elisabeth: Schlaglichter auf das soziale Hinterland der Abtreibungs-<br />

frage. Schweiz. Ärztetg. 58 (1977) 1 44-1 49.<br />

148 Henke (Anm. 123), S. 139.<br />

149 Pflüger (Anm. 139), S. 60-63. Mit seiner Lehre von der Menstruation gibt Pflüger ein<br />

abgerundetes Beispiel eines biologischen Rückkoppelungssystems. Die irritierende<br />

Periodizität der «Menses» mag den Neurophysiologen dazu angeregt haben, viel-<br />

leicht auch der Umstand, dass gerade am Beispiel Menstruation schon ältere Autoren,<br />

namentlich des 17. Jahrhunderts, biologische Rückkoppelungsmechanismen konzi-<br />

piert haben. Dass Pflüger seine Lehre von der Menstruation eher als Beispiel eines bio-<br />

logischen Regelkreises denn als Beitrag zur Gynäkologie entwarf, scheint aus der Ge-<br />

samtheit seines vorwiegend neurophysiologischen Werks hervorzugehen. 1877 wird<br />

Pflüger seine «Teleologische Mechanik der lebendigen Natur» herausgeben, die ihn<br />

zum Klassiker der Lehre von der biologischen Regelung werden liess (Volker Henn im<br />

Vorwort zur Neuherausgabe dieser Schrift [Grundlagenstudien aus Kybernetik und<br />

Geisteswissenschaft, Beiheft zu Bd. II] Quickborn: Schnelle 1971).<br />

Vgl. auch Simmer, Hans H.: Pflüger’s Nerve Reflex Theory of Menstruation: The<br />

Product of Analogy, Teleology and Neurophysiology. Clio Medica 12 (1977) 7-90.<br />

1 0 Vgl. etwa Brierre de Boismont, Alexandre: Recherches bibliographiques et cliniques sur<br />

la folie puerpérale précédées d’un aperçu sur les rapports de la menstruation et de l’a-<br />

liénation mentale. Ann. med.-psychol. 3 (18 1) 74-610. Der Artikel enthält prak-<br />

tisch nur den im Titel als «aperçu» bezeichneten Teil. Brierre de Boismont gibt darin of-<br />

fenbar Material aus seinem uns unzugänglichen «Traité de la menstruation» (De<br />

la menstruation, considérée dans ses rapports physiologiques et pathologiques. Pa-<br />

ris: Germer-Baillière 1842) «couronné par l’Académie, aujourd’hui complétement<br />

épuisé».<br />

1 1 Vgl. Temkin, Owsei: The falling sickness. A history of Epilepsy from the Greeks to<br />

the beginnings of modern neurology. 2. Aufl., Baltimore-London: Johns Hopkins<br />

Press 1971, S. 278-291, 3 1-3 9.<br />

1 2 Négrier (Anm. 133), S. 117, schreibt schon 1842, die Hysterie «ne derive pas d’une af-<br />

fection nerveuse de l’uterus ... mais de la distension forcée des enveloppes de l’ovaire,<br />

d’où résulte la compression des nerfs de cet organe, et par suite, toutes les irradiations<br />

douloureuses qui s’étendent aux plexus nerveux de la vie organique et vers le cer-<br />

veau.»<br />

Vgl. Hegar, Alfred: Die Castration der <strong>Frau</strong>en. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1878,<br />

S. 87, 94-9 ;<br />

Charcot, Jean-Martin: Leçons du Mardi à la Salpêtrière. Policliniques, 1887-1888. No-<br />

tes de Cours de M. M. Blin, Charcot et Colin. Paris: Progres Médical & Delahaye 1887,<br />

S. 63-64, 177-178.<br />

1 3 Stransky, Erwin: Medizinische Psychologie, Grenzzustände und Neurosen beim<br />

Weibe. In: Halban/Seitz (Anm. 20), Bd. , Teil III, 1927, S. 47 (Abschnitt «Das seelisch<br />

normale Weib in der Menstruation»).<br />

1 4 Fliess, Wilhelm: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsor-<br />

ganen. Leipzig und Wien 1897. Zit. n. Runge, Max: Lehrbuch der Gynäkologie. Ber-<br />

lin: J. Springer 1902, S. 13. Fliess hat sich stark für alles Rhythmische in der Natur in-<br />

144


teressiert, ist so auch zu einem Vater der sogenannten Biorhythmen geworden - auch<br />

hier scheint das Phänomen Menstruation als ideengeschichtlicher Schrittmacher funk-<br />

tioniert zu haben.<br />

1 Fliess, Wilhelm: Über den ursächlichen Zusammenhang von Nase und Geschlechtsor-<br />

gan. 2. Aufl. Halle: Marhold 1910.<br />

1 6 Runge (Anm. 1 4), S. 13.<br />

Zum politischen Gehalt solcher und ähnlicher Äusserungen vgl.<br />

Ehrenreich, Barbara und English, Deidre: Zur <strong>Krankheit</strong> gezwungen. Eine schichtenspe-<br />

zifische Untersuchung der <strong>Krankheit</strong>sideologie als Instrument zur Unterdrückung<br />

der <strong>Frau</strong> in 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel USA. Aus dem Englischen. Mün-<br />

chen: <strong>Frau</strong>enoffensive 1976.<br />

1 7 Krieger, Eduard: Die Menstruation. Eine gynäkologische Studie. Berlin: Hirschwald<br />

1869, S. 6.<br />

1 8 Mayer, Louis: Menstruation im Zusammenhange mit psychischen Störungen. (Sitzung<br />

vom 13. Februar 1871). Beitr. Geburtsh. Gynäk. 1 (1872) 111-13 , S. 128-129.<br />

1 9 Storer, Horatio Robinson: The causation, course, and treatment of reflex insanity in wo-<br />

men. Boston: Lee and Shepard 1871, Nachdr. New York: Arno Press 1972.<br />

160 Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Charcot und die Ätiologie der Neurosen. Gesnerus<br />

(Aarau) 28 (1971) 3 -46.<br />

161 Krafft-Ebing, Richard von: Untersuchungen über Irresein zur Zeit der Menstruation.<br />

Ein klinischer Beitrag zur Lehre vom periodischen Irresein. Arch. Psychiat. Ner-<br />

venkr. 8 (1878) 6 -107, S. 6 , 98, 106.<br />

162 Kirn, Ludwig: Die periodischen Psychosen. Eine klinische Abhandlung. Stuttgart:<br />

Enke 1878, S. 97-10 .<br />

163 Hegar, August: Zur Frage der sogenannten Menstrualpsychosen. Ein Beitrag zur<br />

Lehre der physiologischen Wellenbewegungen beim Weibe. Allg. Z. f. Psychiatrie<br />

und psychisch-gerichtliche Medicin 58 (1901) 3 7-389, Tafel I.<br />

164 Schuele, Heinrich: Über den Einfluss der sog. «Menstrualwelle» auf den Verlauf psy-<br />

chischer Hirnaffectionen. Allg. Z. Psych. 47 (1891) 1-28, Tafel I, S. 2 .<br />

16 Schuele, Heinrich: Handbuch der Geisteskrankheiten (Handbuch der speciellen Patho-<br />

logie und Therapie, Bd. 16, 2. Aufl.) Leipzig: F. C. W. Vogel 1880. S. 237, 342-343.<br />

166 Schlager, Ludwig: Die Bedeutung des Menstrualprocesses und seiner Anomalieen für<br />

die Entwickelung und den Verlauf der psychischen Störungen. Allg. Z. Psych. 15<br />

(18 8) 4 7-498, S. 498.<br />

167 Krafft-Ebing, Richard von: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. 3., umgearb.<br />

Aufl., 2. Ausgabe, Stuttgart: Enke 1900, S. 330-333.<br />

168 Krafft-Ebing (Anm. 129).<br />

169 Krafft-Ebing zitiert hier Brierre de Boismont (Anm. 1 0); Mayer (Anm. 1 8); Storer<br />

(Anm. 1 9); Schlager (Anm. 166); und Schroeter, R..: Die Menstruation in ihren Bezie-<br />

hungen zu den Psychosen (Verhandlungen psychiatrischer Vereine: 17. ordentliche<br />

Versammlung des psychiatrischen Vereines zu Berlin am l6. Juni 1873). Allg. Z.<br />

Psych. 30 (1874) 1- 72.<br />

170 Krafft-Ebing (Anm. 129). S. 93-108.<br />

171 <strong>Fischer</strong> (Anm. 108), Spalte 18 1.<br />

172 Ewald, Gottfried: Die Generationspsychosen des Weibes. Anhang zu: Psychosen bei<br />

akuten Infektionen bei Allgemeinleiden und bei Erkrankung innerer Organe (Hand-<br />

14


uch der Geisteskrankheiten, hrsg. v. O. Bumke, Bd. 7, spezieller Teil III) Berlin: J.<br />

Springer 1928, S. 118-132, Literatur S. 147-1 0, S. 120.<br />

173 Zum Konzeptionsoptimum vgl. Anm. 3 .<br />

174 Ewald (Anm. 172), S. 118.<br />

17 Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong> (Anm. 22), S. 121-123, 18 -187.<br />

176 Vgl. etwa Jahn, Veronika: Die gastrointestinalen Autointoxikationspsychosen des spä-<br />

ten 19. Jahrhunderts. (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 111) Zü-<br />

rich: Juris 197 , S. 49- 0.<br />

Vgl. auch <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Zur Geschichte des Zusammenhangs zwischen<br />

Seele und Verdauung. Schweiz. med. Wschr. 103 (1973) 1433-1441, speziell S. 1439-<br />

1441.<br />

177 Ewald, Gottfried: Psychische Störungen des Weibes. In: Halban/Seitz (Anm. 20) Bd. ,<br />

Teil III, 1927, S. 117-162; S. 129.<br />

178 Hauptmann, Alfred: Menstruation und Psyche. (Versuch einer «verständlichen» Inbe-<br />

ziehungsetzung somatischer und psychischer Erscheinungsreihen.) Arch. Psychiat.<br />

Nervenkr. 71 (1924) 1- 4, S.1, 48-49.<br />

179 Ernst, Chile: Das Klimakterium: Tatsachen und Meinungen. Tages-Anzeiger (Zü-<br />

rich), Samstag, 8. Okt. 1977, S. 37-38. S. a. Schweizer <strong>Frau</strong>enblatt 59 (1977) Nr. 11.<br />

180 Birnbaum, Karl: Kriminal-Psychopathologie. Berlin: J. Springer 1921, S. 140.<br />

181 Langelueddeke, Albrecht: Gerichtliche Psychiatrie. 3. Aufl. Berlin: W. de Gruyter 1971,<br />

S. 329-330.<br />

182 Goeppinger, Hans und Witter, Hermann (Hrsg.: Handbuch der forensischen Psychia-<br />

trie. 2 Bde., Berlin-Heidelberg-New York: Springer-Verlag 1972.<br />

146<br />

Hebammen und Hymen<br />

Erstmals publiziert in: Sudhoffs Archiv 61 (1977) 7 -94, Prof. E. H. Ackerknecht zum<br />

70. Geburtstag (am 1.6.1976) gewidmet. Neuabdruck in: Schweiz. Ärzteztg. 58 (1977)<br />

1624-1629.<br />

183 Haberling, Elseluise: Beiträge zur Geschichte des Hebammenstandes I. Berlin und<br />

Osterwieck am Harz 1940, zit. n. Diepgen (Anm. 8 );<br />

Diepgen (Anm. 8 );<br />

Gubalke, Wolfgang: Die Hebamme im Wandel der Zeiten. Ein Beitrag zur Geschichte<br />

des Hebammenwesens. Hannover: E. Staude 1964;<br />

Ackerknecht, Erwin H.: Zur Geschichte der Hebammen. Gesnerus 31 (1974) 181-192.<br />

Vgl. auch die hier noch nicht integrierte Neuerscheinung: Donnison, Jean: Midwives<br />

and medical men. A history of inter-professional rivalries and women’s rights. Lon-<br />

don: Heinemann 1977.<br />

184 Aristoteles: Opera omnia ed. Academia regia Borussica (I. Bekker), Berlin: G. Reimer<br />

1831-1870, 1 10a 22 (Tiergeschichte, Gamma); vgl. 787a -788a 7 (Index,<br />

Schlagwort «hymen»).<br />

18 Dictionnaire étymologique de la langue française par A. Dauzat. Paris: Larousse 1938;<br />

Skinner, Henry Alan: The origin of medical terms. Baltimore: Williams & Wilkins<br />

1949.


186 Soranus (Anm. 3), S. 1 & I, 16 und 17).<br />

187 Avicenna: Canonum medicinae libri V, translati a M, Gerardo Cremonensi ex arabico in<br />

lat. Venedig: O. Scoti 1 0 , lib. 3, fen. 21, cap. 1.<br />

188 . Mos. 22, 14-17.<br />

189 Berengario da Carpi, Jacopo: A short introduction to anatomy (isagogae breves). Übers.<br />

u. eingel. v. L. R. Lind [Originalausgabe Venedig 1 3 ]. Chicago: University Press<br />

19 9, S. 78. Übrigens gibt Lind als Lebensdaten Berengarios: ca. 1460-1 30.<br />

190 Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem. Nachdruck der Ausgabe<br />

von Basel 1 43. Brüssel: Culture et civilisation 1964, S. 290* (lib. 3, cap. 9).<br />

191 Vesalius, Andreas: Opera omnia anatomica et chirurgica. Hrsg. v. H. Boerhaave und<br />

B. S. Albinus, Leyden: J. du Vivié & J. & H. Verbeek 172 . S. 333 und 4 7 (De humani<br />

corporis fabrica, basierend auf der zweiten Folio-Ausgabe von 1 , lib. 3, cap. 9, u.<br />

lib. , cap. 1 ).<br />

192 Der Hexenhammer beschäftigt sich recht eingehend mit diesen «Hexen-Hebammen»,<br />

welche «die Empfängnis im Mutterleibe ... verhindern, auch Fehlgeburten bewirken<br />

und ... die Neugeborenen den Dämonen opfern», «noch grössere Schädigungen an-<br />

tun, indem sie die Kinder entweder töten oder sie den Dämonen weihen» und mit der<br />

gerichtlichen Beurteilung dieser Art von Hexen. Vgl. Sprenger/Institoris (Anm. 42),<br />

1. Teil S. 1 7-1 9, 2. Teil S. 13 -147, 3. Teil S. 12 , 211-212, 216-217. Vgl. auch<br />

Zacchias, Paulus: Quaestiones medico-legales. 3. Aufl., Amsterdam: J. Blaeu 16 1,<br />

S. 404 (lib. 6, tit. 1, qu. 12 De obstetricum erroribus § 3);<br />

Bose, Caspar: De obstetricum erroribus a medico clinico pervestigandis / Von Irrthü-<br />

mern der Hebammen. Disputation vom 2 .2.1729, Praes.: A. F. Walther. Leipzig:<br />

Breitkopf 1729, S. 60-62 (De erroribus obstetricum malitia commissis);<br />

Forbes, Thomas Rogers: The midwife and the witch. New Haven-London: Yale Uni-<br />

versity Press 1966.<br />

193 Vgl. Rashdall, Hastings: The universities of Europe in the Middle Ages. Hrsg. v.<br />

F. M. Powicke und A. B. Emden, Bd. 2, Oxford: Clarendon Press 1936, S. 209;<br />

Bullough, Vern L.: The development of medicine as a profession. The contribution of<br />

the medieval university to modern medicine. Basel-New York: Karger 1966, S. 78-<br />

81;<br />

Cobban, A.B.: The medieval universities: their development and organization. Lon-<br />

don: Methuen 197 , S. 20 und 178.<br />

Ich danke Katharina Wäckerlin-Swiagenin für den Hinweis auf diese Literaturstel-<br />

len.<br />

194 Paré (Anm. 78), S. 979 (Ein kurtzer und gründlicher Unterricht, wie sich ein jeder<br />

Wund Artzt, so er etwan eines Verwundeten, oder anderer Patienten halben, von<br />

seiner Obrigkeit vorstellt und gefragt wird, zu verhalten habe ...).<br />

19 Ibid., S. 804 (Buch 23, Von dess Menschen Geburt).<br />

196 Diese Vermengung ist schon bei Soran vorgezeichnet: vgl. Soranus (Anm. 3), S. 1<br />

(I,17).<br />

Vgl. auch Fidelis, Fortunatus: De relationibus medicorum libri quatuor, in quibus ea<br />

omnia, quae in forensibus, ac publicis causis, medici referre solent, plenissime tradun-<br />

tur. Hrsg. v. P. Ammann, Leipzig: J. Ch. Tarnovius 1674 (Erstausgabe Palermo 1602),<br />

S. 349. Fidelis beruft sich auf Paré und assoziiert den Hymen mit der «clausura» des<br />

Avicenna.<br />

147


197 Fragoso, Juan: De las declaraciones que han de hazer los Cirujanos, acerca de diversas<br />

enfermedades y muchas maneras de muertes que suceden (Anhang in: Cirurgia uni-<br />

versal, . Aufl., Alcala 1 92, Blatt 286 v.-30 v.), Blatt 29 (Para conocerla virgini-<br />

dad en la Muger).<br />

198 Codronchius, Baptista: Methodus testificandi. In: De vitiis vocis, libri duo, S. 148-232),<br />

Frankfurt: Erben A. Wechelius, Cl.Marvius, I. Aubrius 1 97, S. 196-198.<br />

199 Augenius, Horatius: Epistolarum et consultationum medicinalium libri, et de hominis<br />

partu. Venedig 1602, Bd. 2, Blatt 1-6.<br />

200 Der Autor bezieht sich hier auf 3 Commentaria super anatomia Mundini.<br />

201 Columbus, Realdus: Anatomia. Ins Deutsche übers. v. I. A. Schenckius, Frankfurt a. M.:<br />

T. de Bry l609, S. 203.<br />

202 Vallesius, Franciscus: De sacra philosophia sive de iis, quae in libris sacris physice<br />

scripta sunt, et ad philosophiam pertinent. 7. Aufl., Frankfurt: H. Hauenstein 1667,<br />

S. 164-16 (cap. 2 ).<br />

203 Fernelius, Iohannes: Medicina. Venedig: B. Constantinus 1 , Blatt 27 v. (De partium<br />

corporis humani descriptione, lib. 1, cap. 7).<br />

204 Vesal (Anm. 191), S. 4 7.<br />

20 Falloppius, Gabriel: Opera omnia. Frankfurt: Erben A. Wechelius 1 84, S. 471 (Obs.<br />

anat.).<br />

Falloppios Observationes sind auch in den von Boerhaave und Albinus herausgege-<br />

benen Werken des Vesal abgedruckt - samt der späteren den Hymen betreffenden<br />

Entgegnung Vesals an Falloppio. Vgl. Vesal (Anm. 191), S. 7 0 u. 819 (Gabrielis Fal-<br />

loppii ovservationes anatomicae u. Andreae Vesalii anatomicarum Gabrielis Falloppii ob-<br />

servationum examen).<br />

206 Fidelis scheint hier (S. 346 und 3 1) etwas verzerrt die Vesalschen Ausführungen von<br />

1 (Anm. 191, S. 4 7) wiederzugeben.<br />

207 Vesal (Anm. 191), S. 663 (Epistola, rationem modumque propinandi radicis chynae<br />

decocti ... pertractans).<br />

208 Fidelis (Anm. 196), S. 337-3 2.<br />

209 Ibid., Explicatio tituli Aenei, I.<br />

210 Castro, Rodericus a: Medicus-politicus: sive de officiis medico-politicis tractatus, qua-<br />

tuor distinctus libris: in quibus non solum bonorum medicorum mores ac virtutes<br />

exprimuntur, malorum vero fraudes et imposturae deteguntur: verum etiam pleraque<br />

alia circa novum hoc argumentum utilia atque jucunda exactissime proponuntur.<br />

Hamburg: Frobenius 1614, S. 2 9-260.<br />

211 Bohnius, Johannes: De officio medici duplici, clinici nimirum ac forensis, hoc est qua<br />

ratione ille se gerere debeat penes infirmos pariter, ac in foro, ut medici eruditi, pru-<br />

dentis ac ingenui nomen utrinque tueatur. Leipzig: J. F. Gleditsch 1704, S. 636-637.<br />

212 Mende, Ludwig Julius Caspar: Kurze Geschichte der gerichtlichen Medizin (Ausführli-<br />

ches Handbuch der gerichtlichen Medizin für Gesetzgeber, Rechtsgelehrte, Ärzte und<br />

Wundärzte, 1. Theil, S. 1-474), Leipzig: Dyk 1819, S. 143.<br />

213 Bohn (Anm. 211), S. 60- 7 , speziell 6 - 67.<br />

214 Vgl. etwa Teichmeyerus, Hermann Fridericus: Institutiones medicinae legalis, vel foren-<br />

sis. Jena: F. Bielckius 1723, S. 29-30 (ebenso in der 2. Aufl., Jena: Bielckius 1731,<br />

S. 29-30).<br />

21 Haller, Albrecht von: Vorlesungen über die gerichtliche Arzneiwissenschaft. Aus einer<br />

148


nachgelassenen lateinischen Handschrift übers., 2 Bde., Bern: neue typographische<br />

Gesellschaft 1782-1784, Bd. 1, S. 49.<br />

216 Vgl. etwa Zacchias (Anm. 192), S. 403-40 (lib. 6, tit. 1, qu. 12 De obstetricum errori-<br />

bus, speziell § 14); vgl. auch die Doktordisputation des Baccalaureus<br />

C. Bose (Anm. 192) mit der bald nachher erschienenen Schrift des Philosophen und<br />

Medicus Caspar Bose: De obstetricum erroribus a medico forensi pervestigandis. Dis-<br />

putation vom 30.9.1729, Resp.: G. M. Bose. Leipzig: Breitkopf 1729.<br />

217 Sebizius, Melchior: Disputatio medica de notis virginitatis. Praes.: M. Sebizius, Resp.:<br />

S. Widemannus. Strassburg: E. Welperus 1630, Thes. 71-74.<br />

218 Morton, Leslie T.: Garrison and Morton’s medical bibliography. 2. Aufl., London:<br />

Grafton 19 4. Sebitzens Arbeit ist aber auch in früheren und späteren Auflagen von<br />

Garrisons Bibliographie aufgeführt.<br />

219 Joubert, Laurent: Erreurs populaires au fait de la médecine et régime de santé (1. Aufl.<br />

Bordeaux 1 70), zit. n. P. Albareh Trois rapports médico-légaux du XVI e siècle. La<br />

chronique médicale 19 (1912) 49- 7; 77- 89, S. 80.<br />

220 Pinaeus, Severinus: De virginitatis notis, graviditate et partu. Leyden: F. Hegerus &<br />

Hackius 1639, S. 2- 4.<br />

221 Vgl. Albarel (Anm. 219), S. 49- 1, 83- 84.<br />

222 Pinaeus (Anm. 220), Titel.<br />

223 Riolanus, Johannes: Anthropographia (1. Aufl. Paris 1618), lib.2, cap. 3 , zit. n. Graaf<br />

(Anm. 23), S. 1 2.<br />

224 Graaf (Anm. 23), S. 147-1 2 u. Tafel 2, S. 132-133.<br />

22 Es ist interessant, dass die Mediziner der schon von Soran beschriebenen jungfräuli-<br />

chen «Enge» die Existenz im Gegensatz zum Hymen nicht abzusprechen pflegten.<br />

Wenn sie ihre Aussagekraft im Bezug auf die Virginität für ebenso zweifelhaft hielten<br />

wie die des Hymens, so taten sie das nicht mit Hinweis auf die Unwissenschaftlichkeit<br />

ihrer Anerkennung, sondern mit Hinweis auf ihre Simulierbarkeit. Schon Codronchi<br />

hat gewusst, dass verschlagene alte Weiber adstringierende Mittel kannten, eine ver-<br />

lorene Jungfernschaft scheinbar wiederherzustellen. Und Roderico a Castro warnt vor<br />

den listigen und in der Kuppelei bewanderten <strong>Frau</strong>en, den verbrecherischen und gift-<br />

mischerischen Alten, die da den jungen Weibern verengernde Mittel geben, damit<br />

diese um so unbeschwerter sündigen könnten. Im Bezug auf die Hebammen kam es<br />

damit zu einer gewissen Funktionsteilung der beiden Virginitätszeichen Hymen und<br />

Enge: die Wissenschaft vom Hymen bewies eher die Unwissenheit, die von der Enge<br />

eher die Bosheit und Tücke der Hebammen.<br />

Vgl. Codronchi (Anm. 198), S. 197; Castro (Anm. 210), S. 2 9-260;<br />

Castro, Rodericus a: De universa muliebrium morborum medicina. Hamburg: Frobe-<br />

nius 1617, 2. Teil: Praxis, S. 1 . Im ersten, theoretischen Teil, S. 8-9 tendiert Ro-<br />

derico übrigens dazu, den septumartigen Hymen zugunsten einer Verklebung und<br />

Verengerung der Vaginalwände zu verwerfen.<br />

226 Zacchias (Anm. 192), S. 2 1-2 (lib. 4, tit. 2 De virginitate, et stupro, qu. 1-2).<br />

227 Reies, Gaspar a: Elysius jucundarum quaestionum campus. Brüssel: F. Vivien 1661,<br />

S. 288 (Qu. 39: An in foeminis virginitas aliquibus signis explorari possit).<br />

228 Alberti, Michael: Systema jurisprudentiae medicae. Halle: Typis & Impensis Or-<br />

phanotrophei 172 , S. 60-6 .<br />

229 Teichmeyer (Anm. 214), S. 22-2 (beide Auflagen).<br />

149


230 Valentini, Michael Bernhardus: Corpus juris medico-legale. Frankfurt: J. A. Jung 1722,<br />

Pandectae, S. 3. Immerhin findet sich in den Novellae, S. 81-84, der Fall 8, in dem<br />

sich der Arzt Joh. Casp. Westphal 1683 auf Grund eines vorhandenen Hymens gegen<br />

die fragliche Vergewaltigung einer 13jährigen durch ihren Stiefvater ausspricht.<br />

231 Bohn (Anm. 211), S. 636-637.<br />

232 Alberti (Anm. 228), S. 60.<br />

233 Teichmeyer (Anm. 214), S. 21-22 (beide Auflagen).<br />

234 Ibid., S. 22-23.<br />

23 Morgagni, Giovanni Battista: Opera omnia. Bde, Padua: ex typographia remondiana<br />

1764, Bd. 1, S. 18-19 (Adversaria anatomica I, 29).<br />

236 Der Autor zitiert hier Riolans Anthropographia (Anm. 223), lib. 2, cap. 3 .<br />

237 Drei Karunkeln sind es offenbar auch in den von Joubert wiedergegebenen Virgini-<br />

tätsgutachten von Hebammen gewesen. Nach Albarel (Anm. 219), S. 1 und 83.<br />

238 Munnicks, Joannes: Anatomia nova. Leyden: J. Tenet 1699, S. 77.<br />

239 Morgagni (Anm. 23 ), Bd. 1, S. 124 (Adversaria anatomica IV, 23).<br />

240 Teichmeyer (Anm. 214), S. 22.<br />

241 Haller (Anm. 21 ), S. 44-4 .<br />

242 Ibid., S. 42.<br />

243 Plenk, Joseph Jakob: Anfangsgründe der gerichtlichen Arztneywissenschaft und<br />

Wundarztneykunst. Aus dem Lat. übers. v. F. A. Wasserberg, Wien: R. Gräffer 1782,<br />

S. 1 2 und 1 4.<br />

244 Neapel 1763, n. Nemec,Jaroslav: International bibliography of the history of legal me-<br />

dicine (DHEW Publication No. [NIH] 73- 3 ), Washington: U. S. Government<br />

Printing Office 1974.<br />

24 Morgagni (Anm. 23 ), Bd. , S. 37-43 (Responsum medico-legale circa obstetricum ju-<br />

dicium de mulieris virginitate).<br />

1 0<br />

Aus der Medizingeschichte der Einbildungen<br />

1977, bisher unpubliziert.<br />

246 Der neue Brockhaus: Allbuch in fünf Bänden, 3. Aufl., 2. Bd., Wiesbaden: Brockhaus<br />

1960.<br />

247 Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl., Bd. , Wiesbaden: Brockhaus 1968.<br />

248 Donatus, Marcellus: De medica historia mirabili. Libri sex nunc primum in lucem<br />

editi. Venedig: F. Valgrisius 1 88, Blatt 30-43.<br />

249 Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, historisch-quellenmässig bearbeitet von<br />

R. Eisler, 3 Bde., 4. Aufl., Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1927-1930 («Einbildungskraft»<br />

und «Phantasie»). Vgl. auch Juhasz, Joseph B.: Greek theories of imagination. J. Hist.<br />

Behav. Sci. 7 (1971) 39- 8.<br />

2 0 Fienus, Thomas: De viribus imaginationis tractatus. Ed. postrema Leyden: Elsevir<br />

163 .<br />

2 1 Helmont( Anm. 86).<br />

2 2 Ibid., S. 632.<br />

2 3 Ibid., S. 993-994.<br />

2 4 Ibid., S. 9 9.


2 Ibid., S. 1033. «Nemlich in dem Geblüt ist auch nach dem Tode eine gewisse Empfin-<br />

dung und Erkennung des gegenwärtigen Mörders; ja es hat dasselbige seine Rache,<br />

die weil es auch seine Einbildung hat.»<br />

2 6 Ibid., S. 961-962.<br />

2 7 Ibid., S. 961 und 992.<br />

2 8 Vgl. Bartholin, Thomas: Neu-verbesserte Künstliche Zerlegung dess Menschlichen<br />

Leibes. Nürnberg: J. Hoffmann 1677. S. 178-179.<br />

2 9 Helmont (Anm. 86), S. 992, 994, 99 .<br />

260 Ibid., S. 992.<br />

261 Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong> (Anm. 0).<br />

262 Ibid., S. 0- 1.<br />

263 Vgl. Whytt (Anm. 0), S. 169-248.<br />

264 So bezeichnet Bilguer die Hypochondrie als mögliche Ursache der so gefürchteten<br />

Entvölkerung: Bilguer, Johann Ulrich: Nachrichten an das Publicum in Absicht der<br />

Hypochondrie oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Ärzte als<br />

vielmehr für das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und<br />

Folgen betreffende medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, dass<br />

die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine <strong>Krankheit</strong> ist, und dass sie eine<br />

Ursache der Entvölkerung abgeben kann. Kopenhagen: J. G. Rothe 1767.<br />

26 Vgl. Bartholin (Anm. 2 8), S. 362-363: Es hat im Zwerchfell «gantz kleine Löcher;<br />

diese seynd die Schweiss-Löchlein, durch welche die Dämpffe von unten aufsteigen<br />

...», ferner gibt es da grössere Löcher: «Durch diese ... dringen ingleichen von unten<br />

her aufwerts die dicke Dämpffe ...»<br />

266 Zit. aus Cullen, William: Kurzer Inbegriff der medizinischen Nosologie: oder syste-<br />

matische Eintheilung der <strong>Krankheit</strong>en von Cullen, Linné, Sauvages, Vogel und Sa-<br />

gar. Nach der 3. Ausgabe, 2 Bde, Leipzig: C. Fritsch 1786, Bd. 2, S. 99.<br />

267 Ibid., S. 6 .<br />

268 Die Definition stammt von J. B. Erhard (1766-1827), zit. n. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />

(Anm. 0), S. 73.<br />

269 Hill, John: Praktische Abhandlung über die Natur und Cur der <strong>Krankheit</strong>, welche<br />

man die Milzkrankheit oder die Hypochondrie nennet. Übers. aus dem Englischen,<br />

Bremen: G. L. Förster 1767 (Engl. Ausgabe London 1766), S. 3-4.<br />

270 Bilguer (Anm. 264), S. 3 9.<br />

271 Gregory, John: Vorlesungen über die Pflichten und Eigenschaften eines Arztes. Übers.<br />

aus dem Englischen, Leipzig: C. Fritsch 1778, S. 30.<br />

272 Kant, Immanuel: Von der Macht des Gemüths, durch den blossen Vorsatz seiner<br />

krankhaften Gefühle Meister zu sein. Hrsg. u. mit Anm. versehen v. Ch. W. Hufeland,<br />

11. Aufl., Leipzig: C. Geibel 18 9, S. 34-3 .<br />

273 Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMP) (Hrsg.):<br />

Das AMP-System. Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde. Zusammen-<br />

gestellt u. redigiert v. Ch. Scharfetter, Stand Jan. 1971, Berlin-Heidelberg-New York:<br />

Springer 1971, S. 48. In der 2. Aufl., Stand April 1972, 1972, S. 49, ist hier präzisiert:<br />

die gegebene Definition bezieht sich auf die nicht wahnhafte Hypochondrie. Bei der<br />

wahnhaften Hypochondrie besteht «wahnhafte Gewissheit von einer <strong>Krankheit</strong>.»<br />

274 Aristoteles (Anm. 74), S. 402-403 (Gen. an. IV, III, 767b 16-23). Übersetzung v.<br />

Gohlke (Anm. 79), S. 180-181: «Wenn nämlich die samenhafte Ausscheidung im Mo-<br />

1 1


natsfluss wohl zu verarbeiten ist, wird die vom männlichen Samen ausgehende Bewe-<br />

gung eine Gestalt nach dem eigenen Bilde hervorbringen. Samenflüssigkeit bedeutet<br />

ja nichts anderes als die Wachstumsbewegung der einzelnen Glieder, und diese ist<br />

von der sie einleitenden Bewegung nicht verschieden ... Setzt sie sich also durch, so<br />

wird sie ein Männchen hervorbringen ... und zwar eines, das dem Vater gleicht...»<br />

27 Plenk (Anm. 243), S. 149 (§ 41). Für diese Ansicht wird schon Avicenna (980-1037) zi-<br />

tiert, nach welchem eine Mole infolge eines geträumten Coitus entstehen könne. Man<br />

findet sie auch bei Johannes Bohn: Circulus anatomico-physiologicus, seu oeconomia<br />

corporis animalis. Leipzig: J. F. Gleditsch 1686, S. 19.<br />

276 Helmont (Anm. 86), S. 992 und 994.<br />

277 Codronchi (Anm. 198), S. 148-232 (Kap. 17, S. 217-22 ).<br />

278 Probl. X, 10.<br />

279 Quaestiones in Genesim in: Opus Epistolarum ..., hrsg. v. Erasmus, 3. Teil, f. 70b. Zit.<br />

n. Jean Ceard, Note 64 zu Ambroise Pari, Des monstres et prodiges, edition critique,<br />

Genf: Droz 1971, S. 16 .<br />

280 Paté (Anm. 78), S. 840 (24. Buch Von allerley Missgeburten und Wunderwercken der<br />

Natur).<br />

281 Fienus (Anm. 2 0), S. 2 4-277, S. 318-328.<br />

282 Vgl. Fidelis (Anm. 196), S. 492 (Sect. de monstris).<br />

283 Wallensteins Tod. Vgl. Stahl, G. E.: Über den mannigfaltigen Einfluss von Gemüts-<br />

bewegungen auf den menschlichen Körper (Halle 169 ) (etc.). Übers. u. eingel. v.<br />

B. J. Gottlieb. Sudhoffs Klassiker der Medizin 36, Leipzig: J. A. Barth 1961.<br />

284 Alberti (Anm. 228), S. 172-173.<br />

28 Ammann, Paulus: Medicina critica; sive decisoria, centuria casuum medicinalium in<br />

Concilio Facult. Med. Lips. antehac resolutorum. Erfurt: J. B. Ohler 1670, 23 -236.<br />

286 Teichmeyer (Anm. 214), S. 4 (beide Auflagen).<br />

287 Fabriz, Wilhelm: Chirurgische Beobachtungen und Curen. Aus dem Lateinischen mit<br />

Anmerkungen von F. A. Weiz, 3 Bde., Flensburg-Leipzig: Korten 1780-1783,<br />

3. Cent., Obs. ; 6. Cent., Obs. 6 .<br />

288 Turner, Daniel: Abhandlung von den <strong>Krankheit</strong>en der Haut. Aus dem Englischen<br />

übers., Altenburg: Richter 1766 (Engl. Ausg. erstmals London 1714), S. 291.<br />

289 Ploucquet, Wilhelm Gottfried: Abhandlung über die gewaltsame(n) Todesarten. Tübin-<br />

gen: Berger (1779), S. 13 -136.<br />

290 Rickmann, Christian: Von der Unwahrheit des Versehens und der Hervorbringung der<br />

Muttermahle durch die Einbildungskraft. Jena: Ch. F. Gollner 1770.<br />

291 Harvey, William: Anatomical exercises on the generation of animals (erste lat. Aus-<br />

gabe London 16 1) in: The Works. Aus dem Lat. übers. von R. Willis. London: Sy-<br />

denham Society 1847, S. 42 , 487-488 (Ex. 6, 69).<br />

292 Blondel, Jacob August: Erste Abhandlung über die Einbildungskraft der schwangern<br />

Weiber in ihre Leibesfrucht. In: Drey ... Abhandlungen, Von der Einbildungskraft<br />

der Schwangern Weiber ... Strassburg: A. König 17 6. Blondels Werk ist erstmals un-<br />

ter dem Titel «The strength of the imagination of pregnant women examinde, and<br />

the opinion, that marks and deformities are from them, demonstrated to be a vulgar<br />

error» 1727 in London herausgekommen. 1729 erschien bereits die zweite Auflage, es<br />

folgten Übersetzungen ins Französische und Holländische und die obige ins Deut-<br />

sche.<br />

1 2


293 Roederer, Johann Georg: De vi imaginationis in foetum negata, quando gravidae mens<br />

a caussa quacunque violentiore commovetur: publici iuris facta ab Academia Im-<br />

periali Scientiarum Petropolitana A. 17 6. In: Opuscula medica, Göttingen: V. Bos-<br />

siegelius 1763, S. 10 -128. Diese Schrift ist 17 8, zusammen mit Carl Christian Krauses<br />

preisgekrönter «Abhandlung von den Muttermälern», in Leipzig erstmals herausge-<br />

kommen (nach Rickmann, Anm. 290, S. 9-10).<br />

294 Haller (Anm. 21 ), Bd. 1, S. 84-8 .<br />

Vgl. Lundsgaard-Hansen-von <strong>Fischer</strong>, Susanna: Verzeichnis der gedruckten Schriften Al-<br />

brecht von Hallers (Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwis-<br />

senschaften, hrsg. v. E. Hintzsche u. W. Ritz, Nr. 18), Bern: Huber 19 9, Nrn. 3, 4,<br />

121, 122, 123, 1 0, 1 1, 170, 171, 194, 19 , 196, 197, 276, 277, 278.<br />

29 Hebenstreit, Johann Ernst: Anthropologia forensis sistens medici circa rempublicam<br />

causasque dicendas officium. Leipzig: sumtibus haeredum Lankisioanorum 17 3, S. 6-<br />

8, Tafel II, Fig.1.<br />

296 Blumenbach, Johann Friedrich: De generis humani varietate nativa. Göttingen: A. Van-<br />

denhoeck 1776. Mit dieser Dissertation promovierte Blumenbach 177 zum Doktor<br />

der Medizin; 1776 wurde er bereits Professor.<br />

297 Haller (Anm. 21 ), Bd. 1, S. 8 . Diese Anmerkung stammt offenbar vom Übersetzer<br />

der Hallerschen Vorlesungen, einem Herrn Weber aus Heilbronn.<br />

298 Ploucquet, Wilhelm Gottfried: Über die physische(n) Erfordernisse der Erbfähigkeit der<br />

Kinder. Tübingen: J. F. Heerbrandt 1779, S. 121.<br />

299 Haller (Anm. 21 ), Bd. 1, S. 199. Das Zitat stammt aus einer «Nachlese» zum Kapitel<br />

«Von den Misgeburten», von der es im Inhaltsverzeichnis heisst, sie sei «vorzüglich<br />

aus dem grössern Hallerischen Werke von den Misgeburten, wie auch aus Teich-<br />

meyer, Ploucquet, Hebenstreit, Mayer und Klinkoph» zusammengestellt.<br />

Vgl. auch Birchler, Urs Benno: Magie und Gerichtsmediziner im 16.-18. Jahrhundert.<br />

Noch unpubliziert.<br />

300 Charcot, Jean Martin: Leçons sur les maladies du Système nerveux faites à la Salpêtrière.<br />

Recueullies et publiées par MM. Babinski, etc., Bd. 3, Paris: Progrès médical, A. Dela-<br />

haye et E. Lecrosnie 1887, S. 33 -336, 3 . Ders.: Poliklinische Vorträge (Leçons du<br />

mardi), Bd. 1, Schuljahr 1887/88, übers. v. S. Freud, Leipzig-Wien: F. Deuticke 1892,<br />

S. 99-100. Vgl. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>: Die traumatische Neurose. Vom somati-<br />

schen zum sozialen Leiden. Bern-Stuttgart-Wien: Huber 197 , S. 10 -112.<br />

301 Vgl. Ellenberger, Henri F.: The discovery of the unconscious. The history and evolu-<br />

tion of dynamic psychiatry. New York: Basic Books Inc. 1970, speziell S. 37 , 78 -<br />

786.<br />

302 Benedikt, Moriz: Second life. Das Seelen-Binnenleben des gesunden und kranken<br />

Menschen. Vortrag für den Internationalen Medicinischen Congress in Rom 1894. SA<br />

aus der Wiener Klinik, Wien und Leipzig 1894, S. -7 (Original in Wiener Klinik 20<br />

[1894] 127-138). Vgl. Ellenberger (Anm. 301), S. 46, 301, 486, 36.<br />

303 Vgl. Anm. 300 und <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong> (Anm. 300), S. 77-80.<br />

304 Breuer, Joseph und Freud, Sigmund: Über den psychischen Mechanismus hysterischer<br />

Phänomene (vorläufige Mitteilung). Neurolog. Centralblatt 12 (1893) S. 4-10, 43-47.<br />

30 Vgl. etwa Saner, Hans: Über die Zerstörung der kindlichen Phantasie durch die Er-<br />

wachsenen - Der Kindermord zu Bethlehem. Basler Magazin Nr. 1, 7.1.1978.<br />

306 Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl., Bd. , Wiesbaden: Brockhaus 1968.<br />

1 3


1 4<br />

HERKUNFT DER ILLUSTRATIONEN<br />

Frontispiz: Musée d’Anvers, toile, 109x132 cm.<br />

Seite 1 : Vesal (Anm. 190), S. 381 (27. Tafel des . Buchs). Diese Abbildung wird in der<br />

klassischen Sekundärliteratur gewöhnlich um ihr unterstes Viertel beschnitten repro-<br />

duziert, so bei Weindler, Fritz: Geschichte der gynäkologisch-anatomischen Abbil-<br />

dung, Dresden: Zahn & Jaensch 1908, S. 12 und <strong>Fischer</strong> (Anm. 20), S. 101, sogar<br />

Speert, Harold: Iconographia Gyniatrica, a pictorial history of gynecology and obstet-<br />

rics, Philadelphia: F. A. Davis 1973, S. 12.<br />

Seiten 18 und 19: Rueff, Jakob: Hebammen Buch. Frankfurt a. M.: S. Feyerabendt 1 80,<br />

Frontispiz und Titel.<br />

Seite 22: Siegemundin (Anm. 14), Frontispiz.<br />

Seite 23: Mauriceau (Anm. 18), Frontispiz.<br />

Seite 24: Graaf (Anm. 23), S. 236-237, Taf. 16. S. 237 (Exhibet Testiculum seu Ovarium<br />

Mulieris cum annexo Tubarum extremo).<br />

Seite 2 : Hartsoekers Zeichnung eines menschlichen Spermatozoons, nach Needham<br />

(Anm. 24),S. 206.<br />

Seite 26: Thomas (Anm. 28), S. 46.<br />

Seite 27: Schroeder (Anm. 28), S. 1 .<br />

Seite 29: Wellcome Museum. Aus: Walker, Kenneth: The story of medicine. New York:<br />

Oxford University Press 19 , S. 213, Tafel opp. S. 160.<br />

Seite 30: Thomas (Anm. 28), S. 82- 83, Fig. 216 S. 94.<br />

Seite 36: Hexenverbrennung in Derneburg, 1 , Deutscher Flugblattholzschnitt, Gal-<br />

lerie Moritzburg, Halle. Nach Vogt, Helmut: Das Bild des Kranken. Die Darstellung<br />

äusserer Veränderungen durch innere Leiden und ihrer Heilmassnahmen von der Re-<br />

naissance bis in unsere Zeit. München: J. F. Lehmann 1969, S. 319.<br />

Seite 37: Titelblatt zu Ernst (Anm. 43), die Vorlage soll aus der Bildersammlung des Me-<br />

dizinhistorischen Instituts der Universität Zürich stammen.<br />

Seiten 40 und 41: Richer, Paul: Etudes cliniques sur la grande hysterie ou hystéro-épilep-<br />

sie. 2. Aufl., Paris: O. Doin (1883), PL III Fig. 2 (opp. S. 68) und Pl. VI (opp. S. 194).<br />

Seite 43: Beilage zu: Möbius, Paul Julius: Geschlecht und Kopfgrösse (= Beiträge zur<br />

Lehre von den Geschlechts-Unterschieden, Heft ), Halle: C. Marhold 1903.<br />

Seite 46: Möbius (wie vorige Abb.), S. 17.<br />

Seiten 60 und 61: Inserate, vermutlich zwischen 1930 und 1940. Aus der «Kurpfuscherei»-<br />

Sammlung des Medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich.<br />

Seiten 73 und 74: <strong>Fischer</strong>-Dünckelmann, Anna: Die <strong>Frau</strong> als Hausärztin. Ein ärztliches<br />

Nachschlagebuch. Million-Jubiläums-Ausgabe, München-Wien: Süddeutsches und<br />

Österreichisches Verlags-Institut 1913, S. 817-819, Fig. 436 S. 817, Fig. 437 S. 818.<br />

Seite 76: Bilder aus dem modernen Leben von A. Conadam, M. Flashar, E. Harburger,<br />

Rene Reinicke, H. Schlittgen u. A. München: Braun & Schneider (o. D.), S. 76. Die<br />

Überschrift zu dem Blatt lautet: «Bedenkliche Beruhigung», der Text: «Commerzien-<br />

räthin: ,Ach, Herr Doctor, ich bin ganz betrübt, dass ich Sie noch so spät herbemüht<br />

habe. Ihre <strong>Frau</strong> Gemahlin war gewiss recht ungehalten, dass sie allein zu Hause bleiben<br />

musste?‘ Arzt: ,O, ganz im Gegentheil, gnädige <strong>Frau</strong>! Die kauft sich dafür einen neuen<br />

Hut!‘»


Seite 94: Fidelis (Anm. 196), Ausschnitt aus dem Titelkupfer.<br />

Seite 97: Mauriceau (Anm. 18), S. 20-21, Tafel opp. S. 20.<br />

Seite 98: Pinaeus (Anm. 220), Frontispiz.<br />

Seite 99: Graaf (Anm. 23), S. 132-133, Tab. 2 S. 133 (Repraesentat Pudendum Muliebre).<br />

Seite 10 : Joannes Baptista Morgagnus natus Forolivii die 2 Februarii anno 1682 in Pata-<br />

vino Gymnasio e Primaria Sede Anatomen adhuc docebat anno 1762. Frontispiz zu<br />

Morgagni, Jo. Baptista: De sedibus, et causis morborum per anatomen indagatis, Bd. 1,<br />

2. Aufl., Padua 176 .<br />

Seite 113: Holländer, Eugen: Die Karikatur und Satire in der Medizin. Stuttgart: Enke<br />

190 , S. 128.<br />

Seite 116: Paré (Anm. 78), S. 642 und 643 (Von etlichen ungehewren Thieren und derglei-<br />

chen wunderbaren Figuren, welche etwan unnatürlicher Weise in dess Menschen Leib<br />

erwachsen. In: Buch von den Urschlechten).<br />

Seite 119: Paré: (Anm. 78), S. 840.<br />

Seite 121: Holländer (wie Abb. S. 113), S. 202-206, Fig. 161 S. 203. Das Blatt stammt aus<br />

dem Jahre 1726. Zitat über Manningham aus: Biographisches Lexikon der hervorra-<br />

genden Ärzte aller Zeiten und Völker, 3. Aufl., Bd. 4, München-Berlin: Urban &<br />

Schwarzenberg 1962.<br />

Seite 124: Hebenstreit (Anm. 29 ), Tafel II opp. S. 8.<br />

Seite 128: Uexküll, Jakob Johann, Baron und Kriszat, G.: Streifzüge durch die Umwelten<br />

von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Berlin: J. Springer<br />

1934, S. 78-79, Abb. 42 S. 79.<br />

Seite 129: England, 1960er Jahre.<br />

1


Abort, 12, 17, 31, 68, 70, 71, 81, 88, 119<br />

Ackerknecht, 32<br />

Adam, s. a. Eva, 3 , Abb. S. 19,<br />

Ägypten, 11, 31<br />

Ärztin, weiblicher Doktor, 17, 8 , 104<br />

- <strong>Frau</strong>enärztin, Spezialistin, 17, 8 , 104<br />

- Medizinstudium, 83<br />

Alberti, 101, 103, 120<br />

Albertus Magnus, 6<br />

Alexandria, 12, 14<br />

Amerika, 29, Abb. S. 30, 83<br />

Amman, 122<br />

Anästhesie, 28, Abb. S. 29, 29<br />

- Gefühllosigkeit, 34, 36, 41<br />

Anatomie, Abb. S. 1 , 21, Abb. S. 24,<br />

86, 87<br />

90-93, 96, 101-10<br />

Andry, 23<br />

Antike, 11-16, 34, 49- 3, 6, 8, 8<br />

Antikonzeption, 12, 17, 31, 71, 81, 83, 88<br />

Antisepsis, 28, 29<br />

Araber, 16, 6- 8, 86<br />

Archaeus, 108-110, 112<br />

Aretaeus, 34, 3<br />

Aristoteles, 14, 1, 2, 6, 68, 8 , 91,<br />

116-118<br />

Arzt, Mediziner, Medizin, s. a. Ärztin,<br />

22, 23, 32, 40, 44, 7 , Abb. S. 76, 88-92,<br />

100, 101, 104, 10 , 120, Abb. S. 121<br />

- Gynäkologe, Geburtshelfer, 20, 22<br />

Abb. S. 23, 24, 27, 28, Abb. S. 121<br />

Aufklärung, 21, 22, 38, 62-64, 123<br />

Augenius, 91-93, 96, 100<br />

Avicenna, 86, 91<br />

Babinski, 126<br />

Baer, 26<br />

Barnes, 70<br />

Benedikt, 126, 127<br />

Berengario da Carpi, 86, 91, 96, 100<br />

Bernheim, 40<br />

1 6<br />

REGISTER<br />

(Die Schlagworte stehen auch für ihre modifizierten<br />

und zusammengesetzten Formen)<br />

Besessenheit, 3 , 36, Abb. S. 37, 38, 40<br />

Bevölkerungspolitik, 31, 64, 68, 72, 81<br />

Bilguer, 114<br />

Birchler, 9<br />

Birnbaum, 84<br />

Blick, Augen, 6- 8, 66, 76<br />

Blondel, 122, 123<br />

Blumenbach, 12<br />

Blut, s. a. Menstruation, 17, 49, 1- 4,<br />

8-60, Abb. S. 60 u. 61, 63, 6 , 69, 70,<br />

86, 96, 108-110, 112<br />

Bohn, 94, 101<br />

Boivin, 20<br />

Bosheit, Böses, 34, 3 , 37, 38, 42, 3-60,<br />

64, 103<br />

Bourgeois, Boursier, 20<br />

Brandstiftung, 64-67, 80, 84<br />

Breuer, 127<br />

Calmeil, 40<br />

Cardanus, 8, 9<br />

Carunculae myrtiformes, Abb. S. 97,<br />

98-102, 104<br />

Chamberlen, 21<br />

Charcot, 40, 41, Abb. S. 40 u. 41, 126, 127<br />

Chirurgie, 11, 13, 17, 30, 36, 8 , 88, 90<br />

Codronchi, 90, 91,100, 118<br />

Colombo, 92<br />

Curette, 31<br />

Dämon, 34-37, Abb. S. 36 u. 37, 38, 39,<br />

Abb. S. 41, 9, 107, 108<br />

Degeneration, 78<br />

Demokrit, 33<br />

Diepgen,<br />

Donatus, 107, 108, 119, 122<br />

Dubois, 44<br />

Ei, Ovum, 24-26, Abb. S. 24, 68-70,<br />

72, 73, 78, 81


Eierstock, Ovar, 12, 14, 24-27,<br />

Abb. S. 24, 29, 30, Abb. S. 30, 68, 72, 73,<br />

7 , 77, 81, 126<br />

Einbildungen, Imaginatio, 106-129<br />

Emanzipation, 20, 31, 39, 4 , 72, 83<br />

Embryologie, 24, 123<br />

- Epigenese, 2<br />

- Präformation, 2<br />

Endokrinologie, Hormone, 30, 31, 60,<br />

74, 81<br />

Epilepsie, 34, 40, 6 , 73, 74, 78, 80<br />

Ernst, 36<br />

Eustachi, 92<br />

Eva, s. a. Adam, 16, 17, Abb. S. 19, 3 , 4,<br />

, 110<br />

Ewald, 81, 82, 84<br />

Fabrizius, 122<br />

Falloppius, 93, 96, 97, 100<br />

Feoktistow, 71<br />

Fernelius, 92, 97, 100<br />

Fidelis, 93, 94, Abb. S.94, 100<br />

Fienus, 108, 119<br />

Fliess, 76<br />

Fodéré, 64<br />

Fortpflanzung, 31, 4, 67, 68, 72, 83<br />

- Sterilität, 12<br />

Fraenkel, 60<br />

Fragoso, 90<br />

Frankreich, 17, 20<br />

Freud, 127<br />

Friedreich, 66, 67<br />

Funktionskritik, 9<br />

Galenos von Pergamon, 14, Abb. S. 1 ,<br />

16, 90, 92<br />

Geburt, 12, 13, 16, Abb. S. 18<br />

Geburtshilfe, 11-31, 8 , 88, 89, 120,<br />

Abb. S. 121, 123<br />

Gerichtsmedizin, 88, 90, 91, 96, 98, 100,<br />

101, 103, 117, 120, 122-124, Abb. S. 124<br />

- Forensische Psychiatrie, 63-67, 79, 84<br />

- Gutachten, 88, 89, 94, 9 , 104<br />

Gift, 3-61, Abb. S. 60 u. 61, 108, 109<br />

Graaf, 24, Abb. S. 24, 26, 60, 99 Abb. S. 99,<br />

100, 10<br />

Gregory, 114<br />

Gynäkologie, <strong>Frau</strong>enheilkunde, 11-31, 83,<br />

8 , 88, 89, 126<br />

Haller, 9 , 102, 123-12<br />

Harvey, 123<br />

Hase, Hasenscharte, 107, Abb. S. 113,<br />

120, Abb. S. 121, 123, Abb. S. 124, 12<br />

Hauptmann, 82<br />

Hebamme, 11, 13, 16, 17, Abb. S. 18 u.<br />

19, 20, 21, Abb. S. 22, 23, 8 -10<br />

Hebenstreit, 124, Abb. S. 124<br />

Helmont, 26, , 108-11 , 117<br />

Henke, 66, 72, 80<br />

Herz, Gefässe, 13, 1, 4, 63, 86, 109, 110<br />

Hexe, 11, 17, 34-36, Abb. S. 36, 38-42,<br />

4 , 47, 7- 9, 108<br />

- Hexenhammer, 3 , 39, 40, 42<br />

Hieronymus, 118, Abb. S. 119<br />

Hildegard von hingen, 4,<br />

Hill, 114<br />

Hippokrates, Hippokratische Schriften,<br />

11, 12, 16, 33, 38, 49, 0, 68, 118,<br />

Abb. S. 119<br />

Hormon s. Endokrinologie<br />

Hunter, 21<br />

Hymen, 8 -10<br />

Hypochondrie, 39, 107, 111-11 , 120, 126<br />

Hysterie, 13, 32-48, 74, 7 , 78, 80, 11 -127<br />

Iatrochemie, Iatrophysik, , 9, 62, 63<br />

Ich, 30, 47<br />

Infektion, Kontagion, 8, 108<br />

Institoris, 3 , 36<br />

James I, 38<br />

Janet, 126<br />

Johannes von Ketham, 7<br />

Jorden, 38, 41<br />

Joubert, 97, 98, 100<br />

Juden, 38, 44, 4 , 47, 48, 69, 86<br />

Jurisprudenz s. Recht<br />

Kälte s. Wärme<br />

Kaiserschnitt, 30<br />

Kant, 11<br />

1 7


Kind, 11, 13, 16, 22, 23, 34, 44, 0, 1, 67,<br />

79, 107, 116-118, Abb. S. 119, 120, 122,<br />

123, 12<br />

- Ähnlichkeit, 117, 118, Abb. S. 119,<br />

120, 122, 12<br />

- Kindsmord, Kindstötung, 17, 64, 84, 88<br />

122, 123<br />

- Pädiatrie, 11, 24<br />

King, 71<br />

Kirche, 16, 29, 91<br />

Kirn, 78<br />

Klein, 28<br />

Knaus, 31,81<br />

Konrad von Megenberg, 6<br />

Konstitution, 49- 1<br />

Konzeption, Empfängnis, s. a.<br />

Antikonzeption, 70, 119<br />

- Konzeptionsoptimum, 31, 68, 81<br />

Kopf, Haupt, 13, 34, 42, Abb. S. 43, 4<br />

7, 113, Abb. S. 113<br />

- Kopfweh, Hemicranie, 7, 7 , 80<br />

Kraepelin, 42, 44, 47<br />

Krafft-Ebing, 67, 77-80<br />

Krampf, 13, 36, Abb. S. 40, 41, 49, 6 , 66, 73<br />

<strong>Krankheit</strong>, 12, 33-3 , 38, 39, 42, 49-84,<br />

109, 114, 11 , 117, 127<br />

- Diagnose, 27, 32, 34, 48<br />

- Therapie, 12, 0<br />

Krieger, 77<br />

Lachapelle, 20<br />

Laënnec, 27<br />

Langelueddeke, 84<br />

Laurentius, 9<br />

Lavoisier, 60<br />

Leeuwenhoek, 2<br />

Legitimität, 120, 12<br />

Levret, 21<br />

Liberalismus, 63, 12<br />

Liebestrank s. Zauber, Liebeszauber<br />

Linné, 114<br />

Loewenthal, 70, 71<br />

Lüge, Simulation, 42, 47, 100, 103<br />

Mac Dowell, 29, Abb. S. 30<br />

Mann, 11, 14, 16, 22, 30, 33, 3 , 42,<br />

1 8<br />

Abb. S. 43, 44, 4 , 47, 0, 2, 4, 66, 67,<br />

76, 79, 80, 88, 110, 116, 127<br />

Matthiolus, 9<br />

Mauriceau, 20, 21, Abb. S. 23, Abb. S. 97<br />

Mayer, 77<br />

Menotoxin, 60<br />

Menstruation, 12, 17, 31, 49-84, 116<br />

- Amenorrhoe, 109<br />

Milz, 110-11 , 117<br />

Minderwertigkeit s. Wert<br />

Missgeburt, Missbildung, 14, 2, 104, 119,<br />

123-12 , Abb. S. 124<br />

Mittelalter, 16-19, 3-60, 8 , 86, 88, 89<br />

Möbius, 42, Abb. S. 43, 4 , Abb. S. 46, 48<br />

Möricke, 70<br />

Molimina menstrualia, Molimina<br />

menstruationis, 66, 74, 7<br />

Morgagni, 87, 102-10 , Abb. S. 10<br />

Müller-Hess,<br />

Munnicks, 102<br />

Naegele, 67, 68<br />

Natur, 12, 44, 47, 2, 3, , 61, 62, 72,<br />

90, 92, 96<br />

Nerven, s. a. Schwäche, nervöse, 42,<br />

Abb. S.60, 66, 73-7 , 77, 78, 81, 126<br />

- Reflex, 73, 74, 76-78<br />

Neurosen, s. a. Hysterie, 74, 76-78, 127<br />

- Neurasthenie, 74, 80<br />

Neuzeit, 20-31, 88, 89<br />

Norm, s. a. Natur, 12, 31, 0, 69-71, 7 , 80<br />

Nudow, 62<br />

Ogino, 31, 81<br />

Oken, 62, 71<br />

Osiander, 6 , 66, 80<br />

Ovar s. Eierstock<br />

Overkamp, 60<br />

Ovum s. Ei<br />

Paracelsus, 8, 108<br />

Paré, 20, 89, 90, 92, 100, 104, Abb. S. 116,<br />

118, 119, Abb. S. 119<br />

Péan, 30<br />

Periodizität, 77, 78<br />

Pflüger, 70, 72-74


Phantasie, 106, 109, 123, 127, 128<br />

Philtrum s. Zauber, Liebeszauber<br />

Pinaeus, 98-100, Abb. S. 97 u. 98, 102, 104<br />

Plattier, 6 , 66, 80<br />

Platon, 14, 33, 34, 42, 108<br />

Plenk, 103<br />

Plinius, 6<br />

Ploucquet, 122, 12<br />

Psyche, Seele, 14, 44, 48, 1, 63-68, 74, 77,<br />

78, 81-84, 106-110, 112, 120, 126-128<br />

Pubertät, 64-67, 80<br />

Realität, Wirklichkeit, 106, 108, 109, 111,<br />

114, 11 , 126-129<br />

Récamier, 27, 31<br />

Recht, Jurisprudenz, s. a. Gerichtsmedizin,<br />

79, 89, 90, 9 , 120<br />

Rejes, 100<br />

Remak, 69, 71<br />

Renaissance, 3-60, 86<br />

Riolan, 99, 100, 102<br />

Roderico a Castro, 94<br />

Roederer, 123<br />

Roesslin, 20<br />

Roger Frugardi, 6<br />

Romantik, 6 , 67<br />

Rousseau, 61<br />

Roussel, 71<br />

Runge, 76<br />

Säfte, Humoralpathologie, 12, 49, 0, 4,<br />

9, 66, 111, 112<br />

Salerno, 17<br />

Samen, 12, 14, 16, 2 , Abb. S. 2 , 0- 4,<br />

116, 117, 123<br />

- weiblicher, 12, 16, 0<br />

Schaarschmidt, 62<br />

Schlager, 79<br />

Schuele, 78<br />

Schuld s. Sünde<br />

Schurig, 104<br />

Schwachsinn, 42, Abb. S. 43, 4 ,<br />

Abb. S. 46, 48<br />

Schwäche, Schwachheit, 3 , 44, 49, 2, 4,<br />

, 64, 72-81, 126<br />

- nervöse, 72-80<br />

- reizbare, 7<br />

Schwangerschaft, Schwängerung, 12, 13,<br />

31, 67-71, 89, 107, 116, 117, 119, 122<br />

- Gelüste, 67, 119<br />

Sebitz, 96, 102<br />

Semmelweis, 28<br />

Sexualität, Geschlechtstrieb, 31, 3 , 4 , 47,<br />

2, , 8, 62-64, 68-72, 76, 79, 9 ,<br />

126, 127<br />

Siegemundin, 20, Abb. S. 22<br />

Simpson, 29, Abb. S. 29<br />

Sims, Abb. S. 26, 29<br />

Smellie, 21<br />

Soldan-Heppe, 40<br />

Soranus von Ephesus, 11-13, 2, 63, 8<br />

Speculum, Abb. S. 26, 27<br />

Sprenger, 3 , 36<br />

Stahl, 120<br />

Sterilität s. Fortpflanzung<br />

Stein, 21<br />

Storer, 77<br />

Strafe, Sühne, 16, 33, 34, 4, , 66, 110<br />

Stransky, 7<br />

Strindberg, 4<br />

Sünde, Schuld, Schande, 17, Abb. S. 19,<br />

3 , 47, 3- , 72, 110<br />

Sydenham, 33, 39<br />

Teichmeyer, 101, 102, 122, 123<br />

Tertullian, 16<br />

Teufel, 16, 36, 39<br />

Thomas von Aquin, 16<br />

Tod, Mortalität, 13, 16, Abb. S. 19, 3 , 49<br />

Toft, 120, Abb. S. 121<br />

Toxikologie s. Gift<br />

Trotula, 17<br />

Turner, 122<br />

Uexküll, 128<br />

Unreinheit, Reinigung, 12, 0, 3-<br />

Uterus, Gebärmutter, 12-14, Abb. S. 1 ,<br />

26-28, 33, 34, 38, 0, 3, 89, 90, 107,<br />

110, 11 -127<br />

Uterushals, Cervix, 16, 0, 90, 99<br />

Uterussonde, 27, Abb. S. 27, 28<br />

1 9


Vagina, Scheide, 16, 86, 99, 103-10<br />

- Enge, 86, 92, 96, 97, 99, Abb. S. 99,<br />

100, 103, 10<br />

- Verschliessung, Atresie, 90, 100, 10<br />

Valentini, 101<br />

Vallesius, 92, 97, 100<br />

Verbrechen, Delikt, 8, 63-67, 80<br />

- Diebstahl, 67, 80<br />

- Mord, Selbstmord, 67, 80<br />

Vesalius, Abb. S. 1 , 86, 93, 96, 100, 102<br />

Virchow, 26, 69, 70<br />

Virginität, s. a. Carunculae myrtiformes,<br />

8 -10<br />

- Defloration, 86, 96, 98<br />

- Zeichen, s. a. Vagina, Enge, 87, 90, 91,<br />

93, 9 , 96, 98, 100-104<br />

Volksmedizin, 6, Abb. S. 60 u. 61, 8<br />

160<br />

Wärme, Kälte, 14, 49- 3<br />

Weininger, 4 -48<br />

Weltkriege, 80-84, 127, 128<br />

Wert, Minderwertigkeit, 14, 17, 20, 42,<br />

44, 4 , 1, 2, 78, 83<br />

Wier, 38<br />

Wochenbett, Kindbett, Laktation, 12, 13,<br />

28, 71<br />

Zacchias, 100<br />

Zange, 27<br />

Zauber, 6, 8, 9, 117<br />

- Liebeszauber, Liebestrank, 9, 88<br />

Zeugung, s. a. Samen, 14, 0, 1, 68<br />

Zivilisation, 61-63<br />

Zweig, 43


Zu diesem Buch<br />

«<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>» enthält verschiedene Arbeiten zur<br />

Medizingeschichte der <strong>Frau</strong> aus den Jahren 1969-1978, zwei davon<br />

sind hier erstmals publiziert. Einem allgemein Überblick folgen<br />

die Einzelabhandlungen über die Diagnose «Hysterie» in ihrer<br />

Doppelfunktion als Schandmal und als Schutzmarke für die unbeliebte<br />

<strong>Frau</strong> («Hysterie und Misogynie»); über die Geschichte der Lehren<br />

von der Menstruation in ihrem Aspekt als blutiges Zeichen der<br />

mangelnden Perfektheit der <strong>Frau</strong> («<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>»); über den<br />

sozialen Abstieg der Hebammen, die im Mittelalter vielfach recht<br />

stolze, unabhängige Ärztinnen waren, in seinem Zusammenhang<br />

mit den wissenschaftlichen Ansichten der Anatomen über die<br />

Jungfernhaut («Hebammen und Hymen»); schliesslich über die<br />

historisch recht engen Verquickungen der Lehren von Uterus.<br />

Schwängerung, Infektion, Idee und Einbildung, die heute, in der Zeit<br />

der Wiederentdeckung der Phantasie, recht aktuell sind («Aus der<br />

Medizingeschichte der Einbildungen»);<br />

Gemeinsam ist den Arbeiten die Aufmerksamkeit auf die Interaktion<br />

von medizinischer Lehre und Praxis und sozialer Situation der <strong>Frau</strong><br />

beziehungsweise Aufmerksamkeit auf die wissenschafts-, standes- und<br />

sexualpolitischen Funktionskreise, die dabei wirksam werden können.<br />

Interssenten<br />

Medizinhistoriker - Psychiater - (Medizinsoziologen)<br />

<strong>Frau</strong>enärzte - (Historiker) - Ärztinnen und andere <strong>Frau</strong>en<br />

(oder aber: Praktiker)<br />

Kliniken - Institute - Bibliotheken<br />

Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien<br />

ISBN 3-4 6-80688-4


<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />

<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong><br />

Zur Geschichte der Einbildungen<br />

Mit zahlreichen Abbildungen<br />

Sammlung<br />

Luchterhand


Sammlung Luchterhand


<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />

<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong><br />

Zur Geschichte der Einbildung<br />

Luchterhand<br />

Literaturverlag


Die zweite Auflage wurde ergänzt durch den Beitrag<br />

»Wie männlich ist die Wissenschaft? Wie männlich ist die<br />

Wissenschaftlerin?«, zuerst erschienen in: Rundbrief - Verein<br />

feministische Wissenschaft Schweiz, November 1986.<br />

Sammlung Luchterhand, Februar 1984<br />

2. Auflage Mai 1988<br />

Lektorat: Klaus Roehler<br />

Umschlagabbildung: Jakob Rueff,<br />

Hebammen Buch, Frankfurt a. M. 1580<br />

© 1984 für die Seiten 7-9, 92-121, 153-160<br />

by Luchterhand Literaturverlag GmbH, Darmstadt<br />

© 1979 für die Seiten 10-91, 122-144<br />

by Verlag Hans Huber , Bern<br />

(früher erschienen im<br />

Hermann Lucherhand Verlag GmbH & Co KG,<br />

Darmstadt und Neuwied,<br />

ISBN 3-472-61498-6)<br />

Gesamtherstellung bei der<br />

Druck- und Verlags-Gesellschaft mbH, Darmstadt<br />

ISBN 3-630-61498-1


92<br />

Herr und Weib<br />

Zur Geschichte der Beziehung<br />

zwischen ordnendem Geist<br />

und anderen Impulsen<br />

Im 19. und früheren 20. Jahrhundert grassierte eine <strong>Krankheit</strong>,<br />

wie sie vor- und nachher nie grassiert hat: die <strong>Krankheit</strong><br />

»weibliches Geschlecht«; dies in Europa so heftig wie in Amerika,<br />

wo Mary Putnam Jacobi (1842-1906) 1876/86 in ihrem Buch<br />

über die Menstruation schrieb: »The sex itself seems to be<br />

regarded as a pathological fact.« Gerade etwa in den Menstrua-<br />

tionslehren dieser Zeit wird der <strong>Krankheit</strong>scharakter des norma-<br />

len <strong>Frau</strong>-Seins offensichtlich (vgl. S. 58-66). Aber auch in der<br />

tendenziellen Pathologisierung der Schwangerschaft, der Ge-<br />

burt, des Wochenbetts im 19. Jahrhundert lässt sich die Patholo-<br />

gisierung der normalen <strong>Frau</strong> erkennen, ebenso in der allgemei-<br />

nen Tendenz, die <strong>Frau</strong> insgesamt in ihrer anerkannten körperli-<br />

chen und geistigen Schwäche als ein Mängelwesen dem vollkom-<br />

meneren Mann gegenüberzustellen. Es wird dabei in der Litera-<br />

tur - und wir bewegen uns hier auf der Ebene der Literatur -<br />

kaum je explizit von der »<strong>Krankheit</strong>« <strong>Frau</strong> (oder »<strong>Krankheit</strong>«<br />

weibliches Geschlecht) gesprochen. Denn diese <strong>Krankheit</strong> ist<br />

ganz wesentlich naturgewollt und normal. Die <strong>Frau</strong> muss not-<br />

wendig an ihrem Geschlecht leiden, menstruieren, schwanger<br />

werden, gebären, kindartig, unintellektuell, emotioneil sein,<br />

sonst wäre sie keine <strong>Frau</strong> mehr und würde ihrer natürlichen<br />

Bestimmung als Gattin und Mutter nicht genügen können. So<br />

hat schon Aristoteles zugestanden, dass die Kreatur <strong>Frau</strong> gerade<br />

in ihrer Unvollkommenheit nötig sei für die Erhaltung der<br />

Menschheit (vgl. S. 36-38); so schreibt der Neurologe Paul Julius<br />

Möbius (1853-1907) um 1900 über den »physiologischen« (d. h.<br />

normalerweise vorliegenden) Schwachsinn des Weibes.<br />

Krank ist die <strong>Frau</strong> also nur im Vergleich mit dem Manne; in ihrer


Beziehung zum Mann aber, als ein Teil von ihm, als Gattin und<br />

Mutter seiner Kinder, ist sie gesund. Entsprechend kommt eine<br />

Genesung von der <strong>Krankheit</strong> »weibliches Geschlecht« für sie<br />

nicht in Frage - oder nur unter Verlust dessen, was sie ausmacht<br />

(eine starke und intelligente <strong>Frau</strong> ist keine normale oder sogar<br />

überhaupt keine <strong>Frau</strong> mehr).<br />

Angesichts der Tatsache, dass es wesentlich Männer gewesen<br />

sind, die dieses Bild von der <strong>Frau</strong> entworfen haben, könnte man<br />

auch sagen: Der Mann verlangt von der <strong>Frau</strong>, was er an sich<br />

selbst als krankhaft abzulehnen tendiert.<br />

Das weibliche Geschlecht also als das kranke Geschlecht-wobei<br />

»Geschlecht« zugleich die Gruppe bezeichnet und die Ge-<br />

schlechtlichkeit, welche diese Gruppe ausmacht. Vielfach wird<br />

die <strong>Frau</strong> ja einfach das »Geschlecht« genannt, das schwache, das<br />

zarte »Geschlecht«, »the sex«, »le sexe« auf französisch. Tat-<br />

sächlich ist sie für den Mann, insofern sie nicht Mensch ist wie er<br />

selbst, wesentlich durch ihr Geschlecht von ihm verschieden -<br />

das »andere«, das »zweite Geschlecht«. Und wenn er ihr nun so<br />

zwiespältig gegenübersteht und von ihr einfordert, was er an sich<br />

selbst ablehnt: könnte sich im Bild von der <strong>Krankheit</strong> am<br />

Geschlecht nicht auch das nicht eingestandene Leiden der Auto-<br />

ren und ihrer Zeit an eigenem Geschlecht, Geschlechtlichkeit,<br />

Emotionalität, Körperlichkeit überhaupt spiegeln?<br />

Es stellt sich also die Frage nach sexuellen Determinanten,<br />

sexualgeschichtlichen Hintergründen des wissenschaftlichen<br />

Konzeptes von der <strong>Krankheit</strong> »weibliches Geschlecht«. Dass es<br />

ausser diesen Hintergründen andere gibt - wirtschaftliche, politi-<br />

sche, militärische, religiöse und so weiter-, welche alle unterein-<br />

ander in Beziehung stehen, ist selbstverständlich. Aber hier soll<br />

nach den sexuellen gefragt werden, wobei »Sexualität« nicht<br />

lediglich für den gewissermassen isolierten »Trieb« steht, son-<br />

dern auch für die zugehörige Emotionalität und Leiblichkeit.<br />

Über sexuelle Determinanten von historischen Erscheinungen<br />

und Entwicklungen - auch wissenschaftlichen - ist bisher wenig<br />

bekannt. Die Sozialgeschichte interessiert sich zwar für die<br />

nicht-ereignishaften, im Alltag ständig wirksamen Faktoren und<br />

93


müsste deshalb der Sexualität grösste Aufmerksamkeit schenken;<br />

trotzdem hat sie bisher mehr andere Determinanten historischer<br />

Entwicklungen, vor allem die ökonomischen, herausgearbeitet.<br />

Dies teils in Fortsetzung ihrer historisch-materialistischen Tra-<br />

dition, teils in Einlösung ihres Anspruchs, auch historische<br />

Aussagen auf messbare, objektive, jederzeit und persönlichkeits-<br />

unabhängig nachprüfbare Daten zu gründen.<br />

Tatsächlich sind ökonomische Daten relativ leicht fassbar und<br />

quantifizierbar. An die Sexualität früherer Zeiten und ihre<br />

Geschichtswirksamkeit indessen ist so kaum heranzukommen -<br />

als ob der objektivierende Blick da immer wieder abglitte. Nicht<br />

nur, dass die Quellen selten und ungenau von Sexuellem spre-<br />

chen: noch entscheidender ist, dass selbst da, wo über Sexualität<br />

gesprochen wird, diese gewöhnlich vom übrigen Lebenszusam-<br />

menhang isoliert wird - als ob da keine Zusammenhänge bestün-<br />

den, als ob ausser Künstlern nie jemand in Wechselwirkung mit<br />

seinem Sexualleben Karriere oder ein wissenschaftliches Kon-<br />

zept gemacht oder eben nicht gemacht hätte.<br />

Dies entspricht der allgemeinen Tendenz unserer westlich-<br />

neuzeitlichen Kultur, sexuelle Dinge vom übrigen Kulturzusam-<br />

menhang abzuspalten. Im Bereich der Geschichtsschreibung hat<br />

sich lange etwas Ähnliches abgespielt: lange ist die Geschichte<br />

der Sexualität neben der gewissermassen konventionellen Ge-<br />

schichte hergelaufen, als ob beides miteinander kaum etwas zu<br />

tun hätte. Und die Abspaltung war diskriminierend: die »Bett-<br />

Geschichten« fürstlicher Häupter lieferten Stoff für historische<br />

Romane, die gehobenen Historiker interessierten sich für sie nur<br />

begrenzt. Am ehesten noch wurde in der Geschichte der Kunst<br />

eine Geschichtswirksamkeit der Sexualität anerkannt - wie eben<br />

dem künstlerischen Schaffen Spontaneität, Emotionalität und<br />

Körperlichkeit konstitutiv zugestanden wird.<br />

In jüngerer Zeit wird die Geschichte der Sexualität nun zwar von<br />

vielen Historikern seriös bearbeitet und auch in ihren Zusam-<br />

menhang mit der Geschichte anderer Lebensbereiche gestellt.<br />

Noch immer aber weiss man bedeutend mehr über den Einfluss<br />

aller möglicher historischer Faktoren auf die Sexualität als über<br />

94


den Einfluss der Sexualität auf historische Entwicklungen. Und<br />

noch immer wird die Geschichte der Sexualität, der <strong>Frau</strong>, der<br />

Familie tendenziell kleingeschrieben und an den Rand gerückt,<br />

und sei es nur dadurch, dass sie als Spezialgebiet deklariert oder<br />

<strong>Frau</strong>en überlassen wird.<br />

In unserem Falle, bei unserem Suchen nach den Wurzeln des<br />

Konzeptes von der »<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>« im Bereich des Sexuellen<br />

kommen weitere Schwierigkeiten hinzu. Denn in gewissem<br />

Sinne dient ja das Reden über die Schwäche und Minderwertig-<br />

keit der <strong>Frau</strong> gerade der Verdeckung und Verleugnung solcher<br />

Wurzeln. Die Erhellung der Leiden weiblicher Existenz scheint<br />

die Ausblendung jeglicher Problematik der männlichen Sexuali-<br />

tät geradezu zu bezwecken. Alle Leiden an der eigenen Ge-<br />

schlechtlichkeit sind mit der Projektion auf die <strong>Frau</strong> gewisserma-<br />

ssen ins Objektive abgeschoben. Man könnte wohl sagen, dass es<br />

eine »<strong>Krankheit</strong> weibliches Geschlecht« gar nicht gäbe, wenn<br />

ihre Entdecker sich über die Verwurzelung dieses Leidens in<br />

ihrer eigenen Beziehung zu <strong>Frau</strong>en und eigener Sexualität klar<br />

gewesen wären.<br />

Wir können daher, wenn wir eine solche Verwurzelung aufzei-<br />

gen wollen, kaum auf direkte Belege hoffen, auf erotische<br />

Autobiographien all derer etwa, welche die Pathologisierung der<br />

<strong>Frau</strong> im 19. Jahrhundert festgeschrieben haben, oder auf direkte<br />

Hinweise in den vorhandenen Quellen - nicht in beweiskräftiger<br />

Quantität jedenfalls. Vielmehr müssen wir, wenn wir an unse-<br />

rem Vorhaben festhalten wollen, indirekt von den vorliegenden<br />

Konzepten auf sexuelle Hintergründe schliessen in der Annah-<br />

me, dass da eine wechselseitige Beziehung bestehe, in der Annah-<br />

me, dass man auf Grund eigenen Erlebens bis zu einem gewissen<br />

Grade vom einen auf das andere schliessen kann, und in der<br />

Überzeugung, dass persönliches Erfahren von Quellen legitime<br />

und gelegentlich sogar einzige Basis von geschichtlichen Rekon-<br />

struktionen sein kann. Und ausdrücklich sei festgehalten, dass es<br />

sich dabei nicht um Subjektivismus oder Relativismus handelt,<br />

sondern um eine Erweiterung des historiographischen Gesichts-<br />

feldes auf die Situation des Historikers selbst, die damit zum<br />

95


zulässigen, oft sogar unabdingbaren Forschungsinstrument -<br />

auch Forschungsmotiv und -gegenstand - wird.<br />

Die <strong>Frau</strong> samt dem Leiden an ihrem Geschlecht wird also im<br />

Folgenden als eine sozusagen veräusserlichte Form des sexuellen<br />

Prinzips und des entsprechenden Leidens im Manne und medizi-<br />

nischen Autor selbst zu untersuchen sein: die Beziehung zwi-<br />

schen den Geschlechtern als eine soziale Realisierung der Bezie-<br />

hung, wie sie das 19. Jahrhundert erlebte zwischen organisieren-<br />

dem Geist, Intelligenz, Wille etc. einerseits, Sexualität, Körper-<br />

lichkeit, Gefühlswelt, Spontaneität andererseits.<br />

In diesem Sinne möchte ich zuerst einiges über die Stellung des<br />

»Geistigen« in seiner Verbindung mit dem Männlichen im<br />

19. Jahrhundert sagen, vor allem auf die sexualgeschichtliche<br />

Dimension dieses »Geistigen« hinweisen.<br />

Tatsächlich scheint es, als hätte der Geist im 19. Jahrhundert<br />

soziale Funktionen, die ursprünglich der Sexualität oblegen<br />

haben. »Potenz« im Sinne von »Macht«, »Leistungsfähigkeit«,<br />

ursprünglich sehr weitgehend an sexuelle Potenz gebunden,<br />

scheint sich im Laufe der späteren Neuzeit zunehmend an<br />

geistig-intellektuelle Leistung zu binden. Über Jahrhunderte,<br />

sogar wohl Jahrtausende, ist menschliche Verfügungsgewalt und<br />

Freiheit unter anderem an Zeugungskraft, materialisiert in Sa-<br />

men, gebunden gewesen. Damit war der Mann zum vornherein<br />

privilegiert, da die <strong>Frau</strong> als samenlos oder doch samenarm und<br />

gewissermassen impotent galt. Kraft seiner Zeugungsfähigkeit<br />

schaffte sich der Mann seine Familie, die erste, entscheidende<br />

Erweiterung seines Verfügungsbereiches; bis heute tragen vieler-<br />

orts Gattin und Kinder seinen Namen. Die Kinder garantieren,<br />

falls sie Knaben sind, dem Manne auch die mindestens virtuelle<br />

Verfügung über die Zukunft, die Unsterblichkeit.<br />

So zeugt der Mann in antik-aristotelischer Tradition, die bis weit<br />

in die Neuzeit hinein wirksam geblieben ist, im Idealfall Knaben,<br />

die ihm selbst bis zur Identität ähnlich sind (vgl. S. 21 u. 36).<br />

Noch in der Gerichtsmedizin des 16. und frühen 17. Jahrhunderts<br />

wird die Heiratsfähigkeit des Mannes an seiner sexuellen Potenz<br />

96


gemessen; praktisch einziger - medizinischer - Scheidungsgrund<br />

für eine <strong>Frau</strong> ist entsprechend die Impotenz des Mannes. Heira-<br />

ten hiess auch »eine <strong>Frau</strong> heimführen«. Manche heiraten nur,<br />

schreibt der Gerichtsmediziner Fortunatus Fidelis 1602, um<br />

Kinder - pueri - zu bekommen, die dann ihren (d. h. der Väter)<br />

Ruhm und Namen in die Zukunft forttragen (pueri sind damit<br />

wiederum im Idealfalle Knaben). Dabei bedeutete Familiengrün-<br />

dung damals sozial sehr viel mehr als später. In Zeiten der<br />

agrarischen Produktionsweise war sie wichtigste Basis der sozia-<br />

len Integration, Überlebensgemeinschaft und Element der Ge-<br />

sellschaft. Auch in unmittelbarerer Weise war die soziale Reife<br />

eines Mannes an seine sexuelle Potenz gebunden: nicht zufällig<br />

deutet das Wort »testieren« auf die »testes«, »zeugen« auf das<br />

generative »zeugen«; es müsste hier die Rechtsgeschichte weiter<br />

befragt werden.<br />

Dieses Muster tritt im 17. und 18. Jahrhundert allmählich<br />

gegenüber einem neuen Muster zurück, im Rahmen dessen vor<br />

allem der Geist dazu dient, seinem Inhaber die Welt zu erschlie-<br />

ssen. Im 19. Jahrhundert wird sexuelle Potenz noch verlangt<br />

werden können, wenn es um die Gründung einer Familie geht;<br />

die Übernahme höherer sozialer Funktionen aber ist nicht mehr<br />

an sexuelle Potenz gebunden. Und die Familie ist in weit<br />

geringerem Masse Basis übergeordneter sozialer Kompetenzen.<br />

Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts steigt innerhalb des<br />

Organismus vielmehr das Nervensystem allmählich zum überge-<br />

ordneten und dominanten, organisierenden System auf. Im<br />

19. Jahrhundert etabliert sich schliesslich fest das Gehirn als<br />

höchstes der Organe innerhalb des Körpers.<br />

Nun ist es das Funktionieren dieses Körperteils, das die gesell-<br />

schaftliche Position eines Menschen begründet oder doch ratio-<br />

nalisiert: organisierende Vernunft, Wille, Intelligenz, Geist,<br />

geistige Schöpferkraft, geistige Überlegenheit im Kampf ums<br />

Dasein. Die Vernunft, schreibt Johann Christian Heinroth<br />

(1773-1843) 1825 in seinem »System der psychisch-gerichtlichen<br />

Medicin«, mache das Wesen des Menschen aus, aus seiner<br />

Vernunft seien Wissenschaft, Kunst, die Entstehung der Staaten<br />

97


abzuleiten, die Vernunft sei daher Voraussetzung aller Rechts-<br />

und Pflichtfähigkeit. Wie der Staat andererseits eine geist- und<br />

vernunftdurchwirkte höhere Einheit ist, »so folgt, dass [. . .] die<br />

Gesammtkraft des Staats der Intelligenz untergeordnet [. . .]<br />

seyn müsse«.<br />

Dieser Aufstieg des Geistes gegenüber dem Samen, geistiger<br />

Potenz gegenüber sexueller Potenz, findet etwa in demselben<br />

Zeitraum statt, in welchem der weibliche Zeugungsbeitrag, das<br />

weibliche Ei, definitiv beschrieben und anerkannt wird (17. bis<br />

frühes 19. Jahrhundert; vgl. S. 137 f.) - als ob die Anerkennung<br />

eines dem männlichen ebenbürtigen Zeugungsbeitrags erst mög-<br />

lich geworden wäre mit der Entwertung der sozialen Bedeutung<br />

dieses Beitrags, als ob andererseits diese Anerkennung eine<br />

Verschiebung der sozial bedeutsamen Geschlechtsunterschiede<br />

auf das Gebiet des Geistes bedingt hätte. Denn die Verschiebung<br />

der sozial relevanten Potenz vom Sexuellen auf Geistiges bringt<br />

keineswegs eine soziale Gleichberechtigung der <strong>Frau</strong> mit dem<br />

Manne mit sich - wiewohl gerade das 18. Jahrhundert, die Zeit<br />

des Überganges, dergleichen folgerichtigerweise erwogen hat.<br />

Gerade das 19. Jahrhundert zeichnet sich aus durch sehr klare,<br />

fast überklare Vorstellungen von den geistigen Geschlechtsun-<br />

terschieden und dem entscheidenden Mangel der <strong>Frau</strong> an geisti-<br />

ger Potenz.<br />

Dabei scheint dem Diskurs über Geistiges sehr oft das sexuelle<br />

Modell zugrunde zu liegen. War der Mann bis dahin kraft seines<br />

»schöpferischen Safts« (Albrecht von Haller) ein voller Mensch<br />

gewesen, so ist er es nun kraft seines schöpferischen Geistes. Am<br />

Anfang unseres Jahrhunderts wird der Trivialphilosoph Otto<br />

Weininger (1880-1903) schreiben, »dass Genialität an die Männ-<br />

lichkeit geknüpft ist, dass sie eine ideale, potenzierte Männlich-<br />

keit vorstellt«. Es ist, als ob dem Manne im 19. Jahrhundert der<br />

Samen buchstäblich in den Kopf gestiegen wäre. Geistige Aktivi-<br />

tät, Fruchtbarkeit, Intelligenz, Unternehmergeist, Genie, Erfin-<br />

dertum, Entdeckertum charakterisieren nun den rechten Mann.<br />

Mit Ideen, Forschungsergebnissen, Erfindungen und Geld<br />

schwängert er seine Bezugsgruppe, wenn er sehr potent ist, die<br />

98


Den markanten, inhaltsreichen, vielfältig geformten Häuptern von<br />

Männern wie Staatsminister v. Gerber, Professor Wunderlich oder<br />

Bogumil Dawison stellt der Neurologe Paul Julius Möbius 1903 eine<br />

Stichprobe von Weiberköpfen gegenüber. »Man ist Mann oder man ist<br />

Weib, je nachdem ob man wer ist oder nicht«, schreibt sein Bewunderer,<br />

der Philosoph Otto Weininger, in demselben Jahre 1903. Bei Heinroth<br />

ist dies schon 1825 angelegt: »Nur wiefern das menschliche Selbst ein<br />

Repräsentant der Vernunft ist, [. . .] Kraft welcher er Intelligenz ist, ist der<br />

Mensch Person. Intelligenz und Persönlichkeit ist Eines und Dasselbe.<br />

Wiefern sich aber das menschliche Selbst von der Vernunft lossagt oder<br />

ihrer in minderem Umfange teilhaftig ist, wäre hier wohl anzufügen, ist<br />

er nicht [. . .] persönliches, sondern blos selbstisches Wesen. Wie die<br />

Persönlichkeit unser höchstes Gut ist [. . .], so ist die Selbstigkeit unser<br />

grösstes Übel.«<br />

99


ganze Welt; das Aufbauen seiner Familie geht nebenher. Hilfs-<br />

kräfte und Schüler sind seine eigentlichen Söhne. Nie hat man so<br />

selbstverständlich von »Vätern« von Entwicklungen, Betrieben,<br />

Schulen, Erfindungen, Gesetzen etc. gesprochen wie in dieser<br />

Zeit. Im Kampf ums Dasein setzt er seine Potenz auch gegen<br />

andere - Rivalen - ein.<br />

Fliessend geht seine schöpferische Potenz in zerstörerische über:<br />

militärische Erektionen und Ejakulationen bezeichnen einen<br />

Höhepunkt seiner Männlichkeit. Denn der Krieg ist der »Vater«<br />

allen Fortschritts. »Kriegstüchtig sei der Mann und gebärtüchtig<br />

das Weib«, heisst es in dem sehr verbreiteten Lehrbuch der<br />

Gynäkologie von Max Runge.<br />

Auch die <strong>Frau</strong> begehrt den Mann anscheinend in seiner Geistig-<br />

keit. »Das Weib wird in der Wahl des Lebensgefährten viel mehr<br />

durch geistige als durch körperliche Vorzüge bestimmt«,<br />

schreibt Krafft-Ebing in seiner »Psychopathia sexualis« (1886).<br />

»Deshalb sehnt sich auch normaler Weise das junge Mädchen<br />

nach einem [. . .] unternehmenden, geistig ihr überlegenen<br />

Manne«, folgert der sehr namhafte Psychiater August Forel<br />

(1848-1931) in seinem in zahllosen Auflagen erschienenen und in<br />

viele Sprachen übersetzten Buch »Die sexuelle Frage«. Die<br />

Libido der <strong>Frau</strong>en werde durch geistige Überlegenheit mehr<br />

erregt als durch Schönheit. Und Otto Weininger fügt hinzu, es<br />

könne junge Mädchen »befremden, ja sexuell abstossen [. . .],<br />

wenn der Mann [. . .], was sie sagen, [. . .] nicht gleich besser<br />

sagt als sie«, weil die <strong>Frau</strong> »es eben als Kriterium der Männlich-<br />

keit fühlt, dass der Mann ihr auch geistig überlegen sei«. Für<br />

Weininger ist Geistigkeit ein männliches Geschlechtsmerkmal.<br />

Auch für die geschlechtliche Zuchtwahl war im Falle des Men-<br />

schenmannes die Intelligenz entscheidender als die rohe Physis.<br />

Cesare Lombroso (1836-1909) und sein Schwiegersohn Gugliel-<br />

mo Ferrero leiten in ihrem gemeinsamen Werk über »das Weib<br />

als Verbrecherin und Prostituirte« (italienisches Original 1893)<br />

die höhere Intelligenz des Mannes daraus ab, dass der Mann seine<br />

Rivalen eben wesentlich durch geistige Mittel aus dem Felde<br />

schlage.<br />

100


Das Stereotyp von der weiblichen Un-Intelligenz, Rezeptivität,<br />

Passivität und Emotionalität trägt entsprechend ebenfalls deut-<br />

lich sexuelle Züge. Möbius spricht von der »geistigen Sterilität<br />

des Weibes« - der »physiologische Schwachsinn des Weibes«<br />

also als Neuauflage der aristotelischen weiblichen Zeugungsun-<br />

fähigkeit.<br />

In eigentümlicher Weise wird die sexuelle Dimension der weibli-<br />

chen Geistlosigkeit und Passivität in der Lehre des 19. Jahrhun-<br />

derts von der Hypnose und Suggestion deutlich. Die notorische<br />

Suggestibilität der <strong>Frau</strong> erscheint hier als Nachfolgerin ihrer<br />

alten generativen Rezeptivität. »Ihr Maximum scheint die weib-<br />

liche Intelligenz [. . .] in der [. . .] Assimilation der Ideen<br />

Anderer zu erreichen [. . .], die <strong>Frau</strong> eignet sich mehr zur<br />

Verbreiterin als zur Schöpferin neuer Ideen«, schreiben Lom-<br />

broso/Ferrero.<br />

Kein Wunder, dass der Begriff der Suggestibilität im 19. und<br />

frühen 20. Jahrhundert ein Kernstück der Hysterielehre wird<br />

und damit ein Herd der »<strong>Krankheit</strong> weibliches Geschlecht«.<br />

»Die Veränderbarkeit durch fremde Vorstellungen wird auch als<br />

Suggestibilität bezeichnet. Eine sorgfältigere Analyse ergibt, dass<br />

namentlich gefühlsbetonte Vorstellungen oder Erinnerungsbil-<br />

der bei der Hysterie eine abnorm gesteigerte Wirksamkeit<br />

haben«, schreibt Theodor Ziehen (1862-1950) 1909. Carl Lud-<br />

wig Schleich (1859-1922) nennt die Hysterie eine »Schöpfung<br />

aus Idee«, eine »Perversion der Phantasietätigkeit«, »Phantasia-<br />

sis«, sämtliche Erscheinungen der Hysterie erklären sich für ihn<br />

aus »der Macht des Gedankens, Körperliches zu schaffen« - zu<br />

zeugen, hätte er auch schreiben können (»Gedankenmacht und<br />

Hysterie«, 1920).<br />

Die Beziehung zwischen Hypnoselehre und Sexualität durch-<br />

zieht das 19. Jahrhundert: die Hypnose wurde häufig und<br />

typischerweise von Männern an <strong>Frau</strong>en ausgeübt. Manche Kriti-<br />

ker wiesen im Laufe des 19. Jahrhunderts warnend auf die<br />

entsprechenden Gefahren und Missbräuche hin. Gegen Ende des<br />

Jahrhunderts hingegen assoziierte sich die Lehre von der Hyp-<br />

nose offiziell mit derjenigen von der Hysterie und wurde damit<br />

101


102


zu einem wichtigen Kanal, durch den die Sexualität aus ihrem<br />

19.-Jahrhundert-Schattendasein schliesslich wieder in das gesell-<br />

schaftliche Bewusstsein einfliessen sollte. »Wie soll der Mann das<br />

Weib behandeln?« fragt Weininger. »Wenn er es zu behandeln<br />

hat, wie es behandelt werden will, dann muss er es koitieren,<br />

denn es will koitiert werden, schlagen, denn es will geschlagen<br />

werden, hypnotisieren, denn es will hypnotisiert werden.«<br />

So steht im 19. Jahrhundert Geistiges vielfach für Sexuelles.<br />

Möbius geht 1900 so weit, die eigentliche Verschiedenheit der<br />

Geschlechter überhaupt in den geistigen Fähigkeiten zu suchen.<br />

»M [Mann] lebt bewusst, W [Weib] lebt unbewusst«, schreibt sein<br />

Bewunderer Weininger. »W empfängt ihr Bewusstsein von M:<br />

Die Funktion, das Unbewusste bewusst zu machen, ist die<br />

sexuelle Funktion des typischen Mannes gegenüber dem typi-<br />

schen Weibe.« »Sie schämt sich nicht, rezeptiv zu sein: im<br />

Gegenteil, sie fühlt sich nur glücklich, wenn sie es sein kann,<br />

verlangt vom Manne, dass er sie, auch geistig, zu rezipieren<br />

zwinge« - bis zu dem Punkte, wo sie überhaupt nur noch ein<br />

Geschöpf seiner Geistigkeit ist, eine Kreatur seiner krankma-<br />

chenden Konzepte gewissermassen, ein Symptom seiner Hy-<br />

sterie.<br />

»Auch die [. . .] überaus seltenen Dichterinnen [. . .] wuchern<br />

mit den Münzen, die Männer geprägt haben«, stellt Möbius fest,<br />

womit er nebenbei noch auf die geistige und sexuelle Dimension<br />

der Ökonomie, die Samenartigkeit des Geldes hinweist. Man<br />

könnte vielleicht kühn sagen, der Wandel der männlichen Potenz<br />

vom Sexuellen zum Geistigen entspreche dem Übergang von der<br />

agrarischen Produktionsweise zur industriellen. Denn nicht<br />

länger besteht die wesentliche Aktivität darin, die Überlebens-<br />

mittel fortzupflanzen; vielmehr treten jetzt vermitteitere, orga-<br />

nisatorische Tätigkeiten in den Vordergrund - für den Mann.<br />

Die <strong>Frau</strong> bleibt demgegenüber dem Bäuerisch-Reproduktiven<br />

verhaftet; dies macht auch die Enge ihrer Geistigkeit aus.<br />

← Hypnose, Postkarte<br />

103


Die Phantasie des Mannes, schreibt Schleich 1920, beinhalte<br />

vornehmlich seine Stellung in Staat und Öffentlichkeit, Helden-<br />

haftigkeit, Eis und Pole, Grenze der Atmosphäre, Trieb nach<br />

vorwärts in Kunst und Wissenschaft, Fortentwicklung, Un-<br />

sterblichkeit seines Namens, Führerschaft, Sehnsucht, Höhe<br />

»und die Gemeinschaft der Männerphantasie hat ja der Erde<br />

beinahe eine elektrische Hirnorganisation durch Apparate und<br />

Bewegungsträger aufgezwungen durch Schaffung von städti-<br />

schen Gehirnzentralen und eines telegraphischen Netzes von<br />

Signalen, welche in jedem Stücke ein Riesenabbild der Nerven-<br />

organisation unseres eigenen Gehirntastapparates ist. Im Gegen-<br />

satz hierzu geht die Phantasie der <strong>Frau</strong> von Natur auf Erhaltung<br />

ihrer hohen Begehrbarkeit, im letzten Sinne auf die Möglichkeit<br />

der Mutterschaft aus«.<br />

Das 19. Jahrhundert also als die Zeit einer »Sexualisierung des<br />

Geistes«: wie sollte es erstaunen, dass der wissenschaftliche<br />

Ausfluss dieses Geistes dahin lautet, dass die <strong>Frau</strong> ärztlich-<br />

medizinischer Zuwendung und Hilfe unbedingt bedürfe?<br />

Wie erlebt nun dieser Geist die eigentliche, nicht-geistige,<br />

sozusagen niedrige, unverfeinerte Sexualität? Wie steht der<br />

Mann, der sich mit dieser Geistigkeit identifiziert, der <strong>Frau</strong> als<br />

der Verkörperung der Sexualität gegenüber?<br />

Offensichtlich muss die Sexualität wo immer möglich dem Geiste<br />

untergeordnet, offensichtlich muss die <strong>Frau</strong> als deren Projek-<br />

tionsfeld vom Manne kontrolliert und be»herr«scht und in ihrer<br />

Rebellionstendenz behandelt werden. Passivität ist ihre erste<br />

Pflicht, wiewohl sie ihre Mangelhaftigkeit ausmacht. »La femme<br />

sent plus qu’elle ne pense, [. . .] l’homme pense plus qu’il ne<br />

sent; [. . .] De ce fait découle presque entièrement toutes les<br />

conséquences relatives au caractère de l’homme et de la femme;<br />

[. . .] empire de Tun, [. . .] soumission de l’autre«, schreibt<br />

Etienne-Jean Georget (1795-1828) schon 1821 (»De laphysiolo-<br />

gie du système nerveux«). Die <strong>Frau</strong> bezieht ihre Daseinsberech-<br />

tigung aus ihrer Rolle als Helferin des Mannes und Produktions-<br />

mittel zur Herstellung der Familie - Zelle des Staatskörpers. Als<br />

104


Gattin, Tochter, Angestellte oder Muse unterstützt sie den<br />

Mann bei seinen höheren Funktionen. »Wie nützlich das Weib<br />

auch sein kann«, schreibt Lombroso im Vorwort zu seinem<br />

Buch, »das habe ich bei der Vorbereitung dieses Buches durch<br />

die Mitarbeiterschaft einer Reihe ausgezeichneter <strong>Frau</strong>en erfah-<br />

ren. [. . .] Und am meisten beweist Du es mir, meine geliebte<br />

Gina [Lombrosos Tochter und seines Mitarbeiters Ferrero Gat-<br />

tin] - das letzte und einzige Band, das mich an das Leben fesselt,<br />

die kräftigste und fruchtbarste Mitarbeiterin und Beseelerin aller<br />

meiner Arbeit.«<br />

Namentlich als Mutter ist die in der <strong>Frau</strong> verkörperte Sexualität<br />

in den Dienst der Fortpflanzung, der Familie und letztlich des<br />

(nach Heinroth geist- und intelligenzbestimmten) Staates ge-<br />

stellt, dem Staate gewissermassen einverleibt. Die <strong>Frau</strong> verkör-<br />

pert für die höhere gesellschaftliche Einheit die Gebär-Mutter,<br />

so wie das Staatsoberhaupt den Kopf verkörpert, wie am indivi-<br />

duellen Organismus andererseits die Gebärmutter oft einfach<br />

»Mutter« genannt wird. Die Mutterschaft ist letztes Ziel jeden<br />

<strong>Frau</strong>enlebens, »denn das Wesen des Weibes wird nur dann<br />

vollendet«, schreibt Adolph Henke 1814, »seine Bestimmung,<br />

sein Beruf nur dann erfüllt, wenn es Gattin und Mutter wird«.<br />

Und die <strong>Frau</strong> setzt alles dran, Mutter zu werden. Nach Möbius<br />

ist die an sich schwachsinnige <strong>Frau</strong> in jungen Jahren sogar geist-<br />

und intelligenzfähig, nur um an den Mann zu kommen. »Der<br />

Geist der Jungfrau ist erregt, feurig, scharf. Dadurch wird<br />

einerseits ihre Kraft, anzuziehen, gesteigert, andererseits wird<br />

sie befähigt, bei der geschlechtlichen Auswahl activ zu sein, im<br />

Liebesspiele und Liebeskampfe dem Gegner ebenbürtig zu sein.<br />

Die ganze Bedeutung des weiblichen Lebens hängt davon ab, dass<br />

das Mädchen den rechten Mann erhalte; auf diesen Moment, als<br />

den Höhepunkt des Lebens, sind alle Kräfte gerichtet und alle<br />

Geistesfähigkeiten werden auf das eine Ziel concentrirt.« Denn<br />

»das Weib soll Mutter sein; um es aber zu werden, muss sie erst<br />

einen Mann haben, der die Sorge für sie und die Kinder auf sich<br />

nimmt«.<br />

Entsprechend nimmt die weibliche Sexualität im Normalfalle die<br />

105


Form des Kinderwunsches an. »Wenn der Anblick eines be-<br />

stimmten Mannes in einem jungen Mädchen sehnsüchtige Sym-<br />

pathiegefühle erregt«, schreibt Auguste Forel in seiner »Sexuel-<br />

len Frage«, »nehmen sie die Form der Begierde nach Kinderer-<br />

zeugung durch eben diesen Mann, nach ›sich demselben (oft<br />

sklavisch) hingeben‹, nach [. . .] einer Stütze für das Leben an.<br />

Es ist [. . .] eine Sehnsucht, nach Familiengründung und Mutter-<br />

glück, nach [. . .] Befriedigung einer im ganzen Körper verallge-<br />

meinerten Sinnlichkeit, die sich [. . .] nicht besonders auf die<br />

Sexualorgane konzentriert oder nach Begattung verlangt.« Denn<br />

die eigentliche Liebe des Weibes ist die höhere, die Mutterliebe.<br />

»Vor der Mutterliebe«, schreibt Krafft-Ebing, »schwindet die<br />

Sinnlichkeit.«<br />

Wenn man nun fragt, ob Sexualität hier in Mutterliebe verwan-<br />

delt bzw. domestiziert werde oder einfach verschwunden sei, ob<br />

Liebe mit Sexualität überhaupt etwas zu tun habe oder nicht, so<br />

muss die Antwort paradox ausfallen: beides ist der Fall. Und das<br />

Bild von der <strong>Frau</strong> als verkörperte Sexualität im Dienste höherer<br />

Werte, welches ja das Anforderungsprofil an die gesunde,<br />

normale, akzeptierte <strong>Frau</strong> darstellt, enthält dieses Paradox<br />

auch. Denn letztlich schliessen sich ein Leben für die Sexualität<br />

und ein Leben für Mann, Familie und Staat gegenseitig aus, auch<br />

wenn sich beide im Leben der Mutter, in der geistigen Liebe<br />

zwanglos vereinen zu lassen scheinen. Wenn man dies sieht,<br />

versteht man etwas von dem Druck, der die <strong>Frau</strong> des 19. und<br />

eines grossen Teils des 20. Jahrhunderts in die Mutterschaft<br />

zwang, etwas von dem Zusammenhang zwischen paradoxen<br />

Anforderungen und sozialer Diskrimination und etwas von der<br />

Schwierigkeit dieser Zeit, mit Sexualität und mit <strong>Frau</strong>en umzu-<br />

gehen.<br />

Tatsächlich war die Logik solcher Konzepte nur dank der<br />

Tatsache gewährleistet, dass die Begriffe »Liebe« und »Sexuali-<br />

tät« ganz unklar und ihre Beziehung zueinander ungeklärt<br />

blieben - eine konfliktschwangere Tatsache allerdings. Und<br />

diese Konfliktschwangerschaft wurde nun elegant dem weibli-<br />

chen Teil der Menschheit zugeschoben. Die <strong>Frau</strong> wurde bald so,<br />

106


ald anders definiert, bald als diejenige, deren Liebe nur durch<br />

die Instinkte diktiert sei, diejenige, die nichts als Sexualität sei,<br />

und diejenige, zu deren Normalität es gehöre, dass sie kaum über<br />

Libido sexualis verfüge: »Es gibt ausserordentlich normale und<br />

tüchtige <strong>Frau</strong>en, die zeitlebens sexuell ganz kalt bleiben«,<br />

schreibt Forel. Krafft-Ebing findet eine komplexere Formel: ist<br />

das Weib »geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein<br />

sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste<br />

die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar<br />

sein«. Das einzige, was nicht in Frage stand, war, dass <strong>Frau</strong>en in<br />

jedem Falle in erster Linie von ihrer sexuellen Situation her<br />

verstanden werden müssten.<br />

Dieser typischen Haltung gegenüber der <strong>Frau</strong> entspricht die<br />

Haltung gegenüber der männlichen Sexualität. Die Beziehung<br />

zwischen Liebe und Sexualität ist wiederum variabel. So oder so<br />

aber ist Sexualität ein untergeordneter, eingegrenzter und zu be-<br />

»herr«sehender Bereich individuell-menschlichen beziehungs-<br />

weise männlichen Daseins - genau wie das Element weibliches<br />

Geschlecht innerhalb von Gesellschaft und Familie. Jedermann<br />

ist sich hierüber einig. »Für den Mann ist die Liebe fast stets nur<br />

Episode«, schreibt Krafft-Ebing, »er hat daneben viele und<br />

wichtige Interessen; für das Weib hingegen ist sie der Hauptin-<br />

halt des Lebens.«<br />

Zu diesem Konzept passt der Befund, dass sich die erogenen<br />

Zonen bei der <strong>Frau</strong> angeblich über den ganzen Körper ausdeh-<br />

nen, beim Manne aber eng begrenzt sind (»W ist nichts als<br />

Sexualität«, fasst Otto Weiniger zusammen, »M ist sexuell und<br />

noch etwas darüber.« »Der Mann kann« sogar, schreibt Forel,<br />

»die höhere Liebe vom Sexualtrieb so trennen, dass bei ihm in<br />

dieser Beziehung zwei total verschieden fühlende Individuen im<br />

gleichen Gehirn vorhanden sind; ein Mann kann sogar der<br />

liebevollste Gatte sein und daneben seine Sinnlichkeit mit feilen<br />

Dirnen befriedigen. Beim Weibe ist eine solche Trennung [. . .]<br />

unnatürlich«.<br />

Denn wesentlich ist der Mann geistig und fähig, seine Sexualität<br />

kraft seines Geistes selbst zu ordnen, zu führen, zu handhaben,<br />

107


108


auszugrenzen. Für den Berliner Gerichtsmediziner Johann Lud-<br />

wig Casper (1796-1864) unterscheidet sich der Geschlechtstrieb<br />

von den anderen Trieben dadurch, »dass er beim gesunden<br />

Menschen nicht sich bis zur Unbezwinglichkeit steigert«, denn<br />

er ist nicht Selbsterhaltungstrieb, sondern Gattungserhaltungs-<br />

trieb. »Freilich ist es praktisch eine missliche Sache, eine unwi-<br />

derstehliche Stärke des Geschlechtstriebes zuzulassen«, schreibt<br />

später Albert Moll (1862-1939). Vielmehr kann vom Manne<br />

verlangt und erwartet werden, dass er seine Sinnlichkeit zu<br />

höherem Zwecke produktiv einsetzt, genau wie männlicher<br />

Geist »die <strong>Frau</strong>« gesellschaftlich nutzt. Die Sexualität wird damit<br />

niedriger, sinnlicher »Trieb«, Triebkraft, energetische Basis von<br />

Höherem, Sublimem, Sublimiertem, wie das Feuer dem<br />

19. Jahrhundert vorwiegend in seiner in die Dampfmaschine und<br />

Lokomotive gebannten, technisch beherrschten Form bedeut-<br />

sam war. Man kann sich fragen, wieweit das psychologische<br />

Sublimationskonzept tatsächlich in der Technik des 19. Jahr-<br />

hunderts wurzle. »Jedenfalls bildet das Geschlechtsleben den<br />

gewaltigsten Factor im individuellen und socialen Dasein, den<br />

mächtigsten Impuls zur Bethätigung der Kräfte, zur Erwerbung<br />

von Besitz, zur Gründung eines häuslichen Heerdes«, schreibt<br />

Krafft-Ebing.<br />

Wie aber »das sexuale Leben die Quelle der höchsten Tugenden<br />

werden kann«, fährt er fort, »so liegt in seiner sinnlichen Macht<br />

die Gefahr, dass es zur mächtigen Leidenschaft ausarte. [. . .] Als<br />

entfesselte Leidenschaft gleicht die Liebe einem Vulkan, der alles<br />

versengt, verzehrt, einem Abgrund, der Alles verschlingt-Ehre,<br />

Vermögen, Gesundheit«. Dasselbe gilt, die <strong>Frau</strong> als Projektions-<br />

feld dieser vulkanischen Kräfte und Abgründe betreffend, zwi-<br />

schenmenschlich und gesellschaftlich: wo auf sozialer Ebene die<br />

Sinnlichkeit überhandnimmt, »entsteht [. . .] die Gefahr für die<br />

Gesellschaft, dass Maitressen [. . .] den Staat regieren und dieser<br />

zu Grunde geht. [. . .] Es ist ein Zug feiner psychologischer<br />

← Die sekundären Geschlechtsmerkmale<br />

109


Kenntniss des Menschen, dass die katholische Kirche ihre Priester<br />

zur Keuschheit (Cölibat) verpflichtet«.<br />

Dahinter steht die Angst vor der eigenen Sinnlichkeit, Angst vor<br />

der <strong>Frau</strong> als Zerstörerin von höherer Geistigkeit und höherem<br />

sozialem Gebilde. Die <strong>Frau</strong> erscheint als Vampir, der dem<br />

Manne die höheren Lebenskräfte aus dem Leibe saugt, wie er<br />

sich durch Onanie selbst um dieselben bringt, als Gefäss von<br />

Trieben, welche, entfesselt, geeignet sind, Mann und Männer-<br />

staat zu zerstören. Lombroso und Ferrero nennen das normale<br />

Weib ein halbkriminaloides Wesen: »<strong>Frau</strong>en sind grosse Kinder;<br />

ihre bösen Triebe sind zahlreicher und mannigfaltiger als beim<br />

Manne, nur bleiben sie fast immer latent; wenn sie aber einmal<br />

aufgereizt und geweckt werden, so ist natürlich das Resultat<br />

um so schlimmer.« Und: »Das normale Weib besitzt viele Cha-<br />

rakterzüge, durch die es sich [. . .] dem Verbrecher nähert.«<br />

»Wäre das Weib nicht körperlich und geistig schwach, wäre es<br />

nicht in der Regel durch die Umstände unschädlich gemacht, so<br />

wäre es höchst gefährlich. In den Zeiten politischer Unsicher-<br />

heit hat man mit Schrecken die Ungerechtigkeit und Grausam-<br />

keit der Weiber kennengelernt, ebenso an den Weibern, die un-<br />

glücklicherweise zur Herrschaft gekommen sind«, schreibt Mö-<br />

bius; der sächsische Ministerialdirektor Dr. Erich Wulffen wird<br />

noch 1925 die <strong>Frau</strong> eine »geborene Sexualverbrecherin«<br />

nennen.<br />

Dieses System voneinander gegenseitig bedingenden Konzepten<br />

und Ängsten ist zweifellos mit der Pathologisierung der <strong>Frau</strong> im<br />

19. Jahrhundert eng verquickt. Untergründig hat diese Patholo-<br />

gisierung die Bedeutung eines medizinisch-wissenschaftlichen<br />

Bannzaubers gegen die Systemgefährdung durch das auf die <strong>Frau</strong><br />

projizierte sexuelle Prinzip. Die Ähnlichkeit zwischen dem<br />

Manne, der seine Sexualität nicht hinreichend zu kontrollieren<br />

imstande ist, und der »normalen« <strong>Frau</strong> ist unverkennbar - die<br />

Ähnlichkeit also der »<strong>Krankheit</strong> weiblichen Geschlechts« und<br />

der <strong>Krankheit</strong> des unbe»herr«schten Mannes.<br />

So entspricht die <strong>Frau</strong> in ihrem natürlichen Hang zum Verbre-<br />

chen den einzelnen unglücklichen »geborenen Sexualverbre-<br />

110


chern« unter den Männern, wobei angeborenes Verbrechertum<br />

im Sinne Lombrosos ebensosehr <strong>Krankheit</strong> ist wie Laster. So<br />

entspricht die <strong>Frau</strong> in ihrer natürlichen Mangelhaftigkeit auch<br />

dem Homosexuellen, dem Onanisten und dem Manne, dessen<br />

Nervensystem durch sexuelle Ausschweifungen geschwächt ist.<br />

Nicht selten werden solche Männer als effeminiert, verweib- und<br />

verweichlicht beschrieben, als ob die »<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>« sie<br />

tatsächlich befallen hätte.<br />

»Das normale Verhalten des Kindes ist bei dem Erwachsenen<br />

pathologisch, das des Weibes bei dem Manne, das des Negers bei<br />

dem Europäer«, schreibt Möbius und stellt fest, dass man bei<br />

geistig niedrig stehenden Männern den weiblichen ähnliche<br />

hirnanatomische Verhältnisse finde.<br />

Ein weibliches Gehirn vermuten manche auch im Schädel des<br />

Perversen, des Homosexuellen. Indem der Homosexuelle »bis<br />

zur Hysterik launisch, neidisch, feige, kleinlich, rachsüchtig und<br />

aufwallend ist, vereinigt er in sich alle Mängel des Weibes«,<br />

schreibt Benjamin Tarnowsky (1837-1906). Auch in der starken<br />

Bestimmtheit durch seine Sexualität gleicht der Homosexuelle<br />

dem Weibe. Ähnlich wie im Stereotyp »<strong>Frau</strong>« bzw. »weibliches<br />

Geschlecht« nimmt im Stereotyp »Homosexueller« bzw. »drit-<br />

tes Geschlecht« das Merkmal Sexualität eine absolut übergeord-<br />

nete Stellung ein, während der normale Mann des 19. Jahrhun-<br />

derts sich doch immer in erster Linie als Mensch identifiziert, der<br />

unter anderem über eine Sexualität verfügt. Dass dieser normale<br />

Mann im Homosexuellen wie in der <strong>Frau</strong> seinen möglichen<br />

Sexualpartner bzw. wiederum seine eigenen sexuellen Möglich-<br />

keiten pathologisiert, braucht wohl kaum gesagt zu werden.<br />

Interessant ist wiederum, dass das, was beim Manne als krankhaft<br />

gilt, die homosexuelle Neigung nämlich, bei der <strong>Frau</strong> wenig<br />

auffiel. »Eigentümlich für das weibliche Empfinden ist auch die<br />

Tatsache«, schreibt Forel, »dass eine pathologische Erscheinung,<br />

die bei Männern ungemein scharf absticht, beim Weibe viel<br />

weniger vom normalen Empfinden abgegrenzt ist; ich meine die<br />

auf das gleiche Geschlecht gerichtete Libido.«<br />

Auch der sexuell exzessive Mann und der männliche Onanist<br />

111


ziehen sich individuell und leichtfertig Leiden zu, denen die <strong>Frau</strong><br />

allgemein und unvermeidlicherweise unterworfen ist. Die Ana-<br />

logie von Menstruation und männlicher Samenausschüttung ist<br />

alt und wichtig. Der weibliche periodische Blutverlust wird der<br />

episodischen Samenausschüttung des Mannes analog gesetzt -<br />

um so mehr als die Menstruation ja auch im 19. Jahrhundert die<br />

Zeit der Empfängnis, nach Karl Ernst von Baers Entdeckung des<br />

weiblichen Eis, die Zeit des Eisprungs ist. Die Menstruation hat<br />

Brunst-Charakter. Die monatliche nervöse Krise der <strong>Frau</strong>,<br />

welche nach der massgebenden Menstruationstheorie Eduard<br />

Pflügers alle möglichen nervösen Erscheinungen und Krämpfe<br />

bis hin zur hysterischen Attacke auslöst, genital aber Eisprung<br />

und Blutung, hat Orgasmuscharakter. Nur dass dieses Ereignis<br />

nicht mit Lust verbunden ist und vor allem, dass sie unvermeid-<br />

lich, automatisch, regelmässig ist, während der gesunde und<br />

normale Mann über seinen Stoff- und nervösen Kräftehaushalt<br />

selbst bestimmt. »Nichts schwächt den Organismus in so hohem<br />

Grade«, schreibt der Psychiater und Psychotherapeut Paul<br />

Dubois (1848-1918), »wie die häufige Wiederholung jener ner-<br />

vösen Krisis.« Onanie zehre, so schreibt er, das nervöse Kapital<br />

des Mannes auf. Das nervöse »Kapital«: Samen - Geld - Geist,<br />

all das also, was der Mann der <strong>Frau</strong> voraus hat. Und wiederum<br />

schaden andererseits Onanie und sexuelle Exzesse, die bei<br />

<strong>Frau</strong>en allerdings Zeichen einer Abweichung sind, diesen weni-<br />

ger als den Männern.<br />

Durch sexuelle Exzesse und übermässige Verausgabung nervöser<br />

Kräfte kann der Mann auch für Geisteskrankheiten anfällig<br />

werden; die <strong>Frau</strong> ist es von vornherein. »In Wirklichkeit«,<br />

schreibt der massgebende Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926)<br />

1896, »dürfte es kaum zweifelhaft sein, dass das Weib mit seiner<br />

zarteren Veranlagung, mit der geringeren Ausbildung des Ver-<br />

standes und dem stärkeren Hervortreten des Gefühlslebens<br />

weniger Widerstandsfähigkeit gegen die körperlichen und psy-<br />

chischen Ursachen des Irreseins besitzt, als der Mann. Allein die<br />

Bedeutung dieser Veranlagung für die wirkliche Häufigkeit<br />

psychischer Erkrankungen wird ausgeglichen durch die verhält-<br />

112


nismässig geschützte Stellung, die das Weib dem unvergleichlich<br />

mehr gefährdeten Manne gegenüber einnimmt. Alle jene Schäd-<br />

lichkeiten, die der Kampf ums Dasein mit sich bringt, treffen in<br />

erster Linie und vorwiegend den Mann [. . .] Ferner ist vor allem<br />

auf die Wirkung der Ausschweifungen [. . .] hinzuweisen, Ge-<br />

fahren, denen ganz vorzugsweise der Mann . . . ausgesetzt ist.«<br />

Ähnlich Krafft-Ebing: Menstruation, Schwangerschaft, Wo-<br />

chenbett, Rückbildung und allgemeine Disposition, Ursachen<br />

weiblichen Irreseins, werden beim Manne »reichlich aufgewo-<br />

gen [. . .] durch Überanstrengung im Kampf ums Dasein [. . .],<br />

durch Trunksucht, durch sexuelle Excesse, die angreifender für<br />

den Mann sind als für das Weib. [. . .] Muss das Weib allein den<br />

Kampf ums Dasein bestehen - so manche Wittwe - dann erliegt<br />

sie leichter und rascher als der Mann«.<br />

Ein Kernstück der »<strong>Krankheit</strong> weibliches Geschlecht« ist die<br />

Hysterie. Und gerade weil sie Kernstück war, führte ihr objekti-<br />

ves Studium zu so unbefriedigenden Resultaten, dass sie schliess-<br />

lich zum Kristallisationskern neuer Denkweisen über <strong>Frau</strong> und<br />

Sexualität wurde.<br />

Die Hysterie, auch »amplification de la mentalité féminine«<br />

genannt, entspricht, wie Emil Kraepelin sagt, einer »natürlichen<br />

Entwicklungsrichtung« der <strong>Frau</strong>. Das heisst, es ist eigentlich jede<br />

<strong>Frau</strong> hysterisch. Der Gynäkologe Wilhelm Liepmann (geb.<br />

1878) nennt die Hysterie ein »Vergrösserungsglas«, durch wel-<br />

ches die physiologische Verwundbarkeit und Schwäche der <strong>Frau</strong><br />

besonders gut zu erkennen sei (»Psychologie der <strong>Frau</strong>«, 1920).<br />

Ein Vergrösserungsglas ist sie indessen, nachträglich gesehen,<br />

auch für die Vitalität der <strong>Frau</strong>en damals. Denn die hysterische<br />

<strong>Frau</strong> entspricht sogar den widersprüchlichsten Ansprüchen, die<br />

an sie gestellt werden. Die Hysterie ist das weibliche Leiden,<br />

welches Sexualität zugleich ausdrückt und versteckt, in welchem<br />

Keuschheit und Begierde erfinderisch vereinigt sind. Deshalb<br />

vielleicht wurde die Hysterie zugleich als sehr weibliches und<br />

sehr unweibliches Leiden betrachtet, als natürlicher Zug der<br />

<strong>Frau</strong> und zugleich als Stigma derer, die ihre natürliche Bestim-<br />

113


mung verweigerten: der <strong>Frau</strong>en, deren Sexualität nicht in Mut-<br />

terliebe aufging, der Prostituierten, der Nymphomanen, Lom-<br />

brosos Krimineller, aber auch erfolgreicher Schauspielerinnen,<br />

Tänzerinnen, Künstlerinnen und der Emanzipierten, die auf<br />

Kosten ihrer Weiblichkeit zu denken angefangen hatten. Tat-<br />

sächlich werden die Hysterikerinnen immer wieder als intelli-<br />

gent beschrieben.<br />

So diente das Hysteriekonzept dem Ausdruck und zugleich der<br />

Verstärkung der männlichen Ambivalenz gegenüber <strong>Frau</strong>en und<br />

Sexualität: ein Angelpunkt der Pathologisierung des weiblichen<br />

Geschlechts. Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch ein Vergrö-<br />

sserungsglas für die Art und Weise, in welcher die Wissenschaft<br />

des klassischen 19. Jahrhunderts mit sexuellen Fragen umging.<br />

Charakteristisch dabei ist, dass das in der Literatur am meisten<br />

hervorgehobene Merkmal der Hysterie ihre objektive Ungreif-<br />

barkeit ist. Die Hysterie scheint sich dem klinischen Blick ihrer<br />

Zeit konsequent zu entziehen. Kein einziges Symptom konnte<br />

für sie als eindeutig bezeichnend nachgewiesen werden, nicht<br />

einmal eine umschriebene Symptomengruppe. Im Gegenteil, die<br />

Hysterie war typischerweise wechselhaft und ihre Symptome<br />

unendlich vielfältig. Keine Ursache war sichergestellt, nicht<br />

einmal ihr <strong>Krankheit</strong>scharakter stand fest. Carl Ludwig Schleich<br />

nannte die Hysterie die »<strong>Krankheit</strong> ohne Ursache«, »eigentlich<br />

gar keine <strong>Krankheit</strong>«, den Wechselbalg von Leid und Lüge, eine<br />

Gauklerin. Jean Martin Charcot hat sie als »grande simulatrice«<br />

bezeichnet.<br />

»Die Hysterie ist das Schmerzenskind der Nervenpathologie«,<br />

leitet Otto Binswanger (1852-1929) sein dickes Buch zum<br />

Thema (Wien 1904) ein, »weil alle Bemühungen, welche seit<br />

Jahrhunderten auf die Erkennung und begriffliche Würdigung<br />

der hierher gehörigen <strong>Krankheit</strong>serscheinungen verwandt wor-<br />

den sind, zu keiner auch nur einigermassen befriedigenden und<br />

den Widerstreit der Meinungen ausgleichenden Lösung geführt<br />

haben. Die Unklarheit und Unsicherheit der Begriffsbestim-<br />

mung hat dazu geführt, dass nicht bloss im Laufe der vergangenen<br />

Zeiten die widersprechendsten Anschauungen [. . .] gelehrt<br />

114


wurden, sondern dass auch heute noch keine Verständigung<br />

[. . .] erzielt worden ist.« »Die Hysterie bleibt die rätselvolle<br />

Sphinx«, leitet Siegfried Placzec sein Buch über »das Ge-<br />

schlechtsleben der Hysterischen« (1919) ein.<br />

Die <strong>Frau</strong> des 19. Jahrhunderts in ihrer Hysterie irritiert den<br />

objektivierenden Blick ihres männlichen Partners und Arztes,<br />

führt ihn gewissermassen ad absurdum, indem sie sich objektiv<br />

vor allem dadurch charakterisieren lässt, dass sie vexierbildartig,<br />

irrlichtartig täuscht, lügt, manipuliert. Die notorische Lügenhaf-<br />

tigkeit der <strong>Frau</strong> ist in der Hysterie bis zum Unglaublichen<br />

verstärkt. Wenn die normale <strong>Frau</strong> mit Worten und Masken lügt,<br />

so lügt die Hysterika mit ihrem ganzen Körper: während die<br />

normale <strong>Frau</strong> sich der Lüge bedient, bedient sich in der Hysterie<br />

die Lüge der <strong>Frau</strong>. Irgendeine Einbildung oder Idee, woher auch<br />

immer stammend, kann sich in der Hysterie in greifbare Körper-<br />

lichkeit umsetzen.<br />

»Phantasiasis« solle man sie nennen, schlägt Schleich vor. »Es<br />

wäre überflüssig, nachzuweisen, wie die Verlogenheit zur Ge-<br />

wohnheit, ja [. . .] zu einer physiologischen Eigenthümlichkeit<br />

des Weibes geworden ist«, schreiben Lombroso (und sein<br />

Schwiegersohn), und tatsächlich kann er seitenweise Sprich-,<br />

Dichter- und Philosophenwörter zum Beleg der natürlichen<br />

Lügenhaftigkeit der <strong>Frau</strong> beibringen. Er unterstellt eine bewusste<br />

und eine instinktive Verlogenheit der <strong>Frau</strong>en: »Die Unwahrhaf-<br />

tigkeit ist so sehr ein organischer Bestandteil des weiblichen<br />

Charakters geworden, dass ein Weib niemals ganz aufrichtig sein<br />

kann.« Und die Hysterie, wird Weininger schreiben, ist nur »die<br />

organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes«.<br />

Überdies stellt er den Zusammenhang zwischen diesem Hang<br />

der <strong>Frau</strong> zur Lüge und ihrer notorischen Passivität, Empfäng-<br />

lichkeit, Suggestibilität und totalen Sexualität heraus. »Es ist die<br />

allgemeine Passivität der weiblichen Natur, welche die <strong>Frau</strong>en<br />

am Ende auch die männlichen Wertungen [. . .] acceptieren und<br />

übernehmen lässt. [. . .] Nichts hindert also, dass die männliche<br />

negative Wertung der Sexualität die positive weibliche vollstän-<br />

dig im Bewusstsein des Weibes überdecke.« So kommt es zu der<br />

115


verlogenen Anerkennung der Sittlichkeit durch die <strong>Frau</strong>, welche<br />

doch »universale Sexualität« verkörpert - »so tief sitzt die Lüge,<br />

die organische, [. . .] die ontologische Verlogenheit des<br />

Weibes«.<br />

Immer und immer wieder dient die weibliche Lüge letztlich der<br />

Verleugnung der Sexualität. »Als die Menstruation anfing, ein<br />

Gegenstand des Widerwillens für die Männer zu werden«,<br />

schreibt Lombroso, »musste das Weib sie zu verheimlichen<br />

suchen, und auch heute noch ist dies Verbergen eine der ersten<br />

Lügen, die man sie lehrt; man erzieht sie dazu, ihren Zustand<br />

unter Vortäuschung anderer Leiden zu verstecken. Mit anderen<br />

Worten heisst das, man zwingt sie dazu, jeden Monat zwei bis<br />

drei Tage fortgesetzt zu lügen, was eine periodische Übung in<br />

der Simulation bedeutet. Nichts ist während der Periode der<br />

Menstruation häufiger, als die mit Bosheit und Tücke verbunde-<br />

ne Lüge. [. . .] In dieser Zeit ist Jede Weib par excellence, die<br />

Reizung ihrer Genitalorgane erregt alle die Gefühle, die, vereint,<br />

die Liebe des Weibes bilden; unter anderem wird dann auch<br />

[. . .] der Hang zur Lüge« stärker. »Die Pflichten der Mutter-<br />

schaft«, fährt er fort, »sind ebenfalls ein Moment, das die <strong>Frau</strong><br />

zur Lüge zwingt, denn die ganze Kindererziehung besteht aus<br />

einer Reihe mehr oder weniger geschickter Lügen, die theils dazu<br />

bestimmt sind, die sexuellen Beziehungen [. . .] zu verhüllen,<br />

theils [. . .], das Kind [. . .] auf die Wege des Rechten zu<br />

lenken.«<br />

Weibliche Lügenhaftigkeit geht demnach auch fliessend in weib-<br />

liche Schamhaftigkeit und selbstverleugnende Keuschheit über.<br />

Und wie diese ermöglichte sie es der <strong>Frau</strong>, den paradoxen<br />

Anforderungen zu genügen, welche eine männlich dominierte<br />

Gesellschaft an sie stellte, namentlich der Aufgabe, alle im<br />

Zusammenhang mit Sexuellem auftauchenden Widersprüche zu<br />

lösen.<br />

Kein Wunder also, dass die »rätselvolle Sphinx« Hysterie zur<br />

Schrittmacherin neuer gedanklicher Ansätze in der Medizin<br />

wurde, Schrittmacherin psychologischer und soziologischer An-<br />

sätze zunächst. Denn medizinisch-biologisch war an sie offen-<br />

116


Oedipus im Begriffe,<br />

das Rätsel der Sphinx zu lösen<br />

sichtlich nicht heranzukommen. Gegen Ende des 19. Jahrhun-<br />

derts drang dann allmählich die Auffassung durch, dass die<br />

Lügenhaftigkeit der <strong>Frau</strong>en in sexuellen Dingen nicht so sehr<br />

oder doch nicht nur mit den Eigentümlichkeiten des weiblichen<br />

Nervensystems und der weiblichen Konstitution zusammen-<br />

hing. »Es ist wahr, dass das Weib von ihren Liebesgefühlen nichts<br />

verrathen darf«, schreibt Lombroso. »Wie vieles übrigens ver-<br />

bergen wir selber nicht vor <strong>Frau</strong>en und Kindern, besonders in<br />

bezug auf das Geschlechtsleben, worüber sie dann auf die eine<br />

oder andere Weise die Wahrheit erfahren! Wenn sie so sehen, wie<br />

um sie her beständig gelogen wird, dann gewöhnen sie sich<br />

schliesslich auch an die Lüge.« Das Weib »darf ihren Erotismus<br />

117


nur erraten lassen. Jede plumpe [. . .] Herausforderung ihrer-<br />

seits verfehlt ihren Zweck; sie pflegt Männer abzustossen«,<br />

schreibt Forel. »Sie darf aus ihrer passiven Rolle selbst dann nicht<br />

sichtbar heraustreten, wenn sie von der grössten erotischen<br />

Sehnsucht geplagt wird.«<br />

Dass die weibliche Hysterie in dieser Situation wurzelt, wurde<br />

allmählich klarer. Krafft-Ebing weiss von der Pflicht, die der<br />

<strong>Frau</strong> von der Gesellschaft bzw. eben vom Manne auferlegt ist,<br />

ihr Sexualleben geheimzuhalten, vor dem Mann und sogar vor<br />

sich selbst. Moriz Benedikt leitet 1894 »die Eigenkrankheit des<br />

Weibes - die Hysterie« direkt von den daraus entstehenden<br />

Spannungen her (vgl. S. 31).<br />

Auch für Sigmund Freud wird der verdrängte sexuelle Affekt die<br />

Ursache der Hysterie. Auf diese Weise wandelt sich das morali-<br />

sche Urteil über die Lügenhaftigkeit zur Theorie von der Ver-<br />

drängung und der Abwehr verbotener Impulse. Freud tat aber<br />

noch mehr: er holte die Sexualität aus dem Ghetto der wissen-<br />

schaftlichen Objektivität heraus, in das sie sogar die seinerzeitige<br />

Sexologie verbannt hatte. Freud hat die Lehre von der weiblichen<br />

Hysterie zur Neurosenlehre überhaupt erweitert; nun konnten<br />

auch normale heterosexuelle Männer an ihrer Sexualität leiden.<br />

Eugen Bleuler (1857-1939) würdigte diese Leistung der Psycho-<br />

analyse, als er schrieb, es sei aus der von Männern betriebenen<br />

Wissenschaft die Sexualität verdrängt worden, und dies habe<br />

einen Objektivitätsverlust mit sich gebracht. Die <strong>Frau</strong>enheilkun-<br />

de kenne zwar die Sexualität, aber nur bei <strong>Frau</strong>en. »Damit<br />

schützt sie sich sehr energisch vor der Verallgemeinerung, dass<br />

auch die eigene Hälfte der Menschheit mit einem Geschlechts-<br />

triebe behaftet sei. Die Neurologie und Psychiatrie anerkennt<br />

den Geschlechtstrieb f. . .] bei den ›Anderen‹, verbittet sich aber<br />

den Gedanken an die eigene. In diese weise Beschränkung hat<br />

Freud Unsicherheit zu bringen versucht; er [. . .] behauptet,<br />

jedermann, alt und jung, gesund und krank, Laie und Arzt leide<br />

an Geschlechtstrieb.«<br />

Mit diesem Konzept hat Freud eine wichtige Voraussetzung für<br />

die spätere Einsicht geschaffen, dass die »<strong>Krankheit</strong> weibliches<br />

118


Geschlecht« etwas mit der männlichen Sexualität zu tun haben<br />

könnte. Er selbst hat diesen Weg noch kaum beschritten. »Das<br />

Mädchen erlebt«, schreibt er noch 1938 in seinem »Abriss der<br />

Psychoanalyse«, »nach vergeblichem Versuch, es dem Knaben<br />

gleichzutun, die Erkenntnis ihres Penismangels oder besser ihrer<br />

Klitorisminderwertigkeit mit dauernden Folgen für die Charak-<br />

terentwicklung.« So bleibt Freud angesichts der »<strong>Krankheit</strong><br />

<strong>Frau</strong>« der objektive, mitleidig hilflose Helfer des 19. Jahrhun-<br />

derts, wiewohl er gewusst hat, dass das Rätsel der Sphinx nicht<br />

durch einen guten Diagnostiker, sondern durch Ödipus gelöst<br />

worden ist, der sich gerade im Zusammenhang mit dieser Lösung<br />

so tief in sein eigenes Schicksal verstrickt hat, dass er darob seinen<br />

klinischen Blick um seiner Introspektion willen verloren hat.<br />

Freud hat viele Rätsel gelöst, aber es lag ihm fern, die <strong>Krankheit</strong><br />

weibliches Geschlecht, die »Clitorisminderwertigkeit« bzw. den<br />

»Penismangel« als ein Symptom männlicher Sexualkonflikte zu<br />

sehen. James Hillman spricht in ähnlichem Zusammenhang<br />

(»Essay on Pan«) von einer Psychopathologie, die sich der<br />

Cartesischen Täuschung hingebe, dass ihre Arbeit und ihre<br />

Psychologie nichts miteinander zu tun hätten. Mithilfe der<br />

Subjekt-Objekt-Trennung könnten sich die Forscher, so<br />

schreibt er, »schützen, durch ihre Untersuchungen etwas über<br />

sich selbst und nicht nur über ihren Wissensstoff zu erfahren«.<br />

Man könnte sagen, Weininger in Wien sei in dieser Hinsicht<br />

weiter gegangen als Freud. Weininger nennt die <strong>Frau</strong>, das Weib<br />

»eine Funktion von M«, »eine Funktion, die er setzen, die er<br />

aufheben kann«, »sein Dasein ist an den Phallus geknüpft«. »Als<br />

der Mann sexuell ward, da schuf er das Weib«, schreibt er auch.<br />

»Denn das Weib ist nur die Schuld und nur durch die Schuld des<br />

Mannes. [. . .] Was die <strong>Frau</strong> [. . .] durch ihr blosses Dasein,<br />

durch ihr ganzes Wesen, ewig unbewusst auswirkt, das ist nur ein<br />

Hang im Manne, sein zweiter, unausrottbarer, sein niederer<br />

Hang.« »Er ist die Objektivation der männlichen Sexualität, die<br />

verkörperte Geschlechtlichkeit, seine Fleisch gewordene<br />

Schuld.« Weininger schliesst sich der Bisexualitätstheorie seiner<br />

Zeit an, der Mensch ist für ihn wesentlich doppelgeschlechtlich,<br />

119


»Mann« und »Weib« repräsentieren in diesem Sinne die abstrak-<br />

ten Prinzipien dieser Verbindung.<br />

Gewiss gehört dieses Konzept zum Hintergrund von Weiningers<br />

Idee, Weib sei eine Funktion des Mannes. Trotzdem ist dieser<br />

Satz nicht umkehrbar. Die <strong>Frau</strong> bleibt das Nicht-Ich, das zweite,<br />

das niedrige Prinzip, Schuld und <strong>Krankheit</strong>. »Das Weib [scheint]<br />

gleich unendlich wie der Mann«, schreibt er, »das Nichts [W] so<br />

ewig wie das Sein; aber diese Ewigkeit ist nur die Ewigkeit der<br />

Schuld« - »die Ewigkeit der <strong>Krankheit</strong>« hätte er als Arzt<br />

vielleicht gesagt. Denn wiewohl er über Sexualität spricht und<br />

einen sexuellen beziehungsweise weiblichen Anteil in sich selbst<br />

anerkennt, und wiewohl er realisiert, dass die Beziehung zwi-<br />

schen den Geschlechtern mit seiner inneren Situation zu tun hat,<br />

behält er doch die alte Assoziation von hohem Wert, Verstand/<br />

Geist und Ich bei. Ähnlich erkennt Schleich die Mann-<strong>Frau</strong>-<br />

Dichotomie als eine Widerspiegelung innerer Verhältnisse, ohne<br />

120<br />

Der Held ist im Begriffe, sich einer vom Feind gesendeten Attrappe zu<br />

entledigen: einer <strong>Frau</strong>, die sich im entscheidenden Augenblick in einen<br />

vernichtenden Polypen verwandelt hat.


indessen die traditionelle Ordnung in Frage zu stellen. Hysterie<br />

habe mit <strong>Frau</strong>en nichts zu tun, schreibt er 1920, sei keine<br />

Ungezogenheit junger und alternder Mädchen, sondern »eine<br />

Ausschweifung der Phantasie, ein Gewaltstreich derselben, ein<br />

Einbruch in die Fluren und Heimstätten friedlicher Zellager,<br />

[. . .] eine Orgie der Phantasie«. Und als Therapie empfiehlt er<br />

»systematische Übungen am Mechanismus der Phantasieor-<br />

gane«.<br />

Und heute? Die alten Muster sind vielfach umgewertet, hinter-<br />

fragt, reflektiert, kritisiert und sogar überholt worden. Dort<br />

freilich, wo ein Umdenken soziale, wirtschaftliche und politi-<br />

sche Interessen in Frage stellt, fasst es nicht so leicht Wurzeln,<br />

provoziert es sogar Verhärtungen, Vertiefungen, Verwissen-<br />

schaftlichungen und Zynifikation der alten gedanklichen Ge-<br />

wohnheiten. Viele fürchten daher heute nicht so sehr den<br />

Staatsstreich der Phantasie als vielmehr die Verkrebsung der<br />

ehemals geordneten und friedlichen Zellager unserer vom Be-<br />

reich des Emotionellen abgespaltenen Vernunft und Geistigkeit.<br />

Aber es gibt auch Hoffnung auf differenzierende Kontakte.<br />

Für Marie-Luise Könneker, 1982<br />

121


Wie männlich ist die Wissenschaft?<br />

Wie männlich ist die<br />

Wissenschaftlerin?<br />

So männlich jedenfalls, dass ich, als ich innerhalb der institutio-<br />

nalisierten Wissenschaft (welche ich hier vor allem unter »der«<br />

Wissenschaft verstehe) vom Status PD (Privatdozentin) zur<br />

Professur aufrückte, im Herzen unserer Gesellschaft, in den<br />

Computern nämlich, zum Manne wurde.<br />

Ab dato fand ich mich auf einem grossen Teil der Post, welche<br />

mir Wirtschaft, Industrie und sogar fernere Universitäten zu-<br />

sandten, als Herrn imaginiert. Amnesty International, eine<br />

Institution, die mich bis dahin als <strong>Frau</strong> notiert hatte, glaubte<br />

offenbar, sich bis dahin in meinem Geschlecht getäuscht zu<br />

haben. Meiner Gattin gedachten allerlei Banken und Unterneh-<br />

men, indem sie mich anregten, ihr mal Pelze oder Perlen zu<br />

schenken - wissend, dass Professorengattinnen bei der notori-<br />

schen Zerstreut- und anderer Abwesenheit ihrer Lebensgefähr-<br />

ten besonders trostbedürftig sind, Professoren aber mehr Geld<br />

als Zeit zur Verfügung haben. Ich konnte den Briefen, die an<br />

mich ergingen, auch entnehmen, dass ich für erheblich-verdie-<br />

nend, aber des Umgangs mit Geld wenig kundig gehalten wurde,<br />

denn es wurden mir oft die seltsamsten Anlagen und Beteiligun-<br />

gen, an Diamantenminen und Hochseeschiffahrtsgesellschaften,<br />

auch überseeisches Land angeboten.<br />

Umgekehrt wurde ich rasch zur <strong>Frau</strong>, als ich die Universität -<br />

grundlos, wie es manchen schien - verliess. »Nur eine <strong>Frau</strong> kann<br />

sich sowas leisten!« rief wütend ein an sich befreundeter Insti-<br />

tutsdirektor aus, der mich bis dahin liebenswürdig und väterlich<br />

gefördert hatte. So ist das wohl tatsächlich. Er hat mit Blick auf<br />

mein feministisches Engagement auch gesagt, ich würde damit<br />

den <strong>Frau</strong>en keinen Dienst tun, man sehe nun nur einmal mehr,<br />

dass <strong>Frau</strong>en unberechenbar seien und das Zeug einfach hin-<br />

145


schmissen, wenn es ihnen nicht mehr passe. Aber das ist mir nun<br />

ja wirklich kein Anliegen, dass auch die <strong>Frau</strong>en noch berechenbar<br />

werden. Es war nicht Gelegenheit, mit diesem Kollegen ausführ-<br />

licher zu reden. Er war zur Zeit dieses Gesprächs so sehr in einer<br />

neuen Stufe universitären bzw. wissenschaftspolitischen Auf-<br />

stiegs begriffen, dass mir eine Bildsequenz von Wilhelm Busch<br />

einfällt, wo ein Räuber nachts in eine Mühle eindringen wollte,<br />

ihn aber deren Mahlwerk so am Rockzipfel erwischte, dass er<br />

papierartig auf eine Walze aufgerollt wurde. Einem ausführli-<br />

chen Dialog stand vielleicht auch entgegen, dass mein Austritt aus<br />

der Universität ja doch meine akademische Gesprächswürdig-<br />

keit, meinen akademischen Anlagewert gewissermassen, herab-<br />

setzte. Tatsächlich trug meine Rückverwandlung in eine <strong>Frau</strong><br />

durch Rücktritt unverkennbare Züge einer Degradierung, ja<br />

eines Falles. Nachdem eine Zeitung im Rahmen einer Serie »Aus-<br />

und Umsteiger« einiges veröffentlicht hatte, was meinen Schritt<br />

etwas beleuchtete, hat mein Doktor- und Habilitationsvater<br />

mich schmerzlicherweise wissen lassen, dass er nicht mehr mit<br />

mir verkehren wolle. »Du hast die Schande öffentlich gemacht«,<br />

kommentierte eine Kennerin der Geschichte der Schwanger-<br />

schaft im 19. Jahrhundert.<br />

Ein Berufskollege hat auf jenen Artikel im Namen des »einfachen<br />

Bürgers« einen Leserbrief verfasst, der es deutlich macht, dass ich<br />

einen Rückschritt in die Weiblichkeit getan hatte. »Kann und<br />

darf denn ein Professor, eines blossen Unbehagens wegen, seine<br />

... wissenschaftlichen Vereine so mir nichts dir nichts im Stiche<br />

lassen? Gibt es an der Universität keine bindenden moralischen<br />

Pflichten . . .?« Und etwas später: »Ein fettes ›Ruhegehalt‹ wird<br />

der Ex-Professorin nach ihrer Fahnenflucht. . . kaum winken.«<br />

Als Akademiesoldat also wäre ich Mann, als Ex (da täuscht er<br />

sich übrigens, der Titel bleibt mir erhalten) macht er mich zum<br />

Weibe.<br />

Wie weit aber habe ich mich durch meinen Rücktritt auch für<br />

mein eigenes Gefühl von männlichen Stereotypen befreit? Wie<br />

weit habe ich selbst von der Männlichkeit meines Amts Ge-<br />

brauch gemacht, wie weit als etablierte Wissenschaftlerin meine<br />

146


männlichen Anteile gelebt? Wobei ich gleich sagen möchte, dass<br />

ich die Worte »männlich« und »weiblich« überhaupt nur histo-<br />

risch, soziologisch und linguistisch verstehen und gebrauchen<br />

kann. Unsere Rollenteilung und Geschlechtsstereotypisierung<br />

ist ja so etwas wie ein Kernverhängnis mit der Folge, dass beide,<br />

Männer und <strong>Frau</strong>en, halbiert herumlaufen. Ich meine auch, dass<br />

die Dominanz, welche dem Merkmal Geschlecht unter allen<br />

möglichen Merkmalen, gewöhnlich unreflektiert, zuerkannt<br />

wird - im Deutschen auch die armen Bäume, Wolken und Steine<br />

beherrschend - mindestens hinterfragt werden muss. Für manche<br />

Indianersprachen z. B. sind Unterscheidungen zwischen »leb-<br />

los« und »lebend« oder »von Menschen nicht berührt« und »von<br />

Menschen berührt« konstituierender als »männlich« und »weib-<br />

lich«.<br />

Wie weit also habe auch ich mir als <strong>Frau</strong> der Wissenschaft deren<br />

herkömmliche Männlichkeit angezogen, wie weit meine männli-<br />

chen Traditionen in meine Wissenschaftlichkeit gekleidet? An-<br />

gezogen: ja natürlich, zunächst den Status, welchen beharrliche<br />

wissenschaftliche Tätigkeit mit sich bringt. So etwas wie Achsel-<br />

polster und Verdienstorden, unsichtbar natürlich, da Wissen-<br />

schaftler mit ihrem Rang nicht protzen und solches einer <strong>Frau</strong><br />

vollends schlecht anstünde, trotzdem spürbar im Reflex des mir<br />

begegnenden Verhaltens. Noch jetzt panzere ich mich zuweilen<br />

mit dem Titel, wenn ich mich mit blossem Namen nicht in den<br />

Kampf getraue.<br />

Auch das Geld machte mich in gewisser Hinsicht zum Manne,<br />

Geld als historisch gewordenes Samenäquivalent, weithin sicht-<br />

barer Ausfluss sozialer Potenz. Lange Zeit war ich es, die das<br />

regelmässige und hauptsächliche Familieneinkommen nach Hau-<br />

se brachte. Dabei ist mir auch der und jener typische Männer-<br />

frust begegnet, so wie: Ich arbeite den ganzen Tag, und wenn ich<br />

nach Hause komme, ist noch nicht mal das Essen fertig; oder: Ich<br />

verdiene sauer, und die geben es lustig aus. Und in Restaurants<br />

habe nicht selten ich bezahlt.<br />

Aber das sind ja noch wenig wissenschaftsspezifische und eigent-<br />

lich nie so ganz meine Sachen gewesen.<br />

147


Schon mehr identifiziert habe ich mich mit dem männlich-<br />

wissenschaftlichen Stereotyp der Zerstreutheit. Von diesem habe<br />

ich oft und in den verschiedensten Lebenslagen Gebrauch ge-<br />

macht.<br />

Im Institut, wenn ich mal wieder die Pein hatte, meinen Mitar-<br />

beiterinnen irgendwelche Arbeit anzuhängen, die ich aber doch<br />

nicht selber machen wollte; in Gesellschaften, wenn mir zu eng<br />

wurde, und im Angesicht von Beamten zur Entschuldigung<br />

meiner allgemeinen Defizienz. Dieser Flor der Wissenschaftlich-<br />

keit fehlt mir denn auch heute sehr. Es beweist nun nicht mehr<br />

meine Gelehrtheit, wenn ich Milch überlaufen und Eingekauftes<br />

im Laden liegenlasse, allzu vieles vergesse und im Leben über-<br />

haupt versage, sondern nur meine weibliche Konzentrations-<br />

schwäche und fortschreitende Hausfrauenverblödung.<br />

Ich habe auch Eigenes traditionell männlich gestaltet und zwei-<br />

fellos wurde ich dadurch für den Aufstieg im Wissenschaftsbe-<br />

trieb geeignet.<br />

Als dritte Tochter meiner Eltern in Kriegszeiten geboren, hätte<br />

natürlich auch ich ein Junge sein sollen, und habe mich also<br />

bemüht, diesem Wunsche zu genügen. Zudem fand ich, indem<br />

ich mich weniger für Nähen, Frisuren und Stricken und mehr für<br />

Klettern, Handwerk, Schiessen und Wissen aller Art interessier-<br />

te, eine soziale Nische, die meine beiden Schwestern noch nicht<br />

mit grösserer Kompetenz besetzt hielten. Meine wissenschaftli-<br />

che Tätigkeit begann zuoberst auf unserem gestuften Kachel-<br />

ofen, wo sich eine stuhl-und-schreibtischartige Formation be-<br />

fand. Dort zeichnete ich, da ich noch nicht schreiben konnte,<br />

tagelang alles, was ich kannte, auf rund ausgeschnittene bunte<br />

Papierchen, um es als mein Universum in meinem Zimmer<br />

aufzustapeln. So wuchs ich eigentlich zufrieden auf. Mit den<br />

Jahren allerdings zeigte es sich auch an mir, dass ich als Mädchen<br />

doch die meisten von meinen Fertigkeiten und Interessen nicht<br />

weiter pflegen konnte. Das Schiessen verbot mir meine Mutter,<br />

sobald sie davon erfuhr, vom Leben auf den Bäumen wendete ich<br />

mich im späteren Gymnasium von selbst ab, als Schreinerin blieb<br />

ich Autodidaktin und musste stricken, während Buben aus<br />

148


unserer Klasse Hobeln und Schraubenversenken lernten. Die<br />

Liebe zum Lernen und Wissen hat am besten überlebt, unter<br />

meinen Interessen erschienen die intellektuellen am gesell-<br />

schaftsfähigsten und am wenigsten einer Abweichung verdäch-<br />

tig. Als meinen Eltern in meinem 13. Jahr endlich doch noch ein<br />

Stammhalter geboren wurde, war dadurch meine Position in der<br />

Familie empfindlich geschwächt. Da habe ich meine Vergeisti-<br />

gung vehement vorangetrieben und meine Abneigung gegen<br />

traditionell-weibliche Beschäftigungen verstärkt. Ich wollte<br />

wohl sicherstellen, dass man mich auch künftig akzeptiere wie<br />

bisher, zudem half mir abstrahierendes Denken, mich von<br />

meinem Gefühl der Entthronten zu distanzieren, ja mich über<br />

dieses hinauszuschwingen. Ich glaube, es war in jener Zeit, dass<br />

meine Intellektualität sinnenabgewandt und etwas überheblich<br />

wurde - sie sollte ja Schmerzen abwehren.<br />

Als sich später Fragen der Berufswahl und der beruflichen<br />

Identität stellten, habe ich mich natürlich viel mehr an meinem<br />

juristischen Vater, zwei Medizineronkeln und dem Vater meiner<br />

Primarschulfreundin, der Zoologieprofessor war, orientiert als<br />

an meiner Mutter, welche ihr Germanistikstudium abgebrochen<br />

hat, um Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Wie weit ich<br />

fortgeführt habe, was sie angefangen hat, ist eine andere Frage.<br />

Auch durch Lektüre fühlte ich mich »Männern, die den Tod<br />

besiegten« und »Grossen Ärzten« damals näher als etwa Eve<br />

Curies »Madame Curie«, von der ich viele Jahre lang nur den<br />

Buchrücken kannte.<br />

Lange sollten kurzes Haar und lange Hosen (Möbius: »Langes<br />

Haar, kurzer Verstand«) meine Loyalität und meinen Wunsch<br />

bekunden, in der männlich-wissenschaftlichen Berufswelt mit-<br />

zuspielen.<br />

Und wirklich gefiel mir diese Welt auch: die Pflicht und Freiheit<br />

nachzudenken, die angebotenen Werkstätten und Werkzeuge,<br />

der konzentrierte und begrenzte, abstrahierende und dabei<br />

spielerische Umgang mit Fragen, die mich angingen und interes-<br />

sierten. So stieg ich schliesslich in eine akademische Karriere ein.<br />

Die Grenzen, welche akademischer Freiheit gesetzt sind, waren<br />

149


so ungefähr meine eigenen, so dass sie mir eher Schutz als Enge<br />

bedeuteten. Wenn ich etwa an der Medizingeschichte der weibli-<br />

chen Minderwertigkeit arbeitete, war ich ganz froh um die vier<br />

Wände meines Büros und um die akademische Pflicht, von<br />

meiner eigenen Person abzusehen. Haben Männer die Schwäche<br />

und Verletzlichkeit, die sie an sich selbst nicht akzeptieren<br />

konnten, lange als »<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>« auf das »Andere Ge-<br />

schlecht« projiziert und abgeschoben, so habe ich meine<br />

»<strong>Krankheit</strong> <strong>Frau</strong>« mindestens als Geschichts-Wissenschaftlerin<br />

ins Reich der Vergangenheit verbannt und ihre aktuellen Er-<br />

scheinungen methodisch zu Resten der Prähistorie verarbeitet.<br />

Ein Glück, dass die Universität die kaltfedrige, objektivierende<br />

Distanznahme honoriert; mit-leidender hätte ich es einfach nicht<br />

geschafft. Dass ich dabei eigene Schwäche und Empfindlichkeit<br />

auf traditionell-männliche Weise abgespalten und anästhesiert<br />

habe, war wohl der Preis, in der gegebenen Situation aber auch<br />

die Voraussetzung für meine Forschungen.<br />

Was aber zunächst geschützter Freiraum gewesen war, wurde<br />

mir allmählich eng und bedrohlich. Einmal von aussen - Sitzun-<br />

gen nahmen zu, das Sitzen wurde mir überhaupt zu viel,<br />

Mitgliedschaften nisteten sich ein, einige Repräsentationspflich-<br />

ten waren schlichtweg unvermeidlich, das Institut wuchs, ob-<br />

wohl ich es bewusst klein hielt. Ferner die widersprüchlichen<br />

Anforderungen - der doublebind des Systems -: kreativ und<br />

doch berechenbar, offen und doch innerhalb bestimmter Gren-<br />

zen und so weiter; und dann zusätzlich, falls mann <strong>Frau</strong> ist: die<br />

Erwartungsschere, welche verlangt, dass frau ihren Mann stehe<br />

und dabei doch »ganz-<strong>Frau</strong>-bleibe«. Zudem wollen und können<br />

<strong>Frau</strong>en im allgemeinen von den vom System offerierten Kom-<br />

pensationen für das, was ihnen zugemutet wird, weniger Ge-<br />

brauch machen als Männer. Mir ging es jedenfalls so. Das<br />

kritische Mehr an Zumutungen, was mir als <strong>Frau</strong> begegnete, und<br />

das Weniger an konventionellen Kompensationen haben bei mir<br />

den Leidensdruck auf einen Punkt bringen helfen, wo Änderun-<br />

gen möglich werden. Irgendwann wird die Angst, zum Opfer<br />

aller angebotenen Sicherheiten zu werden, grösser als die Angst,<br />

150


seine Pensionsberechtigung zu verlieren. Zudem gibt es eine<br />

weibliche Tradition der Veränderung.<br />

Eng wurde mir aber auch in der Enge der universitär-wissen-<br />

schaftlichen Rationalität, die ich gerade bei der Arbeit an <strong>Frau</strong>en/<br />

Männer-Themen und gerade dort, wo es zentral wird, als nicht<br />

hinreichend erlebt habe. So wollte ich zum Beispiel dem offen-<br />

sichtlichen Zusammenhang zwischen der Pathologisierung der<br />

<strong>Frau</strong> und der Beziehung von deren männlichen Autoren zur<br />

eigenen Körperlichkeit, Emotionalität und Sexualität nachge-<br />

hen. Gerade da haben aber die geläufigen historiographischen<br />

Methoden weitgehend versagt. Weil halt gerade der objektivisti-<br />

sche Gedanke, <strong>Frau</strong>sein sei überhaupt ein krankheitsartiger<br />

Zustand, der Verdunkelung dieses Zusammenhangs sowohl<br />

seine Entstehung verdankt als auch ihr dient. Auf der Bielefelder<br />

Tagung »Wie männlich ist die Wissenschaft?« haben viele Wis-<br />

senschaftlerinnen ihrerseits berichtet: dass es kaum möglich sei,<br />

mit den Methoden ihrer jeweiligen Wissenschaft die männliche<br />

Prägung derselben nachzuweisen. <strong>Frau</strong> müsse da zu anderen<br />

Gesichtspunkten und Denkweisen greifen. Wobei es den Geruch<br />

der Unwissenschaftlichkeit, wie er etwa der Psychoanalyse oder<br />

gar der Selbsterfahrung anhaftet, sorgsam zu vermeiden galt.<br />

(Für den bei Suhrkamp erschienenen gleichnamigen Sammel-<br />

band, hrsg. v. Karin Hausen und Helga Nowotny, ist dieser<br />

Beitrag ursprünglich geschrieben, dann aber - gerade aus sol-<br />

cherlei Gründen - nicht aufgenommen worden.) Wenn Männ-<br />

lichkeit mit konfliktausschliessender Logik, emotionsfreier Ra-<br />

tionalität und Willensbestimmtheit zu tun hat, sind die Wissen-<br />

schaften, von denen hier die Rede ist, jedenfalls so männlich, dass<br />

sie den Blick auf die psychischen Hintergründe ihrer Entstehung<br />

weitgehend verstellen oder als unwissenschaftlich abtun. Psy-<br />

chotherapeutisch gesagt: sie dienen dem Widerstand gegen die<br />

Einsicht ins eigene Unterbewusste effizienter als die meisten von<br />

<strong>Frau</strong>en gepflegten Widerstandsformen - zudem sind sie gesell-<br />

schaftlich angesehener und ausgezeichnet honoriert. Und da sie<br />

vorwiegend von Männern betrieben werden, verbergen sie vor-<br />

wiegend die Schattenbereiche männlicher Bewusstheit, wozu ja<br />

151


speziell das sogenannte »Weibliche«, das denn auch immer<br />

wieder mit dem »Unterbewussten« assoziiert wird, gehört. Dar-<br />

um können gerade die hervorragendsten militärischen Ergebnis-<br />

se unserer Forschung so schamlos phallisch aussehen - sie<br />

glauben ihre Form ausschliesslich aerodynamischen und techni-<br />

schen Notwendigkeiten zu verdanken - und darum sind sie so<br />

grundsätzlich destruktiv. Dank dieser Unbewusstheit kann<br />

männliche Wissenschaftlichkeit soviel Leiden, Schwäche, Pro-<br />

blematik, damit aber auch soviel Lebendiges, auf andere, <strong>Frau</strong>en<br />

zum Beispiel, oder Patientinnen, andere Kulturen, Bäume,<br />

Tiere, Kinder projizieren und abschieben.<br />

Das ist wohl die härteste Grenze der institutionalisierten Wissen-<br />

schaft: diejenige zu den tieferen, vom Persönlichen nicht loslös-<br />

baren Schichten. Überschreitungen dieser Grenze werden denn<br />

auch als schwere Tabubrüche mit Ausstossung geahndet. Von der<br />

Aufrechterhaltung dieser auf Abspaltung beruhenden Grenze<br />

hängt die Macht unserer Wissenschaften ab - Macht: die vom<br />

Persönlichen abgehobene, trotzdem durch einzelne handhabba-<br />

re Verfügungsgewalt über andere. Ist aber Wissen Macht, vor<br />

allem: muss es Macht sein? Darf es? Welche Bereiche suchen<br />

manche durch Macht zu erschliessen, vergeblich natürlich, da<br />

doch Macht immer nur noch mehr Macht - und Ohnmacht -<br />

schafft?<br />

Es gibt wohl manche, die - mit Jandl zu sprechen - Missen wit<br />

Wacht vermechseln.<br />

1985<br />

152


Herkunft der Illustrationen<br />

S. 99 Ausschnitte aus der Abbildung in der Ausgabe von 1979, S. 43.<br />

S. 102 »Jugend«-Postkarte von Ferdinand Freiherr von Reznicek (1868-1909).<br />

S. 108 Kahn, Fritz: Das Leben des Menschen. Eine volkstümliche Anatomie,<br />

Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen, Bd. 5.<br />

Stuttgart: Kosmos Gesellschaft der Naturfreunde 1931.<br />

S. 117 Signet der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse.<br />

S. 120 Moebius: L’homme est-it bon? Paris: Les Humanoïdes Associés 1977.

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