DING UND EVIDENZ: DER VERSTANDESBEGRIFF UND DIE ...
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Dritter Abschnitt<br />
<strong>DING</strong> <strong>UND</strong> <strong>EVIDENZ</strong>:<br />
<strong>DER</strong> <strong>VERSTANDESBEGRIFF</strong> <strong>UND</strong> <strong>DIE</strong> SCHEMATEN<br />
<strong>DER</strong> EINBILDUNGSKRAFT IM ÜBERGANG VON<br />
METAPHYSISCHER ZU TRANSZENDENTALER<br />
DEDUKTION
— 270 —
— 271 —<br />
1. Anschauung, Vorstellung, Begriff<br />
§ 1 Die synthetischen Urteile a priori in der Geometrie<br />
Die Figuren der Geometrie sind zweifellos Vorstellungen, die mögliche<br />
Anschauung beinhalten, zugleich ist ihre Subsumierbarkeit unter genau<br />
bekannten Regeln unbestritten; so sind die Figuren der Geometrie ein<br />
ausgezeichneter Ausgangspunkt, die Untersuchung einer Vorstellung<br />
überhaupt in Beziehung auf den Verstand zu beginnen. Im Obersten<br />
Grundsatz aller synthetischen Urteile findet sich nun eine Überlegung, aus<br />
der nicht nur die Vorausgesetztheit des Raumes, sondern noch die der<br />
dynamischen Kategorien als die Bedingung aller Erfahrung und objektiver<br />
Gültigkeit zu entwickeln ist. Das Zitat beginnt mit der allgemeinsten<br />
Bedingung für Erfahrung oder, was gleichbedeutend ist, für alle<br />
synthetischen Urteile:<br />
»Die Erfahrung hat also Prinzipien ihrer Form a priori zum Grunde liegen,<br />
nämlich allgemeine Regeln der Einheit in der Synthesis der Erscheinungen,<br />
deren objektive Realität, als notwendige Bedingungen, jederzeit in der<br />
Erfahrung, ja so gar ihrer Möglichkeit erwiesen werden kann. Außer dieser<br />
Beziehung aber sind synthetische Sätze a priori gänzlich unmöglich, weil<br />
sie kein Drittes, nämlich reinen Gegenstand haben, an dem die<br />
synthetische Einheit ihrer Begriffe objektive Realität dartun könnte.« 1<br />
Die Hervorhebung stammt von mir, sie soll darauf hinweisen, daß in AA<br />
III, 2 welche die Lesarten der fünf Originalausgaben von Hartknoch angibt,<br />
an der Stelle von reinen von Kant auch keinen (Gegenstand) verwendet<br />
wird. Man wird nicht fehl gehen, wenn man sich zunächst daran hält, Kant<br />
wollte eigentlich sagen: Außer der Bedingung der Möglichkeit von<br />
Erfahrung seien synthetische Sätze a priori unmöglich, weil sie keinen<br />
Gegenstand haben, an dem die synthetische Einheit ihrer Begriffe objektive<br />
Realität dartun könnte. Weshalb schließlich vorgezogen wurde, den<br />
Ausdruck vom »reinen« Gegenstand zu verwenden, und inwieweit dies<br />
noch von Kant selbst so entschieden wurde, entzieht sich meiner Kenntnis,<br />
doch ist offensichtlich damit ein Problem angesprochen, mit dem die<br />
1 K.r.V., B 195/A 156<br />
2 Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen<br />
Akademie der Wissenschaften Band III. Erste Abteilung: Werke Dritter Band, Berlin<br />
1911
— 272 —<br />
Möglichkeit von Kategorien a priori steht und fällt: Wie kann ich mich der<br />
Gewißheit der Geltung der Kategorien versichern, wenn ich offensichtlich<br />
keine Möglichkeit eines Vergleiches ihrer Anwendung auf einen<br />
unzweifelhaft in seinem Sosein gegebenen Gegenstand besitze, von<br />
welchem ich ausgehen kann? Eben die damit verbundenen Fragen<br />
bestimmen auch den Gang der vorliegenden Untersuchung. So ist schon<br />
der Überlegung Kants bei aller Schwierigkeit nicht zu widersprechen, daß<br />
auch in der Geometrie von Erkenntnis nicht ohne empirische Erfahrung<br />
die Rede sein kann. Objektive Geltung der Geometrie scheint demnach an<br />
die Bedingung der selben Möglichkeit wie Erfahrung überhaupt gebunden<br />
zu sein, welche die Möglichkeit, den Begriffen Gegenstände objektiver<br />
Realität zu geben, ist. Das bedeutet nun nichts anderes, als die objektive<br />
Geltung der Geometrie vom Ursprung der Begriffe der Substanz und<br />
Ursache abhängig zu machen. Gleich im Anschluß an das obige Zitat wird<br />
der Raum, eben nicht als Gegenstand der Geometrie, dem Stoff äußerer<br />
Erfahrung vorausgesetzt:<br />
»Ob wir daher gleich vom Raume überhaupt, oder den Gestalten, welche<br />
die produktive Einbildungskraft im ihm verzeichnet, so vieles a priori in<br />
synthetischen Urteilen erkennen, so, daß wir wirklich hierzu gar keiner<br />
Erfahrung bedürfen; so würde doch dieses Erkenntnis gar nichts, sondern<br />
die Beschäftigung mit einem bloßen Hirngespinst sein, wäre der Raum<br />
nicht als Bedingung der Erscheinungen, welche den Stoff zur äußeren<br />
Erfahrung ausmachen, anzusehen: daher sich jene reinen synthetischen<br />
Urteile, obzwar nur mittelbar, auf mögliche Erfahrung, oder vielmehr auf<br />
dieser Möglichkeit selbst beziehen, und darauf allein die objektive<br />
Gültigkeit ihrer Synthesis gründen.« 3<br />
Im letzten Satz unterscheidet Kant die mögliche Erfahrung von deren<br />
Möglichkeit selbst; die reinen synthetischen Urteile können sich auf beide<br />
beziehen. Nun ist genau auf die Bedeutung der verwendeten Begriffe zu<br />
achten: In den ersten Erklärungen zum synthetischen Urteil a priori (so<br />
etwa in der Dritten metaphysischen Erörterung des Raumes in der<br />
transzendentalen Ästhetik) 4 demonstriert Kant das synthetische Urteil a<br />
priori nicht anhand des Überganges vom philosophischen Begriff 5 einer<br />
3 B 196/A 157<br />
4 § 2, B 39/A 25. Von den Gegenden im Raume, Prolegomena, § 13.<br />
5 Vgl. Kants Unterscheidung in der Methodenlehre von Philosophie (exponieren) und<br />
Mathematik (definieren).
— 273 —<br />
geometrischen Figur zum geometrischen Urteil in der Darstellung der<br />
inneren Verhältnisse ihres Konstruktionsbegriffs in der Konstruktion,<br />
sondern im Übergang von demselben zu seinen Folgen in der reinen<br />
Anschauung. Daß im zweiten gegebenen Zitat nicht gleich die<br />
transzendentalen Sätze der Geometrie 6 oder das synthetische Urteil a<br />
priori, das aus der reinen Anschauung erschlossen wird, aber eben auch<br />
nicht die Synthesis der formalen Anschauung in der transzendentalen<br />
Apprehension, sondern eben die »reinen synthetischen Urteile« auf die<br />
Demonstration einfacher geometrischer Sätze in der Konstruktion zu<br />
beziehen sein sollten, kann nun ohne weiteres begründet werden. Dazu ist<br />
nur zu klären, worauf Kant mit der Unterscheidung in mögliche Erfahrung<br />
und deren Möglichkeit selbst eigentlich hinweisen wollte. Meines<br />
Erachtens ist der Ausdruck »mögliche Erfahrung« nichts anderes als eine<br />
Bezeichnung für die reine Anschauung, die darauf verweist, daß, wie Kant<br />
im Zitat einen Satz zuvor schreibt, wir für die (geometrischen)<br />
synthetischen Urteile a priori selbst zwar keinerlei empirische Erfahrung<br />
benötigen, aber ohne äußere Erfahrung diese Erkenntnis nur die<br />
Beschäftigung mit Hirngespinsten sei. 7 Dahinter steht die Überzeugung<br />
Kants, daß die, die Erscheinungen konstituierenden Kategorien mit den<br />
»mathematischen« Kategorien völlig zur Deckung zu bringen sind; das ist<br />
für Kant gleichbedeutend damit, daß alle Anschauung unter den Gesetzen<br />
euklidischer Geometrie stehen sollten. Insofern ist die reine Anschauung<br />
geometrischer Verhältnisse ganz korrekt als »mögliche Anschauung« zu<br />
bezeichnen.<br />
Diese Bezeichnung spricht nun deutlich für die Auffassung, unter dem<br />
Ausdruck »reine synthetische Urteile« seien eben bereits die<br />
geometrischen Sätze der Konstruktion und nicht eigens transzendentale<br />
6 »Es gibt aber reine Grundsätze a priori, die ich gleichwohl doch nicht dem reinen<br />
Verstande eigentümlich beimessen möchte, darum, weil sie nicht aus reinen<br />
Begriffen, sondern aus reinen Anschauungen (obgleich vermittelst des Verstandes)<br />
gezogen sind; Verstand ist aber das Vermögen der Begriffe. Die Mathematik hat<br />
dergleichen, aber ihre Anwendung auf Erfahrung, mithin ihre objektive Gültigkeit, ja<br />
die Möglichkeit solcher synthetischer Erkenntnis a priori (die Deduktion derselben)<br />
beruht doch immer auf dem reinen Verstande.<br />
Daher werde ich unter meine Grundsätze die der Mathematik nicht mitzählen, aber<br />
wohl diejenigen, worauf sich dieser ihre Möglichkeit und objektive Möglichkeit a<br />
priori gründet, und die mithin als Principium dieser Grundsätze anzusehen sind,<br />
und von Begriffen zur Anschauung, nicht aber von der Anschauung zu Begriffen<br />
gehen.« (A 159 f./B 198 f.).<br />
7 Wie im § 22 (B 147) der transzendentalen Deduktion ausgeführt, vgl. auch B 196<br />
(Anmk.1)
— 274 —<br />
Sätze oder etwa analytische Sätze aus philosophischen Begriffen der<br />
Geometrie oder gar das synthetische Urteil a priori in der Geometrie zu<br />
verstehen, wie sie Kant ansonsten anführt. 8 Kant sagt nunmehr, daß sich<br />
die reinen synthetischen Urteile auf die mögliche Erfahrung, oder vielmehr<br />
auf diese Möglichkeit selbst, beziehen. Was ist nun unter der »Möglichkeit<br />
selbst« zu verstehen? Die »reinen synthetischen Urteile« können es nach<br />
der obigen Erörterung nach nicht sein, zumal auch diese »Möglichkeit<br />
selbst« es erst sein soll, was die objektive Gültigkeit ihrer Synthesis qua<br />
objektiver Realität begründet. Es handelt sich also um einen Begriff von<br />
Möglichkeit, der weder bloß auf die Möglichkeit der geometrischen<br />
Synthesis als Konstruktion zu beziehen ist noch einfach die Möglichkeit<br />
der reinen Anschauung, Teil der Erfahrung zu werden, bedeuten kann,<br />
sondern eben erst deren »Möglichkeit selbst« ist: Entweder der<br />
metaphysisch vorauszusetzende Raum, also nicht bloß als<br />
Anschauungsform, sondern als der, der erst die Bedingung der Materie<br />
der Erscheinungen ist; oder aber der Raum als Form der transzendentalen<br />
Ästhetik, in welcher allein sinnliche Erscheinungen gegeben werden<br />
können.<br />
Diese Unterscheidung in »mögliche Erfahrung« und die »Möglichkeit<br />
selbst« (aus B 196/A 157) ist schon in der transzendentalen Ästhetik (§ 3)<br />
Gegenstand einer näheren Erörterung des Verhältnisses eines Prinzips (die<br />
Möglichkeit selbst) und dessen Anwendung geworden: »Ich verstehe unter<br />
einer transzendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffes, als eines<br />
Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischen Erkenntnisse a<br />
priori eingesehen werden kann.« 9 Die Erklärung eines Prinzips, woraus<br />
»die Möglichkeit anderer synthetischen Erkenntnisse a priori eingesehen<br />
werden kann«, hat nun eine Schwäche in der Formulierung aufzuweisen:<br />
es wird nicht klar, ob die »Möglichkeit anderer synthetischen<br />
Erkenntnisse« a priori eingesehen werden kann, oder ob die »Möglichkeit<br />
anderer synthetischen Erkenntnisse a priori« eingesehen werden kann.<br />
Diese Frage vermag nicht einfach entschieden werden, indem entweder<br />
die transzendentale Erörterung ein Prinzip zum Gegenstand hat, das die<br />
Möglichkeit synthetischer Urteile einsehen läßt, und zwar a priori, oder ein<br />
Prinzip zum Gegenstand hat, das die Möglichkeit synthetischer Urteile a<br />
8 Vergl. Prolegomena, § 13 oder die dritte metaphys. Erörterung des Raumes: Daß die<br />
zwei Katheten in einem Dreieck größer sind als die Hypotenuse ist ein synthetischer<br />
Satz, daß nur aus der Anschauung gewonnen werden kann.<br />
9 B 40
— 275 —<br />
priori einsehen läßt, dies ebenfalls a priori. Man sieht leicht, daß beides<br />
eine transzendentale Erörterung sein kann. — Im Kapitel »Von der<br />
transzendentalen Logik« ist zu lesen, »daß nicht jede Erkenntnis a priori,<br />
sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse<br />
Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt<br />
werden, oder möglich seien, transzendental (d. i. die Möglichkeit der<br />
Erkenntnis oder Gebrauch derselben a priori) heißen müsse.« 10<br />
Das ist deutlich als weitere Einschränkung zu verstehen und kann diese<br />
Stelle nicht mit der vorhergehenden einfach identifiziert werden. Die<br />
transzendentale Erörterung von Prinzipien, die die Möglichkeit anderer<br />
synthetischer Erkenntnisse a priori oder deren Verwendung a priori<br />
einsehen lassen kann, ist nun die Erörterung sowohl von Erkenntnissen a<br />
priori wie von transzendentalen Erkenntnissen a priori. Nach dieser<br />
Einteilung wäre auch die analytische Erörterung der Bedingung der<br />
Möglichkeit eine transzendentale Untersuchung. Zuvor (B 40) war das<br />
Kennzeichen der Transzendentalität der Erörterung aber noch die<br />
Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse (a priori). Hier (B 80) wird<br />
zwar präzisiert, daß nur jene Erkenntnisse transzendental heißen,<br />
»dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen<br />
(Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder<br />
möglich seien«, es geht aber nicht mit letzter Klarheit daraus hervor, ob<br />
schon die »gewissen Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe)«<br />
synthetische Erkenntnisse genannt werden können, oder erst ihre<br />
Anwendung; schließlich aber doch dann wieder die Möglichkeit der<br />
»gewissen Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe)« als Prinzip selbst.<br />
Hier sticht die Abwandlung zur Anwendung als Grund von Synthesis zu<br />
sprechen hervor.<br />
»Daher ist weder der Raum, noch irgend eine geometrische Bestimmung<br />
derselben a priori eine transzendentale Vorstellung, sondern nur die<br />
Erkenntnis, daß diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs<br />
seien [nicht auf die gleiche Weise empirisch wie die damit gemachten<br />
Erfahrungen]; und die Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf<br />
Gegenstände der Erfahrung beziehen könne, kann transzendental<br />
heißen.« 11<br />
10 B 80 f./A 56<br />
11 B 80 f./A 56
— 276 —<br />
Das bestätigt die vorangegangenen Unterscheidungen zwischen<br />
»möglicher Erfahrung« und »Möglichkeit selbst«; auch Raum und<br />
Geometrie sind nicht selbst transzendentale Erkenntnisse, sondern nur die<br />
Erkenntnis ihres Zustandekommens heißt transzendental. Gleichwohl soll<br />
auch der Begründungsversuch der Anwendbarkeit auf Gegenstände der<br />
Erfahrung transzendental heißen können. Ich halte es für entscheidend,<br />
daß Kant hier diesen Unterschied zwischen Möglichkeit als Ermöglichung<br />
und Möglichkeit als Anwendung aufrecht erhält.<br />
§ 2 Verstand und Anschauung<br />
Zur Klärung der transzendentalpsychologischen Voraussetzungen<br />
zwischen rationaler Psychologie und rationaler Physiologie des<br />
transzendentalen Subjekts bietet sich der Anfang des § 17 der<br />
transzendentalen Deduktion an: Dort wird die Möglichkeit aller<br />
Anschauung einmal als auf die Sinnlichkeit und einmal als auf den<br />
Verstand bezogen erklärt.<br />
»Der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung<br />
auf die Sinnlichkeit war laut der transzendentalen Ästhetik: daß alles<br />
Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Raumes<br />
und der Zeit stehe. Der oberste Grundsatz eben derselben in Beziehung auf<br />
den Verstand ist: daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter<br />
Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der<br />
Apperzeptionstehe°. Unter dem ersteren stehen alle mannigfaltige<br />
Vorstellungen der Anschauung, so fern sie uns gegeben werden, unter<br />
dem zweiten so fern sie in einem Bewußtsein müssen verbunden werden<br />
können [...].«<br />
°»Der Raum und die Zeit und alle Teile derselben sind Anschauungen,<br />
mithin einzelne Vorstellungen mit dem Mannigfaltigen, das sie in sich<br />
enthalten (siehe die transzendentale Ästhetik), mithin nicht bloße Begriffe,<br />
durch die eben dasselbe Bewußtsein, als in vielen Vorstellungen, sondern<br />
viel Vorstellungen als in einer, und deren Bewußtsein, enthalten, mithin<br />
als zusammengesetzt, folglich die Einheit des Bewußtseins, als synthetisch,
— 277 —<br />
aber doch ursprünglich angetroffen wird. Diese Einzelheit derselben ist<br />
wichtig in der Anwendung (siehe § 25)« 12<br />
Die Untersuchung der transzendentalen Ästhetik wie zum § 13 der<br />
Prolegomena haben gezeigt, daß die reinen »synthetischen Urteile a<br />
priori«, anders als in der Geometrie, hier nunmehr bloß die Regeln der<br />
Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen in der Anschauung sein<br />
können, auch dann, wenn sie die Merkmale, die nur die Konstruktion der<br />
Figur ausmachen, enthalten und diese dann für sich gar nicht mehr<br />
beinhaltet als die vom Konstruktionsbegriff in die reine Anschauung<br />
hineingelegte Mannigfaltigkeit. Sie stehen demnach schon zwischen den<br />
Bedingungen der Einheit der Apperzeption als die eine Bedingung der<br />
Synthesis und der anderen Bedingung der Möglichkeit der Anschauung,<br />
der formalen Bedingung von Raum und Zeit. So ist im vorher gegebenen<br />
Zitat aus den Obersten Grundsätzen aller synthetischer Urteile<br />
offensichtlich die reine Anschauung den reinen synthetischen Urteilen<br />
gegenübergestanden, deren Verhältnisse nur insofern objektive Gültigkeit<br />
erhalten können, als daß sie Formen möglicher Erfahrung sind; noch mehr,<br />
schließlich sogar zur Konstitution der empirischen Anschauung<br />
vorauszusetzen sind. In § 17 steht aber transzendental-analytisch der<br />
»Möglichkeit selbst« nicht die reine, sondern die der reinen Anschauung<br />
vorausgesetzte formale Anschauung der Verbindung der Mannigfaltigkeit<br />
durch dem Verstand gegenüber. In der Anmerkung zum zweiten<br />
gegebenen Zitat aus dem § 17 gibt Kant anhand der Darstellung der Teile<br />
der Anschauungsform als Vorstellungen, die Mannigfaltiges, also »viel<br />
Vorstellungen als in einer« enthalten, einen Kommentar zu einer<br />
notorischen Schwierigkeit in der Bestimmung der Stellung von<br />
Anschauung und Vorstellung im Gang der Deduktion. Zunächst nochmals<br />
die Anmerkung: »Der Raum und die Zeit und alle Teile derselben sind<br />
Anschauungen, mithin einzelne Vorstellungen mit dem Mannigfaltigen,<br />
das sie in sich enthalten (siehe die transzendentale Ästhetik), mithin nicht<br />
bloße Begriffe, durch die eben dasselbe Bewußtsein, als in vielen<br />
Vorstellungen, sondern viel Vorstellungen als in einer, und deren<br />
Bewußtsein, enthalten, mithin als zusammengesetzt, folglich die Einheit<br />
des Bewußtseins, als synthetisch, aber doch ursprünglich angetroffen wird.<br />
Diese Einzelheit derselben ist wichtig in der Anwendung (siehe § 25)« 13<br />
12 B 136 f.<br />
13 B 136 f.
— 278 —<br />
Das Entscheidende dieser Anmerkung ist, wie die Unterscheidung von<br />
Begriff und Vorstellung getroffen wird. Dazu wird zuerst der Raum und<br />
die Zeit so wie deren Teile als Anschauung angesprochen. Das muß vor<br />
diesem Hintergrund gesehen werden, daß Raum und Zeit als<br />
Anschauungsform der Möglichkeit nach das totum bedeutet, als gegebene<br />
Anschauung aber immer nur ein Teil von Raum und Zeit sein kann. 14 Nur<br />
gegebene Anschauung kann sowohl Teil von Raum und Zeit wie auch<br />
Vorstellung sein. Daraus wird die Folgerung gezogen: Die Teile von Raum<br />
und Zeit sind Anschauungen und »mithin einzelne Vorstellungen«. Hier<br />
wird der Begriff der Vorstellung eindeutig anders verwendet als in der<br />
Erklärung im Abschnitt »Von den Ideen überhaupt«, 15 dort ist der Begriff<br />
der Vorstellung der Oberbegriff von Anschauung, Erscheinung und<br />
Begriff. Hier wird die Vorstellung dem Begriff gegenübergestellt. 16<br />
Diese Vorstellung enthält nun ihrerseits Mannigfaltiges. Kant folgert<br />
daraus weiters, daß diese Vorstellungen »mithin nicht bloße Begriffe,<br />
durch die eben dasselbe Bewußtsein, als in vielen Vorstellungen«, also<br />
identes Bewußtsein gegeben wird, sind, »sondern viel Vorstellungen als in<br />
einer, und deren Bewußtsein, enthalten«. Das Argument für die Einheit<br />
des Bewußtseins im Begriff ist nochmals die Identität des Bewußtseins in<br />
vielen Vorstellungen, wodurch diese eine Einheit bilden. Das Argument<br />
für die Einheit des Bewußtseins in dieser im spezifischen Sinn einer<br />
apprehendierten Erscheinung verwendeten Vorstellung ist, daß in dieser<br />
spezifischen Vorstellung viele Vorstellungen enthalten sind. Diese beiden<br />
Argumente sind aber nicht einfach symmetrisch angeordnet, sondern die<br />
vielen Vorstellungen in der Einheit bloßer Begriffe sind selbst weder in<br />
einem Begriff enthalten noch im Bewußtsein, wie eben die vielen<br />
Vorstellungen in der spezifisch gebrauchten Vorstellung als Teil von Raum<br />
und Zeit, also als Anschauung, sondern gehorchen nur der Regel im<br />
Begriff, alle diejenigen Vorstellungen, die den Merkmalen des Begriffes<br />
unterstehen, zu verknüpfen. Die Einheit des Begriffes liegt im Konzept der<br />
Zusammensetzung, in dem das selbe Bewußtsein jeweils als möglicher Teil<br />
14 Vierte metaphys.Erklärung (Totalität als Gegebenes) versus Widerlegung der<br />
Antinomien (Totalität nur als Idee der unendliche Progression zu denken möglich).<br />
Vgl. hiezu auch Heinrich 1986, p. 144 ff.<br />
15 K. r. V., B 376 f., wo Kant zwischen Perzeption, Empfindung, Erkenntnis (diese<br />
wieder zwischen Anschauung und Begriff) und bloßer Notion oder Idee<br />
unterscheidet.<br />
16 Diesem Begriff von einer Vorstellung, die selbst weder ein Begriff ist, noch einen<br />
solchen enthält, läßt sich bei Bolzano ein Komplement finden.◊
— 279 —<br />
einer jeden einzelnen möglichen Vorstellung des Schemas gewußt wird<br />
(vgl. § 16, Anmerkung zu B 133). 17 Demgegenüber wird diejenige<br />
Vorstellung, die Anschauung enthält und auf Erscheinungen angewandt<br />
werden kann, auf eine Weise charakterisiert, die zur Synthesis keinerlei<br />
Verstandesbegriffe benötigt, aber doch entweder deren Synthesis der<br />
Anschauung nach einem Schema analysierbar ist oder als Vorstellung eine<br />
Stelle in der Synthesis im Begriff (Rekognition) erhält. 18<br />
Offensichtlich wird die Vorstellung in beiden Fällen nicht auf gleiche<br />
Weise gebraucht: Während im Falle der spezifischen Verwendung von<br />
Vorstellung als Anschauung anzunehmen ist, daß die Teile dieser<br />
Vorstellungen als das Mannigfaltige, das als Anschauung gegeben ist,<br />
17 »Die analytische Einheit des Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als<br />
solchen, an, z.B. wenn ich mir rot überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine<br />
Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen, oder mit anderen<br />
Vorstellungen verbunden sein kann; also nur vermöge einer vorausgedachten<br />
synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen. Eine Vorstellung, die<br />
als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig<br />
angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben, folglich muß sie in<br />
synthetischer Einheit mit anderen (wenn gleich nur möglichen Vorstellungen)<br />
vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie<br />
zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.« (K.r.V., B 133) Eine<br />
ausführliche Darstellung des hier angezogenen Problems habe ich in »Grund und<br />
Ganzes«: Die ursprüngliche Einheit der Apperzeption §§ 16-17« gegeben: Erst die<br />
Zusammensetzung (das Hinzusetzen einer Vorstellung zu einer anderen) ergibt die<br />
Möglichkeit, sowohl das Bewußtsein als Teil einer Vorstellung von etwas zu<br />
bezeichen wie, analog zum Beispiel der Vorstellung von Röte in der eben gegebenen<br />
Anmerkung, zu behaupten, daß in jeder Vorstellung von etwas das selbe Bewußtsein<br />
enthalten sei.<br />
18 Letzteres ist m. E. mit der Entwicklung des Begriffs einer Variablen in der<br />
mathematischen Logik in Zusammenhang zu bringen. Vgl. dazu Gottlob Frege, Sinn<br />
und Bedeutung, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, Hrsg. von Günther Patzig, Götting<br />
4 1975; auch Bolzano, das »dies« und die »Unterlage« des Satzsubjekts, weiters: Satz<br />
und Satzform, in: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtenteils<br />
neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherigen Bearbeiter,<br />
Sulzbach 1837, §§ 48-53. Vgl. weiters das Imprädikativ bei Kurt Gödel, Russells<br />
mathematische Logik, (Erstveröffentlichung in: The Philosophy of Bertrand Russell,<br />
hrsg. von Paul A. Schilpp, The Library of Living Philosophers, Evanston, III., New<br />
York: The Tudor Publishing Company 1944, S. 125-153) hinsichtlich der Nicht-<br />
Konstruierbarkeit von Existenz im Zusammenhang von Sinn und Bedeutung des<br />
Begriffes vom »Konzept«. Hier nach: Alfred North Withehead, Bertrand Russell,<br />
Principia Mathematica. Vorwort und Einleitungen übersetzt von Hans Mokre. Mit<br />
einem Beitrag von Kurt Gödel, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1 1986, p. XVI f., aber<br />
auch p. XXVI: »In einem zweiten Sinn wird eine Proposition analytisch genannt,<br />
wenn sie hält „aufgrund des Sinnes der in ihr vorkommenden Konzepte“, wobei<br />
dieser Sinn vielleicht undefinierbar (d. h. irreduzibel auf etwas Grundlegenderes)<br />
sein kann.« Die dazu gehörige Fußnote stellt für diese zweite Bedeutung von<br />
»analytisch« auch die Möglichkeit, so viel wie »tautologisch« zu bedeuten, anheim.<br />
»Schema« der Konstruktion und »Stellung« im methodisch geregelten<br />
Untersuchungsgang ◊◊
— 280 —<br />
selbst wiederum Vorstellungen genau im gleichen Sinn sind, da abermals<br />
Mannigfaltiges enthaltend (zumindest der Möglichkeit nach), sind die<br />
vielen Vorstellungen, in denen dasselbe Bewußtsein jeweils ein Teil ist<br />
(Identität), schon als Begriff des Gegenstandes derselben, und zwar jeweils<br />
als Begriff und als Anschauung in der Vorstellung des Teilbegriffes als<br />
Ganzes der Vorstellung in Gebrauch. Weiters: Während die einzelne<br />
Vorstellung als Anschauung immer schon Einheit voraussetzt, in welcher<br />
das Mannigfaltige (weitere, viel Vorstellungen) und deren Bewußtsein<br />
enthalten ist, ist das Mannigfaltige der vielen Vorstellungen, in welchem<br />
jeweils das selbe Bewußtsein enthalten ist, durch bloße Begriffe zur Einheit<br />
erst verbunden. Nun kann aus der Anmerkung in § 16 auch erschlossen<br />
werden, was Kant hier unter »bloße Begriffe« eigentlich versteht: die<br />
reinen Kategorien anscheinend noch nicht, sondern zunächst nur die<br />
allgemeine logische Eigenschaft von Begriffen, aus vielen Vorstellungen<br />
eine Menge von Vorstellungen herauszustellen, die alle unter ein Merkmal<br />
fallen. Es handelt sich hier, will man weiter wie in der Anmerkung des § 16<br />
verfahren, genau um das gleiche Verfahren, wie man auch Gegenstände<br />
gemäß einer ihnen allen gemeinsamen Eigenschaft unter einen Begriff<br />
fallen lassen kann und nicht um das Problem, wie aus einer Menge vieler<br />
verschiedener Vorstellungen erst eine Einheit durch Synthesis gebildet<br />
werden kann. Genau das aber beansprucht Kant sowohl im Text von § 16<br />
wie in der Anmerkung zu § 17 auf verschiedene Weise. Diese Spannung ist<br />
auch im Text des § 17 zwischen den beiden Grundsätzen und im ganzen<br />
weiteren Verlauf der Untersuchung zu verzeichnen. 19<br />
Die formale Anschauung im ersten Grundsatz des § 17 wird eben selbst<br />
erst durch Apprehension und Reproduktion sukzessive durch<br />
Zusammensetzung erzeugt 20 (viel Vorstellungen als in einer), sodaß die<br />
einzelne Vorstellung als Teil von Raum und Zeit selbst nicht diejenige<br />
absolute Einheit ist, als welche sie eben ursprünglich derjenigen<br />
synthetischen Einheit, die durch bloße Begriffe im Begriff einer Menge von<br />
Vorstellungen verbunden wird, vorausgesetzt wurde. Die Anschauung<br />
behält aber auch dann, wenn sie ihre Ursprünglichkeit bezüglich der<br />
Einheit des Bewußtseins im Gang der Deduktion der reinen<br />
Verstandesbegriffe als Kategorien verliert, nach wie vor die Eigenschaft,<br />
beliebig weiter teilbar zu sein. Wie in der Anmerkung von § 17 wird die<br />
19 Brentanos semantische Interpretation des Roten und die Anmk. in § 16<br />
20 Vgl. auch die »Axiome der Anschauung«, K.r.V., B 202/A 162
— 281 —<br />
hier gemeinte ursprüngliche Zusammensetzung von Kant deshalb aber<br />
nicht durch bloße Begriffe vorgestellt, während man das sowohl dem § 16<br />
wie dem zweiten Grundsatz von § 17 entnehmen mußte, also z. B. hier in<br />
§ 17 der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in<br />
Beziehung auf den Verstand darin besteht, daß alles Mannigfaltige der<br />
Anschauung unter der intellektuellen Bedingung der ursprünglichsynthetischen<br />
Einheit der Apperzeption stehe. Allerdings wird nach § 24<br />
letztenendes nicht die reine synthesis intellectualis sondern die<br />
transzendentale Funktion der Einbildungskraft in der ursprünglichsynthetischen<br />
Einheit der Apperzeption tätig, 21 worunter bereits die<br />
Vereinigung alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einem<br />
Begriff vom Objekt 22 (und eben nicht in einem Begriff einer bloßen Menge)<br />
verstanden, und doch die Synthesis, ganz wie in der vorangegangenen<br />
Abhandlung, durch Begriffe bewerkstelligt wird. In § 16 ist aber gerade<br />
das das Thema: nämlich wie aus der Vorstellung, daß jede Erscheinung<br />
mit Bewußtsein begleitet wird, die Vorstellung wird, daß alle Vorstellung<br />
(als Erscheinungen) meine Vorstellungen sind; also auch die reine und<br />
nicht sinnliche Vorstellung, daß alle Vorstellungen die meinen sind. Dieser<br />
Untersuchungsgang ist zweifellos transzendentale Analytik, geht aber in<br />
die entgegengesetzte Richtung als die transzendentale Funktion der<br />
Einbildungskraft, und zwar um zwischen Apperzeption und inneren Sinn<br />
deutlich unterscheiden zu können. Die Vorstellung als Anschauung ist<br />
nicht nur durch die formale Bedingung von Raum und Zeit, sondern in<br />
§ 16 zuerst durch die ursprüngliche Einheit des Bewußtseins zur<br />
Vorstellung bestimmt; denn erst durch das Zusammensetzen des<br />
Mannigfaltigen der Anschauung soll sowohl die formale Anschauung, der<br />
Gegenstand wie hier insbesondere das Bewußtseins als Selbstbewußtsein,<br />
d. i. Bewußtsein der Identität des Bewußtseins, hergestellt werden, was<br />
dann im Satz »ich denke« ausgedrückt wird. M.a.W., die reinen<br />
Anschauungsformen wären demnach nicht die formalen Bedingungen der<br />
ursprünglichen Einheit des Bewußtseins selbst: Der Satz »Die Vorstellung,<br />
die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung« (§ 16)<br />
beansprucht die Anschauung nur hinsichtlich ihrer Eigenschaft,<br />
Mannigfaltiges zu geben. Nunmehr hat sich zeigt, daß die behandelte<br />
Anmerkung des § 17 eine ganz andere Pointe hat: die Einheit des<br />
Bewußtseins, die als synthetisch, aber doch ursprünglich, angetroffen<br />
21 K.r.V., § 24. B 151<br />
22 § 18, B 139 und § 24, B 154
— 282 —<br />
wird, wird hier eben eindeutig nicht auf Begriffe wie im Text von §§ 16-17,<br />
sondern auf das Mannigfaltige von viel Vorstellungen in einer, also auf die<br />
Einheit der einzelnen Vorstellung als Anschauung (ein Teil von Raum und<br />
Zeit) zurückgeführt. Im Text des § 17 wird aber, auch im Widerspruch zur<br />
vorgeschlagenen Interpretation anhand der transzendentalen Funktion der<br />
Einbildungskraft aus § 24 stehend, weiterhin mit dem absoluten Primat der<br />
Verstandeseinheit argumentiert: Die ursprünglich-synthetische Einheit der<br />
Apperzeption sei von allen Bedingungen der sinnlichen Anschauung<br />
unabhängig:<br />
»Das erste reine Verstandeserkenntnis also, worauf sein ganzer übriger<br />
Gebrauch sich gründet, welches auch zugleich von allen Bedingungen der<br />
sinnlichen Anschauung ganz unabhängig ist, ist nun der Grundsatz der<br />
ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption. So ist die bloße<br />
Form der äußeren sinnlichen Anschauung, der Raum, noch gar keine<br />
Erkenntnis; er gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu<br />
einem möglichen Erkenntnis.« 23<br />
Strenger noch als in den Portalsätzen des § 17 wird hier Verstand und<br />
Sinnlichkeit getrennt; diese Darstellung widerspricht also glatt der<br />
überraschenden Darstellung in der vorangehenden Anmerkung dortselbst.<br />
Erst in § 21 wird diese Spannung wieder in dieser Form aufgegriffen und<br />
wenigstens etwas gemildert: »Ein Mannigfaltiges, das in einer<br />
Anschauung, die ich die meinige nenne, enthalten ist, wird durch die<br />
Synthesis des Verstandes als zur notwendigen Einheit des<br />
Selbstbewußtseins gehörig vorgestellt, und dieses geschieht durch die<br />
Kategorie.° Diese zeigt also an: daß das empirische Bewußtsein eines<br />
gegebenen Mannigfaltigen Einer Anschauung eben sowohl unter einem<br />
reinen Selbstbewußtsein a priori, wie empirische Anschauung unter einer<br />
reinen sinnlichen, die gleichfalls a priori Statt hat, stehe. «<br />
°»Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten Einheit der Anschauung,<br />
dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des<br />
Mannigfaltigen zu einer Anschauung gegebenen in sich schließt, und<br />
schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit der Apperzeption<br />
enthält.« 24<br />
23 K.r.V., § 17, B 137<br />
24 B 144
— 283 —<br />
Der Anfang von § 21 drückt genauer das aus, was die Portalsätze von § 17<br />
auch behaupten, nämlich das Zusammenwirken von den Bedingungen der<br />
Anschauungsform und den Bedingungen der Verbindung deren<br />
Mannigfaltigkeit durch Begriffe in der Apperzeption. Die Anmerkung in<br />
§ 21 bezieht sich offensichtlich auch auf die in der Anmerkung von § 17<br />
gegebene Darstellung, und betont abermals die eigenständige und der<br />
apperzeptiven Synthesis vorgeordnete Einheit bloßer Anschauung, setzt<br />
jedoch diese Einheit schon in Beziehung auf die Einheit der Apperzeption.<br />
Dies geschieht hier durch die Einschränkung auf die Anschauung, dadurch<br />
ein Gegenstand gegeben wird , eine Voraussetzung, die Kant als<br />
selbstverständlich ansieht, da Anschauung nur Anschauung von etwas<br />
sein kann, nämlich von einem Gegenstand, ansonsten nicht von<br />
Anschauung die Rede sein könnte. 25 Das ist analytisch und synthetisch<br />
zugleich: Damit erweitert Kant die Notwendigkeit eines Gegenstandes für<br />
unsere Prädikate auf die Notwendigkeit eines Gegenstandes für unsere<br />
Vorstellungen und somit für Anschauung und Erscheinung. Die Einheit in<br />
einer Anschauung ist ohne den Bezug zu einem Gegenstand nicht zu<br />
denken; das Denken eines Gegenstandes ist aber selbst Angelegenheit der<br />
Einheit in der Apperzeption und nicht der Einheit in der Anschauungform.<br />
§ 3 Identität und Einheit des Bewußtseins als Selbstbewußtsein<br />
a) Numerische Einheit und Identität des Bewußtseins<br />
Nunmehr sollen die Vorstellungen in Beziehung auf den Verstand<br />
eingeteilt werden. 26 Kant unterscheidet nun in § 16 die intellektuelle<br />
Spontaneität zweimal von der bloßen Vorstellung als Anschauung, wobei<br />
erst die zweite Unterscheidung die intellektuelle Spontaneität zum<br />
Verstand bestimmt. Zuerst wird die Vorstellung als bloße Perzeption der<br />
Vorstellung als notio (Idee) gegenübergestellt: »Diejenige Vorstellung, die<br />
vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles<br />
Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das Ich<br />
denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.<br />
Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als<br />
zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine<br />
Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch<br />
die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist,<br />
25 Vgl. Prolegomena, § 13, erster Absatz<br />
26 Vgl. den Portalsatz in § 17
— 284 —<br />
was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen<br />
muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von<br />
keiner weiter begleitet werden kann.« 27<br />
Bezeichnenderweise ist hier das Kriterium der Einheit der Anschauung<br />
nicht die formale Bedingung der Anschauung (Raum und Zeit), sondern<br />
bloß, daß alle Vorstellungen (das Mannigfaltige der Anschauung als der<br />
einzelnen Vorstellung absolute Einheit) in demselben Subjekt angetroffen<br />
wird. Der Begriff der Anschauung ist hier also auf das bloße dem Denken<br />
Gegebensein reduziert und ohne jede weitere Kontinuitätsbedingung<br />
zwischen den vielen Vorstellungen. Die reflektierende Feststellung, daß in<br />
diesem psychologischen Sinne jede Vorstellung meine Vorstellung sein<br />
können muß, ist zwar Grund genug, diese selbst empirische Feststellung<br />
von der Feststellung der Vorstellungen, die empirische Anschauung<br />
enthalten, unterscheiden zu wollen, aber doch noch nicht Grund genug,<br />
die Spontaneität zum Verstand, also zum »Ich denke« im engen Sinn zu<br />
bestimmen. Gegenüber dieser unsinnlichen Vorstellung der Jemeinigkeit<br />
aller Vorstellungen überhaupt bestimmt Kant die Anschauung als<br />
empirische Apperzeption. 28 Dazu drückt er sich in der ersten Fassung noch<br />
deutlicher aus:<br />
»Das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres<br />
Zustandes, bei der inneren Wahrnehmung ist bloß empirisch, jederzeit<br />
wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Fluße<br />
innerer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der innere Sinn<br />
genannt, oder die empirische Apperzeption.« 29<br />
Die Zeit ist aber die erste formale Bedingung der Anschauungsform. Die<br />
Frage ist, was der Ausdruck »das Bewußtsein seiner selbst« an dieser Stelle<br />
bedeuten kann: nur das Bewußtsein der Perzeptionen oder schon das<br />
Selbstbewußtsein? Doch wohl nur ersteres, fährt man an der gegebenen<br />
Stelle der ersten Fassung fort, wo erst im Anschluß die Bedingung des<br />
Selbstbewußtseins behandelt wird:<br />
27 B 132<br />
28 Offensichtlich wird hier das Wort »empirisch« für zwei verschiedene Begriffe<br />
verwendet: zuerst bedeutet es nichts weiter als Erfahrung machen überhaupt, und<br />
dann setzt es die formalen und die dynamischen Bedingungen dessen, was in der<br />
Sinnlichkeit an Realem gegeben werden kann, voraus.<br />
29 A 107
— 285 —<br />
»Das was notwendig als numerisch identisch vorgestellt werden soll, kann<br />
nicht als ein solches durch empirische Data gedacht werden. Es muß eine<br />
Bedingung sein, die vor aller Erfahrung vorhergeht, und diese selbst<br />
möglich macht, welche eine solche transzendentale Voraussetzung geltend<br />
machen soll. Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine<br />
Verknüpfung und Einheit desselben, ohne diejenige Einheit des<br />
Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauung vorhergeht, und,<br />
worauf in Beziehung, alle Vorstellungen von Gegenständen allein möglich<br />
ist. Dieses reine ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die<br />
transzendentale Apperzeption nennen.« 30<br />
In der ersten Fassung der transzendentalen Deduktion erklärt Kant den<br />
Grund dieser notwendigen numerischen Einheit mit der reinen<br />
Vorstellung, daß alle Vorstellungen die meinigen sind. Nun ist die<br />
Anschauung am Anfang des § 16 einstweilen nur ein gegebenes<br />
Mannigfaltiges, deren Zusammengehörigkeit hier weder durch die<br />
formalen Bedingungen der Anschauung (Raum und Zeit) noch durch den<br />
Verstand durch Zergliederung und Zusammensetzung bestimmt worden<br />
ist, sondern allein aus dem Grund, daß Vorstellungen von mir als die<br />
meinigen erkannt werden, bloß weil sie sich in meinem Bewußtsein<br />
befinden. 31 Derart sollte auch schon die Vorstellung meiner Identität als<br />
numerische Einheit möglich geworden sein. Die bloße Vorstellung von<br />
Einheit macht aber erst die Möglichkeit zu einem Begriff der Verbindung<br />
des Mannigfaltigen aus; 32 so kann diese Vorstellung einer Einheit nicht der<br />
Sinnlichkeit selbst entspringen. Das heißt aber auch, daß allein damit der<br />
Begriff der Verbindung noch nicht gegeben wird, sondern nur seine<br />
Möglichkeit. Damit ist aber nur die Einheit und nicht die Identität des<br />
empirischen Bewußtseins bestimmt worden; eben nur die Reflexion auf die<br />
Vorstellung der numerischen Einheit des — immer empirischen —<br />
Subjektes, in welchem die Vorstellungen (auch als Anschauungen)<br />
erscheinen. Dieses »ich« ist nur insofern auch schon Ausdruck von<br />
Identität, indem es die bloße Zusammengehörigkeit verschiedenster<br />
Vorstellungen bedeutet, ohne das der Verstand die Verbindungsbegriffe<br />
(zunächst die formalen Bedingungen der Anschauung: Raum und Zeit)<br />
30 l. c.<br />
31 A 117, Anmerkung: »Hier ist nun eine synthetische Einheit des Mannigfaltigen<br />
(Bewußtseins) die a priori erkannt wird, und gerade so den Grund zu synthetischen<br />
Sätzen a priori, die das reine Denken betreffen, als Raum und Zeit zu solchen Sätzen,<br />
die die Form der bloßen Anschauung angehen, abgibt.«<br />
32 § 15:
— 286 —<br />
schon näher spezifiziert haben könnte. Kant hält diese Überlegung aber<br />
letztlich selbst nicht für ausreichend: in der ersten Fassung verlegt er den<br />
eigentlichen Grund der Einheit in die Notwendigkeit eines Gegenstandes.<br />
»Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein der Identität<br />
seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer eben so notwendigen Einheit<br />
der Synthesis aller Erscheinungen nach Begrffen, d.i. nach Regeln, die sie<br />
nicht allein notwendig reproduzibel machen, sondern dadurch auch ihrer<br />
Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d.i. den Begriff von Etwas,<br />
darin sie notwendig zusammenhängen: denn das Gemüt könnte sich<br />
unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner<br />
Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner<br />
Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die<br />
empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren<br />
Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht.« 33<br />
b) Die transzendentale Einbildungskraft ersetzt die Einheit der<br />
Anschauung<br />
Schon in der ersten Fassung wird der Begriff vom Gegenstand von der<br />
Identität der Handlung, zu deren Substrat er nach der Reproduktion<br />
herabgewürdigt wird, ersetzt. Die Identität der Handlung des Subjekts tritt<br />
dem Gegenstand (in der Erkenntnis wie in der Bearbeitung) erst entgegen,<br />
und ist der entscheidende Schritt, um schon in der ersten Fassung die<br />
Einheit der ursprünglichen (hier: empirischen) Apperzeption von der<br />
Einheit der reinen Synthesis im Begriff der Verbindung des Mannigfaltigen<br />
(nach einer Regel) zu unterscheiden. 34 In der zweiten Fassung wird<br />
hingegen der Begriff vom Gegenstand — wohl wegen seiner notorischen<br />
Zweideutigkeit — in § 16 gleich ganz weg gelassen: »Nämlich diese<br />
durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung<br />
gegebenen Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und<br />
ist nur durch das Bewußtsein der Synthesis möglich. Denn das empirische<br />
Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich<br />
zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese<br />
Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit<br />
Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und<br />
33 A 108<br />
34 Vgl. den Schluß von § 15
— 287 —<br />
mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur dadurch, daß ich ein<br />
Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden<br />
kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen<br />
Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der<br />
Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen<br />
möglich.« 35<br />
Es scheint im zweiten Satz des gegebenen Zitates, als würde Kant die bloße<br />
Begleitung der Vorstellungen mit dem Bewußtsein nicht länger als Grund<br />
für die Identität und numerische Einheit des Bewußtseins gelten lassen<br />
wollen; nunmehr soll erst die bewußte Synthesis als Handlung Grund sein<br />
können, von Identität und Einheit des Bewußtseins zu sprechen. Bei<br />
näherer Betrachtung aller bisher vorgebrachter Argumente schien die<br />
formale Bedingung der Anschauung, wenn schon allein nicht ausreichend<br />
zum Satz »Ich denke«, doch zu genügen, um auch der nur empirischen<br />
Apperzeption einen Grund zu geben, von dieser die Einheit des<br />
Bewußtseins zu behaupten. Allerdings ist die Einheitsbedingung in § 16,<br />
daß alle gegebenen Vorstellungen immer auch schon meine Vorstellungen<br />
sein können müssen, unabhängig von der Einheitsbedingung der reinen<br />
Anschauungsform. In der zweiten Fassung der Deduktion wird eigentlich<br />
nicht die ursprüngliche Einheit der Anschauungsform bestritten, aber doch<br />
zur Deduktion der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption<br />
nicht herangezogen; die Einheit der Anschauungsform, die in Folge einmal<br />
sogar als ursprünglich synthetische Einheit von Kant beschrieben worden<br />
ist, ist von der transzendentalen Funktion der Einbildungskraft, wenn z. B.<br />
die synthesis speciosa »auf die ursprünglich-synthetische Einheit der<br />
Apperzeption; d.i. diese transzendentale Einheit geht, welche in den<br />
Kategorien gedacht wird«, 36 zu ersetzen. — Diese Ersetzung erfolgt aber<br />
nicht selbst in § 16.<br />
Eine solche Ersetzung bedenkt Kant in zwei Alternativen: Das<br />
transzendentale Produkt der Synthesis der bestimmenden Urteilskraft<br />
(Verstand unter Vernunft) bestimmt den inneren Sinn im<br />
Schematismuskapitel nach den Bedingungen seiner Form, und zwar<br />
wiederum in Ansehung aller Vorstellungen, worunter eben auch<br />
Vorstellungen, die Anschauung enthalten, fallen. Dort allerdings nach<br />
35 B 133<br />
36 B 151
— 288 —<br />
einer allgemeinen Bedingung, deren Regel bereits in der formalen<br />
Bedingung, und diese wiederum im reinen Verstandesbegriff enthalten<br />
sein soll, und im transzendentalen Schematismus das »transzendentale<br />
Produkt« als reine Vorstellung, die nicht in ein Bild gebracht werden kann,<br />
zu denken erlauben können soll. 37 In § 24hingegen wird die synthetische<br />
Einheit der Apperzeption noch als intellektuelle der bloßen Form der<br />
Anschauung gegenübergestellt, aber die »transzendentale Einheit«, die in<br />
den Kategorien gedacht wird (B 151), soll bereits in der ursprünglichsynthetischen<br />
Einheit der Apperzeption, und zwar mittel der<br />
transzendentalen Funktion der Einbildungskraft, gedacht werden. —<br />
Offensichtlich ein Rest der Bedeutung des Gegenstandes aus der<br />
Deduktion in A: »Die Apperzeption und deren synthetische Einheit ist mit<br />
dem inneren Sinne so gar nicht einerlei, daß jene vielmehr, als der Quell<br />
aller Verbindung, auf das Mannigfaltige der Anschauung überhaupt unter<br />
den Namen der Kategorien, vor aller sinnlicher Anschauung auf Objekte<br />
überhaupt geht; dagegen der innere Sinn die bloße Form der Anschauung,<br />
aber ohne Verbindung des Mannigfaltigen in derselben, mithin noch gar<br />
keine bestimmte Anschauung enthält, welche nur durch das Bewußtsein<br />
der Bestimmung desselben durch die transzendentale Handlung der<br />
Einbildungskraft, (synthetischer Einfluß des Verstandes auf den inneren<br />
Sinn) welche ich die figürliche Synthesis genannt habe, möglich ist.« 38<br />
Zwischen Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand kommt es in der<br />
transzendentalen Deduktion selbst allerdings nicht zu einer abschließend<br />
entscheidenden Diskussion, vielmehr kann allgemein nur von einer<br />
situationsabhängigen Verbesserung der Präzision der<br />
Begriffsverwendungen zwischen dem Anspruch des Vorranges der reinen<br />
Intellektualität einerseits und dem Anspruch des Vorranges von<br />
Sinnlichkeit oder transzendentaler Einbildungskraft andererseits<br />
gesprochen werden. In § 20 wird nochmals klar die Forderung erhoben,<br />
daß die Einheit der Anschauung Voraussetzung für die Möglichkeit der<br />
Begriffe und des Erfahrungsmachens ist. 39 Zu diesen Schwierigkeiten<br />
kommen weitere hinzu: Schon in § 24 (die Bestimmung der Sukzessivität<br />
des inneren Sinnes geschieht ohne Einbildungskraft), aber auch in § 26 (die<br />
37 B 181<br />
38 B 154<br />
39 Dieter Henrich, Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion«, in:<br />
Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkenntnis und Handeln, Hrsg. v. G. Prauss,<br />
Köln 1973. p. 98
— 289 —<br />
Demonstration der ersten beiden dynamischen Kategorien geschieht durch<br />
Wegnahme der Zeitbedingung) wird die Kritik aus dem Paralogismus<br />
wirksam, welche Kant an der synthetisch-metaphyischen Methode übt, um<br />
ihr die transzendentalanalytische Methode gegenüberzustellen. Sowohl die<br />
Bestimmung der Sukzessivität des inneren Sinnes in § 24 wie die<br />
Demonstrationen der dynamischen Kategorien in § 26 sind präzise im<br />
Sinne dieser paralogistischen Kritik Definitionen nach der<br />
»transzendentalanalytischen Methode« und kommen völlig ohne<br />
transzendentale Einbildungskraft aus.<br />
c) Die ursprüngliche Einheit des Bewußtseins ist intellektuell und nicht<br />
die der Synthesis der Einbildungskraft<br />
Man sieht sich in der Frage nach der ursprünglichen Einheit der<br />
Apperzeption in der transzendentalen Deduktion spätestens ab dem<br />
abrupten Wechsel von der unter dem Verstandesbegriff stehenden<br />
Einbildungskraft zur Bestimmung der Sukzessivität des inneren Sinnes<br />
allein aus dem Verstandesbegriff in § 24 dortselbst auch noch mit einer<br />
radikalen Fassung der »transzendentalanalytischen Methode«<br />
konfrontiert, welche die rationale Physiologie des inneren Sinnes als bloß<br />
restringierte Metaphysik, und somit zur synthetisch-metaphysischen<br />
Methode gehörig entlarvt. Diesem Problem soll im fünften Kapitel dieses<br />
Abschnittes noch näher nachgegangen werden. Einstweilen kann gesagt<br />
werden, daß insgesamt dem Verstandesvermögen sein Primat gegenüber<br />
der Sinnlichkeit in der transzendentalen Deduktion abgesichert wird. 40 Die<br />
Einheit der Anschauungsform wird aber nicht zur Deduktion der<br />
ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption herangezogen,<br />
sondern beschränkt sich auf die Form des inneren Sinnes, wonach der<br />
Raum als erst zu konstituierende Anschauungsform zur Synthesis der<br />
ursprünglich-synthetischen Einheit gar nicht vorausgesetzt ist, 41 sondern<br />
nur die Zeit.<br />
40 Fortsetzung des gegebenen Zitates: die Handlung der Synthesis bringt sogar die<br />
Sukzession des inneren Sinnes hervor. Vgl. dazu hier §§ 3-4, insbesondere § 24<br />
41 Es sei denn als jenes, was erst die empirische Mannigfaltigkeit gibt : »Nämlich diese<br />
durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen<br />
Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das<br />
Bewußtsein dieser Synthesis möglich. Denn das empirische Bewußtsein, welches<br />
verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf<br />
die Identität des Subjektes.« (B 133).
— 290 —<br />
Das bloße empirische Bewußtsein einer inneren oder äußeren<br />
Wahrnehmung aber, welche weder Bewußtsein vom Bewußten, noch<br />
Vorstellung vom Vorgestellten unterscheiden kann, kann mit der ersten<br />
Forderung Kants in § 16, daß alle Vorstellungen als meine Vorstellungen<br />
gedacht werden können müssen, nicht gemeint sein, wenngleich hier das<br />
Bewußtsein die Zustände des inneren Sinnes unbedingt begleiten muß,<br />
aber eben nicht als Denken im präzisen Sinne von bewußt urteilen. Die<br />
bloße Begleitung der Erscheinungen selbst mit Bewußtsein (was analytisch<br />
im Begriff »Erscheinung« ebenso enthalten ist wie im Begriff<br />
»Vorstellung«) wird vom »ich denke« also nicht ausgedrückt, sondern, daß<br />
diese Begleitung ein spontaner und absichtlicher Akt des Denkens und<br />
derart nicht das empirische Faktum des Bewußtseins selbst ist, vielmehr<br />
den Akt der Zuschreibung in der Reflexion darauf bereits analytisch<br />
enthält. Beide Forderungen, die erste aus der numerischen Einheit, daß das<br />
»ich denke« alle meine Vorstellungen begleiten können muß (wenn nicht,<br />
dann handelt es sich eben um die empirische Apperzeption; oder<br />
Perzeption), wie die zweite, daß zur bewußten Einheit des Bewußtseins die<br />
Vorstellungen untereinander verbunden (hinzugesetzt) werden müssen,<br />
sind also gemeinsam zu bedenken. Der Satz »Ich denke« drückt in der<br />
engen Bedeutung also mehr aus als die bloße Vorstellung, daß alle<br />
Vorstellungen die meinen sind, denn erst nach der zweiten Forderung des<br />
Hinzusetzens einer Vorstellung zu einer anderen wird auch die<br />
Vorstellung, daß alle Vorstellungen im selben Subjekt stattfinden, also die<br />
meinigen sind, zum Verstandesurteil, weil erst dann die Einheit, als bloße<br />
Vorstellung, daß alle Vorstellungen meine Vorstellungen sind, zur<br />
Mannigfaltigkeit der gegebenen Vorstellungen selbst mit Gewißheit<br />
(Wahrheit) hinzugesetzt werden kann wie es das zweite Kriterium des<br />
Hinzusetzens im § 16 auch gemäß der Vereinigung von Mannigfaltigkeit<br />
und Einheit in § 15 verlangt. 42<br />
Der Geltungsumfang der Kategorien bleibt aber hinter dem des Prinzips<br />
der Einheit der Handlung, in der zweiten Fassung im Hinzusetzen einer<br />
Vorstellung zu einer anderen als bewußte Synthesis ausgedrückt, zunächst<br />
an Allgemeinheit zurück. Der berühmte Satz aus dem § 16 bleibt also<br />
mehrdeutig:<br />
»Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn<br />
sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht<br />
42 Vgl. den Anfang von § 21 in der ersten Kritik
— 291 —<br />
werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde<br />
entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« 43<br />
Die Alternative zwischen einer unmöglichen Vorstellung und einer Vorstellung,<br />
die für mich nichts sein könnte; vielleicht, weil letztere weder<br />
formale Bedingungen der Anschauung noch die Identität der Handlung<br />
als Einheitsgrund angeben könnte, deshalb alleine aber noch nicht eine<br />
unmögliche Vorstellung überhaupt genannt werden könnte, verlangt nach<br />
einer Erklärung. Es kann vermutet werden, daß Kant damit schon jene<br />
Unterscheidung getroffen hat, die Bolzano mit der Unterscheidung in „sich<br />
widersprechende“ und in „unmögliche“ Vorstellungen ausgedrückt hat: In<br />
sich widersprüchliche Vorstellungen haben wohl einen Inhalt, aber eben<br />
wegen dessen Widersprüchlichkeit keinen Gegenstand. Die unmögliche<br />
Vorstellung bezieht sich aber für Bolzano schon auf Gesetze, die für ihren<br />
als real behaupteten Gegenstand gelten, aber ihren Inhalt eben diesen<br />
Gesetzen gemäß für unmöglich erklären müssen, obgleich die Vorstellung<br />
selbst aus für sich selbst widerspruchsfreien Elementen besteht. 44<br />
Wesentlich ist dabei die Unterscheidung in Widerspruchsfreiheit der<br />
Prädikate untereinander und in Widerspruchsfreiheit der Konsequenzen<br />
dieser Prädikate. Die unmöglichen Vorstellungen Bolzanos wären bei Kant<br />
aber vermutlich doch solche Vorstellungen, die »wenigstens für mich<br />
nichts sein« könnten, sofern sie keine sinnlich gegebene Anschauung<br />
enthalten könnten; die sich widersprechenden Vorstellungen Bolzanos<br />
wären diejenigen, die Kant »unmögliche« Vorstellungen nennt. Bolzano<br />
nennt also diejenigen Vorstellungen unmöglich, die einem physikalischen<br />
(jedenfalls wirklichen) Gesetz widersprechen, Kant bezeichnet eben<br />
dieselbe Art von Vorstellungen als solche, die »wenigstens für mich nichts<br />
sein« könnten, weil sie nicht unserer empirischen Organisation der Sinne<br />
und der Erkenntnisvermögen entsprechen. Hingegen sind diejenigen<br />
Vorstellungen, die Kant als »unmöglich« bezeichnet, bei Bolzano jene, die<br />
dieser als widersprüchlich bezeichnet, aber deshalb noch nicht als für<br />
unser Denken als unmöglich, da wir eben unter anderen sehr wohl auch<br />
widersprüchliche Vorstellungen denken. — Kants Begriff von einer<br />
Vorstellung ist hier offensichtlich ursprünglich auf Vorstellungen mit<br />
Anschauung beschränkt.<br />
43 B 131<br />
44 Bernard Bolzano: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtenteils<br />
neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherigen Bearbeiter,<br />
Sulzbach 1837, § 67 (unmögliche Vorstellungen) und § 70 (imaginäre Vorstellungen).
— 292 —<br />
Das »ich denke« drückt allgemein das synthetische Hinzukommen der<br />
Vorstellung von Einheit zur Vorstellung der Mannigfaltigkeit aus. 45 Der<br />
zentrale Satz der rationalen Psychologie vermag mit dieser Interpretation<br />
in der Tat beides auszudrücken: die erste Reflexion auf das Faktum des<br />
Bewußtseins einer jeden Erscheinung, die im Fluß der empirischen<br />
Apperzeption (innerer Sinn) anhebt und vergeht, als auch die Reflexion<br />
auf die durchgängige Identität der Apperzeption im Sinne eines expliziten<br />
Nachweises der numerischen Einheit des Bewußtseins. 46 Davon zu<br />
unterscheiden wird intellektuell die Identität der Handlung in der<br />
Reproduktion schon abstrakt mittels der Regel der Reproduktion<br />
festgestellt, die nunmehr im Zusammennehmen der Vorstellungen eine<br />
allgemeinste Definition in der Rekognition (als Urbild der Regel) erhalten<br />
hat. Wenn Kant in der zweiten Fassung ab § 18 das Objekt der Vorstellung<br />
als den Gegenstand objektiver Realität auffaßt, hat der Verstand jedoch<br />
schon das Privileg des ontologischen Gottesbeweises geerbt. Dazwischen<br />
versucht Kant der Regel in der Reproduktion über die bloße<br />
Rekognoszierbarkeit derselben trotz der Distanzierung des Gegenstandes<br />
in B gegenüber A hinaus ein Kriterium zu finden. Wie nun später noch im<br />
Einzelnen zu zeigen sein wird, übertrifft aber die Notwendigkeit, die im<br />
ontologischen Gottesbeweis beansprucht werden kann, nicht die<br />
Notwendigkeit der Einheit der Handlung.<br />
§ 4 Zur Vieldeutigkeit des Begriffes vom Gegenstand<br />
Einer ersten näheren Untersuchung des Verhältnisses von Vorstellung,<br />
Anschauung und Erscheinung zum Begriff vom Gegenstand kann anhand<br />
des Abschnittes »Von der Synthesis der Rekognition im Begriffe« in der<br />
ersten Fassung der Deduktion der geeignete Rahmen gegeben werden.<br />
Dort wird der Vorstellung zunächst abstrakt qua Vorstellbarkeit ihre<br />
Gegenständlichkeit gegeben 47 :<br />
45 K.r.V., § 15, »Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des<br />
Mannigfaltigen, und der Synthesis desselben, noch den der Einheit desselben bei<br />
sich. Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die<br />
Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht<br />
vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den<br />
Begriff der Verbindung allererst möglich.« (B 131)<br />
46 B 133<br />
47 Vgl. dazu Bernard BOLZANO, Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und<br />
größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige
— 293 —<br />
»Alle Vorstellungen haben, als Vorstellungen, ihren Gegenstand, und<br />
können selbst wiederum Gegenstände anderer Vorstellungen sein.« 48<br />
Das bringt einen rein theoretischen Gegenstandsbegriff aufgrund der<br />
Bestimmung der Vorstellung qua Vorstellbarkeit zu einem Begriff<br />
(Schema) mit sich. Dieser entbehrt jeder objektiven Bedeutung sondern<br />
bleibt ein bloßer Reflexionsbegriff. 49 Dann wird anhand der<br />
Unmittelbarkeit der Erscheinung der Bezug zur Anschauung hergestellt:<br />
»Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar<br />
gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den<br />
Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind diese Erscheinungen<br />
nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum<br />
ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden<br />
kann, und daher der nichtempirische, d.i. transzendentale Gegenstand = X<br />
genannt werden mag.« 50<br />
a) Erscheinungen sind also Vorstellungen, deren Begriff der<br />
Gegenständlichkeit zu dem der bloßen Vorstellbarkeit noch beinhaltet, daß<br />
sie unmittelbar gegeben werden. Offensichtlich ist das so gemeint, daß nur<br />
die Sinnlichkeit Erscheinungen gibt . Das, was sich in den Erscheinungen<br />
auf den Gegenstand der Erscheinung unmittelbar beziehen soll, ist nun die<br />
Anschauung. Der Gegenstand ist da aber nicht länger der<br />
Selbstbezüglichkeit der Gegenständlichkeit der Vorstellung qua<br />
Vorstellbarkeit entsprungen, sondern scheint schon die transzendente<br />
Erweiterung des bisherigen auf die Vorstellbarkeit beschränkten<br />
Gebrauchs des Begriffes von einem Gegenstand zu bedeuten. Diese<br />
Erweiterung des Gebrauchs kann nun notwendigerweise so nicht mit dem<br />
vollen Begriff von der objektiven Realität der Bedeutung nach von selbst<br />
zusammenstimmen, da dazu die Kriterien fehlen, sondern ist als<br />
notwendige Möglichkeit aus den fundamental-ontologischen Bedingungen<br />
Bearbeiter« (Sulzbach 1837): §§ 48-53: Vorstellungen sind oder bestehen aus<br />
einfachen Ideen, Sätzen, Begriffen, oder Anschauungen.<br />
48 K.r.V., A 108<br />
49 »Nun kann man zwar alles, und sogar jede Vorstellung, sofern man sich ihrer<br />
bewußt ist, Objekt nennen; allein was dieses Wort bei Erscheinungen zu bedeuten<br />
habe, nicht, insofern sie (als Vorstellungen) Objekte sind, sondern nur ein Objekt<br />
bezeichnen, ist von tieferer Untersuchung.« (B 234 f./A 189)<br />
50 l. c.
— 294 —<br />
der Ersten metaphysischen Erörterung des Raumes spekulativ gewonnen. 51<br />
Jedoch soll auch dieser Begriff des transzendentalen Gegenstandes, im<br />
Vernunftbegriff als Ding an sich gedacht, schon allgemein genug sein,<br />
auch vor seiner allgemein-inhaltlichen Bestimmung Existenz analytisch zu<br />
enthalten. 52<br />
b) Die Gegenständlichkeit der Erscheinungen selbst aber soll damit<br />
ausgezeichnet sein, daß sie die einzigen Gegenstände sind, die unmittelbar<br />
gegeben werden; im Gegensatz zum transzendentalen Gegenstand. Jedoch<br />
sollen die Erscheinungen selbst durchaus Vorstellungen sein; also nicht<br />
bloß Vorstellungen sein können, sondern hier anscheinend<br />
notwendigerweise auch Vorstellung sein müssen. Nur das erste Mal<br />
bezieht sich die Unmittelbarkeit des Gegebenseins für uns auf die<br />
Gegenständlichkeit einer Vorstellung qua Vorstellbarkeit, während das<br />
zweite Mal der unmittelbare Bezug in der Anschauung auf den<br />
Gegenstand zunächst den Gegenstand, der in den Kategeorien gedacht<br />
und in sinnlicher Anschauung gegeben wird, betreffen sollte, was<br />
objektive Realität bedeuten würde. Die Erscheinungen für sich selbst sind<br />
aber keine Dinge an sich selbst, deren Begriff die Existenz zugleich in<br />
objektiver Bedeutung analytisch enthalten müßte, sondern eben insofern<br />
als solche auch nur Vorstellungen, die nun den ihnen äußerlichen<br />
transzendentalen Gegenstand als Gegenstand haben.<br />
c) In diesen Erscheinungen bezieht sich etwas unmittelbar auf den<br />
Gegenstand, daß heißt wohl, nicht alles bezieht sich in einer Erscheinung<br />
auf den Gegenstand. Daß heißt weiters, daß formal und abstrakt betrachtet<br />
die Erscheinung nicht der Gegenstand ist, worauf sich etwas in der<br />
Erscheinung als Anschauung auf diesen Gegenstand bezieht. Gerade der<br />
51 Vgl. hier den ersten Abschnitt, Schlußwort des 1. Kapitels: Die Unterscheidung von<br />
Innen und Außen liegt nicht nur der Distanzgewinnung zwischen Subjekt und<br />
Objekt in der Anschauung zugrunde, sondern ist auch die Form des<br />
Argumentierens, mit welchem über den Begriff von Realität entschieden wird:<br />
Ursurpiert das Subjekt seine Objekte? Oder wird das Subjekt zum bloßen<br />
Schauplatz der Erscheinungen?<br />
52 Vgl. HEINRICH 1985. Die Form des Nachweises des objektiven Raumes anhand der<br />
Erweiterung des disjunktiven Urteils (ausschließendes oder) zur Totalität aller<br />
Glieder der ganzen Erkenntnis (Aggregat von Alternativen), oder das disjunktive<br />
Urteil als nicht-ausschließendes oder eben nur als Organisationsform der Vorstellung<br />
(absolute Einheit versus infinitesimale Teilbarkeit des sukzessive synthetisierten<br />
Kontinuums) hat die Form des ontologischen Gottesbeweises. Hingegen sei der<br />
Nachweis, daß eine bestimmte Art von Vorstellung kein Begriff ist, schon der Beweis<br />
für die Objektivität (nicht Realität) des Raumes.
— 295 —<br />
transzendentale Gegenstand kann aber nicht angeschaut werden, folglich<br />
ist der Gegenstand, worauf die Anschauung sich unmittelbar beziehen<br />
soll, weder das Ding an sich selbst noch die Erscheinung. Damit wären als<br />
einziger Ausweg der Anschauung als Vereinigung der Prädikate und der<br />
Vorstellungen in einem Objekt der Erfahrung die Grundsätze der<br />
Erfahrung, also die dynamischen Kategorien, vorauszusetzen; die Einheit<br />
in der reinen Anschauungsform reicht dann für sich aber nicht mehr aus,<br />
um die objektive Einheit der Apperzeption zu fundieren. Die<br />
Unmittelbarkeit der Beziehung der Anschauung auf ihren Gegenstand<br />
kann dann nur mehr dahingehend verstanden werden, daß dieser<br />
Gegenstand bereits in den Erscheinungsverhältnissen als selbstständiges<br />
Phänomen gedacht werden müßte, das weder allein dem erkennenden<br />
Subjekt noch allein dem bereits in einem Zusammenhang mit anderen<br />
Objekten stehenden erkannten Objekt zugerechnet werden kann.<br />
In der zweiten Fassung stellt Kant die Erscheinung nicht am Anfang der<br />
Untersuchung, sondern erklärt diese gleich zum Produkt: Die<br />
Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung<br />
macht die Wahrnehmung, d.i. empirisches Bewußtsein derselben (als<br />
Erscheinung), erst möglich. 53 Diese Doppeltheit des Begriffes von der<br />
Erscheinung wird noch zu verfolgen sein.<br />
§ 5 Zur zweifachen ursprünglichen Einheit<br />
Ein Zitat aus dem § 24 hat weiter oben im Paragraphen über die<br />
ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption (hier § 3) das<br />
besondere Interesse gefunden, da darin behauptet wird, daß die Synthesis<br />
in der bloßen Kategorie intellektuell ist; die ursprünglich-synthetische<br />
Einheit aber immer schon Einbildungskraft benötigt.<br />
»Diese Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a<br />
priori möglich und notwendig ist, kann figürlich (synthesis speciosa )<br />
genannt werden, zum Unterschiede von derjenigen, welche in Ansehung<br />
des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt in der bloßen Kategorie<br />
gedacht würde, und Verstandesverbindung (synthesis intellectualis ) heißt;<br />
beide sind transzendental, nicht bloß weil sie selbst a priori vorgehen,<br />
sondern auch die Möglichkeit anderer Erkenntnis a priori gründen. Allein<br />
53 K.r.V., B 160
— 296 —<br />
die figürliche Synthesis, wenn sie bloß auf die ursprünglich-synthetische<br />
Einheit der Apperzeption, d.i. diese transzendendentale Einheit geht,<br />
welche in den Kategorien gedacht wird, muß, zum Unterschiede von der<br />
bloß intellektuellen Verbindung, die transzendentale Synthesis der<br />
Einbildungskraft heißen.« 54<br />
Hier scheint die Schwierigkeit der verschiedenen Auffassungen, die sich in<br />
den Portalsätzen des § 17 und deren Anmerkung gezeigt haben,<br />
einigermaßen einer Lösung näher gebracht worden zu sein. 55 Es bleibt<br />
jedoch das Problem, daß Kant im Anschluß an die Vorstellung der beiden<br />
Beziehungen des obersten Grundsatzes der Möglichkeit aller Anschauung<br />
in § 17 die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption als ganz<br />
unabhängig von der bloß figürlichen Form der äußeren sinnlichen<br />
Anschauung vorstellt, während in der Anmerkung in § 17 gerade die<br />
einzelne Anschauung als ursprüngliche Synthesis behauptet und der<br />
ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption (in diesem<br />
Zusammenhang nur als synthesis intellectualis zu verstehen möglich)<br />
gegenüber gestellt wird. Andernorts wird seit § 16 und schließlich<br />
ausdrücklich nochmals im gegebenen Zitat aus § 24 die ursprünglich —<br />
synthetische Einheit bereits immer wieder als die Synthesis der<br />
Sinnlichkeit bzw. schließlich der Einbildungskraft mit dem<br />
Verstandesvermögen vorgestellt. Wir haben also drei synthetische<br />
Fassungen der Einheit der Apperzeption: eine ursprünglich synthetische in<br />
der Einheit der einzelnen Anschauung, eine ursprünglich — synthetische in<br />
der abstraktiven und intellektuellen Fassung der rationalen Psychologie<br />
des »ich denke«, und eine ursprünglich — synthetische Einheit in der<br />
Fassung der Vereinbarung von Verstand und Sinnlichkeit in<br />
transzendentaler Subsumtion und im transzendentalen Schematismus, in<br />
welchem die transzendentale Einbildungskraft eine selbst doppelte Rolle<br />
spielt. Allerdings vermag nach meinen bisherigen Ausführungen die<br />
produktive Einbildungskraft im § 16 weder von selbst die Einheit der<br />
Anschauungsform noch die Einheit in den Kategorien zu erreichen. So<br />
kann diese Stelle nur so verstanden werden, daß nunmehr auch die<br />
transzendentale Funktion der Einbildungskraft in der synthesis speciosa als<br />
ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption fungiert, obwohl der<br />
Ausdruck »ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption« in § 16<br />
54 B 151<br />
55 Im vierten Kapitel dieses Abschnitts wird diese Schwierigkeit im Rahmen des<br />
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe weiter behandelt.
— 297 —<br />
auf keine Weise selbst die Einheit in den Kategorien bedeuten kann —<br />
dazu sind eben die Schematen der reinen Verstandesbegriffe von nöten.<br />
Die Gegenüberstellung von ursprünglich synthetischer Einheit und<br />
ursprünglich-synthetischer Einheit bleibt hier nun deshalb über die<br />
antinomische Struktur hinaus von Bedeutung, weil Kant im gegebenen<br />
Zitat aus § 24 von der synthesis intellectualis im Konjunktiv spricht; also die<br />
Voraussetzung als bloße Denkmöglichkeit macht, es gäbe ein Denken ohne<br />
gegebene Anschauung. Gäbe es ein Denken ohne gegebene Anschauung,<br />
dann wäre die synthesis intellectualis die ursprüngliche Einheit der<br />
Apperzeption. Wohl gilt aber auch: Gäbe es die Einheit der einzelnen<br />
Anschauung (Vorstellung) ohne Verstandesbegriffe, dann wäre die<br />
einzelne Vorstellung als Anschauung aus der Anmerkung des § 17 die<br />
ursprüngliche Einheit der Apperzeption. Schon in § 22 (Die Kategorie hat<br />
keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre<br />
Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung) wird die gleiche<br />
Schwierigkeit behandelt:<br />
»Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also<br />
nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke; erstlich der<br />
Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie),<br />
[...]« –<br />
— in dieser Gegenüberstellung wird der Gegenstand bereits allein vom<br />
Verstand gedacht<br />
»[...] und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn,<br />
könnte dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung gar nicht<br />
gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen<br />
Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgend einem Dinge<br />
möglich; [...] —<br />
— hier sagt Kant ausdrücklich, daß ein Gedanke der Form nach keinen<br />
Gegenstand besitzt. Zuzustimmen ist, daß ohne Sinnlichkeit der Begriff<br />
vom Gegenstand keinerlei Erkenntnisse von einem Ding mit sich führen<br />
kann. Es muß aber Gründe geben, die einen Gedanken nur »der Form<br />
nach« auch ohne Anschauung von anderen Gedanken unterscheiden<br />
lassen, die überhaupt keinen Gegenstand im Sinne der Kantschen<br />
»Erkenntnis« als Erkenntnis von einem Ding besitzen können. Schließlich
— 298 —<br />
scheint Kant auch hier nicht zu einer eindeutigen Entscheidung über den<br />
Gegenstandsbegriff zu gelangen, wenn er zuerst behauptet, daß zum<br />
Denken eines Gegenstandes nur Verstand notwendig ist, ein gedachter<br />
Gegenstand ohne Anschauung aber gar keine Erkenntnis mehr sein sollte.<br />
Denn dann schreibt Kant: »Durch Bestimmung der ersteren [reine<br />
Anschauung] können wir Erkenntnisse a priori von Gegenständen (in der<br />
Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nach, als Erscheinungen; ob<br />
es Dinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen,<br />
bleibt noch unausgemacht.« 56<br />
Reine Anschauung wird also durchaus einer Bestimmung, insofern einer<br />
intentionalen Gegenständlichkeit ohne konkreter empirischer Anschauung<br />
für fähig erachtet. — Für die Beobachtung des Gebrauchs der<br />
grundlegenden Begriffe der Analytik der Begriffe und der Grundsätze für<br />
Erkenntnisse von Dingen ist hier aber bedeutsam: Wahrnehmungen sind<br />
mit Empfindung begleitete Vorstellungen: »Dinge im Raum und in der<br />
Zeit [also nicht selbst die Gegenständlichkeit im Verstandesbegriff<br />
berührend] werden aber nur gegeben, so fern sie Wahrnehmungen (mit<br />
Empfindung begleitenten Vorstellungen) sind, mithin durch empirische<br />
Vorstellung.« 57<br />
Damit können hier nun korrekt die gegebenen Dinge und die gedachten<br />
Gegenstände unterschieden werden. Mit dieser Feststellung kann nun in<br />
die eigentümliche Bestimmung Kantens gegangen werden: »Sinnliche<br />
Begriffe sind Titel der Anschauung, Regel der Wahrnehmung in der<br />
Erfahrung sind Titel der Erscheinungen.« 58<br />
Hier wird der Erscheinung im Gegensatz zur ersten Fassung bereits in<br />
Aussicht gestellt, als Produkt des Erfahrungsbegriffes gelten zu können.<br />
Anschauung aber wäre demnach das Produkt sinnlicher Begriffe.<br />
Erfahrungsbegriff und sinnlicher Begriff geraten so in Konkurrenz. Denn:<br />
Nach § 22 sind Wahrnehmungen mit Empfindung begleitete<br />
Vorstellungen. Sinnliche Begriffe sind nach B 180/A 141f.<br />
(Schematismuskapitel), solche, die Vorstellungen enthalten, die<br />
Anschauung enthalten. Diese aber ist wiederum eben durch Sinnlichkeit<br />
gekennzeichnet — und wie aus dem Zusammenhang geschlossen werden<br />
muß, durch empirische Sinnlichkeit. Demnach ist die Anschauung ein<br />
56 K.r.V., B 147<br />
57 l. c.<br />
58 Refl. 4681, AA XVII. p. 666 f., vgl. dazu auch BENEDIKT 1977, p. 261ff. p. 263:
— 299 —<br />
sinnliches Produkt der Einbildungskraft nach oder gemäß sinnlicher<br />
Begriffe und die Erscheinung ein sinnliches Produkt der Regel der<br />
Wahrnehmungen, die selbst freilich Vorstellungen sind, die Empfindung<br />
beinhalten.<br />
Wahrnehmungen sind also Vorstellungen, die Anschauung beinhalten<br />
(wie in der Rekognition), und bedeuten selbst, so weit mit Gewißheit<br />
ausgesagt werden kann, nichts weiter als empirische Sinnlichkeit — und<br />
zwar eben die gleiche Sinnlichkeit, der auch der sinnliche Begriff<br />
verpflichtet ist. »Regel der Wahrnehmung in der Erfahrung sind Titel der<br />
Erscheinung«: das unterscheidet die sinnlichen Begriffe an der Oberfläche<br />
vom Titel der Erscheinung bloß daran, als ob der »sinnliche Begriff«<br />
gegenüber der empirischen Sinnlichkeit (Empfindung) keinerlei Regel<br />
hätte. Entscheidend ist also zunächst, daß auch im sinnlichen Begriff eine<br />
(qualitative) Regel der Erfahrung qua Begrifflichkeit enthalten sein muß,<br />
ansonsten nicht von Begriff gesprochen werden könnte; doch ist mit der<br />
Unterscheidung in »sinnlichen Begriff« und der »Regel der Wahrnehmung<br />
in der Erfahrung« eben auch der Horizont der anschaulichen und<br />
kontinuierlichen Gegenwart ausdrücklich verlassen worden, welche die<br />
»sinnlichen Begriffe« (und in einem gewissen Sinn ein Teil der<br />
»Wahrnehmungen«) auszeichnet. Es geht nunmehr um den Vergleich von<br />
Teilen bzw. Ausschnitten (eben Anschauung) der jeweils gegebenen<br />
kontinuierlichen Gegenwart (als Erscheinungsreihe) mit einem Konzept<br />
über deren Organisiertheit; was eben Erfahrung von der Beschreibung<br />
unterscheidet (Erklärung gegenüber der Anschauung).<br />
§ 6 Sind die Kategorien anthropologisch fundiert?<br />
Kant hält die letzte Aussage von § 22 (»Folglich haben die Kategorien<br />
keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als nur so fern<br />
diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden.«) nicht<br />
zu unrecht für zentral: »Der obige Satz ist von größter Wichtigkeit; denn er<br />
bestimmt eben sowohl die Grenzen des Gebrauchs der reinen<br />
Verstandesbegriffe in Ansehung der Gegenstände, als die transzendentale<br />
Ästhetik die Grenzen des Gebrauchs der reinen Form unserer sinnlichen<br />
Anschauung bestimmete.« 59<br />
59 § 23, B 149
— 300 —<br />
Im ersten Fall bestimmt die Sinnlichkeit die Grenze des Verstandes, im<br />
zweiten Fall bestimmt die transzendentale Ästhetik »die Grenzen des<br />
Gebrauchs der reinen Form unserer sinnlichen Anschauung«. Demnach<br />
bestimmt die transzendentale Ästhetik nicht selbst »die reine Form unserer<br />
sinnlichen Anschauung«; dazu sind zwei Fragen zu stellen: erstens, von<br />
woher nimmt die transzendentale Ästhetik ihre Gründe; zweitens, woher<br />
nimmt die »reine Form« ihre Gründe? Ersteres ist kaum zu beantworten;<br />
jedenfalls kann von hier aus nur auf die metaphysischen Erörterungen des<br />
Raumes verwiesen werden. Zweiteres ist zur Beantwortung einfach<br />
entweder auf die transzendentale Psychologie zwischen rationaler<br />
Psychologie und rationaler Physiologie oder auf den Übergang von<br />
transzendentaler Subsumtion, welche eine analytisch metaphyische<br />
Interpretation entlang des Leitfadens der Prädikatenlogik besitzt, zum<br />
transzendentalen Schematismus, welche eine synthetisch (teils<br />
transzendental a priori, teils synthetisch-metaphysisch a posteriori)<br />
metaphysische Interpretation entlang des Leitfadens der Aussagenlogik zu<br />
verweisen. Jedoch ist komplementär zu bedenken: Die auf die »reine<br />
Form« unserer sinnlichen Anschauung eingeschränkte Wahrnehmungs-<br />
Vorstellungs- und und Erscheinungsreihe, worauf Erfahrung<br />
ausschließlich beruht, schränkt nunmehr den Gebrauch des<br />
Verstandesbegriffes vom Gegenstand ein, während die möglichen<br />
Verwendungen von »Anschauung« dank des psychologischen<br />
Kunstgriffes in § 1 der transzendentalen Ästhetik, »reine Sinnlichkeit« der<br />
»reinen Anschauung« vorauszusetzen, durch den Hinweis auf die<br />
Sinnlichkeit der Anschauung allein (ohne Hinweis auf die Empfindung)<br />
nicht mehr auf empirische Anschauung einzuschränken sind. Darüber<br />
hinaus schreibt Kant in § 23noch: »Die reinen Verstandesbegriffe sind von<br />
dieser Einschränkung frei, und erstrecken sich auf Gegenstände der<br />
Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht,<br />
wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist. Diese weitere<br />
Ausdehnung der Begriffe über unsere sinnliche Anschauung hinaus, hilft<br />
uns aber zu nichts. Denn es sind alsdenn leere Begriffe von Objekten, von<br />
denen, ob sie nur einmal möglich sind oder nicht, wir durch jene gar nicht<br />
urteilen können [...].« 60<br />
Kant vermag sich also verschiedene »Sinnlichkeiten«, zunächst womöglich<br />
auch verschiedene Formen der Anschauung, vorzustellen, denen alle<br />
60 l. c.
— 301 —<br />
gemeinsam ist, sinnlich, d. i. empfindend, zu sein. Damit unterscheidet<br />
Kant die »reine Anschauung« von diesen Variationen »empirischer«<br />
Anschauungformen, die, obwohl jeweils auch qualitativ verschieden,<br />
aufgrund der »formalen Anschauung« eine einheitliche Grundlage<br />
besitzen, weil diese nach den primitiven Regel der Beharrlichkeit in der<br />
Apprehension der Erscheinung und in weiterer Folge mit der logischen<br />
Regel der Sukzession vom Verstand zu bestimmen sind. Kant setzt auch<br />
die Folgen der Schematen der konstitutiven Kategorie einer<br />
anthropologischen Einschränkung aus: Einem Objekt keine Anschauung<br />
geben zu können, könnte auch heißen, daß die unsrige nicht für ihn gelte. 61<br />
Für reine Anschauung scheint das jedoch nach dem vorhin Gesagten nicht<br />
zwingend zu gelten. — Kant wechselt in der Überschrift des § 22 62 von den<br />
»Gegenständen der Erfahrung« zu den »Gegenständen der Sinne<br />
überhaupt« in der Überschrift des § 24 63 . Man darf vermuten, daß Kant<br />
damit für den Fortgang seiner Überlegung die empirisch-anthropologische<br />
Einschränkung für die Verstandesbegriffe wieder zurücknehmen wollte. In<br />
§ 24 wird ausdrücklich gesagt: »Die reinen Verstandesbegriffe beziehen<br />
sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung<br />
überhaupt, unbestimmt ob sie die unsrige oder irgend eine andere, doch<br />
sinnliche sei, [...].« 64 Kant unterscheidet aber nicht nur unsere Sinnlichkeit<br />
von anderen denkbaren Sinnlichkeiten, sondern unseren Verstand vom<br />
göttlichen Verstand: »Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein<br />
Vermögen der Anschauungen ist, und diese, wenn sie auch in der<br />
Sinnlichkeit gegeben wäre, doch nicht in sich aufnehmen kann, um<br />
gleichsam das Mannigfaltige seiner eigenen Anschauung zu verbinden, so<br />
ist seine Synthesis, wenn er für sich allein betrachtet wird, nichts anderes,<br />
als die Einheit der Handlung, deren er sich, als einer solchen, auch ohne<br />
Sinnlichkeit bewußt ist, durch die er aber selbst die Sinnlichkeit innerlich<br />
in Ansehung des Mannigfaltigen, was der Form ihrer Anschauung nach<br />
ihm gegeben werden mag, zu bestimmen vermögend ist.« 65<br />
»Denn, wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschauete (wie<br />
etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellete,<br />
sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich<br />
61 l. c.<br />
62 Die Kategorie hat keinen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre<br />
Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung<br />
63 Von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt.<br />
64 B 150, Herv. v. Verf.<br />
65 B 153
— 302 —<br />
gegeben, oder hervorgebracht würden), so würden die Kategorien in<br />
Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar keine Bedeutung haben.« 66<br />
Kant unterscheidet also klar und deutlich die reine Anschauung einerseits<br />
von allen möglichen empirischen Anschauungen und andererseits von der<br />
intellektuellen Anschauung. Bemerkenswerterweise soll es möglich sein,<br />
daß es Gegenstände geben könnte, die nicht für unsere Art von<br />
Anschauung geeignet sind, obgleich die reine Anschauung unabhängig<br />
von der Art der empirischen Anschauung in der formalen Anschauung<br />
rein nach Begriffen konstruiert werden kann. Das ist auch ein Hinweis auf<br />
die Möglichkeit von Geometrien, die nicht geeignet sind, auf empirische<br />
Anschauungen angewandt zu werden.<br />
§ 7 Ding und Existenz im kategorischen Urteil<br />
a) Anschauung und Erfahrung und die endgültige Aufhebung ihrer<br />
zirkulären Argumentationsstruktur<br />
Obwohl aufgrund der Universalität von Raum und Zeit als<br />
transzendentale und reine Anschauungsform und aufgrund deren<br />
Kontinuitätsbedingung als Anschauungsform bereits ohne Substanz und<br />
ohne Kausalität (aber nicht ohne deren Möglichkeit) 67 ein System von<br />
Regeln aufgestellt werden kann, welche für alle Anschauungen gelten<br />
können muß, geben erst die dynamischen Kategorien die Möglichkeit, den<br />
konstituierten raumzeitlichen Horizont einer Anschauung als objektive<br />
Realität anzusehen. Zwar bezieht Kant schon § 14 die Erfahrung in die<br />
Konstitution mit ein, jedoch bleibt nicht nur die weiterhin unverändert<br />
gebrauchte Gegenüberstellung von Anschauung und Begriff ein Indiz für<br />
die Annahme, die Folgen der Einbeziehung der Erfahrung 68 in den Kreis<br />
der Konstituenten auf die weitere Argumentation wäre eine nur geringe:<br />
66 § 21, B 145<br />
67 Vgl. den Gedankengang in der Phoronomie (M.A.d.N.): Obwohl die Beweglichkeit<br />
der Materie bis auf eine Ausnahme in der Analytik der Grundsätze erst im Beweis<br />
der Kausalitätskategorie heran-gezogen wird (B 237), setzt die Phoronomie noch<br />
nicht die vollständige dynamische Kategorie voraus, da als Substrat anstatt der mit<br />
Kausalität begabten Materie nur das Bewegliche bestimmt wird. Die Phoronomie<br />
erfüllt also noch nicht die dynamische Kategorie der Kausalität, sofern im Grundsatz<br />
die Änderung in der Erscheinung als Änderung des Zustands als<br />
Bewegungsänderung, also als Richtungs- und/oder Geschwindigkeitsänderung<br />
vorgestellt wird, wozu zur Darstellung bloß die Mechanik benötigt wird.<br />
68 Die Erfahrung ist hier einerseits auf die kontinuierliche Vergänglichkeit der<br />
Gegenwart als empirischen Grund der Wahrnehmung angewiesen (während die
— 303 —<br />
»Nun enthält aber alle Erfahrung außer der Anschauung der Sinne,<br />
wodurch etwas gegeben wird, noch einen Begriff von einem Gegenstande,<br />
der in der Anschauung gegeben wird, oder erscheint: demnach werden<br />
Begriffe von Gegenständen überhaupt, als Bedingung a priori, darauf<br />
beruhen, daß durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach)<br />
möglich sei. Denn alsdenn beziehen sie sich notwendiger Weise und a<br />
priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil nur vermittelst ihrer<br />
überhaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann.« 69<br />
Die Erfahrung enthält den Begriff vom Gegenstande; das ist selbst noch<br />
kein Hinweis auf die Bedeutung der dynamischen Kategorien für die<br />
Möglichkeit überhaupt, ein gegebenes Objekt als einzelnen Gegenstand zu<br />
denken. Die Verschiebung zur Frage nach dem grammatikalischen und<br />
logischen Ursprung des Begriffes von einem einzelnen Gegenstand, also<br />
daß im besonderen Sinne die Möglichkeit von Erfahrung »der Form des<br />
Denkens nach« von diesem abhänge, kann nicht verhindern, daß das<br />
gegebene Objekt der Anschauung in Abhängigkeit von der Erfahrung<br />
gerät, weil es als empirisches Objekt der Sinnlichkeit eben immer nur in<br />
der Erfahrung und gemäß deren Prinzipien gegeben werden kann. Kant<br />
scheint im ersten Satz mit zwei Begriffen von »Anschauung« zu operieren:<br />
zuerst betrachtet er die Anschauung als etwas in der Erfahrung<br />
enthaltenes, aber davon verschiedenes, dann soll schon die Anschauung<br />
den Begriff des Gegenstand, der erst die Möglichkeit der Erfahrung<br />
ausmacht, ohne Erfahrung gegeben haben. In welchem Sinn ist das der<br />
Anschauung zuzumuten? Sicherlich im modalen Sinne des zweiten<br />
empirischen Postulats: Zur logischen Assertion muß die Sinnlichkeit der<br />
Anschauung ein Objekt geben können. Im modalkategorialen Sinne der<br />
Konstitution eines gebbaren Objektes als möglicher Gegenstand der<br />
Erfahrung (erstes empirisches Postulat) aber offensichtlich nicht.<br />
Nunmehr soll zwar zuerst die Anschauung dem im reinen<br />
Verstandesbegriff gedachten Gegenstand die Bedingung geben, die<br />
Erfahrung erst möglich macht. Doch ist andererseits die Erfahrung<br />
Untersuchung der bloß sinnlichen Empfindung die Gegenwart selbst als<br />
unvergänglich in der epoché behielt). Andererseits beinhaltet der Begriff von der<br />
Erfahrung immer schon den Vergleich von jetzt Gegenwärtigen mit damals<br />
Gegenwärtigen. Hier soll sowohl in der Anschauung wie in der Erfahrung das<br />
Prinzip der Kausalität (ihm vorausgesetzt das Prinzip der Substanz) die reale<br />
Verknüpfung mit der Vergangenheit besorgen.<br />
69 B 126/A 93
— 304 —<br />
gleichwohl die Bedingung, daß Anschauung wirklich (d. h. als empirische<br />
Anschauung) möglich ist. Hier sind wieder einige Bestimmungen<br />
beizubringen, um die Schwierigkeiten dieser Aussage Kants deutlich zu<br />
sehen: Die erstgenannte Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung kann<br />
als die der formalen und auch der reinen Anschauung verstanden werden,<br />
deren bestimmte Regelhaftigkeit keine Gegenstände, die von der<br />
empirischen Sinnlichkeit gegeben werden könnten, benötigt. Die<br />
zweitgenannte — empirische — Bedingung der Anschauung setzt aber<br />
nicht nur Sinnlichkeit, sondern auch Erfahrung — also nicht nur reine,<br />
sondern auch empirische Sinnlichkeit — voraus. Mit der zweitgenannten<br />
Bedingung des Verstandesbegriffes als Kategorie der Erfahrung gilt aber<br />
wiederum, daß die empirisch-sinnliche Anschauung den reinen<br />
Verstandesbegriff vom Gegenstand benötigt, um allererst Erfahrung<br />
möglich zu machen. Damit scheint der Zirkelschluß unausweichlich.<br />
Doch ist die Erfahrung dem Objekt der Anschauung nur insofern<br />
vorausgesetzt, als daß die Sinnlichkeit uns nur in der Zusammenfassung<br />
der kontinuierlichen Zeit einen Gegenstand auch geben kann. Erfahrung im<br />
kategorialen Sinne des Erklärens der Anschauung zum Gegenstand<br />
beinhaltet aber schon einen Begriff der Verhältnisse der Dinge<br />
untereinander und nicht nur der Verhältnisse deren Erscheinungen. Derart<br />
werden die die Momente der Zeitlichkeit der »empeiria«, also dem<br />
erfahrenen Umgang mit seinen Sinnen und den physischen Alltagsdingen<br />
(seien sie Zivilisationsprodukte oder Naturdinge), vom Vollbegriff der<br />
Erfahrung im Rahmen der Phronesis (technische und praktische Klugheit),<br />
welche in der Idee der Wahrheit mit der Theoriefähigkeit in Beziehung<br />
steht, wieder selbstständig unterscheidbar. Auch für die<br />
formale Anschauung ist zwar die kontinuierliche Zeit wie die Sinnlichkeit<br />
gleichermaßen vorausgesetzt, doch aber zweimal nicht der Grund der<br />
Erscheinung des Objektes, sofern die Anschauung überhaupt uns die<br />
Gegenstände gibt. 70 Für die reine Anschauung gilt gleiches, weil noch die<br />
Möglichkeit der Gegenstände der reinen Anschauung (Geometrie) von<br />
Kant selbst als (selbst unzeitliche) Bedingung der möglichen Erfahrung<br />
beansprucht werden. Die Zeitlichkeit der Anschauung in jedem Sinn ist<br />
kontinuierlich und gegenwärtig, die Zeitlichkeit der Erfahrung im engeren<br />
Sinn des Wortes ist diskontinuierlich und bezieht die von der Gegenwart<br />
70 Daß wir auch den bloßen Erscheinungen immer schon ein Ding voraussetzen, wäre<br />
ohne den vollständigen Gebrauch der Kategorien als dialektisch zu kritisieren.
— 305 —<br />
getrennte Vergangenheit mit ein, wenngleich noch vorausgesetzt wird, daß<br />
der Übergang von Vergangenheit und Gegenwart kontinuierlich verläuft.<br />
Wir haben also nach Kant in der Erfahrung sowohl einen<br />
Verstandesgrund, der nicht in der kontinuierlichen Erfahrung in der<br />
Anschauungsform liegt, zu berücksichtigen, wie einen Grund, der<br />
außerhalb der Form der je aktuellen Anschauung liegt, ohne selbst deshalb<br />
bloß intellektuell zu sein.<br />
Das bedeutet nicht nur, daß es sich hiebei nicht um eine einfache<br />
Tautologie handelt, sondern in Folge auch, daß die kontinuierlich<br />
verfließende Zeit der empirischen Sinnlichkeit für sich noch keinen<br />
Gegenstand gibt, sondern dazu noch eine weitere Art von Regel der<br />
Verknüpfung der Erscheinungen hinzutreten muß. Das ist erstens nun die<br />
primitive Regel der Apprehension, welche das Beharrliche im Wechsel der<br />
Erscheinungen bestimmt, zweitens die Regeln des geometrischen Begriffs,<br />
um mittels des Schematismus der empirischen Einbildungskraft die<br />
Formen der Erscheinungen auf Begriffe zu bringen. Drittens das Prinzip<br />
der durchgängigen Bestimmung eines Dinges mittels aller möglichen<br />
Prädikate überhaupt und die Regeln des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand im Ideal der reinen Vernunft, welches die wesensnotwendigen<br />
Prädikate des allgemeinen Wesens einer Gattung auf intellektuellem Wege<br />
bestimmt. Viertens aber muß die Bestimmung zur objektiven Realität<br />
durch eine Art von Regeln erfolgen, die von der Art der Regel der<br />
logischen Gegenstände überhaupt und von den Regeln der Figuren in der<br />
Geometrie und der Größen in der Arithmetik verschieden sind, da das<br />
Ding überhaupt und der Begriff von einem einzelnen Gegenstand zwar die<br />
Existenz analytisch notwendigerweise beinhalten, aber, wie eben die<br />
transzendentale Analytik zeigt, nur als subjektive (oder nur hinsichtlich<br />
des Einschränkungsgrundes der Zweckmäßigkeit der Mathematik auch<br />
schwächer als objektiv zu bezeichnende) Realität. Aber auch die subjektive<br />
Realität eines Dinges überhaupt und die subjektive »reine Form« der<br />
Erscheinungen vermögen zusammen zwar genau genommen nur objektive<br />
Giltigkeit, aber nicht schon objektive Realität zu erweisen. Es ist in den<br />
folgenden Untersuchungen also weiterhin darauf zu achten, wie die<br />
Hinweise gegeben werden, die für den Begriff des Gegenstandes oder<br />
Objektes in der transzendentalen Analytik eine Verbindung zu den<br />
dynamischen Kategorien vor den synthetischen Grundsätzen der<br />
konstitutiven Kategorien selbst zumindest anweisen.
— 306 —<br />
Kant exponiert bereits in § 18 die transzendentale Einheit der<br />
Apperzeption wieder 71 als in der Anschauung auf ein Objekt bezogen.<br />
Dazu dient aber die Konstitution eines geometrischen Elements, nämlich<br />
das Ziehen einer Linie und der darin bestimmte Begriff eines bestimmten<br />
Raumes 72 als Vorbild. Ohne also hier auf das reine synthetische Urteil a<br />
priori im Rahmen der Geometrie nochmals eingehen zu müssen, soll die<br />
Konstruktion einer geometrischen Figur (hier eine Strecke) als Vorbild der<br />
Vereinigung des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen in einem<br />
Begriff vom Objekte dienen können. 73 Während in § 18 die subjektive<br />
Einheit des Bewußtseins als die der Assoziation und Reproduktion, die<br />
objektive Einheit aber lediglich durch die »notwendige Beziehung des<br />
Mannigfaltigen der Anschauung zum Einem: ich denke; also durch die<br />
reine Synthesis des Verstandes, welche a priori der empirischen zum<br />
Grunde liegt« 74 bestimmt wird, und so dem Begriff des Objektes<br />
anheimgestellt ist, bloß das Duplikat der Einheit und der Identität der<br />
ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption zu werden, 75 gibt<br />
Kant in § 19 das berühmte Beispiel, wie aus einem hypothetischen Urteil<br />
über die bloße Assoziation in der Anschauung: »Wenn ich einen Körper<br />
trage, so fühle ich einen Druck der Schwere« zum kategorischen Urteil:<br />
»Der Körper ist schwer« übergegangen werden soll. 76 Ungeachtet der<br />
Frage nach der Quantität des Urteils, also ungeachtet ob dieses<br />
kategorische Urteil wirklich notwendigerweise allgemeingültig ist, wird<br />
damit die Absicht in der zweiten Fassung Kants deutlich, mit der Einheit<br />
der Mannigfaltigkeit der Anschauung in der Apperzeption als die Einheit<br />
der Mannigfaltigkeit eines Begriffes auch das Ungleichartige (Ausdehnung<br />
und Schwere) in einem Objekt synthetisch zu verbinden. Daraus geht aber<br />
wiederum nicht sofort hervor, inwieweit die dynamische Kategorie zur<br />
Konstitution eines gegebenen Objektes zum einzelnen Gegenstand als<br />
unbedingt notwendig herausgestellt werden kann. — Daß in der Ersten<br />
71 Kant wiederholt damit eine Position aus der ersten Fassung (A 104), wo die<br />
Konstitution des Objekt als Voraussetzung für die transzendentale Einheit der<br />
Apperzeption fungiert. Das wird bekanntlich in B vom zweiten Kriterium in § 16,<br />
dem Hinzusetzen einer Vorstellung zu einer anderen, ersetzt.<br />
72 K. r. V., B 138<br />
73 B 139<br />
74 B 140<br />
75 Vgl. den Paralogismus der rationalen Psychologie: »Was nicht anders als Subjekt<br />
gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz.<br />
Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als<br />
Subjekt gedacht werden. Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz.«<br />
(B 410 f.)<br />
76 B 142
— 307 —<br />
metaphysischen Erörterung des Raumes bereits die Realität eines Dinges<br />
und die Realität räumlicher Distanz aus der ursprünglichen Beziehung von<br />
Subjekt und Objekt (Affinität qua Intentionalität) ausgedrückt wird,<br />
widerspricht dieser kritischen Haltung gegenüber der Konstitution des<br />
Gegenstandes aus der bloßen Anschauung 77 nicht, da hier nach der<br />
Konstitution eines Objektes der Erfahrung im Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand und nicht bloß nach einem Ding überhaupt vor jeder<br />
Anschauungsform gefragt wird. 78<br />
Auch wenn die Einheit von Raum und Zeit als Anschauungsform oder die<br />
ursprüngliche Synthesis als formale Anschauung für die Apprehension<br />
vorauszusetzen ist, ist deshalb damit noch gar nicht bekannt, was von der<br />
gegebenen Mannigfaltigkeit der Anschauung (hier eben noch nicht als<br />
Produkt der dynamischen Kategorien) zu ein und demselben Objekt<br />
gehört und was nicht (auch sieht man einmal von der Schwierigkeit ab,<br />
daß z. B. gewisse Phänomene wie etwa Farbe oder Wärme gar nicht im<br />
ontologischen Sinne eindeutige Akzidentien eines bestimmten<br />
Gegenstandes allein sind). Kant schränkt aber den Horizont der<br />
Anschauung immer schon auf ein Objekt ein und verweist hier dabei noch<br />
auf Bedingungen zur Einheit des Begriffes im reinen Verstandesgebrauch<br />
und nicht auf weitere Differenzierung des Begriffes der Anschauungsform<br />
oder auf die Bedeutung der Einheit der Erfahrung für die<br />
Gegenstandskonstitution wie Husserl immerhin im Konzept der<br />
»Appräsentation«. Genau die Beziehung der qualitativen Einheit eines<br />
Begriffes auf ein Objekt konnte als notwendige Bedingung des Konzeptes<br />
vom Konzept in ihren Grundlagen aber noch gar nicht aufgeklärt werden.<br />
Dazu erfolgt hier im nächsten Kapitel eine grundlegende Untersuchung<br />
des offenbar bei aller Kritik unumgänglichen Idealismus.<br />
77 In diesen Zusammenhang also auf die Konstitutionsleistung der mathematischen<br />
Kategorien beschränkt. Vgl. B 222: »Eine Analogie der Erfahrung wird also nur eine<br />
Regel sein, nach welcher aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung (nicht wie<br />
Wahrnehmung selbst, als empirische Anschauung überhaupt), und als Grundsatz<br />
von den Gegenständen (der Erscheinung) nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ<br />
gelten.«<br />
78 Vgl. hiezu Kants Ablehnung der These Leibnizens, daß die Lage der Substanzen<br />
zueinander zu deren individuellen Wesensidee gehöre. In: Von den Gegenden im<br />
Raum.
— 308 —<br />
b) Das kategorische Urteil steht sowohl zur Totalität wie zur Kontingenz<br />
in Beziehung<br />
Kant hat den Gegenstand in dem hier angezogenen Zusammenhang<br />
bislang als ein Problem zwischen Anschauung und Vorstellung einerseits<br />
und zwischen Vorstellung und Begriff andererseits bestimmt, in § 19 der<br />
transzendentalen Deduktion wird allerdings erstmals die logische Form<br />
des kategorischen Urteils zur Bestimmung des Begriffes von einem Objekt<br />
herangezogen. 79 Damit scheint aber doch mehr geleistet worden zu sein,<br />
als den transzendenten Gebrauch der reinen Vernunftbegriffe, d.i. die<br />
Subreption im Ideal der reinen Vernunft, von der Allheit möglicher<br />
Prädikate a priori auf ein existierendes Ding an sich selbst zu schließen, im<br />
Rahmen der sinnlichen Anschauung überhaupt als für gerechtfertigt zu<br />
erklären: Im Kapitel über das transzendentale Ideal wird mittels dreier<br />
Selektionsverfahren zuerst zwar die Allheit der möglichen Prädikate eines<br />
Dinges bestimmt, schließlich aber der das Existenzprädikat enthaltende<br />
(nach sich ziehende) Teil der Sphäre der (gemäß dem subkonträren Urteil)<br />
entgegengesetzen Prädikate dann ersetzt vom wesensnotwendigen<br />
Merkmal des allgemeinen Begriffs von einem einzelnen Gegenstand. Trotz<br />
der Erklärung der Subreption der Vernunft im transzendentalen Ideal wird<br />
nochmals der das Existenzprädikat enthaltene Teil der Sphäre aller<br />
möglichen Prädikate eines Dinges auf die Allheit möglicher Prädikate<br />
sinnlich gegebener Anschauung angewendet. 80 Nicht nur, daß der<br />
Verstand trotz der Sinnlichkeit als einschränkende Bedingung des<br />
Gegebenseins von Prädikaten eben die gleiche Subreption vollzieht, wenn<br />
die ganze Anschauung mit einem Objekt gleichgesetzt wird, können<br />
sinnlich mögliche Prädikate eines Dinges nacheinander möglich sein, die<br />
in »Einer Anschauung« nicht zusammen möglich sind. Die fließende<br />
Grenze von Anschauung und Erfahrung dokumentiert sich nirgends<br />
besser darin, als daß in § 12 (»qualitative Einheit« des Begriffes) die Folgen<br />
der sinnlich gebbaren Merkmale als Prädikate gelten sollen und erst<br />
insofern die Eigenschaften eines wirklichen Gegenstandes vollständig<br />
beschreiben können. Das führt aber nicht zu einem eindeutigen Ergebnis,<br />
sondern wie in der weiter oben geführten Untersuchung des Begriffes vom<br />
transzendentalen Objekt = X im Kapitel über die Rekognition, zu einem<br />
79 Vgl. die Beziehung zwischen der »Synthesis der Reproduktion in der Einbildung«<br />
mit der ersten Seite in der „Synthesis der Rekognition im Begriffe« bezüglich der<br />
Verwendung des Begriffes der Regel, vgl. aber auch (A 104) mit §§ 15-17 in B.<br />
80 B 609 f./A 581 f.
— 309 —<br />
mehrdeutigen Begriff vom Gegenstand. 81 Insofern die empirische<br />
Apperzeption in A 104 mit der absoluten Einheit der Anschauung keinerlei<br />
Ansatz für die Anschauungsform des Raumes bietet, hat sie selbst keine<br />
Bedingungen, ein Objekt figürlich zu denken, zumal vorhin das einfache<br />
Faktum bewußter (also gegebener) Erscheinungen (d.i. die empirische<br />
Apperzeption) von den formalen Bedingungen der Anschauung nur die<br />
zeitliche Bedingung erfüllt hat. 82 Obgleich also das Ding überhaupt mit der<br />
Distanz des Raumes als ursprünglich gegeben anzusehen ist, 83 gelingt es<br />
nicht, allein aus der Zeit als Anschauungsform analytisch ein Objekt der<br />
Erscheinung als Gegenstand zu konstituieren. 84 Dazu ist ein reiner<br />
Verstandesbegriff und die Zusammenfügung mit den Schematen der<br />
Sinnlichkeit erforderlich.<br />
Die Präzisierung in der zweiten Fassung (B) gegenüber der ersten Fassung<br />
(A) hinsichtlich der Verbindung der Formen der logischen Funktionen und<br />
der formalen Bedingungen der Sinnlichkeit, die in der Konstitution des<br />
Objekts der Anschauung maßgebend sind, vermag deutlich werden zu<br />
lassen, daß auch die Einheit der reinen Anschauungsform ursprünglich<br />
gerade nicht den Begriff vom einzelnen Gegenstand enthält, wie das<br />
eingangs gegebene Zitat aus § 14 noch behauptet. Die Einheit der Einen<br />
Anschauung ist bereits die Zusammensetzung von Raum und Zeit und<br />
nicht selbst eine reine Anschauungsform. Die Erklärungen, daß die<br />
Anschauung immer Anschauung von Etwas, die Vorstellung immer die<br />
Gegenüberstellung von Etwas ist, und so im Etwas auch der Begriff des<br />
Gegenstandes gerechtfertigt sei, übersehen überdies, daß damit mitnichten<br />
der Begriff vom einzelnen Gegenstand gesichert worden ist, sondern<br />
81 Vgl. in der Dialektik der theologischen Idee: Prototypon - Begriff, ectypa -<br />
Anschauung<br />
82 Ohne aber die Zeit als Anschauungsform und als Form der Verstandeshandlung<br />
auseinanderhalten zu können.<br />
83 Vgl. hier den ersten Abschnitt, I., d).<br />
84 Vgl. folgende Kontoverse: J. Hintikka: Zweck der Erkenntnis ist der Gegenstand. (On<br />
Kant‘s Notion of Intuition, p. 38 ff.; ders.: Kants‘s „New Method of Tought“ and His<br />
Theory of Mathematics. In: T. Penelhum, J.H. MacInthos (Hg.). The First Critique,<br />
Belmont, California, 1969, p. 38 ff.). R. Heinrich: Zweck der Erkenntnis ist die<br />
Anschauung. Einerseits mit Heidegger (Kant u. d. Probl. d. Metaphysik, p. 28),<br />
andererseits gegen Heidegger geht es Heinrich um die Eigenständigkeit der<br />
Anschauung und wie Anschauung für sich selbst hervortritt: als Raum und Zeit. Das<br />
objektiv Endliche als Zweck der Anschauung in der Erkenntnis [statt wie R.Heinrich<br />
anfangs (p. 35) formuliert: die Anschauung als Zweck der Erkenntnis] ist das<br />
eigentliche Ergebnis der Überlegung Heideggers für die Kant-Interpretation; in: R.<br />
Heinrich: Kants Erfahrungsraum ... , 1986, p. 34)
— 310 —<br />
immer nur die Idee irgend eines Dinges. 85 Daß damit allein keineswegs<br />
gesichert werden kann, daß ein Begriff des Gegenstandes der Vorstellung<br />
auch der Begriff dieses Dinges ist, versteht sich von selbst. — Auch<br />
behandelt weder die erste metaphysische Erörterung des Raumes den<br />
Raum als Anschauungsform, noch ist die Regel der Beharrlichkeit im<br />
Rahmen der formalen Anschauung allein schon Grund genug, von<br />
Anschauung oder von einem einzelnen Gegenstand zu sprechen. Allerding<br />
enthält die Anschauung den Begriff irgendeines Objektes oder eines<br />
Systems von Objekten: etwas.<br />
Kant vermeint in § 19 sich diesen Schwierigkeiten überheben zu können,<br />
indem er das Wörtchen »ist« als logisches Merkmal eines kategorischen<br />
Urteils anführt: Dessen Existenzbehauptung bezieht sich aber zuerst nicht<br />
auf die Geltung des logischen Verhältnisses der Verbindung eines<br />
Prädikatsbegriffes mit dem Merkmal des Begriffes vom Satzsubjekt, 86<br />
sondern entweder problematisch, assertorisch oder apodiktisch auf die<br />
reale Möglichkeit der Geltung des Subjektbegriffes samt allen zugehörigen<br />
qualitativen Merkmalen; d. i. allen möglichen notwendigen Wahrheiten<br />
bzw. Aussagen über das Objekt dieses Begriffes — Kant untersucht hier<br />
am Urteil zuerst nicht die logische Form einer einzelnen Ausage (Satz),<br />
sondern die Form der inhaltlichen Verknüpfung im Begriff als System von<br />
möglichen Aussagen. In der transzendentalen Logik bedeutet dies nichts<br />
als die Untersuchung der Verstandeshandlung. 87 Zu dieser Argumentation<br />
kommt das Problem der Kontingenz der Erfahrung hinzu. Folgendes Zitat<br />
verbindet beide Argumentationswege miteinander: Ich behaupte nun, die<br />
85 Vgl. Franz Brentanos Argumentation gegen den Substanzbegriff: Beharrlichkeit<br />
benötigt keine einfache Substanz (es reicht ein kollektives Aggregat), in:<br />
Kategorienlehre p. 139. Brentano versucht schließlich den Ort als Zentrum des<br />
Substanzbegriffes wie des Raumbegriffes zu situieren.<br />
86 Refl. 3049: »Urtheil ist ist die Vorstellung des Verhältnisses der Begriffe<br />
untereinander.« (AA XVI, p. 632, nach 1776).<br />
87 Ich teile hier die Auffassung von Stuhlmann-Laeisz (Kants Logik, Berlin/New York<br />
1976, p. 59), daß der § 19 von der transzendentalen Logik handelt, die er dort<br />
entgegen H. J. Paton vertritt (Formal and transcendental Logic, in: Kant-Studien, Bd.<br />
49, 1957/58, p. 245-263). Vgl. auch: »Das Wort: Realität, welches im Begriffe des<br />
Dinges anders klingt, als Existenz im Begriffe des Prädikats, macht es nicht aus.<br />
Denn, wenn ihr auch alles Setzen (unbestimmt was ihr setzt) Realität nennt, so habt<br />
ihr das Ding schon mit allen seinen Prädikaten im Begriffe des Subjekts gesetzt und<br />
als wirklich angenommen, und im Prädikate wiederholt ihr es nur. Gesteht ihr<br />
dagegen, wie es billigermaßen jeder Vernünftige gestehen muß, daß ein jeder<br />
Existenzialsatz synthetisch sei, wie wollet ihr denn behaupten, daß das Prädikat der<br />
Existenz sich ohne Widerspruch nicht aufheben lasse? Da dieser Vorzug nur den<br />
analytischen, als deren Charakter eben darauf beruht, eigentümlich zukommt.«<br />
(B 625 f./A 597 f.)
— 311 —<br />
Interpretation forcierend, im unten stehenden Zitat entstammt die<br />
Zufälligkeit der empirischen Erfahrung zunächst einfach der wechselnden<br />
Lage des erkennenden Subjekts zum Objekt der Erfahrung:<br />
»Denn dieses [das Wörtchen ist] bezeichnet die Beziehung derselben auf<br />
die ursprüngliche Apperzeption und die notwendige Einheit derselben,<br />
wenn gleich das Urteil selbst empirisch, mithin zufällig ist, z. B. die Körper<br />
sind schwer. Damit ich zwar nicht sagen will, diese Vorstellungen gehören<br />
in der empirischen Anschauung notwendig zu einander , sondern sie<br />
gehören vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis<br />
der Anschauung zu einander, d. i. nach Prinzipien der objektiven<br />
Bestimmungen aller Vorstellungen, so fern daraus Erkenntnis werden<br />
kann, welche Prinzipien alle aus dem Grundsatze der transzendentalen<br />
Einheit der Apperzeption abgleitet sind. Dadurch allein wird aus diesem<br />
Verhältnisse ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist [...].« 88<br />
Die Vorstellungen gehören in der empirischen Anschauung nicht<br />
»notwendig zu einander«: bedeutet das, einmal sind die Merkmale in<br />
diesen Vorstellungen am Objekt der Erfahrung zu finden, einmal nicht,<br />
wie die erste kritische Überlegung von wesentlichen und unwesentlichen<br />
Merkmalen dazu geführt hat, daß die Wesentlichkeit von Merkmalen nicht<br />
von ihrem andauernden äußerlichen Erscheinen abhängt? Immerhin<br />
müssen nicht alle die in der Einheit der Apperzeption notwendig<br />
verbundenen Vorstellungen zusammen in der selben empirischen<br />
Anschauung auftreten, was in diesem Zusammenhang nicht gegen eine<br />
solche Überlegung spricht. — Im Sinne des weiteren Fortganges der hier<br />
von Kant verfolgten Überlegung kann diese Formulierung für dieses<br />
Beispiel (oder ähnlich geartete) aber nur bedeuten, daß wir uns erst in die<br />
geeignete Lage zum beobachteten Ding bringen müssen, um beide<br />
genannten Vorstellungen (ausgedehnter Körper, Schwere) in<br />
einer Erfahrung zu besitzen. D. h., die aktuelle und kontinuierliche<br />
Erfahrung zeigt nicht immer diejenige Einheit der Vorstellungen, die in der<br />
notwendigen Einheit in der Apperzeption ausgesprochen wird, doch<br />
immer soll die Möglichkeit bestehen, daß diese Vorstellungen (zugleich<br />
und nacheinander) in einer zusammenhängenden Erfahrung zusammen<br />
gegeben werden. 89<br />
88 K.r.V., B 142, Hervorhebung von Kant<br />
89 Vgl. Edmund Husserl: »Alle Räumlichkeit konstituiert sich, kommt zur Gegebenheit,<br />
in der Bewegung, in der Bewegung des Objektes selbst und in der Bewegung des
— 312 —<br />
Daß ein empirisches Urteil assertorisch gilt, ist nun nicht von der weiteren<br />
Eigenschaft eines bestimmten Merkmals allein abhängig, das im<br />
Satzsubjekt oder im Prädikat Existenz behauptet: Die bloße<br />
Existenzbehauptung von irgendetwas, das mit einem einzelnen Merkmal<br />
auch immer behauptet werden kann, ist entgegen Herbart aus logischen<br />
Gründen allein nicht zwingend als eine eigene Urteilsklasse zu<br />
betrachten, 90 die etwa erst assertorisch zur problematischen Form der<br />
inhaltlichen Verknüpfung von Prädikat einerseits und Subjektbegriff als<br />
intuitive Teilvorstellung des ganzen Gegenstandes andererseits<br />
hinzutreten muß, um ein apodiktisches und kategorisches Urteil zu<br />
ergeben. 91 Dazu wäre das Grundurteil, das nur ein Merkmal besitzt, gar<br />
nicht mehr geeignet, denn nicht nur die einzelne Anschauung<br />
(conceptus singularis ) geht von mehreren Merkmalen aus sondern auch das<br />
einzelne Urteil (in § 9: judicium singulare ). Ein Urteil, welches aber einen<br />
Gegenstand A behauptet, bevor das Urteil der Verbindung von A mit<br />
einem Prädikat B behauptet werden kann, ist aber selbst schon ein<br />
kategorisches Urteil. — Daß ein kategorisches Urteil assertorisch ist, hängt<br />
also davon ab, daß alle für ein Konzept eines Objekts der Erscheinung (also<br />
dem Begriff vom einzelnen Gegenstand) entscheidenden Merkmale<br />
sinnlich gegeben werden können, und nicht davon, daß allein mit der<br />
‚Ich‘ mit dem dadurch gegebenen Wechsel der Orientierung.«; in: Edmund Husserl,<br />
Ding und Raum. Vorlesungen 1907., Hrsg. Karl-Heinz Hahnengress und Smail<br />
Rapic, Text nach Husserliana XVI, Hamburg: Meiner 1991, p. 154 ff..<br />
90 Vgl. Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, 2. Bd.: Von der<br />
Klassifikation der psychischen Phänomene, (Hrsg. Oskar Kraus, Hamburg 1959,<br />
Nachdruck von 1925, p. 54 ff.). Herbart unterscheidet wie auch Kant die<br />
Existentialsätze als besondere Urteilsart von den kategorischen Urteilen, führt<br />
letztere aber auf das hypothetische Urteil zurück, indem er die Existenz des<br />
Subjektes als vom kategorischen Urteil getrennt zu behauptende Bedingung auffaßt,<br />
die erst hinzukommen muß. Hingegen hält Brentano die Existenzbehauptung des<br />
Subjekts in der Geltungsbehauptung der Aussage schon immer für<br />
eingeschlossen.Vgl. dazu aber auch: Ursprung der sittlichen Erkenntnis, 1889, p. 57<br />
und p. 120.) Vermutlich hat Herbart die Unterscheidung eines Merkmals als Prädikat<br />
eines Dinges in der qualitativen Einheit des Begriffs vom Objekte und als Teilbegriff<br />
im Sinne des Merkmals als Erkenntnisgrund einer ganzen Anschauung nicht mehr<br />
machen können. Vgl. hingegen die Stellung des Grundurteil über ein einzelnes<br />
Merkmal einer Erscheinung im Rahmen der transzendentalen Ästhetik, wobei die<br />
dem Urteil zugrundeliegende Erscheinung aber aus nichts als aus eben der<br />
Vorstellung dieses Merkmals besteht. Hier insbesondere im ersten Abschnitt,<br />
Anhang a.<br />
91 Insofern also bereits mit den transzendentallogischen Bedingungen der Beziehung<br />
der Vorstellungen auf ein Objekt in Übereinstimmung stehend und nicht mehr bloß<br />
logisch möglich — vgl. das zweite und das dritte empirisches Postulat.
— 313 —<br />
Aussage über ein einzelnes Merkmal analytisch auch Existenz von etwas<br />
behauptet wird.<br />
Dabei ist zu bedenken, daß Kant trotz dieses Wechsels von unbestimmter<br />
Existenzbehauptung zur empirischen Sinnlichkeit als modal<br />
entscheidendes Charakteristikum der Merkmale des Dinges eines<br />
Erkenntnisurteils noch immer die metaphysische Überlegung in Stellung<br />
hält, daß nur die synthesis intellectualis die objektive Realität erreicht, indem<br />
nur diese in der Erkenntnis des wesentlichen Merkmals eines<br />
Gegenstandes dem göttlichen Verstand in ihrem Bezug auf Totalität<br />
ähnlich ist. Ist also ein kategorisches Urteil wahr, so ist die<br />
Existenzbehauptung eines Gegenstandes mit dieser oder jenen qualitativen<br />
Bestimmung, also auch zugleich mit diesem herausgehobenen Prädikat,<br />
zumindest problematisch wahr, was nichts anderes heißt, als daß es in<br />
Übereinstimmung mit den Bedingungen von Verstand und Anschauung<br />
steht und ein mögliches Erfahrungsurteil ist. Ist dem kategorischen Urteil<br />
zudem noch möglich, noch aktuell wahr zu sein, d. i. assertorisch, so soll es<br />
von apodiktischer Geltung sein. 92<br />
c) Zur Modalität des kategorischen Urteils<br />
Dieser Sprung von einem problematischen Urteil zum apodiktischen Urteil<br />
allein über die Möglichkeit, das problematische Urteil auch assertorisch zu<br />
denken, führt zu der Schwierigkeit, daß Beliebiges, wird es nur gemäß des<br />
Kategoriengerüstes gedacht, im Falle aktueller Assertion auch dem<br />
konkret-empirischen Inhalt nach als apodiktisches Urteil zu denken sei,<br />
obgleich doch diese Modalität sich nur darauf beziehen kann, daß damit<br />
die Kategorien demonstriert, und nicht eine empirisch-allgemeine<br />
Determination konkret und apodiktisch ausgedrückt werden soll. Freilich<br />
drückt sich Kant nicht immer gleich glücklich aus, und es darf auch bis<br />
zuletzt vermutet werden, daß er auch darin geschwankt hat, ob es nicht<br />
doch möglich sei, die mathematischen Naturwissenschaften als Teil einer<br />
zukünftigen Transzendentalphilosophie zu betrachten. Allerdings sind —<br />
92 Vgl. die syllogistische Struktur der empirischen Postulate: »1. Was mit den formalen<br />
Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach)<br />
übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen (der<br />
Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem<br />
Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist (existiert)<br />
notwendig.« K.r.V., B 265 f./A 218).
— 314 —<br />
einmal abgesehen von den Erläuterungen zu den empirischen Postulaten<br />
und insbesondere im Beweis der Widerlegung des Idealismus 93 — sowohl<br />
seine Äußerungen schon in der Dialektik der ersten Kritik wie auch in der<br />
Prolegomena, diesen Verdacht für die Kritik hintanzuhalten. Obwohl der<br />
Übergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der<br />
Naturwissenschaft zu einer alle Naturwissenschaften umfassenden<br />
Transzendentalphilosophie im Opus postumum gerade gegen diese<br />
Auffassung spricht, möchte ich zweierlei zu bedenken geben: Erstens<br />
bleibt noch dieser Übergang zur wirklichen Transzendentalphilosophie ein<br />
erst in der Zukunft zu vervollständigendes Programm, und zweitens hat<br />
Michael Benedikt gezeigt, daß die Argumentation Kants gerade nicht<br />
darauf hinausläuft, die Intelligibilität des transzendentalen Subjektes in<br />
eine wissenschaftliche Naturphilosophie aufzulösen; das geschieht<br />
vielmehr mit der rationalen Physiologie, die in einem doppelten System<br />
von »beweglichen Kräften« als Gehirnphysiologie und Metaphysik der<br />
Erscheinungen als Naturwissenschaft der Dinge die Ganzheit der Natur<br />
auszumachen hat. 94 Freilich bleibt offen, inwieweit Kant seine<br />
Archtitektonik der Metaphysik gegen Ende gegenüber der mit den<br />
Kritiken zu umschreibenden Horizont nicht schon verschoben hat, oder<br />
doch nur wieder dem Leser überlassen hat, das fehlende Seitenstück einer<br />
Metaphysik der Intelligibilität des Subjekts als Willens- und<br />
Gesellschaftsphilosophie zu ergänzen.<br />
Stuhlmann-Laeisz bemerkt anläßlich der verhandelten Stelle in § 19 zu<br />
dem Verdacht, Kant wollte dem Erkenntnis von Naturgesetzen selbst<br />
unbedingt notwendige Geltung (Apodiktizität — also gewissermaßen<br />
transitiv Apriorität) zumessen, nicht ohne Scharfsinn: »Kants<br />
Formulierung weist hier die gleiche Eigenart auf wie in der Einleitung zur<br />
transzendentalen Logik: Wenn er das Urteil durch die Forderung nach<br />
objektiver Gültigkeit erklärt, dann möchte man annehmen, daß es gar<br />
keine objektiv falschen Urteile gäbe«. 95 Seine Argumentation erweist sich<br />
aber schon ohne Vorgriff auf eine Gesamtbetrachtung des Kantschen<br />
93 Nach der Widerlegung des Idealismus zum dritten empirischen Postulat: »Alles, was<br />
geschieht, ist hypothetisch notwendig. «(B 280/A 228)<br />
94 Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus,. Theorie. Herder, Wien 1977;<br />
Abschnitt VIII.: Der Ansatz zu einem dritten Deduktionsverfahren und das Problem<br />
der Kategorialdeduktion praktischer Vernunft bei Kant; p. 369 ff. Insbesondere 1.B.,<br />
Das Problem zweifacher Affinität im System beweglicher Kräfte (p. 375); und: Kants<br />
Deduktionsversuche nach dem distributiven Prinzip der Vollständigkeit, p. 382. ff..<br />
95 Stuhlmann-Laeisz, Kants Logik, Berlin/New York 1976, p. 58
— 315 —<br />
Gedankenganges als unzureichend. Empirische Begriffe, die jeden Bezug<br />
zu den reinen Verstandesbegriffen vermissen lassen, werden von Kant<br />
schon einmal als falsch bezeichnet, doch kann es sich dann nur um eine<br />
terminologische Unschärfe handeln, da empirische Aussagen nur unter der<br />
Voraussetzung des Kategoriengerüstes als entscheidbar zu denken sind.<br />
Zumindest die Gewißheit von der Falschheit einer empirischen Aussage<br />
setzt das (oder rein logisch auch bloß ein) Kategoriengerüst voraus. Von<br />
der einfachen und unmißverständlichen Falschheit wäre also nicht nur die<br />
Nicht-Verwendbarkeit einer Aussage für eine bestimmte Theorie, sondern<br />
auch schon für die Kategorienlehre (also vor jeder spezifischen<br />
empirischen Theorie) zu unterscheiden. Ohne den durchgängigen<br />
Gebrauch reiner Verstandesbegriffe verliert das Denken des Inhalts von<br />
Vorstellungen jeden Bezug auf ein mögliches Objekt in der Erfahrung und<br />
somit den Anspruch auf Wahrheit wie auf Falschheit.<br />
Der Vorwurf von Stuhlmann-Laeisz kann ein erstes Mal abgewendet<br />
werden, weil zwar nur diejenigen Urteile als wahrheitsfähig in<br />
transzendentaler Bedeutung angesehen werden können, die auch die<br />
Möglichkeit zu objektiver Realität besitzen, da doch mit der Formulierung<br />
des transzendentalen Kategoriengerüstes beansprucht wird, daß der<br />
Verstand reine Begriffe besitzt, die nur deshalb wahr sind, weil sie mit<br />
jedem entscheidbaren empirischen Urteil gleichermaßen a priori gedacht<br />
werden müssen, und weil sie insofern eines jeden korrekten empirischen<br />
Urteils Voraussetzung sind, auch wenn die empirische Aussage als falsch<br />
beurteilt wird. Nur dahingehend kann der Einwurf von Stuhlmann-Laeisz<br />
verstanden werden: Die Empirizität nicht-leerer reiner Verstandesbegriffe<br />
ist Voraussetzung für deren Demonstration; diese kann aber nur anhand<br />
empirischer Beispiele geschehen. So scheinen deshalb nur falsche<br />
empirische Begriffe gleich unmöglich zu sein, weil sie für die positive<br />
Demonstration kategorialer Urteile, eben zur Behauptung von objektiver<br />
Realität, ungeeignet gehalten werden. — Doch ist vielmehr der<br />
möglichen Wahrheit empirischer Begriffe die transzendentale Analytik<br />
vorausgesetzt (vgl. das erste empirische Postulat), was auch die Falschheit<br />
empirischer Begriffe einschließt, und gerade nicht die apodiktische<br />
Unmöglichkeit deren Wahrheit. Verliert ein empirischer Begriff aber jede<br />
Beziehung auf seinen Gegenstand, ist er nicht falsch im Sinne der<br />
Entgegensetzung der Wahrheitswerte wahr und falsch, sondern ist<br />
entweder kein empirischer Begriff oder zumindest nicht nach wahr und<br />
falsch entscheidbar. — Der erste Schritt der Überlegung zur Möglichkeit
— 316 —<br />
des Irrtums führt also zu folgendem Ergebnis: Ein echter empirischer<br />
Begriff kann unpräzise auch als falsch erklärt werden, wenn er in einer<br />
Aussage nicht seiner Beziehung zum Gegenstand gemäß verwendet wird,<br />
oder im präzisen Sinn als falsch beurteilt werden, weil er zwar den<br />
Bedingungen dieser transzendentalen Beziehung nicht widerspricht, aber<br />
auch als bloß real möglich hier und jetzt nicht notwendigerweise wahr sein<br />
muß, das heißt aber auch, unter solchen Umständen behauptet, auch falsch<br />
sein kann. 96 Dieses Ergebnis ist aber unzureichend, erstens weil der Begriff,<br />
was ein empirischer Begriff denn sei, letztlich nur hinsichtlich einer<br />
vorgängigen Bestimmung seiner Paßfähigkeit in die kategoriale Struktur in<br />
Betracht genommen wurde, und zweitens, weil nach der Klärung des<br />
Status empirischer Begriffe zwischen erstem und zweitem empirischen<br />
Postulat das Problem der apodiktischen Geltung des dritten empirischen<br />
Postulates nochmals zum Problem wird. Die Analyse empirischer Begriffe<br />
und die Analyse der syllogistischen Struktur der drei empirischen<br />
Postulate ist aber auseinander zu halten.<br />
Zuerst zur zweiten offenen Problemstellung: Die Schwierigkeit, die<br />
Stuhlmann-Laeisz anreißt, ist die, daß schon der kategorial korrekten<br />
Aussageform objektive Geltung a priori zukommen soll. Diese aus dem<br />
Syllogismus der empirischen Postulate hinlänglich bekannte Schwierigkeit,<br />
daß die korrekte Formulierung kategorialer Verhältnisse von<br />
Verstandesbegriff und Anschauungsform schon die reale Möglichkeit<br />
ausdrückt, 97 aber erst mit der Assertion Wirklichkeit, sodaß der<br />
syllogistisch vorgestellte Schlußsatz 98 bloß die gleiche Notwendigkeit<br />
ausdrückt wie schon eine korrekte Aussage über reale Möglichkeit,<br />
sprengt mitnichten die vorkritische Strategie, aus der Totalität des<br />
resubjektivierbaren Bewußtseins die — freilich konkret-allgemein,<br />
empirisch aber unbestimmte — Geltung des Existenzprädikates zu<br />
schließen. Es ist nämlich nicht möglich, die Notwendigkeit im Schlußsatz<br />
zu steigern, sondern Kant überträgt die formale Apriorität der Aussage im<br />
Obersatz (als logisch-problematisch und kategorial-möglich) im Schlußsatz<br />
auf die Modalität der assertorischen Existenzbehauptung. Kant scheint im<br />
dritten empirischen Postulat in der Tat die Notwendigkeit eines<br />
96 Eine Erkenntnis könne »doch noch immer dem Gegenstande widersprechen«, wenn<br />
sie auch dem Gesetzen der formalen Logik genüge, K. r. V., B 84/A 59.<br />
97 »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den<br />
Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich« (B 265 f./A 218)<br />
98 »Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der<br />
Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig.«, l. c..
— 317 —<br />
bestimmten Existierenden zu behaupten, obgleich seine ganze<br />
Untersuchung nur die Aufgabe hat, die Notwendigkeit der allgemeinen<br />
Geltung eines bestimmten Begriffes vom einzelnen Gegenstand zu<br />
erweisen: nämlich jeweils bedingt notwendig zu sein. Kant hätte<br />
dahingehend formulieren müssen, daß eine solche Aussage die<br />
Notwendigkeit der Kategorien für die Behauptung objektiver Realität von<br />
Existierendem aussagt. —<br />
Nun soll das Kategoriengerüst die Bedingungen der Möglichkeit,<br />
Naturgesetze auffinden zu können, liefern, indem Erscheinungsfolgen in<br />
der Apprehension auch auf Gesetzmäßigkeiten hin untersucht werden, die<br />
nicht aus den formalen Konstitution unserer Anschauungsform selbst<br />
entspringen. Dem ist die Unterscheidung von notwendig Existierendem<br />
und nur real möglichen, also nur aus zureichendem Grund Existierenden<br />
grundsätzlich, um eine solche Untersuchung überhaupt zulassen zu<br />
können, doch in Frage steht eben: gehen die empirischen Postulate selbst<br />
auf diese modale Unterscheidung innerhalb der Kontingenz? — Kants<br />
Darstellung der Modalität der Notwendigkeit anhand der empirischen<br />
Postulate verwechselt zwar nicht die Reflexion bezüglich der<br />
Notwendigkeit von Existenz überhaupt und der Notwendigkeit der<br />
Geltung eines bestimmbaren Konzepts von Existenz, da doch im ersten<br />
empirischen Postulat behauptet wird, daß die kategoriale Reflexion<br />
unabhängig vom je aktualen Dasein (Assertion) das bloß logisch<br />
Denkmögliche vom real Möglichen zu unterscheiden imstande ist.<br />
Allerdings ist die Darstellung Kants letztlich durchaus gefährdet, konkretallgemeine<br />
empirische Bestimmung und kategorial-allgemeine empirische<br />
Bestimmung nicht durchwegs zu unterscheiden. Nur letzteres kann<br />
apodiktisch behauptet werden.<br />
Daß Kant in der Tat beabsichtigt, auch konkret-allgemeine empirische<br />
Bestimmungen apodiktisch zu behaupten, kann aus den Beginn der<br />
Erläuterung zu den empirischen Postulaten durchaus entnommen werden:<br />
»Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich<br />
doch noch von diesem Gegenstande fragen, ob er bloß möglich, oder auch<br />
wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er gar auch notwendig sei?<br />
Hierdurch werden keine Bestimmungen mehr im Objekte selbst gedacht,<br />
sondern es frägt sich nur, wie es sich (samt allen seinen Bestimmungen)<br />
zum Verstande und dessen empirischen Gebrauche, zur empirischen<br />
Urteilskraft, und zur Vernunft (in ihrer Anwendung auf Erfahrung)
— 318 —<br />
verhalte?« 99 Immerhin wird hier nach der Möglichkeit, Wirklichkeit und<br />
Notwendigkeit des Gegenstandes selbst gefragt, was in seltsamen Kontrast<br />
zur Fortführung des Gedankenganges steht, wonach nur nach der<br />
Modalität der Vorstellung dieses Gegenstandes in unserem Urteil gefragt<br />
werden dürfe. Freilich kann schon der Gebrauch des Begriffes<br />
»Gegenstand« uns daraufhin einweisen, daß hierbei nicht vom Ding selbst,<br />
sondern vom Objekt der Erfahrung als Erscheinung die Rede sein muß,<br />
doch macht das gerade für die hier erörtete Fragestellung letztendes<br />
keinerlei Unterschied: Der vollständige Begriff eines Dinges beinhaltet<br />
zweifellos nicht nur die kategoriale Bestimmung zu einem einzelnen<br />
Gegenstand sondern auch empirische Merkmale zur Bestimmung<br />
konkreten empirischen Allgemeinheit. Der Anspruch, die empirischen<br />
Postulate vermögen auch die Modalität der Kontingenz (bis dahin mit<br />
Aristoteles nur das Mögliche) weiters zu differenzieren, kann nur dann<br />
erhoben werden, wenn zwischen den beiden Bedeutungen von Empirie<br />
(also kontinuierliche sinnliche Anschauung vor — und diskontinuierliche<br />
Erfahrung nach der Gegenstandskonstitution) unterschieden worden ist;<br />
die real zwingende notwendige Verknüpfung von Empirie der<br />
Anschauung und kategorialem Schema der Erfahrung ist damit allein aber<br />
nicht vorstellig gemacht worden (das wäre pathologisch): dies ist<br />
Angelegenheit unserer Freiheit im individuellen Urteil als psychologischer<br />
Akt. Erst die Einbeziehung dieses Übersprungs zur praktischen Vernunft<br />
schließt die Reflexion des Urteilsvermögens ab.<br />
Der Obersatz (das erste empirische Postulat) müßte demnach mehr als die<br />
kategoriale Bestimmtheit des Möglichen (gegenüber der Tradition der<br />
zeitgenössischen rationalen Metaphysik nunmehr auch die<br />
Kausalitätskategorie) beinhalten, um im Schlußsatz (das dritte empirische<br />
Postulat) auch konkret-allgemeine empirische Aussagen apodiktisch<br />
behaupten zu können. Daß dies für Kant nicht prinzipiell ausgeschlossen<br />
ist, zeigen schon die M.A.d.N. und deren Übergang zur<br />
Tranzendentalphilosophie im Opus posthumum. Da gehört etwa die<br />
Beweglichkeit nicht zur Transzendentalphilosophie, weil sie aus der<br />
Erfahrung entlehnt sei. 100 Doch aber kann die Beweglichkeit in ihrer<br />
universalen Allgemeinheit qualifiziert sein, mit den kategorialen<br />
Bestimmungen in den Obersatz der empirischen Postulate aufgenommen<br />
99 K.r.V., B 266/A 219<br />
100 M.A.d.N., A 4
— 319 —<br />
zu werden. — Selbst Karl Popper hat im Anhang seiner Logik der<br />
Forschung es noch für notwendig befunden (im Gegenzug zu der Tendenz<br />
derselben, nicht-falsifizierbare »metaphysische« Sätze aus den<br />
Naturwissenschaften auszuschließen) eine »Strukturtheorie« zu situieren,<br />
die es erlauben können sollte, Falsifikationen einzelwissenschaftlicher<br />
Sätze mittels Ableitungen aus allgemeineren Sätzen der Naturwissenschaft<br />
mit neuen konkret-allgemeinen Hypothesen zu beantworten. 101 Hier ist die<br />
Situation aber umgekehrt: Die Beweglichkeit ist wie andere Grundbegriffe<br />
der M. A. d. N. auch kein Konzept aus allgemeineren Sätzen, sondern sind<br />
Begriffe einer universiellen komparativen Allgemeinheit, die aus der als<br />
vergangen gesetzten Zeit (dann allerdings bereits mit mechanisch-kausaler<br />
Begründung) herausgehoben werden. Als solche gehören sie nicht selbst<br />
zur mathematischen Theorie der Naturwissenschaften, aber auch nicht<br />
zum transzendentalen Deduktionsgang der Kategorien. Stellt sich die<br />
Frage nach der Ganzheit des transzendentalen Schematismus, wird aber<br />
auf die Begriffe von universiell-komparativer Allgemeinheit vielleicht<br />
nicht verzichtet werden können. 102 — Der fragliche Anspruch, konkretallgemeine<br />
Sätze apodiktisch zu behaupten, hängt hier also nur von<br />
zweierlei Voraussetzungen ab: Erstens von den kategorialen<br />
Bestimmungen, die Kant aus den transzendentalen Bedingungen der<br />
Möglichkeit der Erfahrung überhaupt abgeleitet und gerechtfertigt hat.<br />
Zweitens von nicht abgeleiteten, aber letztlich für uns nur a parte priori<br />
gerechtfertigten metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft.<br />
Zu dieser Rechtfertigung gehörte letztenendes die vollständige Erfahrung<br />
von der Natur. Ob dies den Fähigkeiten unseres Verstandes und unserer<br />
Vernunft überhaupt entsprechen kann, muß zunächst ebenso offen<br />
bleiben, wie eine entgegengesetzte Behauptung. Jedenfalls kann diese<br />
Frage erst am Ende der Zeit entschieden werden, einstweilen bleibt auch<br />
diese Forderung an unsere Fähigkeiten ein Postulat, wenngleich auch eines<br />
der Vernunft in Anwendung auf empirische Fragen. Wir haben uns nur zu<br />
fragen, ob für gewisse Abschnitte der Naturwissenschaft unsere<br />
gesammelte Erfahrung nicht schon ausreichen müßte, um bestimmte<br />
konkret-allgemeine empirische Aussagen apodiktisch zu behaupten. —<br />
Das ist aber eine ganz andere Problemstellung, als Stuhlmann-Laeisz hier<br />
in § 19 Kant unterschoben hatte.<br />
101 Karl Raimund Popper, Logik der Forschung, Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 5 1973,<br />
Neuen Anhang, X. Universalien, Dispositionen und Naturnotwendigkeit, p. 377<br />
102 Siehe hier das vierte Kapitel in diesem Abschnitt.
— 320 —<br />
Es bleibt noch zu fragen, ob die Bestimmung des empirischen Begriffes,<br />
ausschließlich im kategorialen Gerüst vorkommen zu können, wirklich<br />
vollständig ist. Zumindest ist festzustellen, daß es empirische Begriffe gibt,<br />
die zwar kategorial teilweise bestimmbar, aber nicht für die lückenlose<br />
Verwendung der Kategorien tauglich sind. Weiters, daß es empirische<br />
Begriffe gibt, die sich nicht deutlich auf sinnliche Anschauung beziehen<br />
lassen. Solche empirischen Aussagen oder Begriffe sind durchaus möglich,<br />
deren Merkmale aber nicht konstitutiv für die kategoriale Synthesis der<br />
Gegenstände als mögliches Objekt der Erfahrung sind, obgleich sie in<br />
Verknüpfung mit denselben in unserer Erfahrung überhaupt vorkommen<br />
können. So sind Grundurteile keinenfalls gleichzusetzen mit Lockes<br />
sekundären oder primären Prädikaten (auch Kausalität ist ein Gegenstand<br />
eines Grundurteiles). Der einzige Grund, weshalb Grundurteile auch<br />
falsch sein könnten, wäre aber, wenn die Wahrheit der Grundurteile<br />
bereits an der Wahrheit der Relationsbegriffe zwischen Grundurteile<br />
hängt: Grundurteile, die nicht die Definitionen der Relationen erfüllen,<br />
machen die Relationen falsch. Derart wäre ein falscher Sprachgebrauch<br />
verständlich, der Grundurteile für falsch erklärt, obwohl nur die Relation<br />
nicht erfüllt wird. Von hier aus scheint nur mehr die Sinnestäuschung als<br />
Grund eines Irrtums möglich zu sein. Wahrheit im Sinne eines logischen<br />
Erkenntnisurteiles als kategorialer Verstandesgebrauch wird im<br />
Grundurteil also gar nicht zur Entscheidung gestellt. Die Falschheit<br />
empirischer Aussagen oder Begriffe vermag demnach den Umkreis der<br />
vollständigen kategorialen Reflexion durchaus zu verlassen, sodaß nicht<br />
bloß ein Irrtum eine Aussage auf ein nur hier unzulängliches Modell<br />
bezieht, wobei diese Aussage in einem anderen Modell oder das gleiche<br />
Modell anderweitig ein rationales Ergebnis zeitigen würde, sondern in der<br />
Tat der Verlust eines jeden Bezugs des Inhalts einer Aussage auf einen<br />
Gegenstand der auf Sinnlichkeit beruhenden Erfahrung mit der<br />
Behauptung der Falschheit auch gleich als Verneinung der Möglichkeit<br />
selbst, als selbstständiges und objektiv reales Objekt vorkommen zu<br />
können, ausgesprochen werden muß. Diese Behauptung kann nun nicht<br />
einfach für alle Fälle zur Folge haben, daß der fragliche Begriff (die<br />
fragliche Aussage) eben nicht mehr empirisch genannt werden dürfte.<br />
Weiters hat Kant im Übergang vom Paralogismus zur kosmologischen<br />
Idee jeder Reflexion für sich selbst zugestanden, auch noch im »ich denke«<br />
das Empirische überhaupt (vor jeder Gegenstandskonstitution) zu<br />
beinhalten, was durchaus als Grundlage der Behauptung herangezogen<br />
werden darf, daß mit der Deduktion der Kategorien des
— 321 —<br />
Verstandesgebrauches in der auf Sinnlichkeit beruhenden Erfahrung nicht<br />
auch schon alle Noumena und alle Phaenomena eine geregelte Beziehung<br />
zueinander garantiert bekommen haben.<br />
Kant versteht unter den »formalen Bedingungen der Erfahrung (der<br />
Anschauung und den Begriffen nach)« im Obersatz der empirischen<br />
Postulate eben jene Formalität, die Begriffe als Verstandesbegriffe, die<br />
selbst nicht in der Anschauungsform enthalten sind, beinhaltet. Die<br />
Bedeutung der formalen Bedingung im Sinne der Anschauungsform ist<br />
von der formalen Bedingung »den Begriffen nach« fernzuhalten. Ist der<br />
Fall, daß ein assertorisches Urteil einen Untersatz abgibt, dann gilt bloß,<br />
daß eine der Forderung der »formalen Bedingungen«, nämlich<br />
Wahrnehmung, d. h., Empfindung, enthalten zu können, aktuell gegeben<br />
ist. Ist nun die Empfindung in der Assertion auch gegeben, kann vom<br />
Schlußsatz bloß behauptet werden, die mit dem ersten Satz vorliegende<br />
Aussage gelte also auch im jeweils vorliegendem Einzelfall, weil die<br />
Bedingungen des ersten Satzes mit dem zweiten Satz als gegeben zu<br />
denken sind. Die Vollständigkeit der Kategorien und deren lückenlose<br />
Anwendung, wie a fortiori nunmehr auch die Vollständigkeit der<br />
Erfahrung, woraus metaphysische Anfangsgründe einer<br />
Naturwissenschaft mittels einer universiell gedachten komparativen<br />
Allgemeinheit entspringen können, sind demnach die erste<br />
Voraussetzung; die Möglichkeit der Demonstration dieser Sätze in der<br />
Erfahrung (Assertion) die zweite Voraussetzung, um im Schlußsatz<br />
allgemein-universielle empirische Verhältnisse apodiktisch ausdrücken zu<br />
können. Hiebei ist die Demonstration der Kategorien von der<br />
Demonstration metaphysischer Anfangsgründe (desweiteren anderer<br />
empirisch gewonnener Sätze, die als Prinzipien a parte priori im Obersatz<br />
vorkommen können) streng zu unterscheiden. — Damit scheint die in § 20<br />
der transzendentalen Deduktion erhobene Forderung nach dem<br />
identischen Umfang von Anschauungsform und Apperzepzion zumindest<br />
dahingehend eingeschränkt, als daß allen Teilen der Kontinuität der<br />
Anschauungsform bloß die Möglichkeit zugesprochen wird, Teil einer<br />
Vorstellung zu werden, die vom reinen Verstandesbegriff regiert wird.<br />
❆<br />
Die Untersuchung kategorischer Urteile behandelt, nur weil diese<br />
allgemein wie singular gelten sollen, weder die ontologische Frage von<br />
Ding und Existenz selbst, noch weniger das Grundurteil mit einem
— 322 —<br />
einzigen Merkmal, sondern wie Kant in § 19 vorstellig macht, die<br />
Modalität der Geltung einer Aussage in allen ihren Teilen als ein System<br />
von Aussagen. 103 Die metaphysische Frage nach dem Ding überhaupt wird<br />
zunächst von der transzendentalanalytischen Formulierung ersetzt, es sei<br />
nunmehr nach den Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution eines<br />
Gegenstandes in der Anschauung als Objekt der Erfahrung zu fragen.<br />
Damit bleibt die Wesensfrage (Eidos) mit der transzendentalanalytischen<br />
Betrachtung modaler Verhältnisse des Urteils im Satz (Genus) in<br />
Verbindung. Nach diesem, zur Klärung der Ansprüche notwendigen<br />
Vorgriff soll aber die Untersuchung der zweifachen Einheit der reinen<br />
Apperzeption gegenüber der bloßen empirischen Apperzeption, also<br />
einerseits das durch das Hinzusetzen von einer Vorstellung zur anderen<br />
verstandesgemäße Zuschreibungsurteil und andererseits die reine<br />
Anschauung in ihren Verhältnissen gegenüber dem bloßen Faktum von<br />
Erscheinungen im Bewußtsein, fortgesetzt werden.<br />
103 Der Übergang von Prädikatenlogik zu Aussagenlogik wird anhand des Anspruches<br />
der transzendentalen Logik, die Bedingung zur Wahrheitsfähigkeit kontingenter<br />
Aussagen zu sein, deutlich. Vgl.G. W. Leibniz, Generales inquisitiones de analysi<br />
notionum et veritatum, 1686, erstmals veröffentlicht von L. Couturat, Paris 1903,<br />
p. 356-399 Allgemeine Untersuchungen über die Analyse der Begriffe und<br />
Wahrheiten. Hrsg, von Franz Schupp, Hamburg 1982 (Meiners Phil. Bibl. 338), im<br />
Kommentar von Schupp p. 227 f.: Und zwar anhand der Schwierigkeit im<br />
Begriffskalkül, wo „möglich“ gleich mit „wahr“ gilt, ohne notwendigerweise<br />
„existierend“ bedeuten zu müssen, während im Aussagenkalkül gilt:<br />
möglich=wahr=existierend.
— 323 —<br />
2. Die Schematen der Begriffe<br />
a) Die qualitative Einheit des Begriffes<br />
und<br />
das Ideal der reinen Vernunft<br />
§ 8 Das Prinzip des Enthaltenseinin der ursprünglichen Einheit des<br />
Begriffes<br />
a) Die qualitative Einheit<br />
Ohne der Möglichkeit, daß eine Vorstellung vom »ich denke« begleitet<br />
werden kann, ist von Vorstellung im engeren Sinn gar nicht die Rede, da in<br />
der Unmittelbarkeit der empirischen Apperzeption (der innere Sinn)<br />
gerade die die Vorstellung erst konstituierende Reflexion auf sich selbst als<br />
Bewußtsein fehlt. So bleibt nur mehr, die als solche noch unbestimmten<br />
Erscheinungen der empirischen Apperzeption so aufzufassen, daß sie<br />
insgesamt und ohne Ausnahme die Möglichkeit besitzen, Vorstellungen zu<br />
werden, und deshalb schon mögliche Vorstellungen genannt werden<br />
können. Kant gebraucht aber bekanntlich den Begriff der Erscheinung<br />
nicht nur als den allgemeinsten Begriff von sinnlichen Gegebensein wie in<br />
§ 1 der transzendentalen Ästhetik oder in der »Synthesis der Rekognition<br />
im Begriff«, 104 die mit der Vorstellung, die vor jedem Denken gegeben ist<br />
(§ 16) übereinkommt, sondern auch als »Erscheinung der Erscheinung« 105<br />
und schließt dann schon die Vorausgesetztheit willentlicher Handlungen<br />
im Bewußtwerdung unserer Konstitutionsleistungen mit ein. Nunmehr<br />
sind also die logischen Leistungen des »Denkens« diesbezüglich näher zu<br />
betrachten.<br />
Kant folgt in § 15 der Idee, daß die Beziehung der Vorstellung auf den<br />
Verstand nicht selbst auf die Logik zurückgeht, sondern darüber hinaus<br />
104 K.r.V., A 107. Der Fluß der Erscheinungen in der empirischen Apperzeption (innerer<br />
Sinn) kollagiert in diesem Moment der Erörterung mit dem Strom von<br />
»Empfindungen«.<br />
105 Vgl. Kurt Hübner, Leib und Erfahrung in Kants Opus postumum, in: Zeitschrift für<br />
philosophische Forschung, Verlag Anton Hain, Meisenheim, Bd. 7, 1953, p. 204-219.<br />
Wiederabdruck in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln,<br />
Koepenheuer&Witsch, NWB 63, 1973, p. 192-204. Hübner zitiert das O.p. nach der<br />
Ausgabe von Artur Buchenau, 2. Bde., Leipzig 1936. Zur Erscheinung der<br />
Erscheinung etwa II, p. 367, auch: »Was metaphysisch betrachtet bloß zu<br />
Erscheinungen gezählt werden muß, das ist von physischem Betracht Sache an sich<br />
selbst. (Erscheinung der Erscheinung.)«, in: II, p. 329.
— 324 —<br />
ihre Wurzel zu suchen hat. Das bleibt angesichts der bislang<br />
unwiderlegten Zeitlosigkeit der reinen Verstandesbegriffe gegenüber der<br />
Zeitlichkeit der Verstandeshandlung als synthesis intellectualis auch<br />
weiterhin von Interesse. Es soll deshalb nochmals auf die in der Einleitung<br />
schon einmal behandelte Stelle zurückgekommen werden:<br />
»Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht,<br />
ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit (§ 10); denn alle Kategorien<br />
gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen, in diesen aber ist schon<br />
Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht. Die Kategorie<br />
setzt also schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit (als<br />
qualitative § 12) noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den<br />
Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, mithin der<br />
Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche,<br />
enthält.« 106<br />
Kant verweist im Schlußsatz des § 15 auf die höhere Einheit, die in § 12 als<br />
qualitative Einheit des Begriffes vom Objekt behandelt wird. Es folgt nun<br />
von hier aus der Versuch der Klärung der Beziehung des Begriffes zu<br />
seinen Objekt. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für die Frage, ob<br />
eine Synthesis der Identität aus den vielen Vorstellungen überhaupt<br />
möglich ist; die Schwierigkeit wird von Kant auch gleich mit der<br />
Exposition der »qualitativen Einheit« des Begriffes verzeichnet: »In jedem<br />
Erkenntnis eines Objekts ist nämlich Einheit des Begriffs, welche man<br />
qualitative Einheit nennen kann, so fern darunter nur die Einheit der<br />
Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Erkenntnisse gedacht wird, wie<br />
etwa die Einheit des Thema in einem Schauspiel, einer Rede einer Fabel.« 107<br />
»In jedem Erkenntnisse eines Objekts ist nämlich Einheit des Begriffes,<br />
welche man qualitative Einheit nennen kann [...]« Der darauf folgende<br />
zweite Teil des Satzes selbst ist für die hier beabsichtigte Abstraktheit der<br />
Untersuchung als Grundlage nicht ausreichend, erklärt aber doch, daß<br />
Kant die qualitative Einheit des Begriffes als Zusammennehmung des<br />
Ungleichartigen 108 auffaßt: »[...] so fern darunter [die qualitative Einheit<br />
106 K.r.V., B 131<br />
107 K.r.V., B 114<br />
108 B 114 f.: »Woraus erhellet, daß diese logischen Kriterien der Möglichkeit der<br />
Erkenntnis überhaupt die drei Kategorien der Größe, in denen die Einheit in der<br />
Erzeugung des Quantums durchgängig gleichartig angenommen werden muß, hier
— 325 —<br />
des Begriffs] nur die Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen<br />
der Erkenntnisse gedacht wird, wie etwa die Einheit des Thema in einem<br />
Schauspiel, einer Rede, einer Fabel.« Damit ist mit der Einheit des Begriffes<br />
zwar das Thema gefaßt worden, nicht aber der Begriff der Einheit des<br />
Objektes selbst: a) Auch handelte es sich um eine Zusammenfassung von<br />
Erkenntnissen, die jeweils als einzelne gewiß wären, so ist die<br />
Zusammengeltung aller Erkenntnisse erst die bloß logische<br />
Voraussetzung, daß unter weiteren Umständen in der qualitativen Einheit<br />
des Begriffes auch die Einheit eines Objektes gedacht werden könnte.<br />
b) Die weitere Forderung Kants zur qualitativen Einheit; also daß der<br />
Einheit die Menge der wahren Folgen der Merkmale des Begriffes als<br />
deren qualitative Vollständigkeit vorausgesetzt ist, führt ebenfalls nur<br />
allgemein-unbestimmt zu irgend einer qualitativen Vielheit der Merkmale<br />
eines Begriffes (oder gleich eines Objektes im Begriff), aber nicht zu einem<br />
eigenen qualitativen Merkmal des Begriffs des Objektes.<br />
Erst die Wahrheit der Folgen der Merkmale gemeinsam mit deren<br />
Rückführbarkeit auf die Merkmale des Begriffs sollen die Richtigkeit oder<br />
Falschheit der gewählten qualitativen Einheit der Merkmale eines Begriffes<br />
beweisen lassen. Damit ist das cartesianische Moment der Induktion nun<br />
auch am Ideal vom Begriff zu finden. Daß alle Folgen aus den Begriff wahr<br />
sein können müssen, darin unterscheidet sich zwar die qualitative Einheit<br />
des Begriffs noch nicht ohne weiteres von der bloß logischen Definition<br />
eines Begriffes, daß alles, was in einem Begriff widerspruchsfrei gedacht<br />
werden kann, denkmöglich ist; aber doch darin, daß der qualitativen<br />
Einheit des Begriffes mittels dem Kriterium der Rückführbarkeit<br />
empirische Gewißheit verschafft werden kann, während dem bloß logisch<br />
betrachteten Begriff ein Grund weder a priori noch a posteriori gegeben<br />
werden kann, sodaß dieser auch falsch oder zumindest grundlos sein<br />
kann. 109 Die qualitative Einheit des Begriffes soll aber die Kriterien der<br />
wahren Einheit eines Begriffs vom Objekt erfüllen. Hier wird ersichtlich,<br />
daß damit bereits die kategoriale Funktion der Begriffe zumindest als<br />
Forderung benötigt wird. 110 Die Forderung nach vollständiger qualitativer<br />
Einheit eines Begriffes mündet so in die Forderung nach einem<br />
nur in der Absicht auf die Verknüpfung auch ungleichartiger Erkenntnisstücke in<br />
einem Bewußtsein durch die Qualität eines Erkenntnisses als Prinzips verwandeln.«<br />
109 B 190/A 150<br />
110 Diese Bewegung wird allerdings nach der Vorstellung der reinen Verstandesbegriffe<br />
wieder von einer Gegenbewegung ersetzt, die die Kategorie vom reinen<br />
Verstandesbegriff ablöst. Vgl. hier Kap. 4., § 26.
— 326 —<br />
Verbindungsbegriff, der der in der qualitativen Einheit enthaltenen<br />
Mannigfaltigkeit der Merkmale die Wahrheit über die Regel der bloßen<br />
Widerspruchsfreiheit hinaus anhand der Regel der Rückführbarkeit der<br />
Folgen auf die Merkmale (und somit auf die Einheit des Begriffes)<br />
notwendig macht, da nunmehr sowohl die Merkmale wie deren Folgen als<br />
wahr behauptet werden sollen. Das heißt nichts anderes, daß die Ursache,<br />
oder das, was Kausalität hat, mit deren Wirkung empirisch in der<br />
Anschauung verbunden werden können muß. Damit ist zwar das<br />
Programm der dynamischen Kategorien im Kern ausgesprochen, jedoch ist<br />
damit die Unterscheidbarkeit von einem einzelnen Gegenstand und von<br />
einem System von Gegenständen nach wie vor noch nicht garantiert,<br />
sondern nur als Forderung exponiert worden.<br />
b) Die erste Fassung des Prinzips der durchgängigen Bestimmung:<br />
Allheit<br />
Dennoch wird das »Objekt« des Begriffes qualitativer Einheit offensichtlich<br />
bereits als Gegenstand gedacht (als einige, oder mindestens einer). Das<br />
Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines Dinges aus dem ersten<br />
Abschnitt der Erörterung des reinen Ideals der Vernunft und des<br />
transzendentalen Ideals hat nun offensichtlich denselben Ausgangspunkt<br />
der qualitativen Einheit des Begriffes von einem Objekt, indem auch in<br />
§ 12 von der Menge von Merkmalen des Begriffes gehandelt wird, welche<br />
die Einheit des Begriffes von einem Objekt ausmachen soll. Sowohl in § 12<br />
wie zum Beginn im Kapitel über das prototypon transcendentale wird<br />
nach Kriterien gesucht, welche die Vielheit aller möglichen Prädikate (bzw.<br />
Begriffsmerkmale) zu einer Besonderheit einschränken (Allheit). Obgleich<br />
in § 12 die Bedingung der Einheit des Begriffes (das Konzept des<br />
Konzeptes von einem Objekt), im Ideal der reinen Vernunft die Bedingung<br />
des Begriffs von einem einzelnen Gegenstand (Allgemeinheit) untersucht<br />
wird, und auch die Kriterien der jeweiligen Bestimmungsarten der<br />
»Allheit« einander nicht bedingen (in § 12 Rückführung, im Ideal der<br />
reinen Vernunft logische Teilung durch Entgegensetzung), halte ich die<br />
skizzierte strukturelle Ähnlichkeit in beiden Argumentationen gerade für<br />
besonders geeignet, auf die Dialektik zwischen der Gegenständlichkeit des<br />
Begriffes aufgrund der vollständigen Rückführbarkeit der Folgen seiner<br />
Merkmale einerseits und dem Begriff von einem einzelnen Gegenstand<br />
aufgrund des vollständigen Ausschlusses aller aus bloßen Prädikaten<br />
abgeleiteten Prädikaten andererseits gebührend aufmerksam zu machen.
— 327 —<br />
Kant gibt im Kapitel »Vom transzendentalen Ideale« zwei Interpretationen<br />
des Prinzips der durchgängigen Bestimmung. Zuerst spricht Kant von der<br />
»Idee von dem Inbegriffe aller Möglichkeit, so fern er als Bedingung der<br />
durchgängigen Bestimmung eines jeden Dinges zugrundeliegt«. 111 Dieser<br />
Inbegriff aller Möglichkeit betrifft sowohl die »Materie zu aller<br />
Möglichkeit, welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit jedes<br />
Dinges enthalten soll« 112 wie die »gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff<br />
aller Prädikate der Dinge überhaupt« 113<br />
Das Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines Dinges selbst besitzt<br />
eine eigene logische Regel: Jedes Ding sei durchgängig bestimmt, insofern<br />
ihn von jedem möglichen Paar kontradiktorischer Prädikate genau eines<br />
zukomme (B 599 f./A 571 f.). Ich verstehe das im ersten Schritt als Versuch,<br />
eine klare semantische Abgrenzung durch die Forderung nach<br />
Entgegensetzung zu erreichen; der Unterschied muß, um logisch<br />
(allgemein) verwertbar zu sein, zum Widerspruch gesteigert werden. 114<br />
Vor der Funktion der Allgemeinheit, die die selbst wesenslogische<br />
Einzelheit des Objektes (quidditas) als Gegenstand des Begriffs von einem<br />
einzelnen Gegenstand erst notwendig macht, werden von allen möglichen<br />
Prädikaten überhaupt mittels einer Hilfshypothese jene Prädikate<br />
ausgemacht, die qualifiziert sind, Prädikate eines gemeinsamen Dinges zu<br />
sein. Dafür ist das Existenzprädikat noch nicht entscheidend. Diese<br />
Hilfshypothese besteht aus einer qualitativen Voraussetzung und aus einer<br />
logischen Bedingung. Die qualitative Voraussetzung soll aber mittels der<br />
logischen Bedingung erst charakterisiert werden, indem nur solche<br />
Prädikate zugelassen werden sollen, die Qualitäten aussagen, welche die<br />
Eigenschaft haben, das deren Zustände sich erstens verändern können und<br />
zweitens diese Veränderungen durch Entgegensetzungen der Prädikate<br />
der veränderlichen Zustände ausgedrückt werden kann. 115 — Die derart<br />
selbst nicht synthetisch auf das mögliche Zugleichsein, sondern<br />
wesensanalytisch auf die Veränderlichkeit eingeschränkte Anwendung des<br />
111 K.r.V., B 601/A 573<br />
112 l. c.<br />
113 B 600/A 572<br />
114 Vgl. Aristoteles, Satz vom Widerspruch und Satz vom ausgeschlossenen Dritten, ¢◊<br />
- Horizont der Aussage und Evidenz<br />
115 Meiner Auffassung nach greift die formallogische Fassung dieses Problems, welche<br />
die prädikative Teilung des semantischen Raumes auf die Eigenschaft, wahr oder<br />
falsch zu sein, reduziert, zu kurz, um die alleinige Grundlage der vorliegenden<br />
Untersuchung zu sein.
— 328 —<br />
principiums contradictionis habe bereits jene Prädikate ausgewählt, welche<br />
einem konkreten und einzelnem Ding überhaupt zugesprochen werden<br />
können. Diese Bestimmung muß als bloß hinreichend zur Möglichkeit,<br />
aber noch nicht zureichend zur entscheidenden Bestimmung eines Begriffs<br />
von einem einzelnen Gegenstand angesehen werden; die empirische<br />
Mannigfaltigkeit der »Empirie überhaupt« wird formal nur einer logischen<br />
Regel unterworfen, indem die Teilung der empirischen Mannigfaltigkeit in<br />
zwei Mengen kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate rein logische<br />
Geltung a priori beansprucht. 116 Im Text zum »prototypon<br />
transcendentale« gibt Kant dem Ding also eine kategoriale und eine<br />
logische Definition; schon die erstere führt zu zwei Interpretationen:<br />
a) qualitative Interpretationen wie »heiß-kalt«, hell-dunkel« etc.<br />
b) logisch-modale Interpretation: Demnach ist die durchgängige<br />
Bestimmung des Dinges im Sinne der Kategorie zufällig. Vgl. die<br />
Definition der reinen Kategorie des Zufälligen mittels der Möglichkeit des<br />
»Ersetzen« eines Dinges oder eines Prädikates durch das genaue Gegenteil<br />
(Refl. 4041). 117<br />
Die rein logische Interpretation hingegen bezieht sich im ersten Schritt auf<br />
die unbedingte Möglichkeit der Beziehung der Prädikate auf ein Ding und<br />
im zweiten Schritt auf die Zweiteilung der dieserart bereits immer schon<br />
116 Es handelt sich also um eine logische Normierung der Mannigfaltigkeit von Empirie<br />
überhaupt, welche die Kontinuität der Anschauung eines Dinges logisch<br />
ermöglichen können soll, auch wenn wir in concreto diese Totalität niemals<br />
darstellen können, und sich selbst auf eine Idee gründet, »welche lediglich in der<br />
Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die Regel seines vollständigen<br />
Gebrauches vorschreibt.« (B 601/A 573). Davon ist das »logische Prinzip der Arten«<br />
des regulativen Gebrauches der Ideen der reinen Vernunft zu unterscheiden,<br />
welches vorigem nachgeordnet ist. Dort schreibt Kant: »Denn aus der Sphäre des<br />
Begriffs, der eine Gattung bezeichnet, ist ebensowenig, wie aus dem Raume, den<br />
Materie einnehmen kann, zu ersehen, wie weit die Teilung derselben gehen könne.<br />
Daher jede Gattung verschiedene Arten, diese aber verschiedene Unterarten<br />
erfordert, und, da keine der letzteren stattfindet, die nicht wiederum eine Sphäre<br />
(Umfang als conceptus communis) hätte, so verlangt die Vernunft in ihrer ganzen<br />
Erweiterung, daß keine Art als die unterste an sich selbst angesehen werde, weil, da<br />
sie doch immer ein Begriff ist, der nur das, was verschiedenen Dingen gemein ist, in<br />
sich enthält, dieser nicht durchgängig bestimmt, mithin auch nicht zunächst auf ein<br />
Individuum bezogen sein könne, folglich jederzeit andere Begriffe, d. i. Unterarten,<br />
unter sich enthalten müsse.« (B 683 f./A 655 f.). Dazu ist allerding notwendig,<br />
allererst einen Begriff von einem einzelnen Gegenstand zu haben, welcher die<br />
durchgängige Bestimmung eines Dinges unabhängig von der Anschauung, die eben<br />
gar nicht alle möglichen Prädikate eines Dinges enthält, einer weiteren Selektion<br />
unterzieht. Die Kontinuität der logisch möglichen durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges, die Kontinuität der Anschauung und die Kontinuität zwischen den Arten ist<br />
auseinanderzuhalten.<br />
117 Zweiter Abschnitt, Die Zeitbedingung der Wahrheit, Die modallogische Erörterung
— 329 —<br />
näher spezifizierten Menge von Prädikaten, um die Prädikatisierung im<br />
assertorischen Urteil im kategorialen Rahmen nach wahr und falsch<br />
entscheiden zu können. 118 Bemerkenswerterweise sagt Kant im<br />
unmittelbaren Umkreis der besprochenen Stelle, daß eben dieses erste<br />
logische Prinzip eines Dinges (was schließlich noch zur modalkategorialen<br />
Beurteilung zugereicht hat) inhaltlich nichts als den Inbegriff aller<br />
möglichen Prädikate überhaupt denken läßt, obgleich die erste<br />
Interpretation des logisches Prinzips der durchgängigen Bestimmung die<br />
Menge aller möglichen Prädikate nur unter der Bedingung, daß Prädikate<br />
sich notwendigerweise auf Dinge beziehen, in zwei Klassen<br />
entgegengesetzter Prädikate eingeteilt hat, die rein formallogisch eben<br />
nichts anderes ausdrücken, als daß es unter den realmöglichen Prädikaten<br />
wahre und falsche Prädikate gebe: Hier ist der Verdacht angebracht, es<br />
könne sich um eine Subreption handeln, die den Inbegriff aller Prädikate<br />
überhaupt (von vielen Dingen) mit dem Inbegriff aller möglichen<br />
Prädikate eines Dinges zu vertauschen in Begriff steht. Derart scheint die<br />
reine kategoriale Definition eines Dinges mittels der Allheit der möglichen<br />
Prädikate den notwendigen Bezug auf ein Objekt der Erfahrung (Existenz)<br />
zu verlieren, wenn schon die Idee eines Dinges sich aufzulösen droht.<br />
c) Die zweite Fassung des Prinzips der durchgängigen Bestimmung:<br />
Allgemeinheit<br />
Dann aber gibt es eine zweite Fassung des Prinzips der durchgängigen<br />
Bestimmung bei der Bestimmung des Begriffes vom einzelnen<br />
Gegenstand: Wir finden doch »bei näherer Untersuchung, daß diese Idee<br />
[eben der Inbegriff aller Möglichkeit], als Urbegriff, eine Menge von<br />
Prädikaten ausstoße, die als abgeleitet durch andere schon gegeben sind,<br />
oder neben einander nicht stehen können, und daß sie sich bis zu einem<br />
durchgängig a priori bestimmten Begriffe läutere, und dadurch der Begriff<br />
von einem einzelnen Gegenstand werde, der durch die bloße Idee<br />
durchgängig bestimmt ist [...].« 119 Also zuerst bezieht sich das Prinzip der<br />
durchgängigen Bestimmung auf die gesamte Sphäre möglicher Prädikate<br />
überhaupt (bzw. die Materie zu aller Möglichkeit), spätestens mit der<br />
disjunktiven Teilung der Menge aller möglichen Prädikate aber soll sich<br />
118 Vgl. hier auch § 19, insbesondere e) Hinsichtlich der dialektisch (wesenslogisch)<br />
begründeten Logik<br />
119 B 602/A 574, Hervh. v. Autor
— 330 —<br />
das Prinzip der durchgängigen Bestimmung bereits auf die besondere<br />
Möglichkeit eines jeden Dinges beziehen können. Unabhängig davon<br />
sollten aus dem selben Inbegriff aller Möglichkeiten — aus dem Inbegriff<br />
aller möglichen Prädikate überhaupt — mit Hilfe zweier weiterer Kriterien<br />
der logischen Allgemeinheit die besonderen (wesentlichen) Prädikate eines<br />
einzelnen Gegenstandes gefunden werden. Offensichtlich sollen diese<br />
Kriterien den Begriff von einem einzelnen Gegenstand, aber nicht das<br />
vorausgesetzte Ding (und daher auch nicht das Objekt) des Begriffs vom<br />
einzelnen Gegenstandes ableiten. 120<br />
Zwar hat es damit den Anschein, als wären alle Prädikate, die gemäß der<br />
kategorialen Interpretation nach dem Prinzip der Allheit eine notwendige<br />
Qualität eines Dinges bezeichnen, schon auch jene Prädikate, die nicht von<br />
anderen Prädikaten abgeleitet sind, wüßte man nur, welches Glied des<br />
abgeleiteten Gegensatzes in einer Qualität, die einem Ding notwendig<br />
zukommen müsse, nun mit mit welchem Glied des Gegensatzes einer<br />
anderen, gleichfalls notwendigen Qualität zusammen gelten kann. Kant<br />
kennzeichnet diese Prädikate, die Qualitäten bezeichnen, nur indirekt, aber<br />
keineswegs hauptsächlich derart, daß die formallogische Lesart, es handle<br />
sich dabei nur um die Unterscheidung der Prädikate von Wahrheit bzw.<br />
Falschheit, sich als die einzige oder sofort und umstandslos als eigentliche<br />
Interpretation erweisen lassen könnte. Es handelt vielmehr von Prädikate,<br />
deren Qualität jeweils empirisch wiederum immer nur durch ein Prädikat<br />
ausgedrückt werden kann, das nur an Stelle seines Gegenteiles an einem<br />
Ding gelten muß, gilt nur das notwendige Prädikat des Dinges, welches<br />
die Qualität allgemein bezeichnet und dem Ding allgemein zuschreibt.<br />
Und es ist zunächst für sich auch durchaus plausibel, das zweite Kriterium<br />
eines Begriffes vom einzelnen Gegenstand, daß die Prädikate, die<br />
nebeneinander nicht stehen können, ausgestoßen werden, dahingehend zu<br />
verstehen, eben jenes verlangte Kriterium zu sein, welches in der Frage,<br />
welche Glieder der einen möglichen Gegensatz enthaltenen qualitativen<br />
Prädikate eines Dinges zusammen gelten können, zu einer Entscheidung<br />
verhelfen könnte. —<br />
120 Vgl. dazu die Interpretation zur Darstellung der Wesenslogik in Kants Antwort auf<br />
Eberhards Kritik: Dort unterscheidet Kant das Wesen von allen Prädikaten, welche<br />
logisch aus den wesentlichen Prädikaten analytisch abgeleitet werden können. (Über<br />
eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere<br />
entbehrlich gemacht werden soll, Königsberg 1790, BA 83). Vgl. hier auch: Zweiter<br />
Abschnitt, Zeitbedingung der Wahrheit, Die wesenslogische Erörterung.
— 331 —<br />
Ich hoffe aber zeigen zu können, daß erstens dies nicht notwendigerweise<br />
die einzige Interpretation der Kriterien des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand ist, und daß zweitens eine stärkere Interpretation auch die<br />
Feststellung berücksichtigt, daß die Eigenschaft eines Prädikats, ein Glied<br />
einer notwendigen Qualität (gleichfalls ein Prädikat) zu sein, zwar das<br />
notwendige Prädikat dazu qualifiziert, gemeinsam mit anderen<br />
qualitativen Prädikaten ein Prädikat eines bestimmbaren Dinges zu sein,<br />
aber es bleibt weiters die Frage, ob Prädikate ausschließlich mit der<br />
Qualifikation, den Zustand einer Qualität mit entgegengesetzter Prädikate<br />
zu bezeichnen, auf einen Begriff des Dings auf eine Weise bezogen werden<br />
können, die dieses Ding zu einen bestimmten, d. h. einzelnen Gegenstand<br />
macht. Der entscheidende Schritt dazu wird nämlich erst mit der<br />
Bestimmung des oder der wesentlichen Prädikate gemacht, der es erst<br />
erlaubt, allgemein von besonderen Dingen zu reden; oder, was<br />
gleichbedeutend ist, mit der Formulierung des frühen Kant, den Verstand<br />
imstand setzt, mit einem Teilbegriff den ganzen Gegenstand vorzustellen<br />
(also ausdrücklich ohne die vielen Prädikate, die zur Beschreibung zumal<br />
eines Erfahrungsobjektes anhand von Merkmalen nötig sind). Dazu wird<br />
aber ein Verfahren benötigt, welches zuerst die wesentlichen Prädikate (ut<br />
constitutiva) von den unwesentlichen Prädikaten unterscheidet. Das ist die<br />
konsequente Anwendung der logischen Teilung als Negation durch<br />
Entgegensetzung; dies aber nicht in Gestalt der Entgegensetzung von<br />
Zuständen einer Qualität, sei es »hell – dunkel« oder »wahr – falsch«,<br />
vielmehr als Entgegensetzung von wesentlichen und unwesentlichen<br />
Prädikaten. Das ist mit der klassischen Auffassung, wesentliche Prädikate<br />
hätten ihre Ursache in der Substanz völlig vereinbar. Man muß<br />
insbesondere die drei Kritiken Kants dahingehend lesen, einerseits<br />
analytisch die Prädikate ut constitutiva herauszufinden (ein wenn auch<br />
nicht kontingentes, doch auch nie vollständig zu Ende bringendes<br />
Geschäft), andererseits aber synthetisch Urteile a priori herzustellen, was<br />
nichts anderes bedeutet, die Methode kennenzulernen, wie man zuerst<br />
nicht-wesentliche Prädikate mittels Prädikate ut constitutiva rechtfertigen<br />
kann zu Prädikate ut rationata. An dieser Formulierung hängt schon vor<br />
der Zuspitzung der Untersuchung in transzendentaler Hinsicht auch die<br />
Möglichkeit des Wissenschaftsfortschrittes.<br />
— Die eben skizzierten Interpretationen beruhen einerseits auf der nicht<br />
ausgewiesenen Annahme der hinreichenden Vollständigkeit der<br />
Logifizierung der Anschauung durch die erste Regel der Allheit im Prinzip
— 332 —<br />
der durchgängigen Bestimmung eines Dinges; andererseits stellt die<br />
stärkere zweite Regel die Anschauung unter den Vernunftbegriff vom<br />
einzelnen Gegenstand (dem Ideal der reinen — theoretischen — Vernunft),<br />
und somit unter eine notwendige Idee der reinen Vernunft<br />
(transzendentale Idee). Diese Unterstellung der Sinnlichkeit unter die<br />
Vernunft (später die Vernünftigkeit der Natur) scheint mir ein<br />
unverzichtbarer Bestandteil der Reflexion des transzendentalen<br />
Schematismus (also des eigentlich transzendentalanalytischen<br />
Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit) zu sein, obwohl hier mit der<br />
Ersetzung der Kontinuitätsbedingung der Sinnlichkeit durch eine logische<br />
Regel die Sinnlichkeit abermals nur als passives Gegenüber des Verstandes<br />
auftritt, ohne selbstständig Anschauungsformen a priori oder auch nur<br />
Bedingungen der sukzessiven Zusammensetzung der Vorstellungen<br />
einzufordern.<br />
Der Begriff von einem einzelnen Gegenstand ist also nicht nur ein logisch zu<br />
verstehender Begriff, noch weniger ein empirischer Begriff mit komparativer<br />
Allgemeinheit, sondern soll auch individualisierende Bestimmungsstücke als<br />
Grund der Allgemeingültigkeit beinhalten können, gerade weil er Vernunftbegriff<br />
und nicht bloße Anschauung nochVerstandesbegriff ist.<br />
d) Die transzendentalen Prinzipien von Deduktion und Induktion<br />
Meines Erachtens nach sind in den Überlegungen zur qualitativen Einheit<br />
des Begriffes in § 12 als der qualitativen Verwendung der Kategorie des<br />
Quantums von Kant die Beziehung des Begriffs auf ein Objekt einfach<br />
vorausgesetzt worden, ohne daß aus der dort gegebenen Darstellung der<br />
Begriff von einem einzelnen Gegenstand analytisch mit Notwendigkeit<br />
herausspringen könnte. Es besteht ja auch nur der Anspruch auf die<br />
Einheit des Begriffes. Daß die stattgefundene Untersuchung der<br />
entscheidenden Stellen von § 12 die analytische Logik voraussetzt, ist klar<br />
genug: die Unterscheidung von Merkmal eines Begriffes und diesen selbst<br />
ist eine logische Unterscheidung. Jedoch behandelt Kant in § 12 das<br />
Verhältnis von Merkmal und Begriff gar nicht im Sinne des Enthaltenseins<br />
eines Begriffes in einem anderen. Kant verwendet das Konzept vom<br />
Begriff vielmehr selbst hier grundsätzlich so, daß er nur an der<br />
Subjektstelle eines Satzes stehen kann. Sollen nun die Prädikate (also die<br />
Merkmale) mittels Einschließung und Ausschließung dem Begriff auch zu-
— 333 —<br />
und abgesprochen werden, so ist in § 12 die Einheit des Begriffes zwar<br />
durch die Vielheit der wahren Folgen und deren Rückführbarkeit auf den<br />
Begriff gerechtfertigt worden, das Substrat des Begriffs selbst aber, sofern<br />
dieser mehr bedeutet als die bloße Menge seiner Merkmale — und das<br />
scheint auch seine unverückbare Stellung im Satzsubjekt aller möglichen<br />
analytischen Urteile deutlich genug anzuzeigen — ist wiederum nur als<br />
Negation des Prinzips der Einschließung zu denken möglich. Die<br />
Reflexion der Fixierung des Begriffes auf die Stellung im Satzsubjekt in<br />
§ 12 führt letztlich gerade auf ein ähnliches Prinzip wie das des ersten<br />
Kriteriums des Ideals der reinen Vernunft: Aber anstatt nur alle Prädikate,<br />
die von anderen Prädikaten abgeleitet sind, auszuschließen, was immerhin<br />
die Möglichkeit von wesentlichen (analytischen) Prädikaten offen läßt,<br />
wird in § 12 vom Begriff des Objektes a fortiori verlangt, selbst überhaupt<br />
kein Merkmal bzw. Prädikat eines weiteren Begriffes sein zu können.<br />
Zwischen der Negation als der Auschließung eines zufälligen Prädikates<br />
(Merkmales) aus der Menge der wesentlichen Merkmale eines Begriffes<br />
und der Negation als der Ausschließung des Prinzips des Enthaltenseins<br />
überhaupt (da in § 12 der Begriff immer der Begriff des Substrats des<br />
Satzsubjekts sein muß und nicht nochmals irgend ein Prädikat sein kann)<br />
ergeben sich eine Reihe eigenständiger Problemstellungen: Die qualitative<br />
Verwendung der Kategorie der Größe als Umfang der Menge von<br />
möglichen Prädikaten nach der Einschränkung auf ein Ding oder auf eine<br />
Klasse von Dingen ist in den Überlegungen zum reinen und zum<br />
transzendentalen Ideal den dortigen Definitionen von Allheit ebensogut<br />
vorauszusetzen wie die erste Fassung des Prinzips der durchgängigen<br />
Bestimmung eines Dinges und dessen Zweitteilung der Sphäre möglicher<br />
Prädikate eines Dinges anhand der Frage nach von Falschheit und Unsinn<br />
unterscheidbarer Wahrheit und einzelner objektiver Existenz, worauf sich<br />
auch der Begriff des Objekts (ohne Ideal der reinen Vernunft nichts als die<br />
Einheit der Menge seiner empirisch bewiesenen Merkmale) doch zu<br />
beziehen hat. Soll aber das Konzept des Begriffes von einem Gegenstand<br />
nicht nur in seiner grammatikalischen Stellung im reinen kategorischen<br />
Urteil gegründet sein, dann muß die logische Funktion des Quantums, d. i.<br />
hier die Allgemeinheit, die Beziehung zwischen den Prädikaten näher<br />
bestimmen. 121 Wie aber kann das erste Prinzip des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand die Allgemeinheit notwendig machen? Wohl nicht<br />
121 K.r.V., B 599, Fußnote
— 334 —<br />
phänomenologisch mit der Suche nach allen möglichen Qualitäten eines<br />
Dinges überhaupt, wie die erste logische Regel im Prinzip der<br />
durchgängigen Bestimmung eines Dinges voraussetzt, wenn man nicht<br />
ausschließlich der transzendentalen Reduktion auf das Existenzprädikat<br />
als Ursache oder Folge dieser logischen Teilung folgt. Gleichwohl sollte<br />
gemäß der ersten Interpretation nur das nach dem Prinzip der<br />
durchgängigen Bestimmung der Allheit bestimmte Ding die Grundlage<br />
des nach einem neuen Prinzip zu bestimmenden Begriff von einem<br />
einzelnen Gegenstand sein, obwohl an dieser Stelle auch ein anderes<br />
Selektionsprinzip (z. B. die Kriterien von § 12) stehen könnte. Die<br />
Weiterbestimmung des Dinges geschieht nun mit der Bestimmung<br />
derjenigen Prädikate, die notwendig für die Einheit eines Begriffs vom<br />
Objekt sind, und derart das Ding zum bestimmten, d. i. in seiner Einzelheit<br />
und Besonderheit gewußten Gegenstand bestimmen. Allerdings: zunächst<br />
für sich ohne transzendentale Zeitbedingung; und gleichgültig, ob aus der<br />
Menge der in Oppositionen darstellbaren Prädikate, oder nicht. Das kann<br />
nun anhand der stärkeren wesenslogischen Interpretation des Kriteriums<br />
der auszuschließenden aus Prädikate abgeleiteten Prädikate oder anhand<br />
des schwächeren qualitativen Kriteriums der Rückführbarkeit der Folgen<br />
entschieden werden — es wäre zu erwarten, daß beide Kriterien, auch<br />
wenn sie zu verschiedenen methodischen Ansätzen gehören, zum gleichen<br />
Ergebnis führen. Die deduktive Vorgangsweise wäre dann die, die gemäß<br />
den beiden Kriterien des zweiten logischen Prinzips der durchgängigen<br />
Bestimmung des Begriffs gemäß einer Idee die wesenslogischen Prädikate<br />
eines Gegenstandes als Allgemeinheit bestimmte; die induktive<br />
Vorgangsweise jene, welche mittels des Prinzips der Rückführbarkeit der<br />
Folgen auf den Begriff des Objektes die qualitative Einheit des Begriffs in<br />
allen seinen Merkmalen an der Erfahrung nachweisen könnte. Allein aus<br />
der grammatikalischen Sonderstellung eines Begriffes, der selbst nicht<br />
Prädikat sein kann, läßt sich aber allgemein nur ein Substrat als das<br />
transzendentale Objekt = X (Ding an sich) folgern. 122<br />
122 Es ist bemerkenswert, daß aber die Kriterien der »qualitativen« Einheit des Begriffes<br />
vom Objekte (§ 12) gleichfalls als eine Interpretation des ersten logischen Prinzips<br />
der durchgängigen Bestimmung eines Dinges gelten können: Die Folgen eines<br />
durchgängig bestimmten Dinges können nach dem ersten logischen Prinzip eines<br />
Dinges nur das jeweils andere Prädikat der entgegengesetzten Glieder der<br />
qualitativen Prädikate sein. Nun bietet sich nach der logischen Regel der<br />
Zeitbedingung des »Veränderlichen« die Spekulation an, daß in der Verknüpfung<br />
des Prädikats mit dem Gegenteil der reale Prozess der kontinuierlichen Zeit in der<br />
Gestalt des Wechsels von einem Glied der qualitativen Gegensätze zum anderen<br />
geschieht. Das dritte Kriterium der »qualitativen« Einheit des Begriffes vom Objekt
— 335 —<br />
§ 9 Die »qualitative Einheit« des Begriffes in § 12 und der Begriff von<br />
einem einzelnen Gegenstand im Ideal der reinen Vernunft<br />
Wie sind die Kriterien des Begriffes von einem einzelnen Gegenstand in<br />
den Kantschen Untersuchungen zum Ideal der reinen Vernunft nun mit<br />
den Bedingungen zur qualitativen Einheit des Begriffes vom Objekt in § 12<br />
näher in Zusammenhang zu bringen?<br />
a) Widerspruchsfreiheit und Folgenschar<br />
Das Nicht-neben-einander-stehen-Können als zweitgenanntes Kriterium<br />
des Ausschlusses im Ideal der reinen Vernunft ist nun insofern<br />
komplementär als übereinstimmend mit der zweiten Bedingung der<br />
»qualitativen Einheit« eines Begriffes vom Objekt zu denken, wenn mit ihr<br />
auch schon behauptet wird, daß alle wahren Folgen neben einander<br />
(be)stehen können. Genau das scheint nun mit der dritten Bedingung der<br />
»qualitativen« Einheit des Begriffes von Kant auch behauptet zu werden:<br />
Die Idee vom transzendentalen bonum im scholastischen transzendentalen<br />
Ideal wird in der qualitativen Verwendung der Kategorien des Quantums<br />
mit der Rückführbarkeit der wahren Folgen auf die Merkmale des Begriffs<br />
zur qualitativen Vollständigkeit (Ganzheit) depotenziert. Was es näher mit<br />
dieser Interpretierbarkeit der »Ganzheit« auch auf sich haben mag,<br />
jedenfalls ist mit der Forderung nach der Rückführbarkeit der Folgen auch<br />
die Geltung des principium contradictionis mit eingeschlossen. Im Sinne der<br />
Fragestellung nach dem Zugleichsein von Folgen ist der Grund für diese<br />
Annahme allerdings nicht so offensichtlich: Bei genauer Betrachtung wird<br />
das zweite Kriterium des Begriffes von einem einzelnen Gegenstand als<br />
das Ideal der reinen Vernunft von der Bedingung der Vielheit der wahren<br />
Folgen aus der »qualitativen Einheit« des Begriffs aus § 12 nicht mit<br />
Sicherheit erfüllt. Das Nicht-neben-einander-stehen-Können als<br />
Ausschließungsgrund eines von zwei entgegengesetzten bloß überhaupt<br />
möglichen Prädikaten eines Dinges überhaupt kann als einfache<br />
Übersetzung des Satzes vom Widerspruch aufgefaßt werden; das Nichtneben-einander-(be)stehen-Können<br />
der Folgen ist aber nicht mit<br />
Notwendigkeit ein Hindernisgrund für die Rückführbarkeit auf die<br />
Merkmale der »qualitativen Einheit« eines Begriffes. Die real mögliche<br />
wäre damit durchaus erfüllt. Das würde aber offensichtlich nur die Vorstellung einer<br />
Oszillation zwischen zwei Zuständen, aber nicht die kontinuierlich verlaufende Zeit<br />
ergeben.
— 336 —<br />
Einheit der wahren Folgen wird mit dieser Argumentation selbst gar nicht<br />
beansprucht sondern nur deren Rückführbarkeit; wird aber nur die<br />
Rückführbarkeit auf den Begriff des Objektes gemeint, wenn in § 12 von<br />
der Einheit der wahren Folgen gehandelt wird?<br />
Kant führt die Bedingungen der »qualitativen Einheit« eines Begriffes in<br />
§ 12 selbst auf das hypothetische Urteil zurück: »So ist das Kriterium der<br />
Möglichkeit eines Begriffes (nicht des Objektes derselben) die Definition, in<br />
der die Einheit des Begriffes, die Wahrheit alles dessen, was zunächst aus<br />
ihm abgeleitet werden mag, endlich die Vollständigkeit dessen, was aus<br />
ihm gezogen worden, zur Herstellung des ganzen Begriffes das<br />
Erforderliche desselben ausmacht; oder so ist auch das Kriterium einer<br />
Hypothese die Verständlichkeit des angenommenen Erklärungsgrundes<br />
oder dessen Einheit (ohne Hilfshypothese)[,] die Wahrheit<br />
(Übereinstimmung unter sich selbst und mit der Erfahrung) der daraus<br />
abzuleitenden Folgen, und endlich die Vollständigkeit des<br />
Erklärungsgrundes zu ihnen, die auf nichts mehr noch weniger<br />
zurückweisen, als in der Hypothese angenommen worden, und das, was a<br />
priori synthetisch gedacht war, a posteriori analytisch wieder liefern und<br />
dazu zusammenstimmen. — « 123<br />
Es gibt im obigen Zitat offenbar eine Stelle in der zweiten Formulierung<br />
des Gedankenganges nach dem Semikolon, die im Sinne des<br />
realmöglichen Zusammen-bestehen-könnens lesbar ist: »die Wahrheit<br />
(Übereinstimmung unter sich selbst und mit der Erfahrung) der daraus<br />
[der Einheit des Begriffes in der Definition bzw. Hypothese] abzuleitenden<br />
Folgen«. Immerhin kann die Formulierung im Klammerausdruck<br />
»Übereinstimmung unter sich selbst« in Bezug auf die Folgen als<br />
Interpretation des Kompossibilitätsprinzips, und insofern auch als<br />
Interpretation des principium contradictionis als zweites Kriterium des<br />
Begriffs vom einzelnen Gegenstand verstanden werden. Doch ist diese<br />
Lesart sehr wahrscheinlich nicht die einzige entsprechende: Eher ist<br />
anzunehmen, daß mit dem Ausdruck »Übereinstimmung unter sich<br />
selbst« die Relation zwischen Merkmal und Folge, und zwar die Folge<br />
sowohl als abgeleitete wie als in der Erfahrung bestätigte, gemeint worden<br />
ist. Für Kant ist das induktive Moment im Kriterium der Rückführbarkeit<br />
123 B 115; das Komma ist eine Einfügung vom Autor, die sich aus der Aufzählung vor<br />
dem Semikolon im gegebenen Zitat von selbst ergibt.
— 337 —<br />
und die Vollständigkeit im Begriff (Definition bzw. Hypothese), nicht die<br />
Vollständigkeit im Dasein entscheidend. Offenbar wird hier nur die<br />
Relation von Merkmal und Folge behandelt und nicht die Möglichkeit<br />
realer Zusammengeltung von Merkmalen oder Folgen eines Objektes im<br />
Modus des Zugleichseins. Allerdings sticht hier eine Inkonsequenz<br />
Kantens ins Auge: Offenbar bezeichnet Kant im letzten Satz des gegebenen<br />
Zitates das, was in der Hypothese gedacht wird, als synthetisches Urteil a<br />
priori (ohne Hilfshypothese), die Rückführung als a posteriori analytisch.<br />
Letzteres ist unbestreitbar; weshalb eine Hypothese, nur weil sie ohne<br />
Hilfshypothese als wahr erwiesen werden konnte, als ein synthetisches<br />
Urteil a priori bezeichnet werden können sollte, bleibt unklar; bestenfalls<br />
könnte hier die Formulierung »a parte priori« diskutiert werden. Es ist hier<br />
auch nicht die geeignete Stelle, durch Nachforschungen in der Kantschen<br />
Logik eine etwa dahinter stehende logische These zu identifizieren, denn,<br />
wenn auch, wie ich vermute, die Erklärung dieser Stelle in der »verdeckten<br />
Konsequenz« zu suchen ist, die nach Kant die unechten Syllogismen (die<br />
nicht Barbara sind) kennzeichnen und später in einer Theorie des<br />
hypothetischen Urteils herangezogen werden, 124 würde die »verdeckte<br />
Konsequenz« nicht zureichen, von einer Theorie des synthetischen Urteil a<br />
priori zu sprechen. Es bleibt der Verdacht, Kant hätte hier<br />
unerlaubterweise die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption<br />
(§ 16) abermals mit einem anderen Problemkreis in Verbindung gebracht<br />
(wie zuvor in § 24 anhand der transzendentalen Einbildungskraft mit den<br />
Kategorien), diesmal demnach mit der inneren Begründungsproblematik<br />
der formalen Aussagenlogik. Ich weigere mich nach wie vor, die<br />
ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption aus § 16 analytischdeduktiv<br />
zu belasten: weder enthält diese Einheit schon die Kategorien<br />
(und zwar weder mit noch ohne transzendentale Einbildungskraft), und<br />
noch weniger kann diese »Synthesis a priori« (wie Kant sich in § 12<br />
ausdrückt) die formallogischen Probleme beheben. Bemerkenswert bleibt,<br />
daß sich auch hier die Schwierigkeit durchzeichnet, das hypothetische<br />
124 Kants Werke, Akademie – Textausgabe, Walter de Gruyter, Berlin 1968, Bd. IX; § 25,<br />
Anmk. 2: in kategorischen Urteilen ist alles assertorisch, in hypothetischen nur die<br />
Konsequenz. § 74:aus den letzten drei Figuren des Syllogismus erhellt, daß in einem<br />
jeden unmittelbaren Schluß (consquentia immediata) eingemischt ist, der zwar nicht<br />
ausdrücklich bezeichnet wird, aber doch stillschweigend mit einverstanden werden<br />
muß. § 75, Anmk. 1: der versteckte Minor ist der von einem problematischen Satz<br />
des Antecendes im Übergang zur Geltung der Konsequenz in einen kategorischen<br />
Satz verwandelte Antecedens. § 80: ein versteckter Vernunftschluß, in welchem dir<br />
rinr Prämisse nicht ausgedrückt, sondern nur mit gedacht wird, heißt ein<br />
verstümmelter oder ein Enthymema. Vgl. hier den vierten Abschnitt, II, b.
— 338 —<br />
Urteil formallogisch zu fassen. Aber nunmehr kann vielmehr gerade<br />
wegen des Problemes zwischen Hypothese und der »Synthesis a priori«<br />
erwartet werden, daß Deduktion und Induktion echte Alternativen und<br />
nicht etwa jeweils das verkappte Gegenteil des anderen sind, und sich<br />
schließlich am Ende ihrer dialektischen Romanze in eine Tautologie<br />
ergießen: Die Merkmale, die durch Rückführung ohne Hilfshypothese als<br />
zur qualitativen Einheit des Begriffs erwiesen betrachtet werden können,<br />
können auch als Prädikate ut constitutiva angesehen werden, sodaß der<br />
Problemkreis der Prädikate ut rationata analog als Rückführungen von<br />
Merkmalen mittels Hilfshypothesen zu verstehen wäre.<br />
Es läßt sich also einstweilen nur so viel sagen, daß das zweite Kriterium<br />
des Ausschlußes von nicht wesentlichen Prädikaten (das Nicht-nebeneinander-stehen-Können)<br />
aus der den Begriff vom einzelnen Gegenstand<br />
durchbestimmenden Idee nicht als logisch äquivalent mit dem Kriterium<br />
der Rückführbarkeit der qualitativen Einheit der Merkmale eines Begriffes<br />
vom Objekt anzusehen ist, und daß zweitens vielmehr das erste Kriterium<br />
des Ideals der reinen Vernunft, das dem entscheidenden Kriterium der<br />
Rückführbarkeit aus § 12 bei aller Verschärfung und kontradiktorischen<br />
Entgegensetzung zumindest noch darin ähnlich ist, als daß wesentliche<br />
Pradikate nicht ausgeschlossen werden, und daß Prädikate »ut rationata«<br />
einer weiteren Rechtfertigung zugänglich gemacht werden können, als<br />
Analogon für das Prinzip der Rückführbarkeit dienen könnte.<br />
b) Der Begriff vom einzelnen Gegenstand ist ein Wesensbegriff<br />
Die Nichtableitbarkeit des Prädikates aus einem anderen als das erste und<br />
eigentliche Kriterium des Begriffs von einem einzelnen Gegenstand im<br />
Ideal der reinen Vernunft bleibt unbestimmt der Untersuchung der<br />
»qualitativen Einheit« des Begriffs vom Objekte vorausgesetzt, ansonsten<br />
mit der Hypothese nicht ein Begriff vom Objekt, sondern nur die<br />
qualitative Bestimmung eines syntaktisch nicht weiter qualifizierten<br />
Begriffs gedacht werden könnte.<br />
Das zum Ideal der reinen Vernunft führende erste Kriterium ist nun nur<br />
das der Ausstoßung derjenigen Prädikate, die von woanders schon<br />
gegeben oder schon durch andere als abgeleitet betrachtet werden
— 339 —<br />
müssen. 125 Damit verbietet sich die Unterstellung der Schar der Folgen in<br />
§ 12 unter dem Satz vom Widerspruch von selbst, da nun von der<br />
»qualitativen Einheit« des wesentlichen Begriffs aus gesehen zuvor schon<br />
diese alle als aus den wesentlichen Merkmalen abgeleitet angesehen<br />
werden, jedoch Folgen als wesentliches Prädikat noch nicht in Frage<br />
kommen. 126 Insofern schränkt im Ideal der reinen Vernunft das erste<br />
Kriterium schon von vornherein darauf ein, daß nur die Merkmale des<br />
Begriffes, die aus ihn unmittelbar (ohne Hilfshypothese) abgeleitet werden<br />
können, gemeint sein können. Kein Prädikat darf abgeleitet sein; daß soll<br />
heißen, weder von wo anders hergenommen, etwa durch Vergleich, noch<br />
analytisch aus einem anderen Prädikat des vorausgesetzten Dinges<br />
gewonnen. 127 Die Widerspruchsfreiheit scheint sich daraus schon zu<br />
ergeben. Sind die möglichen Prädikate aber nicht schon als wesentliche<br />
Prädikate eines gemeinsamen Dinges zu verstehen, von welchem der<br />
Begriff von einem einzelnen Gegenstand verfertigt werden soll, ist<br />
demnach nicht gestattet, ohne weiteres aus dem Fall des Neben-einanderstehen-könnens<br />
zweier Prädikate auf deren Wesentlichkeit für irgend<br />
einen Gegenstand zu schließen. Das sogenannte zweite Kriterium im Ideal<br />
der reinen Vernunft ist also unter Voraussetzung des ersten gar kein<br />
eigenes Argument sondern selbst nur eine Schlußfolgerung aus dem ersten<br />
Kriterium.<br />
Die wesenslogische Interpretation des Ideals der reinen Vernunft operiert<br />
mit zwei Ableitungsbegriffen: Die Ableitung der Folgen aus Prädikate<br />
wird verboten, der auf diese Weise durch Einschränkung gewonnene<br />
Begriff ist dann nichts als dasjenige Prädikat, von dem behauptet wird, es<br />
wäre das aus der Idee des »Inbegriffes aller Möglichkeit, so fern er als<br />
Bedingung der durchgängigen Bestimmung eines jeden Dinges zum<br />
Grunde liegt«, (dem Urbegriff) abgeleitete Prädikat. 128 Die<br />
wesensnotwendigen Prädikate als die rationalen Bestandteile eines<br />
Wesensbegriffes (unabhängig ob selbst nur synthetisch zu erreichen — ut<br />
125 »[...] so finden wir doch bei näherer Untersuchung, daß diese Idee, als Urbegriff, eine<br />
Menge von Prädikate ausstoße, die als abgeleitet durch andere schon gegeben sind<br />
[...]«, B 601/A 573<br />
126 Vgl. abermals Kants Antwort auf Eberhard (1790);. vgl. hier den zweiten Abschnitt,<br />
Kap. I., 1. Die dort zu findende wesenslogische Darstellung zweier Folgebegriffe<br />
muß hiezu freilich noch kontrastiert werden. (BA 83)<br />
127 Die erste Bedingung erfüllt die Definition der ut constitutiva, die zweite die<br />
Definition der ut rationata; in der Darstellung der Wesenslogik durch Kant in seiner<br />
Antwort auf Eberhard.<br />
128 K.r.V. B 601/A 573
— 340 —<br />
rationata — oder immer schon analytisch als Ganzheit in der Idee gegeben<br />
— ut constitutiva ) vermögen selbst nur Elemente der Begründung<br />
(Rechtfertigung) einer Ableitung, aber nicht Grund der Ableitung eines<br />
weiteren wesensnotwendigen Prädikates als das eine Eigenschaft eines<br />
bestimmten einzelnen Gegenstandes Aussagende zu sein. Der Grund der<br />
wesenslogischen Ableitung und der Grund seiner rationalen Begründung<br />
sind nicht ident, obgleich beide sich auf die selbe vorausgesetzte Identität<br />
beziehen. 129 Der intuitive Wesensbegriff wird damit aber nicht erreicht<br />
sondern nur seine wesensnotwendigen Prädikate, aus welchen selbst zwar<br />
keine weiteren wesentlichen Prädikate abzuleiten sind, aber zur<br />
Rechtfertigung einer weiteren Intuiton dienen können. Gerade aber die<br />
qualitative Einheit des Begriffes vom Objekt ist damit vom intuitiven<br />
Wesensbegriff bedroht: »Im einzelnen Urteil hingegen wird der<br />
Prädikatsbegriff allein auf den Gegenstand bezogen [Kant meint in diesem<br />
Zusammenhang: nicht auf andere Begriffe], denn hier fungiert als Subjekt<br />
eine Vorstellung von Einzelnem, und "repraesentatio singularis" — hat<br />
einen intuitum, zeigt ihn unmittelbar an, ist aber im Grunde kein<br />
conceptus. Z. B. Sokrates ist kein conceptus.« 130<br />
Das heißt soviel wie: Wird der Begriff vom Objekt als intuitiver Begriff im<br />
Sinne einer Einzelanschauung verstanden, wie offenbar der Teilbegriff als<br />
»Vorstellung des ganzen Gegenstandes« aufgefaßt werden kann, so ist ein<br />
Begriff als conceptus, somit eine Definition des Objekts oder eine<br />
Hypothese über das Objekt des Begriffes der qualitativen Einheit, gar nicht<br />
möglich. Nun ist im hier verhandelten Fall von der Intuitivität des<br />
Wesensbegriffes die Rede, was für sich nicht allein Anschauung sondern<br />
auch Idee bedeuten kann. So ist auch das obige Zitat aus der Logik Dohna-<br />
Wundlacken zwar eine Vorstellung, die auf das Einzelne, also auf das<br />
existierende Objekt, verweist, was im allgemeinen als eine zureichende<br />
Definition von Anschauung gelten kann, doch bringt das Beispiel vom<br />
Sokrates einen Aspekt herein, der eindeutig ideell und nicht anschaulich<br />
ist. Insofern bleibt auch das wesentliche oder die wesentlichen, nicht aus<br />
anderen Prädikaten abgeleiteten Begriffe in dieser Schwebe. Der<br />
Wesensbegriff bleibt zwischen Idee und Anschauung unentschieden (wohl<br />
auch wegen der Möglichkeit der Selbstversinnbildlichung einer Idee von<br />
einem Objekt der Erscheinung) und ist eine »repraesentatio singularis« mit<br />
129 Vgl. Kants Antwort auf Eberhard; vgl. hier Abschnitt B »Logik der Wahrheit«,<br />
Kapitel »Die Zeitbedingung der Wahrheit«, a) »Die wesenlogische Erörterung«<br />
130 (Logik Dohna-Wundlacken, AA XXIV, p. 754)«
— 341 —<br />
einem anzeigendem »intuitum« und als solches nicht selbst ein Konzept<br />
oder eine Konstruktionsregel. Wie zu sehen, ist auch in § 12 die Frage, wie<br />
aus der mittels Rückführung der Folgen auf die selben Merkmale<br />
qualifizierte qualitative Einheit des Begriffs vom Objekt ein Begriff von<br />
einem Gegenstand, hier im Sinne eines Konzeptes, wird: In der Erörterung<br />
der qualitativen Einheit des Begriffs vom Objekt geht Kant bekanntlich<br />
über, den Begriff als Definition oder Hypothese zu bezeichnen, auch dort<br />
ohne näher bezeichneten Grund. Im dortigen Zusammenhang läßt sich die<br />
Verwendung der Ausdrücke wie »Definition« und »Hypothese« aber auch<br />
dadurch erklären, daß damit Vermutungen über den Zusammenhang von<br />
Merkmale und Folgen gemeint sind, also Teilkonzepte über<br />
Zusammenhänge der Merkmale eines Objekts untereinander ausdrücken,<br />
aber nicht die Definition eines Objektes im aristotelischen Sinne oder im<br />
Sinne der vorkritischen Definition Kantens vom Teilbegriff, der den<br />
ganzen Gegenstand vorstellen lassen können soll, und schon einmal von<br />
der bloßen Menge möglicher Prädikate als Merkmale eines Begriffes<br />
unterschieden worden ist.<br />
Der Begriff vom einzelnen Gegenstand ist aber als nicht-komparativer<br />
Allgemeinbegriff gegenüber dem Begriff eines Dinges und der Menge<br />
seiner möglichen Prädikate (als von der Vielheit der Prädikate überhaupt<br />
eingeschränkte Allheit möglicher Prädikate) eingeführt worden. Dieser<br />
Anspruch kann mit der Darstellung des intuitiven Wesensbegriffes aus der<br />
Logik Dohna-Wundlacken nicht allein erfüllt werden: Eine »repraesentatio<br />
singularis« ist selbst kein Konzept. Nun hat Kant später und auch schon<br />
hier mindestens ein wesentliches Prädikat des Wesensbegriffes für möglich<br />
erachtet. Kant muß also seine Auffassung über den Wesensbegriff<br />
geändert haben; zu Intuitivität und Diskursivität tritt Konzeptualität als –<br />
zumindest hier — wesentliche Charakteristik hinzu. Der Wesensbegriff ist<br />
wegen seiner Intuitivität offenbar selbst kein diskursiver Begriff, jedoch<br />
kann er nunmehr wesentliche Prädikate beinhalten; diese wesentlichen<br />
Prädikate stehen aber für einen minimalen konzeptuellen Aspekt des<br />
Begrifflichen. Darauf fußen die Prädikate ut constitutiva; die einfache<br />
Unterscheidung in solche und in unwesentliche Attribute verwischt gemäß<br />
der hier vertretenen Auffassung die eigenständige Stellung der Prädikate<br />
ut rationata, die in der weiter oben angeführten Art und Weise als ein<br />
Vorläufer des synthetischen Urteils a priori zu gelten haben, die aus durch<br />
Prädikate ut constitutiva gerechtfertigte Intuitionen eben Prädikate ut<br />
rationata entstehen lassen. Solche Prädikate unterscheiden sich
— 342 —<br />
grundsätzlich von extraessentiellen Attributen; auch wenn sie nicht alle<br />
synthetische Urteile a priori sind, stehen sie doch für synthetische Urteile.<br />
Was aber das eigentliche Kriterium für Prädikate ut rationata ist, die als<br />
gerechtfertigt modal den Prädikaten ut constitutiva gleich kommen (in<br />
anderen Worten, synthetischen Urtreilen a priori entsprechen), bleibt auch<br />
für die angestrengte wesenslogische Untersuchung weitgehend im<br />
Dunkeln.<br />
Ich habe weiter oben schon deutlich gemacht, daß es zumindest als<br />
denkbar möglich ist, alle durch die Bestimmung der Allheit möglicher<br />
Prädikate eines Dinges betroffenen Prädikate als solche wesentlichen<br />
Prädikate anzusehen. Durch das Begriffsmerkmal des Konzeptuellen eines<br />
Begriffes als solchen, diesmal aber nicht auf Merkmale des Objekts,<br />
sondern auf das Objekt als Gegenstand der Erfahrung gerichtet, wurde<br />
vom Begriff der Allheit der Begriff von der (nicht-komparativen)<br />
Allgemeinheit aber deutlich unterschieden. Diese starke Interpretation des<br />
Verhältnisses des ersten logischen Prinzips der durchgängigen<br />
Bestimmung eines Dinges zu den Kriterien der durchgängigen<br />
Bestimmung des Begriffs vom einzelnen Gegenstand macht die<br />
Unabhängigkeit der Kriterien des Ideals der reinen Vernunft vom ersten<br />
logischen Prinzip der Durchbestimmung des Dinges abermals deutlich.<br />
Obwohl die qualitativen Prädikate eines Dinges auch gemäß des ersten<br />
logischen Kriteriums der durchgängigen Bestimmbarkeit desselben<br />
(Allheit) als wesenslogische Prädikate ut constitutiva verstehbar sind, ist<br />
offensichtlich in der starken Interpretation des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand (Allgemeinheit) der wesenslogische Begriff des Gegenstandes<br />
nicht länger mit dem kategorial durchbestimmten Ding der Allheit<br />
notwendigerweise verbunden; das wesenslogische Prinzip der<br />
Durchbestimmung erweist sich gegenüber einem jedem Begriff vom Ding<br />
als Menge von Qualitäten zusprechenden Prädikate der formalen<br />
Möglichkeiten nach unabhängig und ist als weiteres Auswahlprinzip<br />
gegenüber dem logischen Kontinuum der Menge möglicher Prädikate<br />
anzusehen. — Jede Verbindung mit einer Logizität der Anschauung qua<br />
Prädikation scheint aufgehoben und durch eine Schlußfolgerung ersetzt<br />
worden zu sein. Diese Schlußfolgerung sollte allerdings in der empirischen<br />
Anschauung durch die Verbindung von Merkmal und Folge nach dem<br />
dritten Kriterium der qualitativen Einheit des Begriffes vom Objekt (§ 12)<br />
in der Erfahrung demonstriert werden können. Insofern erreicht sowohl<br />
das erste wie das zweite Prinzip der durchgängigen Bestimmung nicht die
— 343 —<br />
vollständige Logifizierung der Anschauung, wie es mit dem Prinzip von<br />
Teil und Ganzes für den Raum als Räumliches immerhin formal möglich<br />
schien. Aus diesem Prinzip allein konnte aber ein Ding an sich nicht<br />
deduktiv erschlossen werden.<br />
Der Grundsatz, der mit dem »Ich denke« ausgesprochen worden ist,<br />
bekommt also erst mit dem Wechsel vom Satzsubjekt zum Satzobjekt im<br />
synthetischen Grundsatz jenes Auge eingesetzt, welches schon Klaus Reich<br />
in seiner Darstellung der ursprünglich-synthetischen Einheit der<br />
Apperzeption mit Fichte — allerdings nur für die transzendentale<br />
Deduktion — letztenendes fälschlicherweise beansprucht. Erst mit der<br />
Berücksichtigung der Folgen der dem Objekt zugesprochenen Merkmale<br />
ist sichergestellt, daß die Zusammensetzung (Hinzusetzung) von<br />
Vorstellungen im Bewußtsein überhaupt ein Objekt der Erfahrung<br />
entsprechen könnte. 131 Allerdings gilt auch, daß erst das Ideal der Vernunft<br />
(Allgemeinheit) über einen einzelnen Gegenstand mit Verstandesbegriffen<br />
zu urteilen erlaubt. Der Begriff vom einzelnen Gegenstand ist als<br />
Vernunftbegriff selbst keinesfalls der erste und ursprüngliche Grund der<br />
ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption; die wesenslogische<br />
Interpretion entdeckt im ersten Kriterium aber zwei Ableitungsformen<br />
(Herkunft und Rechtfertigung), die mit der Form der synthetischen<br />
Grundsätze der Kategorien in Zusammenhang gebracht werden können.<br />
Die grammatikalische Definition der Substanz (reine Kategorie) ist<br />
eindeutig; sie fixiert den Begriff der Substanz an der Subjektstelle. Die<br />
wesenslogische Definition verlangt aber nur, daß ein wesensnotwendiges<br />
Prädikat nicht aus anderen Prädikaten abgeleitet sei: Das kann nun für den<br />
Begriff, der nur an der Stelle des Satzsubjekts stehen kann, gelten, aber<br />
auch für Bestimmungen des Satzobjektes. Das aber zeigt wiederum nur<br />
das systematische Ungenügen einer bloßen Prädikatenlogik in dieser Frage<br />
an.<br />
c) Nichtableitbarkeit und Selbstständigkeit<br />
Das Kriterium der Nichtableitbarkeit, wird dieses bloß als zur Analyse<br />
primitiver grammatikalischer Verhältnisse des Satzsubjektes in einem Satz<br />
geeignet betrachtet (§ 12 in radikaler Interpretation der reinen Kategorie,<br />
131 Brentano spricht auch vom primären Objekt, das aber im dritten Band der<br />
»Empirischen Psychologie« vom Subjekt abgelöst wird (Primäre Intention in recto:<br />
Satzobjekt; primäre Intention in obliquo: Satzsubjekt).
— 344 —<br />
der Begriff vom transzendentalen Objekt=X) oder auch als<br />
wesenslogisches Kriterium des Ausschlusses aller nicht wesentlicher<br />
Prädikate (Ideal der reinen Vernunft; hier auch schon in Hinblick als der<br />
Begriff vom Inbegriff einer Idee vom einzelnen Gegenstand im<br />
transzendentalen Ideal) — , es führt also weder zum Begriff der einfachen<br />
Substanz noch zu der letzten und absoluten Eminenz des Substrates der<br />
Erfahrung als einzelner Gegenstand in Einer Anschauung, sondern zur<br />
freilich selbst nur relativen Selbstständigkeit des im ut constitutiva auch<br />
qualitativ im Teilbegriff als Besonderes zu denken gegebenen Objekts; das<br />
allerdings ohne deshalb absolut Individualität (d. h. in concreto und in<br />
individio bestimmbare Idealität) zu beanspruchen, die mehr als bloß<br />
mögliche Existenz beansprucht.<br />
Der selbst gegenüber allen Gattungen des Seienden allgemeine, also<br />
universielle Grund der aktuellen Existenz im Sinne eines gegenüber<br />
Ursprung, Wechselwirkung mit anderen Objekten, und allgemein in<br />
Rechnung gestellter subjektiver Konstitutionsleistung relativ<br />
selbstständigen Substrats wird letztlich nachgefragt. Die Nichtableitbarkeit<br />
des Grundes eines einzelnen Gegenstandes bleibt hier genau gegenüber<br />
der Regression der Ursachen der Eigenschaften dieses Gegenstandes in<br />
Stellung, und ist insofern letztenendes mit dem logischen Gegensatz zur<br />
bloßen Denkunmöglichkeit, die den letzten Grund von unbedingt<br />
Notwendigem ausmachen soll, zu identifizieren, 132 als daß weder die<br />
transzendentale Materie in der analytisch-metaphysischen Reflexion, oder<br />
die gegebene sinnliche Empfindung der Wahrnehmung in den<br />
Erscheinungen für sich allein (die rationale Physiologie im neuen<br />
Kantschen synthetisch-metaphysischen Topos der Reflexion), noch das<br />
Argument der Widerlegung des Idealismus auf kausale Verhältnisbegriffe<br />
gebracht werden kann. 133 M. a. W., weder die Reflexion auf die<br />
transzendentale Materie noch die Reflexion auf die sinnliche Empfindung<br />
in der gegebenen Wahrnehmung vermag in ihrem Rahmen die Frage nach<br />
dem Ursprung zu stellen, sondern stellen jeweils ihre Denknotwendigkeit<br />
gewissermaßen als Faktum dar, das, ohne den jeweiligen Rahmen der<br />
konstituierenden Reflexion zu verlassen, nicht weiter erklärt werden kann.<br />
132 Vgl. Nova dilucidatio, Prop. VI.<br />
133 Vgl. einerseits das auf Suarez zurückgehende akausale Begründungsverhältnis der<br />
Teilakte der Wahrnehmung. Vgl. auch K.r.V., Widerlegung des Idealismus, B 275.<br />
Andererseits wird die gleiche Problemstellung im Regressus in den kosmologischen<br />
Ideen behandelt; hier im vierten und fünften Abschnitt.
— 345 —<br />
Der Grund des einzelnen Gegenstandes selbst liege alsdenn, wenn er außer<br />
dem Begriff gesetzt wird, allerdings in einem Argument der gleichen<br />
Form.<br />
Das logische Kriterium der Nichtableitbarkeit als Anzeichen eines<br />
metaphysischen Grundes eines intelligibel vorauszusetzenden Substrates<br />
zu verstehen findet aber schon vor der Behandlung der Frage nach der<br />
Vollständigkeit der Prämissen darin seine materiale Grenze, als daß<br />
gegenüber der einfachen sinnlichen Empfindung das Ding überhaupt nur<br />
synthetisch als die Beharrlichkeit des Objekts der Erfahrung anhand des<br />
Wechsels der Erscheinungen im inneren Sinn ausgemacht werden kann.<br />
Dessen Erscheinung (die Beharrlichkeit als Erscheinung der<br />
Erscheinungen) kann wohl nicht mehr die einfache Ursache der sinnlichen<br />
Empfindung selbst sein (was eine kausale Ableitung erlauben würde), und<br />
vermag seine eigene Begründung als die einer dynamischen<br />
Substanzkategorie nur zwischen dem Schema von objektiver<br />
Erscheinungsreihe und subjektiver Vorstellungsreihe einerseits und in der<br />
rational-metaphysischen Erklärung des Prädikats zur Akzidenz, die<br />
zunächst gleich als Wirkung der selbst unerkannten Substanz angesehen<br />
wird (oder doch erst umwegig in der Dynamik der M. A. d. N. als<br />
undogmatischer Universalbegriff) andererseits zu finden. Die Kriterien des<br />
Ideals der reinen Vernunft (des Begriffs vom einzelnen Gegenstand) selbst<br />
bleiben hingegen trotz der Erweiterung des grammatikalischen Kriteriums<br />
des nicht weiter prädizierbaren Satzsubjekts (§ 12) auf den Satzgegenstand<br />
(was das erste Kriterium des logischen Prinzips der Allgemeinheit betrifft:<br />
Allgemeines allgemein ausgesagt) noch in den negierenden<br />
Formulierungen der Ableitungen aus empirischen oder selbst abgeleiteter<br />
Prädikate befangen, in welchen der eigentliche Anspruch der<br />
wesenslogischen Untersuchung, wie die wesentlichen Prädikate zur<br />
Rechtfertigung empirischer Prädikate dienen könnten, gar nicht selbst<br />
deutlich wird. — Das Prinzip des Enthaltenseins der Prädikate selbst wird<br />
allerdings im Gegensatz zur Erörterung des Begriff des Objekts selbst in<br />
§ 12 im Ideal der reinen Vernunft nicht aufgehoben; es bleibt das Problem,<br />
wie die intuitiven Prädikate (womöglich durch Anschauung oder<br />
Erfahrung gegeben) durch die wesentlichen Prädikate (ut consitutiva )<br />
selbst gerechtfertigt, ebenfalls zu wesentlichen Prädikate werden könnten<br />
(ut rationata ). Der später noch ausführlicher behandelte Vorschlag, dies<br />
geschehe mittels Konstruktion in reiner Anschauung, befördert nur den<br />
Verdacht, der schon von Eberhard ausgesprochen worden ist: daß nämlich
— 346 —<br />
die Kantsche Kategorienlehre, wenn überhaupt, bestenfalls nur dazu<br />
befähigt sei, ein synthetisches Urteil a priori in der Geometrie zu<br />
befestigen. — Jedenfalls sind auch die als wesentlich ausgezeichneten<br />
Prädikatsverhältnisse im Ideal der reinen Vernunft nichts als logische<br />
Verhältnisprädikate der Prädikate des reinen Begriffs eines einzelnen<br />
Gegenstandes.<br />
d) prototypon transcendentale<br />
Es sind für das Ideal der reinen Vernunft noch einige vorläufig<br />
abschließende Bemerkungen zum Verhältnis der in § 12 genannten<br />
Bedingungen der »qualitativen Einheit« eines Begriffes zu den Kriterien<br />
des Ideals der reinen Vernunft (dem Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand) zu machen: Beide Ansätze vernachlässigen<br />
verständlicherweise die dritte dynamische Kategorie des Commerciums,<br />
doch während in § 12 das Konzept eines Begriffes (als Begriff eines<br />
Objektes) in eine Hypothese überführt und damit zum Erfahrungsbegriff<br />
eines gegebenen Objektes hin geöffnet wird, haben sich die Kriterien der<br />
Ableitung des Begriffs von einem einzelnen Gegenstand als ungeeignet<br />
erwiesen, selbst die Grundlage eines Erfahrungsbegriffes auszumachen:<br />
Vielmehr erweisen diese Kriterien neben ihren heuristischen Wert in der<br />
Fassung als regulativer Gebrauch der Vernunftideen die unbedingte<br />
Vorausgesetztheit eines Dinges an sich selbst allein aus der Differenz des<br />
Umfanges aller möglichen Prädikate überhaupt zum Umfang aller<br />
möglichen Prädikate eines Dinges überhaupt. Auch mit der möglichen<br />
Vorwegnahme der dritten dynamischen Kategorie, nach der spekulativ die<br />
Ganzheit des Wirklichen (omnitudo realitatis ) womöglich nochmals als<br />
Ding angesprochen werden könnte, bleibt eine Differenz zur Allheit aller<br />
möglichen Prädikate überhaupt weiter bestehen, da auch dann nicht<br />
garantiert werden kann, daß alle möglichen Prädikate überhaupt immer<br />
(in allen Epochen) oder auch nur, daß alle möglichen Prädikate überhaupt<br />
in der Summe aller Epochen einmal an diesem allumfassenden oder auch<br />
nur sonst irgend einem Ding gelten müssen: Kant macht sich eines<br />
terminologischen Fehlers schuldig, indem er hartnäckig von Allheit der<br />
möglichen Prädikate überhaupt spricht, obgleich von der Vielheit aller<br />
möglichen Prädikate vor jedem Prinzip der durchgängigen Bestimmung<br />
eines Dinges auszugehen ist. Der Begriff von einem einzelnen Ding beruht<br />
insofern auf einer wahrhaft metaphysischen Ableitung, die allerdings<br />
selbst hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Bedingung der gedachten
— 347 —<br />
Ganzheit von Wirklichkeit mehrfach offene Probleme hinterläßt. Kant fällt<br />
hier insofern hinter der Entwicklung eines Systems von Einschränkungen<br />
und Einteilungen zurück, wie er es schon vorkritisch in der Raumfrage<br />
parallel zur Einschränkung und Teilung des logischen Raumes vorgestellt<br />
hat.<br />
Das Ding, anhand die Vielheit der Prädikate eine Einschränkung erfährt,<br />
die zur durchgängigen Bestimmung des Dinges zum Ding mittels<br />
Prädikate führen soll, kann nun nicht ohne weiteres als das Ding an sich<br />
als transzendentales Objekt = X verstanden werden. Letztere Fassung des<br />
Dinges ist ohne jede Bestimmung, eben an sich, während das kategoriale<br />
Ding der Allheit indifferent die transzendentale Materie vorausgesetzt hat,<br />
woher die Prädikate ihren Inhalt hernehmen. In diesem Zusammenhang<br />
wurde schon bald auch der Vorwurf erhoben, das Ding an sich Kantens als<br />
Unerkennbares widerspräche der mittels Kategorien erreichbaren<br />
Erkenntnis der Objekte. Die Antwort darauf ist einfach: Das Ding an sich<br />
wird von Kant nicht als Objekt in Zeit und Raum angesehen, unsere<br />
Erkenntnisse beziehen sich auf Objekte in Zeit und Raum. Damit ist zwar<br />
der Vorwurf der Selbstwidersprüchlichkeit Kantens vom Tisch, aber doch<br />
um den Preis einer Behauptung über Naturgegenstände, die uns in<br />
realistisch-naturwissenschaftlicher Einstellung nicht befriedigen kann.<br />
Dazu gibt es drei Argumentationsgänge: Erstens ist unabhängig von der<br />
Frage, ob es einen objektiven Raum gibt oder nicht, jedes empirische<br />
Objekt nur in unseren Anschauungsformen gegeben; ob es nun für das<br />
Ding an sich einen objekten Raum gibt oder nicht, muß spätestens nach der<br />
Überwindung der perzepierenden Monade und der daraus folgenden<br />
(auch räumlichen) Stellenordnung untereinander zunächst der bloßen<br />
Spekulation überlassen werden. Empirische Erkenntnisse beziehen sich<br />
aber auf Objekte der Erfahrung und bleiben somit auf Gegenstände gemäß<br />
den formalen Möglichkeiten in unseren Anschauungsformen beschränkt.<br />
Zweitens ist das Ding an sich eine notwendige Annahme der<br />
Erkenntnistheorie vor jeder (kategorialen) Erkenntnis allein aus Gründen<br />
einer Theorie von Erkenntnis (Urteilslehre) im Rahmen der<br />
Intentionslehre; das gilt besonders, wenn mit dem Erkenntnis ein logisches<br />
Urteil verbunden ist, und ist ansonsten für die Bestimmung der Washeit<br />
völlig unwichtig. Das Ding an sich gehört so einerseits zu den bloßen entis<br />
rationis sine fundamentum in re (wie bloße entis lucationis auch — z. B.<br />
Zentauren), andererseits ist es die subjektive Bedingung für alle semientia
— 348 —<br />
(entis rationis cum fundamento in re). Während aber die logische<br />
Gegenständlichkeit einer eindeutigen Gerichtetheit einer Intention<br />
womöglich noch im Verstandesurteil allein subjektiv bleibt, hält das Ding<br />
an sich als das selbst unerkennbare transzendentale Objekt den Platz für<br />
die freilich erst von einer sinnerfüllenden Intention zu treffenden<br />
subjektunabhängigen Existenz frei — Echo. Der Vorwurf der<br />
Selbstwidersprüchlichkeit des Programms der transzendentalen Analytik,<br />
den auch Wittgenstein erhoben hat (»transzendentales Paradox«), besitzt<br />
also keine Grundlage: Vielmehr exportiert Kant das »transzendentale<br />
Paradox«, daß mit unbekannten Erkenntnisvermögen unbekannte<br />
Gegenstände erkannt werden sollen, eben mit dem Ding an sich als<br />
transzendentales Objekt. — Deshalb kann es auch nicht Element irgend<br />
einer Art von Ontologie sein.<br />
Drittens ist auf die Änderung der Auffassung Kants zu verweisen, die seit<br />
der Kritik der reinen Vernunft und den M.A.d.N. im Opus postumum<br />
stattgefunden hat: Nicht mehr die Leibnizsche Monade (ihrerseits in<br />
Spannung zu Spinozas Substanz und dem vorsokratischen Apeiron<br />
stehend) ist im Opus postumum der Hintergrund des Kantschen Ding an<br />
sichs selbst (als Objekt der Erfahrung potentiell mit dem Begriff von einem<br />
einzelnen Gegenstand mittels Deckungsgleichheit identifizierbar), sondern<br />
das Konzept des Äthers. M. a. W., der Gegenstand des Objektes der<br />
Erfahrung ist als sich selbst bloß Erscheinung der Prozesse in der Natur.<br />
Man könnte glauben, daß ein Vorläufer dieser Auffassung des Ding an<br />
sichs in der Verwendung des Ausdruckes »transzendentale Materie«,<br />
woher die Menge aller möglichen Prädikate überhaupt ihren<br />
transzendentalen Inhalt als Inbegriff der Prädikate sowohl im ersten<br />
(Allheit) wie im zweiten Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges (Allgemeinheit, B 601/A 573) hernimmt; oder als omnitudo realitatis<br />
in der spezifisch modallogischen Bestimmung des ens realissimum<br />
(transzendentales Ideal, B 604/A 576) im Kapitel über das prototypon<br />
transcendentale zu finden ist. Davon wäre dann unter dieser<br />
Voraussetzung das prototypon transcendentale nicht mehr zu unterscheiden<br />
— es droht eine weitere Subreption, denn das prototypon transcendentale<br />
beansprucht nicht nur einzelner Gegenstand, sondern letztlich der einzige<br />
wirkliche Gegenstand zu sein, der allen anderen einzelnen und schließlich
— 349 —<br />
selbst wirklichen Gegenständen (ectypa ) erst Existenz und Wesen<br />
verleiht. 134<br />
Für die in § 12 gestellte Frage bleibt nun die Ableitung des Ideals der<br />
reinen Vernunft selbst als finale Möglichkeit der Bestimmung des<br />
eigentlichen Begriffs vom Objekt voraussetzungsvoll in Stellung, wenn<br />
auch in § 12 von Kant die Einheit des Begriffes gegenüber der Erfahrung<br />
als Hypothese und nicht als den Begriff vom einzelnen Gegenstand mit der<br />
Überzeugung von einem metaphysisch vorausgesetzten Ding des Wesens<br />
formuliert wird. Die in § 12 mittels Negation weiterführende Überlegung<br />
des eigentlichen Merkmals eines Begriffes vom Objekt (nicht nur als Titel<br />
der Menge aller Merkmale) vermag die Fixierung des fraglichen Begriffs<br />
von einem Objekt an die Stelle des Satzsubjekts ohne Hilfshypothesen nur<br />
damit zu kennzeichnen, daß dieser Begriff in einem Urteil nicht an<br />
Prädikatsstelle stehen könne. Im Ideal der reinen Vernunft wird<br />
bekanntlich nur jede Folge als Ableitung aus Prädikate ausgeschlossen,<br />
was die Prädikate ut constitutiva übrig läßt. Die transzendentale<br />
Überlegung der wesenslogischen Verhältnisse hat die Stellung dieser<br />
Prädikate ut constitutiva aus dem Satzsubjekt in den Satzgegenstand<br />
verschoben, da der Wesensbegriff selbst, als repraesentatio singularis<br />
zwischen Anschauung und Idee stehend, sich als ungeeignet für eine<br />
Definition herausgestellt hat, und nichts als die qualitative Einheit des<br />
Begriffes vom Objekt (§ 12) besitzt, während der Begriff von einem<br />
einzelnen Gegenstand ein Merkmal desselben von nicht-komparativer<br />
Allgemeinheit (Notwendigkeit) beansprucht. Allein diese zweifache<br />
Grenzziehung der Bedeutung (termini ) einmal nach rein<br />
grammatikalischen, einmal nach wesenslogischen Kriterien soll das<br />
Konzept des Begriffes in die Lage versetzen, die »unmittelbar« (d. i. in<br />
einem Satz, Urteil, Proposition etc.) vermittelbare Beziehung zu seinem<br />
Gegenstand zu behaupten.<br />
Kants logische Untersuchungen in der Merkmalslehre vermochten bislang<br />
weder für intuitive Merkmale oder für diskursive Merkmale, noch im<br />
Konzept des Merkmals als Teilbegriff, der die qualitative Einheit des<br />
bezeichneten Dinges »in der gantzen Vorstellung« repräsentiert, den<br />
134 Heideggers Auffassung, das omnitudo realitatis drücke die Vielheit aller möglichen<br />
Prädikate überhaupt aus, muß also trotz der gleichsinnigen Stelle bei Kant (dort<br />
allerdings fälschlicherweise als Allheit, und K.r.V., B 603) fallen gelassen werden.
— 350 —<br />
Grund dieser »Unmittelbarkeit« auszumachen. 135 Allerdings verspricht die<br />
starke wesenslogische Interpretation des Ideals der reinen Vernunft im<br />
Begriff vom einzelnen Gegenstand eben jene Eigenschaft auszumachen,<br />
welche erlaubt, in einem Teilbegriff die ganze Vorstellung eines Dinges<br />
zumindest zu denken, wenn schon nicht anhand dessen Merkmal<br />
anzuschauen: Nicht Bezeichnung einer Beobachtung oder eingeborener<br />
Gattungsbegriff (notio), sondern Schlußfolgerung (ut rationata) nach dem<br />
von der Vernunft angezeigte Schema, wie Intuitionen durch wesentliche<br />
Prädikate (ut constitutiva ) gerechtfertigt werden sollen, und damit selbst<br />
sogar zu wesentlichen Prädikaten (ut rationata ) werden könnten, wird aber<br />
nicht ausgeführt. 136 — Das Prinzip der Rückführbarkeit wahrer Folgen aus<br />
§ 12 wäre selbst ein solches wesentliches Prädikat, das aber nur zur<br />
logischen Regel der Allgemeinheit qua Notwendigkeit der<br />
Rückführbarkeit der Erscheinungen auf Merkmale des Begriffs vom Objekt<br />
dienen kann, und das im Ideal gesuchte heuristische Prinzip dem<br />
Inhaltsumfang (Bedeutungsumfang) nach auch unterbieten kann und den<br />
modalen Anspruch nach aber überbietet.<br />
e) Wesenslogik und transzendentale Logik<br />
Kants wesentliche Ausage über den reinen Gegenstand der<br />
transzendentalen Logik greift nun auf beide Argumentationswege der<br />
Allgemeinheit (dem Rückführungskriterium aus § 12 und dem<br />
wesenslogischen Kriterium des Ideals der reinen Vernunft) zurück:<br />
»Die Logik kann nun wiederum in zwiefacher Absicht unternommen<br />
werden, entweder als Logik des allgemeinen, oder des besonderen<br />
Verstandesgebrauchs. [...] Jene kann man Elementarlogik nennen, diese<br />
aber das Organon dieser oder jener Wissenschaft.«. 137 Zur Möglichkeit<br />
einer transzendentalen Logik selbst: »In diesem Falle würde es eine Logik<br />
geben, in der man nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahierte; denn<br />
diejenige, welche bloß die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes<br />
135 Erst mit der Überlegung, ob es möglich sei, vom Ich selbst Erfahrungen zu machen,<br />
findet Kant den ausreichenden Grund, die äußere Erfahrung als die primäre<br />
Erfahrung anzusehen, die aller persönlicher Erfahrung sowohl was Habitus wie<br />
Charakter angeht, empirisch wie praktisch voranzugehen habe, indem letztere sich<br />
als entscheidend nicht ohne der Erfahrung der Moralität auf Grund empirisch<br />
Handlungen zeigen. ◊<br />
136 Nach Kants Überlegungen in der Methodenlehre wäre das auch nur als Übergang<br />
von Intuition zur Konstruktion möglich, z. B. B 747/A 719.<br />
137 K.r.V., B 76/A 52
— 351 —<br />
enthielte, würde alle diejenigen Erkenntnisse ausschließen, welche von<br />
empirischen Inhalte wären. Sie würde auch auf den Ursprung unserer<br />
Erkenntnisse von Gegenständen gehen, so fern er nicht den Gegenständen<br />
zugeschrieben werden kann [...]« 138<br />
Die entscheidende Regel für den reinen Begriff des Objekts selbst, die auch<br />
anhand der Erörterung des § 12 gefunden werden konnte (selbst kein<br />
Prädikat mehr sein zu können), ist nur dann auch in Übereinstimmung mit<br />
der Regel zu bringen, die mit dem Ideal der reinen Vernunft gewonnen<br />
werden konnte (die Auschließung der bloß logisch möglichen, aber nicht<br />
notwendigen Prädikate), wenn es sowohl keinen Wesensbegriff vor der<br />
Erfahrung gibt wie auch mit einem verschärften ersten Kriterium des<br />
Ideals der reinen Vernunft alle empirischen Inhalte, als durch Vergleich<br />
oder Ableitung aus einem Prädikat (aus anderweitiger Erfahrung)<br />
gewonnen, ausgeschlossen werden müssen. Welcher Inhalt der reinen<br />
Erkenntnis a priori außer Negationen kann der transzendentallogische<br />
Gegenstandsbegriff nun noch besitzen? Nun sagt Kant selbst, daß solche<br />
Erkenntnisse »auch auf den Ursprung unserer Erkenntnisse von<br />
Gegenständen gehen, sofern er nicht den Gegenständen zugeschrieben<br />
werden kann«.<br />
Das heißt also erstens: Unter der Voraussetzung, daß Kant den<br />
Wesensbegriff in der Schrift gegen Eberhard nur zur Darstellung des<br />
historischen Ursprunges zweier Begriffe der Folgebeziehung (Ableitung<br />
und Begründung bzw. Rechtfertigung) benutzt hat und die wesenslogische<br />
Ableitung mit der Ableitung der Bedingungen der Möglichkeit von<br />
Erfahrung überhaupt ersetzt, führt der Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand (das Ideal der reinen Vernunft) dann allerdings zum Begriff<br />
des Objekts der Erfahrung, dessen Kriterium der Rückführbarkeit zur<br />
kritischen Einschränkung der Vielheit der Folgen auf wahre Folgen der<br />
Merkmale eines Begriffes nunmehr die Funktion eines Prädikates<br />
ut rationata übernimmt, welche die wesenslogisch verfaßte Ableitung der<br />
Schlußfolgerung aus der Anschauung an den Verhältnissen der<br />
Erscheinungen in der Wahrnehmung rational zu rechtfertigen hat. Dazu<br />
gibt eben das Kriterium der Rückführbarkeit der wahren Folgen nach § 12<br />
eine erste Methode zur Hand, wie aus empirischer Erfahrung Begriffe zu<br />
138 B 79 f./A 55 f.. Zur Einteilung der Logik vergleiche die sehr gelungene Analyse in<br />
STUHLMANN-LAEISZ 1976
— 352 —<br />
machen sind. Diese Methode der komplementären Reflexion von<br />
Wesenslogik und induktiver Rückführung der Folgen auf Merkmale von<br />
Erscheinungen ließe sich nach der Verabschiedung einer apophantischen<br />
Wesenslogik nun auch als Beschreibung des transzendentallogischen<br />
Inhalts des Gegenstandsbegriffes auffassen.<br />
Zweitens sollten diese notwendigen Prädikate, welche den Kriterien des<br />
Begriffes vom einzelnen Gegenstand — und somit der Wesenslogik —<br />
genüge tun, weder dem ersten logischen Prinzip der durchgängigen<br />
Bestimmung eines Dinges noch ursprünglich gleich einer abstrakten Idee<br />
des individuellen Objekts entsprechen, wie allerdings gefordert wird. Es<br />
wäre vielmehr zu zeigen, daß die Kategorien gemäß den in abstrakter<br />
Allgemeinheit überhaupt gefaßten Kriterien der »qualitativen« Einheit des<br />
Begriffs vom Objekt wesentliche Prädikate des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand sind: Was ursprünglich und unabhängig von jeder Kategorie<br />
transzendentallogisch bloß die Form des Gedankens von einem<br />
Gegenstand ausgedrückt hat (metaphysisch-analytisch), dem wird mittels<br />
der systematischen Inbeziehungsetzung der rationalen Psychologie und<br />
der rationalen Physiologie in der transzendentalen Deduktion und im<br />
Schematismuskapitel die Kategorie als wesentliches (nunmehr<br />
transzendental: metaphysisch-synthetisches) Prädikat eines<br />
Erfahrungsbegriffes notwendig gemacht; — und zwar, weil die<br />
wesentlichen Prädikate, die dann eben nur Prädikate ut rationata sein<br />
können, synthetische Grundsätze voraussetzen müssen, die<br />
grammatikalisch nicht allein Prädikationsverhältnisse des Satzsubjektes,<br />
vielmehr deren Relationen zu den Prädikationsverhältnissen des<br />
Satzgegenstandes betreffen. Drittens hat sich aber bereits gezeigt, daß es<br />
im Fortgang einer umgreifenden Untersuchung metaphysische Begriffe<br />
mit transzendentaler Funktion geben wird — so in den M.A.d.N., die als<br />
Ergebnis der transzendentalen Analyse im Sinne der Bedingung der<br />
Möglichkeit materieller Phänomene zwar erst a posteriori, aber dennoch<br />
wegen der phänomenologischen Vollständigkeit mit a priori Gültigkeit<br />
derselben, das Bewegliche (also nicht bloß das Beharrliche in der<br />
Apprehension der Erscheinungen selbst) als Substrat der empirischen<br />
Erfahrung vorauszusetzen in der Lage sind (ein Prädikat ut constitutiva ). 139<br />
139 Vgl. das Grundurteil über Kausalität. Vgl. hier auch: Die logischen und die<br />
metaphysischen Bedingungen der Wahrheit, I. Die Zeitbedingung der Wahrheit, 2)<br />
Die modallogische Erörterung, aber auch dort in II. Substanz und Beharrlichkeit, 9)<br />
Realität und Objektivität.
— 353 —<br />
Ebenso sollte sich desweiteren herausstellen, daß Ähnliches auch für die<br />
Mathematik in Stellung zu bringen sein muß, obgleich Kant in dieser Frage<br />
im Umfeld des transzendentalen Schematismus nicht eindeutig genug<br />
Stellung bezieht.<br />
§ 10 Die Ontologia der Transzendentalphilosophie als formale Basis<br />
zur Rekonstruktion des reinen Begriff des Gegenstandes aus der<br />
Struktur der konstitutiven Kategorie<br />
In der Architektonik der reinen Vernunft zählt Kant die Frage nach dem<br />
Begriff vom Gegenstand vor jeder Erfahrung zur<br />
Transzendentalphilosophie:<br />
»Die im engeren Verstande so genannte Metaphysik [die Metaphysik der<br />
Natur] besteht aus der Transzendentalphilosophie und der Physiologie der<br />
reinen Vernunft. Die erstere betrachtet nur den Verstand, und Vernunft<br />
selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf<br />
Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben<br />
wären (Ontologia); die zweite betrachtet Natur, d.i. den Inbegriff<br />
gegebener Gegenstände, (sie mögen nun den Sinnen, oder, wenn man will,<br />
einer anderen Art von Anschauung gegeben sein,) und ist also Physiologie<br />
(obgleich nur rationalis)«. 140<br />
Es bleibt also die Frage, woher die reine Vorstellung eines Gegenstandes<br />
kommt. Die anhand des Anfangs dieses Abschnittes gegebenen Hinweise<br />
aus der ersten Fassung der transzendentalen Deduktion (hier § 4), welche<br />
allein aus der Bestimmbarkeit einer Vorstellung durch ihre abermalige<br />
Vorstellbarkeit einen Begriff des Gegenstandes als theoretischen Begriff<br />
ermöglichen sollen, können für sich nicht befriedigen. Ebensowenig<br />
vermag die Exposition des Objekts der reinen Transzendentalphilosophie<br />
als transzendentales Objekt = X schon zwischen einem bloßen<br />
Abstraktionsbegriff a posteriori und dem dialektischen »intelligiblen«<br />
Subjekt auch nur die Vorstellung eines einzelnen und wirklichen<br />
Gegenstandes a priori zu rechtfertigen, von der aus überhaupt erst im<br />
transzendieren eine transzendentale Analogie sinnvoll sein kann.<br />
140 K.r.V., B 873/A 845
— 354 —<br />
Obgleich diese Problemstellung also keineswegs allein durch eine<br />
Formalontologie befriedigt werden kann, was ein Blick auf das Verhältnis<br />
der dynamischen Kategorien und deren synthetischen Grundsätze zu den<br />
»Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« auch ohne<br />
nähere Erläuterung der Bedeutung einer solchen Unterscheidung für die<br />
selbst reine praktische Vernunft zu zeigen imstande wäre, so ist doch ein<br />
formalontologischer Lösungsansatz ein Indiz für die logische<br />
Präzisierbarkeit der weiterreichenden systematischen Bestrebungen, auch<br />
wenn ein solcher das transzendentale Prinzip der Kausalität nicht selbst<br />
zum Gegenstand einer formalen Deduktion haben kann. Ein spekulativer<br />
Ansatz aus genormten Elementen der Deduktion, der als bloß formal<br />
sowohl über die abstrakte Allgemeinheit universal gültiger Kriterien der<br />
»qualitativen« Einheit des Begriffs vom Objekt wie über die Essentialität<br />
des ursprünglichen Zielpunktes der wesenslogischen Kriterien des Ideals<br />
der reinen Vernunft hinauszugehen hat, wäre zugleich die Basis, den<br />
Begriff der »intellektuellen« Anschauung von der Verwechslung Kants mit<br />
dem intuitiven Verstand, der unmittelbar auf Dinge an sich geht (und<br />
schließlich fälschlicherweise für die synthetischen Urteile a priori in der<br />
Geometrie von Kant beansprucht wird) freizumachen. Dazu ist zu<br />
beobachten, welche signifikatorische Bedeutung die<br />
Begriffsverwendungen von Raum und Zeit jeweils haben: Zunächst ist die<br />
Zeit ursprüngliche Eigenschaft des inneren Sinnes (von Sukzessivität kann<br />
hier aber noch nicht die Rede sein), während der formalen Anschauung<br />
gegenüber der Raum die Objektivität der Erscheinungsform als die Weise<br />
seiner Bestimmbarkeit vorstellt (wovon — wegen der Einführung der<br />
reinen Sinnlichkeit — die Begründung der Geometrie von der Arithmetik<br />
als Formalwissenschaften eben nochmals zu unterscheiden ist). Schließlich<br />
wird aber in den dynamischen Kategorien die Zeit das Medium der<br />
transzendentalen Objektivität gegenüber der Objektivität der<br />
Erscheinungs- und Vorstellungsformen aus der transzendentalen<br />
Subjektivität. Hiezu kann der Konstruktionsbegriff und die Abhängigkeit<br />
von der Zeit der Verstandeshandlung einmal in rein formaler<br />
Konstruktion und einmal in technischer Konstruktion, wo die Zeit mehr<br />
bedeutet als bloße Bestimmung der Reihenfolge, sondern noch die Zeit des<br />
realen Wirkungsgefüges zu berücksichtigen ist, als Indiz für<br />
unterscheidbare Zeitbedingungen herangezogen werden. Die synthetische<br />
Einheit der Zeit überhaupt wird damit noch nicht in Frage gestellt.
— 355 —<br />
Wird die Zeit der Konstruktion der Formen selbst betrachtet, kann anhand<br />
der Konstruktion einer Vorstellung (als die Konstitution ihrer reinen<br />
Gegenständlichkeit) gemäß den mathematischen Kategorien einmal als<br />
Kontinuität der Veränderlichkeit (Antizipation der Wahrnehmung:<br />
Intensität) die beliebig teilbar ist und einmal als Reihenfolge der<br />
Konstruktion, deren einzelne Schritte wechseln (Axiome der Anschauung)<br />
jeweils ein intellektuelles Substrat der reinen Anschauung gedacht<br />
werden. Was hindert nun, den naheliegenden Gedanken spekulativ<br />
auszuführen, als deren Vereinbarung ein gemeinsames intellektuelles<br />
Substrat der reinen Anschauung zu denken? Dazu sind im verschiedenen<br />
Außmaß die reinen Schematen aller (?) Kategorien notwendig, erlauben<br />
hier deshalb aber allein keinen Schluß auf ein selbst empirisches<br />
Substrat. 141 — Eben die Forderung nach der Vereinbarkeit von Kontinuität<br />
und Rekonstruierbarkeit kann nun auch im synthetischen Grundsatz der<br />
ersten dynamischen Kategorie als Kants Forderung gedacht werden: »So<br />
können wir, in einem etwas paradox erscheinenden Ausdruck, sagen: nur<br />
das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet<br />
keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen<br />
aufhören, und andere anheben.« 142 Substanz als Begriff der ersten Art der<br />
Beharrlichkeit der Zeit aus der Feststellung des Beharrlichen in den<br />
Erscheinungen ist somit gegenüber der Notwendigkeit einer Folge<br />
dadurch gekennzeichnet, daß sie in der Zeit sowohl einen Wechsel ihrer<br />
Akzidentien wie auch deren Veränderung erleidet. Allein aus dieser<br />
Differenz vermeint Kant den metaphysischen Begriff der Substanz bereits<br />
von anfang an auch formalontologisch (hier transzendentalanalytisch im<br />
rein restringierten Sinne von synthetisch-metaphysisch) rechtfertigen zu<br />
können. 143 Es erlaubt gerade die Verwendung der Verstandesbegriffe,<br />
sofern sie nicht auf Erscheinungen eines Dinges an sich (wie in der<br />
transzendentalen Analytik in der ersten Kritik), sondern auf die<br />
Bestimmung der Inhalte eines Urteilsaktes gehen, die Möglichkeit der<br />
Vereinbarung beider mathematischen Kategorien als Bestimmung einer<br />
Vorstellung zu denken, welche damit zur rein immanenten Vorstellung<br />
eines Gegenstandes überhaupt erklärt werden kann, was die Forderung<br />
141 K. r. V., B 269/A 220 f.<br />
142 B 230<br />
143 Das analytische Enthaltensein des Veränderlichen aus dem logischen Gegensatz von<br />
Beharrlichkeit und Veränderlichkeit ist so zwar mit der Definition des Beharrlichen<br />
gegeben, vermag diese aber auch allein nicht auszumachen: In Frage steht, wie kann<br />
dem bloßen Wechsel und wie kann dem bloß Veränderlichen Kontinuität<br />
zugesprochen werden?
— 356 —<br />
nach objektive Realmöglichkeit gemäß den ersten beiden empirischen<br />
Postulaten bereits erfüllen könnte. Obgleich damit in transzendentalsubjektiver<br />
Hinsicht der theoretische Begriff eines Gegenstandes nur als<br />
Thematisierung der Idee von der Einfachheit und der<br />
Zusammengesetztheit der Substanz aus den Paralogismen in A und in der<br />
zweiten kosmologischen Antinomie gerechtfertigt werden kann, 144<br />
bedeutet dieser formalontologische Ansatz vom Standpunkt der reinen<br />
Vernunft aus gesehen bereits unabhängig vom Totum regressiver oder<br />
progressiver Vollständigkeit den Übergang von transzendentaler<br />
Einfachheit, in welcher die transzendentale Deduktion stattfindet, zur<br />
Form des Gegebenseins von empirischer Mannigfaltigkeit.<br />
Eine kurze Einführung in die Grundzüge der diesbezüglichen<br />
Überlegungen soll das hier Interessierende etwas deutlicher machen.<br />
Die Distributionseigenschaften der einzelnen Bestimmungstücke<br />
(Kontinuität und Teil einerseits und Konstruktion und einzelner<br />
Konstruktionsschritt andererseits) jeweils untereinander und auf ein<br />
transzendentales Objekt (z.B. geometrische Konstruktion einer Figur und<br />
deren kontinuierliche Veränderung des Quantums des Maßes durch<br />
Perspektive und Ähnlichkeit) erfüllen je verschieden das logische<br />
Quantum von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Dabei erweist<br />
sich die Doppeltheit der Zuordnung von Allgemeinheit, Besonderheit und<br />
Einzelheit des logischen Quantums zur Allheit, Vielheit und Einheit des<br />
kategorialen Quantums auch in der transzendentalen Einfachheit der<br />
Distributionseigenschaften als bedeutsam (Vgl. hiezu Ȇber die<br />
Zuordnung der Quantitäten des Urteils und der Kategorien der Größe bei<br />
Kant« von M. Frede und L. Krüger, in: Kant-Studien, Bd. 61, p. 28-49):<br />
Wird die Prädikation eines Kontinuums mit dessen Qualität von der<br />
Prädikation mit dessen Quantität ebenso unterschieden, wie die<br />
Prädikation einer Konstruktion von der Prädikation eines<br />
Konstruktionsschrittes, so ist die Prädikation einer Konstruktion immer<br />
die Einheit der Allgemeinheit (aber nicht als Menge aller Subjekte mit<br />
diesem Prädikat wie in der Prädikatenlogik extensiv darstellbar, sondern<br />
144 K. r. V., »Dieser dialektischen Vernunftschlüsse gibt es also nur dreierlei Arten, so<br />
vielfach, als die Ideen sind, auf die ihre Schlußsätze hinauslaufen.[...]«<br />
(B 398 f./A 340 f.) Kant nennt Paralogismus, Antinomie und das Ideal der reinen<br />
Vernunft. Vgl. bezüglich der Einfachheit der Substanz der Seele die Widerlegung des<br />
dritten Paralogismus in A. Vgl. bezüglich des Begriff des Gegenstandes die Antithese<br />
der zweiten Antinomie zwischen einfacher und zusammengesetzter Substanz.
— 357 —<br />
als Konjunktion der Prädikate der Teilschritte der Konstruktion — aber<br />
eben nicht Intensität); die Prädikation der Kontinuität aber die Allheit<br />
einer qualitativen Einzelheit (aber nicht die Allheit des transzendentalen<br />
Ideals im qualitativen Gebrauch des kategorialen Quantums sondern als<br />
einzelne Qualität und Intensität).<br />
Erst die zweite Prädikation erreicht dann schon die Möglichkeit, einem<br />
Prädikat eines weiter teilbaren Teiles oder eines Konstruktionsschrittes<br />
(Teilprodukt) mehrere Objekte vom Prädikat aus an die Subjektstelle des<br />
Urteils zu setzen (erlaubt also eine extensive Darstellung als<br />
Prädikatenlogik; und ist somit disjunktiv gegliedert). Damit sind die<br />
formalen Bedingungen des Überganges von der Betrachtung der<br />
Distributionsverhältnisse in transzendentaler Einfachheit (d. i. die<br />
Gegenstandskonstitution in der reinen Vernunftidee) zur empirischen<br />
Mannigfaltigkeit bereits gegeben worden: Nunmehr wird das<br />
transzendentale Objekt (abermals das intellektuelle Ding der Konstruktion<br />
als transzendentallogischer Gegenstand ohne gegebenes Objekt; also nicht<br />
grammatikalisch und nicht ontologisch betrachtet) selbst auf verschiedene<br />
Gegenstände (als bloße Abstraktionsbegriffe komparativer Allgemeinheit)<br />
distribuiert, deren Bedeutung von Raum und Zeit von der Bedeutung von<br />
Raum und Zeit der Konstruktion verschieden ist. Hiebei kann nochmals<br />
Konstruktionsbegriff und Maßbegriff getrennt betrachtet werden: Die<br />
Allgemeinheit (Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit) einer Konstruktion<br />
distribuiert sich dann sowohl nach Raum wie nach Zeit, da eine<br />
Konstruktion eine abgeschlossene Zeitfolge ist (bei infinitesimalen<br />
Operationen in der Mathematik ist zumindest ein Beginn angebbar),<br />
während die Einzelheit der Kontinuität (Quale) nur nach dem Raum<br />
weiter distribuiert werden kann, da ein Kontinuum sich in der Zeit nur<br />
nach dem Grad (Quantität) unterscheiden kann.<br />
Diese sehr abgekürzte Darstellung soll zeigen, wie die Konstitution eines<br />
»intellektuellen« Gegenstandes sowohl mit den immanenten Bedingungen<br />
des Überganges von transzendentaler Einfachheit zur empirischen<br />
Mannigfaltigkeit, wie auch mit der Bestimmung der Logik (als Bedingung<br />
der Möglichkeit derselben jeweils als Prädikatenlogik und als<br />
Aussagenlogik) zur Formalwissenschaft zusammenhängt, ohne selbst auf<br />
das Ideal der reinen Vernunft (dem Begriff vom einzelnen Gegenstand)<br />
ausdrücklich zurückkommen zu müssen. Es ist also die Analogie der<br />
Schematismen der synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien
— 358 —<br />
in transzendental-subjektiver Hinsicht nicht mit der Entdeckung des<br />
praktischen Kerns in der »Handlung« der theoretischen Vernunft auch<br />
schon theoretisch gerechtfertigt, sondern diese Rechtfertigung besteht<br />
selbst erst darin, Bedingungen zu entwickeln, die den Übergang der<br />
Betrachtung der Distributionseigenschaft innerhalb der derart<br />
weiterbestimmten reinen Mannigfaltigkeit zu einer nicht näher<br />
bestimmbaren empirischen Mannigfaltigkeit ermöglichen; freilich ohne<br />
selbst diesen Übergang zur Empirie modal veranlassen zu können. Die<br />
Überlegung, daß es möglich sei, zwischen dem Abstraktionsbegriff<br />
komparativer Allgemeinheit und dem »intelligiblen« Subjekt der<br />
dialektischen Metaphysik als Urbild jeder substantialen Form ein rein<br />
intellektuelles Ding zu konstruieren, ist aber für den hier insgesamt<br />
angezogen Argumentationsgang gar nicht notwendig, falls solches für den<br />
Leser abermals als zu sperrig erscheint; es reicht dazu die Betrachtung der<br />
Konstruktionen der Geometrie völlig aus, um die Gegenständlichkeit als<br />
Bestimmbarkeit einer Vorstellung über die Gegenständlichkeit einer<br />
Vorstellung qua Vorstellbarkeit hinausgehend zu denken, womit allein<br />
schon erwiesen werden könnte, daß der Verstand notwendig ist, um<br />
Erscheinungen auf einen Gegenstand zu beziehen. Freilich wird sich bei<br />
näherer Betrachtung der Gegenstand dann als Vorstellung (reine<br />
Anschauung gegenüber Anschauungsform, vgl. Anmk. § 26, B 160) bereits<br />
als genau der selbe herausstellen, der gerade als intellektuelles Ding<br />
eingeführt worden ist, da die Geometrie als Formalwissenschaft nicht nur<br />
aus Schematen der Konstruktion, sondern auch aus Schematen des<br />
Messens besteht, und die Teilbarkeit einer Geraden geradewegs in das<br />
gleiche Problem des Infinitesimalen führt, wie die Teilbarkeit der Intensität<br />
aus den Antizipation der Wahrnehmung. Entscheidend für den hier<br />
angezogen Argumentationsgang ist aber, daß eine solche Konstruktion<br />
nicht als Subsistenz - Inhärenz - Relation gedacht werden kann (nur mehr<br />
die Bestimmung der Elemente und der Einheit der Verstandeshandlung<br />
selbst sind dann noch prädikativ; vgl. die selbst prädikative Bestimmung<br />
der Kalküle der Aussagenlogik). — Nun wurden anhand der Konstruktion<br />
eines intellektuellen Dinges in transzendental-subjektiver Hinsicht aus der<br />
intellektuellen Synthesis der mathematischen Kategorien im Rahmen der<br />
ersten dynamischen Kategorie der Substanz (an Stelle des<br />
transzendentalen Objektes) die formalen Bedingungen der Konstruktion<br />
der Logik aufgezeigt, ohne daß diese bereits die Bedingungen der<br />
Möglichkeit von Erfahrung (Wirklichkeit) an sich hätte, aber doch selbst<br />
erst die logische Bedingung der empirischen Anschauung in der Erfahrung
— 359 —<br />
gibt. An dieser Überlegung ist zumindest noch bemerkenswert, daß die<br />
Kategorie der Substanz schon ohne den dynamischen Begriffen der<br />
Inhärenz und Subsistenz als erfüllt betrachtet werden kann. Diese<br />
merkwürdige Stellung der Substanzkategorie zwischen den konstitutiven<br />
Kategorien und den dynamischen Kategorien überhaupt hat sich bereits in<br />
ganz anderer Lage bei der Behandlung der Beharrlichkeit als Schema der<br />
Apprehension sowohl gegenüber der metaphysischen Forderung der<br />
Dauer an die Substanz und deren dynamischen Begründung wie<br />
gegenüber dem Beweglichen der Phoronomie bestätigt. 145<br />
b) Versuch der Grundlegung einer allgemeinen Mengenlehre<br />
§ 11 Der zweifache Ursprung des Enthaltenseins<br />
Die Untersuchung beginnt wieder wieder mit dem Schlußsatz des § 15, wo<br />
Kant das ursprüngliche Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit vor<br />
den Kategorien ansetzt, weil diese bereits logische Verbindung enthalten.<br />
Die gedachte reine Relation des Enthaltenseins ist dem Grund der<br />
Zurechenbarkeit der Prädikate zum Begriff gegenüber indifferent und<br />
drückt in § 12 nur allgemein mittels der Rückführbarkeit der Folgen eines<br />
Begriffsmerkmals auf die Einheit im Begriff vom Objekt die Notwendigkeit<br />
aus, daß dieses Merkmal zur Einheit des Begriffes gehört. Also<br />
gleichgültig, ob die Menge der Dinge unter einem Merkmalsbegriff, wie<br />
die Stammbegriffe des logischen Quantums (Einzelheit, Besonderes,<br />
Allgemeinheit) anhand der klassischen Problemstellung zwischen<br />
singulärem und plurativem Urteil diskutiert werden, 146 oder ob die Menge<br />
aller (ungleichartigen) Prädikate (nach dem ersten Prinzip der<br />
durchgängigen Bestimmung eines Dinges) 147 oder die Menge aller<br />
(gleichartigen) Teile eines Kontiuums 148 als die Grundlage der Kategorien<br />
145 Zweiter Abschnitt, II. und vierter Abschnitt, III (die Analogie zur Tafel der<br />
Aussagenlogik: die Pendenz), aber auch die Exposition der Kategorie der<br />
Beharrlichkeit in § 26 (B 162), die auf die Kategorie der Größe hinausläuft.<br />
146 Vgl. eben Michael Frede u. Lorenz Krüger: Über die Zuordnung der Quantitäten des<br />
Urteils und der Kategorien der Größe bei Kant, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie<br />
von Erkennen und Handeln, Hrsg. Gerold Prauß, Köln 1973 (NWB 63), p.130-150.<br />
147 K.r.V., B 599 f./A 571 f.<br />
148 Axiome der Anschauung,: »Alle Erscheinung enthalten, der Form nach, eine<br />
Anschauung im Raum und Zeit,welche ihnen insgesamt a priori zum Grunde liegt.<br />
Sie können also nicht anders apprehendiert, d.i. ins empirische Bewußtsein<br />
aufgenommen werden, als durch die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die<br />
Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder Zeit erzeugt werden.« (B 202/A 162)
— 360 —<br />
des Quantums vorgestellt wird, es bleibt zunächst unverständlich, weshalb<br />
der Konjunktion der Vorstellung von Einheit und der Vorstellung von<br />
Mannigfaltigkeit am Ende des § 15 jede Beziehung auf den Begriff der<br />
Relation, die in jeder logischen Funktion enthalten ist, abgesprochen<br />
werden sollte. 149 Der hier weiter oben aufgestellte Behauptung aus § 15,<br />
daß die Idee der Einheit und der Mannigfaltigkeit nicht schon die<br />
Kategorien des Quantums sind, könnte zwar in § 12 versuchsweise ein<br />
Argument gegeben werden, indem die Vielheit der wahren Folgen nicht<br />
als Größe gedacht werden können soll, doch handelt es sich in § 12<br />
jedenfalls um eine kategoriale Darstellung, wenn auch eben in qualitativer<br />
Hinsicht, was schon allein als Erklärungsgrund der Aussage, das die<br />
Vielheit der wahren Folgen nicht als Größe gedacht werden könnte,<br />
ausreicht.<br />
Es ist allein aus den Gründen dieser Kritik jedoch nicht die komplementäre<br />
Feststellung abzuleiten, daß vor jeder weiteren Erörterung über die<br />
Herkunft der Spezifikation der Größe, worauf die Kategorie dann<br />
eingeschränkt werden sollte, es eine logische Relation gibt, die selbst<br />
keinen kategorialen Anspruch erhebt. Aber nicht die Grund-Folge-<br />
Beziehung in der selbst induktiven Ableitung der qualitativen Einheit des<br />
Begriffes vom Objekt, die dem Kriterium der Rückführbarkeit in § 12<br />
vorauszusetzen ist und auch nicht die daraus allererst bewährte Relation<br />
des Enthaltenseins, sondern die aller Kategorie vorausliegenden<br />
Zusammensetzung 150 im »ich denke« liegt zuerst den Kategorien voraus,<br />
aber eben nicht, wie Kant in § 15 wollte, die Ideen von Einheit und<br />
Mannigfaltigen (Vielen) ohne die logische Funktion. In diesem präzisen<br />
Sinne kann allerdings die logische Funktion nicht schon als Begriff des<br />
logischen Quantums oder einer anderen Tafel der logischen Funktionen in<br />
Analogie zu den Tafeln der Kategorie verstanden werden, sondern bloß als<br />
die Funktion des »ich denke« im Hinzusetzen von einer Vorstellung zu<br />
einer anderen (andernfalls wäre die transzendentale Einbildungskraft die<br />
Bedingung zur Intellection). Das Enthaltensein hat zwar den Begriff des<br />
Zusammengesetzten ebenso vorausliegen wie jede bislang nur unbestimmt<br />
transzendentalsubjektiv deduzierte Kategorie, ist allerdings vor dieser als<br />
eigene Relation abzuleiten: wird das Mannigfaltige zusammengesetzt,<br />
149 Vgl. Kaulbach, NWB 63, p. 129.<br />
150 »Der Begriff des Zusammengesetzten überhaupt ist keine besondere Kategorie,<br />
sondern in allen Kategorien (als synthetische Einheit der Apperzeption) enthalten.«<br />
(AA XII, p. 222)
— 361 —<br />
wird der Mannigfaltigkeit damit eine Einheit angewiesen, in der das<br />
Mannigfaltige dann als analytische Folge naturgemäß enthalten ist.<br />
Allerdings ist das bloß die Demonstration der Idee des Enthaltenseins im<br />
Sich-decken des Begriffes mit seinen Merkmalen als Darstellung des Satzes<br />
von der Identität und nicht gleich ein Begriff der Relation des<br />
Enthaltenseins; noch weniger ein Begriff vom einzelnen Gegenstand im<br />
Sinne eines die ganze Vorstellung eines Objektes repräsentierenden<br />
Teilbegriffes. Letzteres steht hier gar nicht zur Diskussion.<br />
Die Relation des Enthaltenseins kann erst dann weiter ausgebildet werden,<br />
wenn das Allgemeine eines Merkmals der Menge qualitativ näher<br />
bestimmt worden ist und dadurch innerhalb der noch unbestimmten<br />
gegebenen Mannigfaltigkeit eine Menge von Elementen auszeichnet, die<br />
erst eine eindeutige Zuordnung erlaubt und die gebildete Menge von<br />
anderen möglichen unterscheiden läßt. 151 — Derart würde die Aussage<br />
Kants gegen Ende des § 15, daß die bloßen Ideen von Mannigfaltigkeit und<br />
Einheit für sich selbst keine kategorialen Begriffe seien, einen guten Sinn<br />
erhalten. Jedoch macht diese Überlegung auch unmöglich, an eine reine<br />
Kategorie des Quantums überhaupt zu denken. 152 Der Hinweis auf § 12 im<br />
Schluß des § 15 gilt also einer rein transzendentallogischen Darstellung<br />
und nicht dem Mannigfaltigen und der Einheit vor jeder kategorialen<br />
und logischen Verbindung. Damit bleibt auch die Unterscheidung des<br />
Enthaltenseins eines Begriffes in einem Begriff vom Enthaltensein eines<br />
Kontinuums, Dinges, Gegenstandes unter einem Begriff einer<br />
vollständigen Untersuchung des logischen Gegenstandsbegriffes noch<br />
vorbehalten. 153 Wie ein Begriff in einem anderen enthalten sein kann, also<br />
die Vorbedingung eines jeden Syllogismus, ist im verhandelten Umkreis<br />
aber nirgends zu finden, da weder in § 12 noch im Ideal der reinen<br />
Vernunft ersichtlich geworden ist, daß jedes Merkmal eines Begriffes selbst<br />
151 Das steht allerdings in direktem Widerspruch zu der Auffassung von W. V. O.<br />
Quine, die er in dem Aufsatz »Über die Individuation von Eigenschaften« vertreten<br />
hat (in: Willard Van Orman QUINE, Theorien und Dinge, dtsch: Suhrkamp wiss. Bibl.<br />
Nr.960, Frankfurt a. M., 1 1991, p. 128, engl. Havard 1981). Eine Diskussion über das<br />
Verhältnis dieser Auffassung zu Gödels »Imprädikativ« (im Rahmen der<br />
Auseinandersetzung mit Bertrand Russell) steht noch aus.<br />
152 Das betrifft aber nicht mehr die logische Unterscheidung in Begriff vom Raume und<br />
im Begriff vom Gegenstand im ersten Abschnitt, c) Die Logizität des totum<br />
analyticum , da dort der Raum schon als Ausdehnung charakterisiert worden ist.<br />
153 So wird in der Anmerkung zu B 599 die Allgemeinheit und die Allheit, also logisches<br />
und kategoriales Quantum , als Verfahren der Reflexion dem Gegenstand und dem<br />
Ding zugeordnet.
— 362 —<br />
schon als Begriff zu behandeln ist: In § 12 wurde nur derjenige Begriff, der<br />
nur an der Stelle des Satzsubjektes eines kategorischen Urteiles stehen<br />
kann, als Begriff auch ausdrücklich anerkannt. Es konnte allerdings<br />
erwiesen werden, daß der einzelne Gegenstand als das Ideal der reinen<br />
Vernunft unter einen Begriff fällt, der allerdings schon deshalb zu keiner<br />
Rechtfertigung anhand der Sinnlichkeit oder anhand der Erfahrung fähig<br />
ist, solange die Prädikate, die als Ergebnis der Einschränkung gedacht<br />
werden sollen, als Ableitung aus dem sich freilich selbst entziehenden<br />
Wesensbegriff zu verstehen sind. Da ist im Gegenverhältnis zum § 12 der<br />
Grund der Frage zu sehen: Ist der Begriff nur eben der Titel der Menge der<br />
Prädikate, deren Zusammenhang sich desweiteren nach Raum und Zeit<br />
beschreiben und womöglich nach einem Gesetz verbinden läßt oder führt<br />
die Untersuchung zu einem wirklichen Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand? 154<br />
Zuerst soll eine Darstellung der Problemstellung der analytisch<br />
vorgehenden Logik folgen, wie nun das Enthaltensein eines Gegenstandes<br />
unter einen Begriff und das Enthaltensein eines Begriffes in einem anderen<br />
zu denken ist, ohne der zusätzlichen Schwierigkeit, wie denn eine Menge<br />
von Vorstellungen auf den Begriff eines einzelnen Gegenstandes zu<br />
bringen sei, weiters Rechnung tragen zu müssen.<br />
§ 12 Subordination und Subsumtion bei Frege und Kant<br />
Es war — einmal abgesehen von der Erörterung des Grundurteils — nicht<br />
allein die Leistung Kants, von der zeitgenössischen Gepflogenheit, entlang<br />
einer Reihe von Begriffen in der Logik bruchlos bis zum<br />
conceptus singularis vorzustoßen, abzugehen, 155 und die Anschauung in der<br />
Frage nach dem Ursprung eines materialen Merkmals eines Begriffes<br />
eigens in Stellung zu bringen, 156 aber Kant hat wohl die logischen Probleme<br />
154 So etwa in Refl. 4681, AA XVII. p. 666 f.: sinnliche Begriffe sind Titel der<br />
Anschauung, Regel der Wahrnehmung in der Erfahrung sind Titel der<br />
Erscheinungen.<br />
155 Dieter Henrich Vortrag vom 20. 5. 1985 in Wien zur Methode in der Logik Kants: Der<br />
Syllogismus ist für Kant nicht die erste Form des Schließens (nach Rüdiger-<br />
Hoffmann-Crusius), sondern nur unentbehrlich in der - analytischen - Darstellung<br />
des Begriffs.<br />
156 »Etwas sich durch Begriffe, d .i. im Allgemeinen vorstellen, [...] Die unmittelbare<br />
Vorstellung des Einzelnen ist Anschauung« (Fortschritte der Metaphysik, AA XX,<br />
p. 325), vorsichtiger auch schon gegenüber der Einzelheit in der Anschauung:
— 363 —<br />
seiner Zeit mit mehr Konsequenz als andere bearbeitet. Im Zuge der<br />
Reflexionen zur reinen Logik kommt Kant denn auch zu einer modern<br />
anmutenden Auffassung, was die Formulierung der Beziehung von<br />
Vorstellungen zu ihren Gegenständen betrifft: »Wir können hier den<br />
Umfang und den Inhalt eines Begriffes in Erwägung ziehen. Sphaera ist<br />
der Umfang eines Begriffes, und geht auf die Menge der Dinge, die unter<br />
dem Begriff enthalten sind. Nach dem Inhalt betrachten wir den Begriff,<br />
wenn wir auf die Menge der Vorstellungen sehen, die in dem Begriff selber<br />
enthalten sind.« 157<br />
Kant fühlt sich nur in Untersuchungen, die die Verhältnisse der<br />
allgemeinen und besonderen Logik betreffen, verpflichtet, diese und nur<br />
diese Verwendung von Enthaltensein durchzuhalten. Aber auch gerade<br />
transzendentalanaytische Fragestellungen gegenüber den Problemkreisen<br />
der anschauungsimmanenten Strukturmerkmale und der Ontologie des<br />
physisch Realen haben u. U. Kant bewogen, von dieser Gepflogenheit<br />
abzuweichen. — Auf Fragen der Art, ob trotz der Leugnung eines »Dinges<br />
an sich« Frege gerade wegen dieser Negation gewissermaßen<br />
spiegelbildlich in Abhängigkeit von Kant geraten ist, kann nun<br />
verständlicherweise nicht eingegangen werden; im Aufsatz »Über Begriff<br />
und Gegenstand« 158 trifft Frege aber die Unterscheidungen, die auch für<br />
die hier anstehende Untersuchung von zentralem Interesse sind. Zuerst<br />
stellt Frege bloß einen Unterschied in der Verwendungsweise des Begriffs<br />
der logischen Relation des Enthaltenseins fest: Das Fallen eines<br />
Gegenstandes unter einen Begriff ist nicht gleichzusetzen mit der<br />
Unterordnung eines Begriffes unter einen Begriff. 159 Weiters bestreitet<br />
Frege, daß die Unterscheidung in Objektsprache und Metasprache eine<br />
beliebige sein müsse. Frege stimmt Kerry nicht zu, daß unter dem<br />
Ausdruck »Fallen eines Gegenstandes unter einem Begriff« eine Beziehung<br />
zu verstehen sei, in welcher einmal das, was als Gegenstand erscheint, ein<br />
anderesmal als Begriff auftreten könne. Findet man ein Kriterium der<br />
»Wenn eine Vorstellung nicht repraesentatio communis ist: so ist sie gar kein<br />
Begriff« (Wiener Logik, AA XXIV, p. 908). Aber: »Der Gebrauch eines conceptus<br />
kann singularis seyn. [...] Wir theilen also nicht die conceptus in universales,<br />
particulares und singulares ein, sondern die Urtheile.« (Wiener Logik, AA XXIV,<br />
p. 908 f.)<br />
157 Wiener Logik, AA XXIV, p. 911, Hvh. von mir<br />
158 In: Vierteljahreschrift f. wissensch. Philosophie 16, 1892, p. 192-205, in:<br />
Nachgelassene Schriften, Bd. I, p. 96-127, in: Gottlob Frege, Funktion, Begriff,<br />
Bedeutung, Hrsg. Günther Patzig, Göttingen 4 1975 ( 1 1962).<br />
159 cit. op. ,p. 68 (Anmk.2).
— 364 —<br />
Gegenständlichkeit, welche den wechselweisen Gebrauch des Begriffs von<br />
der Gegenständlichkeit von Vorstellungen und Begriffe überhaupt<br />
einschränkt, zumindest aber den dialektischen Gebrauch Kerrys Einhalt<br />
gebietet, dann kann dieser Unterschied als Begriff einer Differenz näher<br />
bestimmt werden:<br />
»Man könnte vielleicht, um dem Unterschiede zugleich mit der<br />
Ähnlichkeit gerecht zu werden, sagen, ein Gegenstand falle unter einen<br />
Begriff erster Stufe, und ein Begriff falle in einen Begriff zweiter Stufe.« 160<br />
Frege unterscheidet weiters Eigenschaften eines Gegenstandes von<br />
Merkmalen eines Begriffes. 161 Eigenschaften eines Gegenstandes machen<br />
als Begriffsmerkmal, daß dieser Gegenstand unter den Begriff fällt<br />
(Subsumtion), während die Unterordnung eines Begriffes unter einen<br />
anderen Begriff direkt anhand eines Merkmals als Fallen des ersten in den<br />
zweiten bezeichnet wird (Subordination). Nach Frege bedeutet die<br />
Subsumtion das Enthaltensein eines Gegenstandes unter seinem Begriff,<br />
die Subordination das Enthaltensein eines Begriffs unter einen anderen<br />
Begriff. Die Formulierung, »ein Begriff falle in einen Begriff zweiter Stufe«<br />
darf wohl auf das Verhältnis von der Bestimmbarkeit der Stelle der<br />
Variable und eingesetztem Begriff bezogen werden. 162 Daß ein Gegenstand<br />
unter einem Begriff falle, bedeutet für Kant in der transzendentalen<br />
Analytik zwar, daß die Vorstellung desselben mit der Vorstellung des<br />
Begriffes gleichartig sei (näher: daß reproduktive Einbildungskraft und<br />
produktive Einbildungskraft — die auch ohne sinnlich aktuell gegebenen<br />
Gegenstand möglich ist — das gleiche Bild erzeugen), aber doch nicht die<br />
vollständige Bestimmung des einzelnen Gegenstandes selbst in einem<br />
singulären Begriff. 163 Komplementär ist die Formulierung, daß ein<br />
160 cit. op., p. 76.<br />
161 Vgl. auch Bernard Bolzanos Elementarlehre in: Wissenschaftslehre. Versuch einer<br />
ausführlichen und größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf<br />
deren bisherigen Bearbeiter, Sulzbach 1837<br />
162 Darauf kann die Unterscheidung Freges in Begriffe erster und zweiter Stufe zwar<br />
nicht beschränkt werden, (vgl. die delikate Prädikatisierung der Prädikate bei B.<br />
Russell) wohl aber ist zu vermuten, daß Freges Beobachtungen zu diesem<br />
Themenkreis, der anderswo Objektsprache und Metasprache heißt, gerade in der<br />
Auseinandersetzung mit Kerry die Reife erlangt hat, mit der Frege die<br />
mathematischen Funktionsbegriffe, wie eben die der Variable und ihr Wert im<br />
möglichen Wertebereich, von logischer Seite erstmals zu kritisieren.imstande war.<br />
163 Jeder Begriff hat einen Umfang, in: Logisches Prinzip der Arten, (K.r.V.,<br />
B 683/A 655). Der klassische conceptus singularis aber hätte keinen Umfang. Vgl.<br />
aber auch in § 9: »Wenn ich ein einzelnes Urteil (judicium singulare) nicht bloß nach
— 365 —<br />
Gegenstand unter eine Vorstellung eines Gegenstandes falle, bei Kant i. a.<br />
gerade das Argument, daß es sich um keinen reinen Begriff, sondern um<br />
eine diskursive Vorstellung handelt, die auch noch Anschauung enthält<br />
(nach »Synthesis der Rekognition«, A 104: Erscheinung). Subordination ist<br />
nun ohne Anschauung allein zwischen Begriffen möglich; gleich ob die<br />
Schematen der produktiven Einbildungskraft, d.h. insbesondere hier von<br />
sinnlichen Begriffen ausgehend, aber auch der für die Darstellung reiner<br />
Verstandesbegriffe schematisch verfahrenden reinen Einbildungskraft<br />
entstammen; 164 Subsumtion vergleicht aber die Schematen der reinen und<br />
der empirischen produktiven Einbildungskraft einerseits und der<br />
reproduktiven Einbildungskraft andererseits. Keine der beiden (weder<br />
Subordination noch Subsumtion) erreicht für sich die durchgängige<br />
Bestimmung des gegebenen Objekts zum einzelnen Gegenstand. Kant setzt<br />
deshalb die ausstehende Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit<br />
(Möglichkeit und Assertion) im Denken von Gegenständen als Objekte der<br />
Erfahrung unter den Titel der transzendentalen Subsumtion. Spätestens<br />
hierin ist Frege von Kant aus zu kritisieren: Frege ist nicht an den<br />
Bedingungen des Gegegebenseins eines Gegenstandes interessiert,<br />
sondern untersucht letztendlich doch nur die weiteren Bedingungen im<br />
logischen Urteil, während Kant noch die Bedingungen des singulären<br />
Urteils zuerst mit den Anschauungsformen, schließlich mit dem<br />
Schematismus des reinen Verstandesbegriffes anzugeben versucht —<br />
wenngleich hinsichtlich der Erfüllung des conceptus singularis vergeblich.<br />
Kaulbach 165 macht in diesem Zusammenhang auf diese wesentliche<br />
Unterscheidung aufmerksam, die aber als solche mit der klassischen<br />
Unterscheidung in Merkmale eines Begriffs und Eigenschaft eines<br />
Gegenstandes bisher weder Kant noch Frege entgangen sein dürfte: die<br />
Unterscheidung zwischen Gegenstand und seinem Bilde. 166 Die<br />
seiner inneren Gültigkeit, sondern auch, als Erkenntnis überhaupt, nach der Größe,<br />
die es in Vergeichung mit anderen Erkenntnissen hat, schätze, so ist es allerdings<br />
von gemeingültigen Urteilen (judicia communia) unterschieden, und verdient in<br />
einer vollständigen Tafel der Momente des Denkens überhaupt (obzwar freilich<br />
nicht in der bloß auf den Gebrauch der Urteile untereinander eingeschränkten<br />
Logik) eine besondere Stelle.« (B 97/A 71)<br />
164 K.r.V., Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, B 180 f./A 140 f..<br />
165 Friedrich Kaulbach, Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des<br />
Kantischen Denkens, in NWB 63, Köln 1873, p. 113.<br />
166 »In allen Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung<br />
des ersteren mit der letzteren gleichartig sein, d.i. der Begriff muß dasjenige<br />
enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird,<br />
denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriff<br />
enthalten.« (K.r.V., B 176)
— 366 —<br />
transzendentale Subsumtion geschieht aber auch bei Kant nicht selbst<br />
allein durch das einfache Enthaltensein des Bildes eines Gegenstandes im<br />
Schema der bestimmenden Einbildungskraft seines Begriffes, also nicht<br />
selbst durch die Unterstellung des sinnlichen Schemas unter einen<br />
empirischen Begriffes, sondern durch die Unterstellung eines Systems von<br />
empirischen Begriffen unter den reinen Verstandesbegriff der Kategorie.<br />
Jedoch beachtet Frege, wie in diesem Fragepunkt auch Kant, nur den Fall,<br />
daß die Relation der Mengenlehre sich mittels Begriffsmerkmale (also<br />
anhand einer Eigenschaft am Gegenstand) 167 auf Gegenstände bezieht, und<br />
nicht den freilich nur an Kant kritisch heranzubringenden Fall, daß die<br />
Einheit der Vorstellung allein anhand eines raumzeitlichen<br />
Zusammenseins verschiedener Gegenstände begründet werden könnte.<br />
Neben den alternativen Formulierungen, ein Begriff falle als diskursiver<br />
Teilbegriff in eine Vorstellung oder eine Vorstellung falle als intuitives<br />
Merkmalsprädikat in einen Begriff, schließlich, ein Begriff falle in einen<br />
Begriff, wie sie dann Kant ganz wie Frege auch im logischen Sinne<br />
gebraucht, bleibt also noch eine weitere Möglichkeit der Bedeutung der<br />
Mengenlehre offen, die auch die selbst rein theoretische Erörterung<br />
derselben übersehen muß: nämlich die Zugehörigkeit von Elementen zu<br />
einer Menge nicht wegen einer Eigenschaft, die begrifflich als Merkmal,<br />
das die Eigenschaft eines als Gegenstand gedachtes Elementes bedeuten<br />
soll, die allgemeine Bedingung (Regel) ausmacht, sondern bloß aus<br />
raumzeitlichen (im Sinne Kants ursprünglich formalen) Bedingungen. 168<br />
Frege versucht nun in einem anderen Aufsatz, die Zeitlichkeit, die<br />
analytisch im Begriff des Veränderlichen enthalten sein muß, in der Stelle<br />
der Variable als etwas außerhalb der Logik darzustellen, 169 indem er<br />
aufzeigt, daß das Veränderliche immer nur in einem konkreten Wert<br />
betrachtet werden kann, um den Wahrheitswert der Funktion jeweils zu<br />
bestimmen. M. a. W., um eine Funktion in einem bestimmten<br />
Wertebereich, also in einer bestimmbaren Abfolge von jeweils diskreten<br />
Werten in der Variablen einer Funktion betrachten zu können, darf der<br />
Verlauf des Veränderlichen nicht als Kontinuum, sondern bereits nur als<br />
Folge jeweil punktuell diskreter Momente gesetzmäßig zu denken möglich<br />
167 Gottlob Frege, Über Begriff und Gegenstand, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, Hrsg.<br />
von Günther Patzig, Götting 4 1975, p. 76.<br />
168 Vgl. hier im ersten Abschnitt, insbesondere a), b)<br />
169 Was ist eine Funktion?, Festschrift f. Ludwig Boltzmann, 1904; cit. op., p. 81 ff.
— 367 —<br />
sein. Die Reihe der möglichen Werte des Veränderlichen implizieren<br />
jeweils ihre Unveränderlichkeit im Moment ihrer Bewertung und gehören<br />
demnach nicht zum Veränderlichen selbst. Damit wird aber nur einseitig<br />
das Kontinuum als mit dem verstandesgemäßen Produkt der reinen<br />
Einbildungskraft für vereinbar erklärt. 170 Hingegen gibt die Darstellung<br />
Kants und dessen Festhalten an der Bedeutung der kontinuierlichen<br />
Anschauung für die empirische Erkenntnis die Gelegenheit, die Einheit<br />
des Begriffes der da wie dort nur abstrakt vorausgesetzten<br />
Gegenständlichkeit des gegebenen Mannigfaltigen kritisch weiter zu<br />
verfolgen, wenn auch einstweilen die Unterscheidung zwischen<br />
kontinuierlich Gegebenen der sinnlichen Anschauung und<br />
diskontinuierlich Gegebenen der Erfahrung logisch noch nicht hinreichend<br />
diskutiert werden konnte. 171<br />
Die vorhin erwiesene Abstraktheit des Begriffs der Menge als für sich reine<br />
Idee des Enthaltenseins 172 in der zweiseitigen Identität des Prädikats als<br />
Merkmal der Elemente und als Merkmal des Allgemeinbegriffs ihrer<br />
Menge hingegen ist zwar intellektuell, aber nach abermaliger Überlegung<br />
nicht geeignet, auch nur das Muster der reinen synthesis intellectualis im<br />
Sinne Kants auszumachen, denn Kant scheint die synthesis intellectualis nur<br />
als die begriffene Form der Zeitlichkeit der zusammensetzenden<br />
170 Hierin dem isolierten Argument Kantens ähnlich, daß das sinnlich Gegebene zuerst<br />
nur mittels des conceptus singularis , dann später mittels des Grundurteils aber nicht<br />
nur den Raum sondern sogar die Kausalität für unmittelbar appizipierbar erklärt.<br />
— aber eben nicht mehr deren Einheit als garantierte Synthesis im conceptus<br />
singularis . Vgl. den ersten Abschnitt, B, a.<br />
171 Etwa das Planck‘sche Wirkungsquantum gegen die Kantsche Auffassung des<br />
Kontinuums in Stellung bringen zu wollen, geht allerdings an der Problemstellung<br />
mehrfach vorbei: Erstens stellt Frege die Ersetzung des Veränderlichen durch eine<br />
Reihe von diskreten Punkten, die von einer Funktion ausgedrückt werden können,<br />
klar und deutlich als Leistung des Verstandes vor und sagt nichts über die<br />
Kontinuität des Veränderlichen selbst aus. Zweitens wird auch von Kant die<br />
Kontinuität im strengen Sinne nur von den Anschauungsformen postuliert; die<br />
sukzessive Erzeugung bzw. die Teilbarkeit der Vorstellungen geht zwar ebenfalls<br />
von dem Postulat unendlicher Teilbarkeit aus, dieses Postulat ist aber schon<br />
angesichts der Leibniz‘schen Erörterungen zum Kontinuum (ideales Kontinuum<br />
versus Kontinuation materieller Phänomene) eher als Ergebnis denkökonomischer<br />
Vereinfachung der theoretischen Überlegungen zu werten. Drittens führt der<br />
cartesianische Hintergrund der Diskussion diskreter Punkte oder Momente zur<br />
ontologischen Problematik der creatio continua , also der fortwährenden<br />
Neuschöpfung (Meditationes II, Œuvres, ed. Ch. Adam/P. Tannery, Paris 1879 ff.,<br />
VII, p. 23) und nicht zur Diskretheit des materiell/energetischen Wirkungsgefüges.<br />
172 Die synthetische Einheit der zusammengesetzten Mannigfaltigkeit., hier § 11. — Also<br />
von allen als vorausgesetzt gedachten „Logischen Funktionen“ im bloßen<br />
Zusammensetzen unabhängig zu denkende reine Idee der Einheit des<br />
Mannigfaltigen.
— 368 —<br />
Verstandeshandlung zu verstehen. Dieser steht allerdings die Zeitlosigkeit<br />
der reinen Verstandesbegriffe ebenso gegenüber, wie im Abschnitt »Von<br />
den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung« im Rahmen der<br />
Apprehension in A die »absolute Einheit« der sukzessive<br />
zusammenzunehmenden Mannigfaltigkeit als Ausgangselement<br />
gegenübergestellt wird. Die nähere Analyse der »Antizipationen der<br />
Wahrnehmung« würde zeigen können, daß die Intensität als Größe sowohl<br />
als Sinnesempfindung, wie als reines Bewußtsein (Intensität=0) jeweils<br />
genau die fehlende nicht-sukzessive Synthesis im »Realen der<br />
Apperzeption« beansprucht: Die Sukzession, anhand welcher die<br />
Übereinstimmung von Verstandeshandlung und Einbildungskraft in der<br />
Schematen die Möglichkeit erwiesen werden soll, wird nun zur<br />
(räumlichen und räumlich-zeitlichen) Darstellung der Intensität als Größe<br />
(z.B. Größe der Bewegungsänderung) gebraucht; ihr voran geht aber eine<br />
andere Synthesis, die von Fall zu Fall als nicht-sukzessive Synthesis<br />
erwähnt wird. Dieser Weg der Deduktion der Qualität aus der Assertion<br />
führt in von Kant kaum angeschnittene Erörterungen des transzendentalen<br />
Ideals und in die Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises, also der<br />
Erörterung des Unterschiedes von omnitudo realitatis vom<br />
ens realissimum und ens necessarium und so zur Frage, was das Allerrealste<br />
vor dem Realen auszeichnen könnte.<br />
Die Rechtfertigung des Begriffes von der Objektivität der Realität kann<br />
zwar nur durch die Darstellung als ausgedehnte Größe, d.h. auch nur<br />
sukzessive erfolgen. Ohne Verstandesbegriff, aber auch ohne<br />
Verstandeshandlung gegenüber den Erscheinungen der Sinnlichkeit kann<br />
niemals objektive Realität e r k a n n t werden. Demnach dürfte auch eine<br />
synthesis intellectualis , die im Sinne der Einheit im reinen Verstandesbegriff<br />
ohne jede objektive Zeitbedingung gedacht werden sollte, der Zeitlichkeit<br />
der Verstandeshandlung bedürfen, um allererst rein gedacht werden zu<br />
können. Der abstrakte Begriff der Menge ist aber nicht selbst das Urbild<br />
der Einheit einer jeden Verstandeshandlung als das konjunktive<br />
Enthaltensein der verschiedenen dazu notwendigen Abschnitte der<br />
Handlung in der intentionalen Akteinheit, die auf Allgemeinheit wie auf<br />
die Besonderheit des Wesens geht, sondern die Einheit der Menge setzt<br />
bereits die Differenz in der Funktion eines Merkmals voraus, einmal das<br />
Formalobjekt (bloß gedachter Gegenstand der Vorstellung) als<br />
Formbestimmung des Elements einer Menge in der individuellen<br />
Bezeichnung zugleich notwendig zu denken, und einmal die Menge solcher
— 369 —<br />
jeweils individuell zu denkenden Elemente empirisch allgemein als Allheit<br />
von bloßer unbestimmter Vielheit abzugrenzen: Der Begriff der Menge ist<br />
also ohne kategoriales und ohne logisches Quantum im Sinne der<br />
logischen Tafeln (§ 9) — d. h. aber auch ohne Beziehung auf einen<br />
einzelnen Gegenstand — hier nicht zu denken möglich. Allerdings ist die<br />
kategoriale Durchbestimmung nicht Bedingung. Eben dieses Verhältnis<br />
wird aber von der Relation des Enthaltenseins, die mit unter<br />
gekennzeichnet wurde, bedeutet. Auch ohne eigene inhaltlich mit einem<br />
Merkmal bezeichenbare specifica differentia wie zwischen Art- und<br />
Gattungsbegriff einerseits und Individualbegriff andererseits bleibt nun in<br />
der reinen Mengenlehre die mit dieser Differenz gekennzeichneten Stelle<br />
der Reflexion auch dann bedeutsam, wenn die Differenz zwischen<br />
allgemein-besonderen Gebrauch und individuell bezeichnenden Gebrauch<br />
des Begriffes keine eigene forma mehr bezeichnet, wie bei Begriffen der<br />
Klassenbildungen über empirische Gegenstände der Begriffsinhalt oder<br />
Bedeutungsumfang mit dem Begriffsumfang des Begriffes zwischen<br />
allgemeiner und individueller Verwendung als intentionale Differenz auch<br />
mit einer semantischen Differenz zu Buche schlägt.<br />
§ 13 Ursprüngliche Unterscheidungen in der Relation des<br />
Enthaltenseins<br />
a) Die Struktur der Affinität als Voraussetzung der logischen Menge<br />
Es bleibt nun für Kant, sofern es sich um Erkenntnis handelt, die<br />
Beziehung des Enthaltenseins mindestens eines Dinges unter einem Begriff<br />
noch notwendig, und auch für die abstrakte Behandlung der Menge<br />
vorausgesetzt, gleichgültig, ob Teile eines Kontinuums oder Prädikate<br />
eines Gegenstandes oder Gegenstände mit gleichen Eigenschaften oder<br />
überhaupt Begriffe als Teilbegriffe eines Oberbegriffes als Elemente einer<br />
Menge betrachtet werden.<br />
In der metaphysischen Betrachtung ist die Frage zu stellen, inwiefern es<br />
überhaupt möglich ist, nach einer theoretischen Erörterung der<br />
Mengenlehre in der Logik weiters qualifiziert von einer Menge von<br />
Prädikate eines Dinges aufgrund von Distributseigenschaften von<br />
Merkmalen auf einen Gegenstand in qualitativer Hinsicht zu sprechen, da<br />
diese Prädikate für sich doch kein gemeinsames Merkmal besitzen, das
— 370 —<br />
erlaubt, mit ihnen eine Menge zu bilden. Derart wäre es nur möglich, aus<br />
den möglichen Artbegriffen einer Gattung einen theoretisch haltbaren<br />
Mengenbegriff zu formulieren, der allerdings nur empirisch (logisch als<br />
Organon einer bestimmten Wissenschaft) von Bedeutung sein könnte. So<br />
versammelt auch der Begriff vom Raum seine Teile wie der Begriff vom<br />
Gegenstand als Gattungsbegriff die in Frage kommenden Gegenstände;<br />
der weitere Unterschied besteht nur darin, daß im Begriff vom Gegenstand<br />
ein Merkmal enthalten ist, welches erlaubt, die benannten Gegenstände<br />
dem Begriff zu subordinieren, während der Begriff vom Raum dessen<br />
Teile nicht subordiniert, weil dessen Merkmale nicht bloß eine<br />
Teilvorstellung des wirklichen Gegenstandes ausmachen, und diese<br />
Begriffe von Raumteilen eben so gut einen Teil des Raumes wie einen<br />
anderen Teil oder gleich den ganzen Raum denken lassen. 173<br />
Die »Menge« aller möglichen Prädikate eines Dinges kann nun auf eine<br />
mit der Wesenslogik vergleichbare Weise logisch gebildet werden wie der<br />
reine Raumbegriff (die Identität der Teile von einem Dritten abzunehmen),<br />
allerdings aus dem entgegengesetzten Grund: Die Prädikate eines Dinges<br />
haben in der Tat kein gemeinsames Merkmal, außer der abstraktallgemeinen<br />
Beziehung aus der Grammatik, daß jedes Prädikat qua<br />
Prädikat eine Beziehung auf einen Gegenstand besitzen müsse. Diese<br />
Beliebigkeit macht auch den Gebrauch von »Ding« und »Gegenstand« bei<br />
Kant verständlich: Der Begriff von einem einzelnen Gegenstand muß aus<br />
dem beliebigen und auch modalkategorial als zufällig befundenen Ding<br />
erst hergestellt werden. Damit wird aber die abstrakt-allgemeine<br />
Beziehung eines Prädikates auf irgend ein Ding nicht erst bewiesen,<br />
sondern abermals nur vorausgesetzt. Hierin steht die Erörterung des<br />
Verhältnisses von »Ding« und »Gegenstand« vor der gleichen<br />
Schwierigkeit wie der Nachweis der Einheit der Apperzeption, welche<br />
einerseits Bewußtsein immer schon analytisch-numerisch voraussetzen<br />
muß, aber erst als ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption<br />
rechtfertigen kann. 174 Aber sowohl ein individuell verwendeter<br />
Gattungsbegriff wie auch ein individuell verwendeter Begriff vom Raume<br />
exkulpiert das individuelle Merkmal im Falle allgemeiner Verwendung.<br />
173 Vgl. hier auch den ersten Abschnitt, I b), c).<br />
174 Vgl. erster Abschnitt, Kap. 2.
— 371 —<br />
Also erst die metatheoretische Prädikatisierung aller möglichen Prädikate<br />
eines Dinges als Vorstellungen, die qua Vorstellung schon sowohl meine<br />
Vorstellung genannt werden können wie auch die Beziehung auf ein Ding<br />
voraussetzen (die erste transzendentale Reflexion), erlaubt von einer<br />
»Menge« der Prädikate eines Dinges zu sprechen. Diese unerweisliche<br />
Beziehung des Prädikates auf ein Ding ist also von zwei Seiten zu<br />
betrachten: erstens transzendental als intentionale Differenz von gedachten<br />
Merkmalen (bzw. von Prädikatsverhältnissen eines Gegenstandes) und<br />
»sinnerfüllender« Intention 175 auf die gegebene Anschauung (das »Ding«<br />
als Zielpunkt der Intention gegenüber dem »Gegenstand« der<br />
Vorstellung), zweitens ontologisch als Eigenschaft von »etwas«. Diese<br />
Richtungen des Zuschreibungsurteiles bilden gemeinsam das Fundament<br />
des Urteils und bilden die von Kant kritisch eingeschränkte<br />
Affinitätsvoraussetzung, wovon diejenige, die in der Aussage ein Merkmal<br />
auf ein wirkliches Ding bezieht, mit Leibniz auch als der zureichende<br />
Grund bekannt ist. Hingegen scheint die bloß deïctische<br />
Zusammenfassung von Objekten in »Einer Anschauung« nach wie vor<br />
ungeeignet für einen logischen Mengenbegriff, da die Objekte zwar auch<br />
als Gegenstände eines Gattungsbegriffes in der Anschauung als Teil des<br />
Raumes jeweils nach den Distributionseigenschaften des anschaulichen<br />
Merkmals des Gattungsbegriffes ihre Identität in der Anschauung<br />
erhalten, aber ohne gemeinschaftliche Ursache oder ohne Kategorie der<br />
Wechselwirkung die verschiedenen Gegenstände als bloße Objekte »Einer<br />
Anschauung« über die allgemeine Anschaulichkeit hinaus kein<br />
gemeinsames Merkmal besitzen. Dazu muß abermals in einer<br />
metatheoretischen Reflexion das subjektive Merkmal dieser Objekte, in<br />
»Einer Anschauung« vorzukommen (was allerdings ohne Vorgriff auf den<br />
Erfahrungsbegriff nicht möglich sein wird), den Objekten selbst als<br />
»objektive« Eigenschaft zugeschrieben werden. Erst nach dieser der<br />
Struktur nach schon bekannten Operation kann die bloß deïctische<br />
Zusammenfassung in »Einer Anschauung« mengentheoretisch behandelt<br />
werden. Auch ist eine transzendentale Reflexion vorausgesetzt: allerdings<br />
geht diese Reflexion auf die subjektive Anschauungsform.<br />
Es zeigt sich also, daß die mengentheoretische Erörterung keine einfache<br />
Voraussetzung für die transzendentale Deduktion der Logik und der<br />
Arithmetik als Formalwissenschaften sein kann. Allerdings erweist sich<br />
175 Wie sich Husserl in den LU II ausdrückt
— 372 —<br />
die Mengenlehre als geeignet, beliebige bezeichenbare Entinitäten zu<br />
Mengen zusammenzufassen, indem die zur Zuordenbarkeit derselben zu<br />
Mengen erforderliche Operation zwar die Differenz von individueller und<br />
allgemeiner Verwendung voraussetzt, aber jeweils durch die<br />
Zuschreibbarkeit der Erfordernisse für diese Operation als Eigenschaften<br />
der fraglichen Elemente der Menge auch schon kategoriale<br />
Voraussetzungen mit der Fähigkeit zur Unterscheidung von Arten von<br />
Gegenständen in Stellung gebracht werden können. Die<br />
Steigerungsfähigkeit der Abstraktheit der möglichen Zuschreibungen soll<br />
verhindert, daß trotz der kategorialen Voraussetzung in der<br />
unumgänglichen Differenz von individueller und allgemeiner<br />
Verwendung eines Prädikates ein paralogistischer Kategorienfehler<br />
auftritt, wenn Objekte nicht aus Gründen der Verhältnisse untereinander,<br />
sondern aus Gründung der Stellung zum Subjekt Eigenschaften<br />
zugeschrieben bekommen. 176<br />
b) Angebliche und wirkliche Unabhängigkeit der Wahrheit vom Subjekt<br />
Diesem Entwurf aus transzendentalsubjektiver Hinsicht will ich einen<br />
Entwurf als Gegengewicht gegenüberstellen, worin behauptet wird, daß<br />
der Begriff der Menge völlig unabhängig von einem individuell<br />
existierenden Subjekt gebildet werden kann. Dies behauptet etwa Bernard<br />
Bolzano in seiner Schrift »Paradoxien des Unendlichen« in § 14. Diese<br />
Auffassung hat schon in der vorangehenden Wissenschaftslehre ihre<br />
176 Der Zielpunkt dieser Überlegung scheint mir zu gestatten, gewissermaßen als<br />
Vorerinnerung, ein Zitat aus einem Aufsatz von Kurt Gödel einzuschalten:<br />
»Ebensowenig ist es selbstwidersprüchlich, daß ein besonderer Teil identisch (nicht<br />
bloß gleich) sein soll mit dem Ganzen, wie im Falle von Strukturen im abstrakten<br />
Sinne zu sehen ist. Die Struktur der Reihe der ganzen Zahlen, z. B., enthält sich selbst<br />
als einen besonderen Teil, und es ist leicht zu sehen, daß auch Strukturen existieren,<br />
die unendlich viele verschiedene Teile enthalten, wobei jeder die gesamte Struktur<br />
als einen Teil enthält. Überdies existieren, sogar innerhalb des Bereiches der<br />
konstruktivistischen Logik, gewisse Annäherungen an diese Selbstreflexivität<br />
imprädikativer Eigenschaften, nämlich Propositionen, die als Teile ihres Sinns nicht<br />
sich selbst enthalten, sondern ihre eigene formale Beweisbarkeit. Formale<br />
Beweisbarkeit einer Proposition nun (im Falle, die Axiome und Schlußregeln sind<br />
korrekt) impliziert diese Proposition und ist in vielen Fällen mit ihr äquivalent. Des<br />
weiteren existieren zweifellos Sätze, die sich auf eine Totalität von Sätzen beziehen,<br />
zu der sie selbst gehören, wie, z.B., der Satz: „Jeder Satz (einer gegebenen Sprache)<br />
enthält mindestens ein Beziehungswort“.« Kurt Gödel, Russells mathematische<br />
Logik, in: A. N. Withehead, B. Russell, Principia Mathematica, Vorwort und<br />
Einleitungen, Übersetzt von Hans Mokre, Suhrkamp 593, Frankfurt a. M., 1986,<br />
S. XVI f. ◊◊
— 373 —<br />
Wurzeln, die wegen des engeren Zusammenhangs mit der hier<br />
stattfindenden Diskussion auch herangezogen werden soll.<br />
Bolzano widerspricht im § 14 der Paradoxien des Unendlichen der eben<br />
gegebenen Darstellung: Die Wahrheiten an sich »gibt« es nicht auf Grund<br />
der Möglichkeit einer wirklichen Intelligenz; die Bedeutung von »es gibt«<br />
sei unabhängig von möglichen wirklichen Intelligenzen wie von deren<br />
bloßer Möglichkeit. Dieses Argument ist zweimal leibnizianisch zu<br />
interpretieren. Erstens hat das »es gibt« bezüglich der Wahrheiten an sich<br />
zwar seine Bedeutung, weil der göttliche Verstand alle Wahrheiten (wahre<br />
und falsche Sätze an sich) denkt, also auch solche, die kein Mensch bisher<br />
gedacht hat oder auch niemals, sei es aus historischen Gründen oder aus<br />
Gründen der Beschränktheit unserer Vernunft, denken wird. Schließlich ist<br />
aber zweitens zu bedenken, daß es sich in der Arithmetik, Geometrie und<br />
Logik um Wahrheiten handelt, die Leibniz zwar als notwendige<br />
Wahrheiten im göttlichen Verstand ansieht, aber ihren Ursprung gerade<br />
nicht in den göttlichen Verstand verlegt, sondern als diesem, wie also auch<br />
der Schöpfung in Raum und Zeit, vorausgesetzt denkt. Ich denke doch,<br />
daß man Bolzano in diesem Punkt von den ersten zwei Bänden seiner<br />
Wissenschaftslehre aus widersprechen muß: Die Wahrheit an sich<br />
entspricht trotz des aus dem zweiten Punkt möglich scheinenden<br />
Einwandes der Realisation in einem Verstande, hier dem göttlichen<br />
Verstand. Zwar hat Bolzano mit Bayle und Leibniz darin recht, daß der<br />
Grund der Wahrheiten an sich nicht der Grund der Möglichkeit von<br />
wirklichen Intelligenzen ist, in seiner Darstellung doch aber Raum für die<br />
Möglichkeiten zu Mißverständnissen gelassen. Denn zwar ist der Grund<br />
einer Wahrheit an sich mit dem Grund der Möglichkeit von Intelligenzen<br />
nicht gleichzusetzen, doch die Wahrheit ist als solche immer ein Begriff der<br />
Modalität der Affinität von Subjekt und seinem Gegenstand, und setzt als<br />
»Horizont der Begegnung« des Subjekts mit einem entgegenstehenden<br />
Objekt das Subjekt abermals voraus. Es ist also die ganze Überlegung<br />
dahingehend zu präzisieren, daß zwar der sachliche Grund der Wahrheit<br />
an sich nicht in dem Grund der Möglichkeit von Intelligenzen selbst liegen<br />
kann, doch aber der Grund, daß man von dem »es gibt« in Verwendung<br />
auf Wahrheiten an sich sprechen kann, also näher, der Grund für die<br />
Realität der Wahrheiten an sich als Wahrheiten doch immer nur in einer<br />
Intelligenz zu finden ist.
— 374 —<br />
Anhand Bolzanos Untersuchung der Wahrscheinlichkeit (WL II, § 161)<br />
wird deutlich, daß Aussagen über Wahrscheinlichkeiten und Aussagen<br />
über Möglichkeiten sich darin unterscheiden, als daß erstere sich auf<br />
Verhältnisse zwischen Sätze, zweiter aber auf Verhältnisse zwischen<br />
wirklichen Gegenständen bzw. wirklich möglichen und wirklichen<br />
Gegenständen beziehen. Es kann daraus gezeigt werden, daß das<br />
Verhältnis von realen Dingen und subjektiv mit Evidenz Urteilenden auch<br />
bei Bolzano ursprünglich folgendermaßen interpretiert werden kann, daß<br />
mit jedem Ereignis, auch ohne ein aktuell urteilendes Subjekt oder auch<br />
nur dessen Möglichkeit, die Möglichkeit einer Vorstellung und eines<br />
Urteils ontologisch schon von jeher mitgegeben ist. Diese Möglichkeit ist in<br />
einem von Wirkung und Selektion möglicher Wechselwirkung des<br />
Seienden strikt unterschiedenen Sinn, woraus verständlich wird, daß die<br />
bloße Unterscheidung in Reales und Mögliches gegenüber deren<br />
Vereinigung in der aristotelischen Kontingenz nicht ausreichen kann, die<br />
Unterscheidungen des »es gibt« bei Bolzanos zu interpretieren.<br />
Hingegen versucht Brentano in seiner Lehre von der Evidenz den<br />
Unterschied von evidente und wahre Urteile einerseits und bloß wahre,<br />
nur mittelbar evidente Urteile andererseits aufzuklären. Brentano verfährt<br />
in cartesianischer Tradition strikt transzendentalsubjektivistisch.<br />
Möglichkeit im ursprünglichen Sinne aber gehört zur Wirklichkeit des je<br />
individuellen Realen und so auch zur Existenz im Sinne der primären<br />
Intentionalität, die wieder aus dem individuell Realen als Subjektivität<br />
hinausführt. Freilich läßt sich auch mit Brentano nichts anderes sagen, als<br />
daß nunmehr zur Möglichkeit, soweit sie zur Existenz gehört, auch die<br />
Wahrnehmung durch ein vorstellendes und urteilendes Wesen gehört.<br />
Damit ist der eigentliche Fragepunkt Bolzanos aber noch gar nicht berührt,<br />
da Brentano anders als Kant selbst die Realität der beurteilten Dinge von<br />
der Existenz des Vorstellenden und Urteilenden abzuleiten beginnt.<br />
Obwohl Kant die objektive Realität in der Tat anders rechtfertigt als<br />
Brentano, so ist doch zu sagen, daß Kant in der Widerlegung des<br />
Idealismus selbst den Versuch unternimmt, die Objektivität eines<br />
Gegenstandes im Raum allein unter der Voraussetzung der primären<br />
Intentionalität aus dem bloßen Faktum des Selbstbewußtseins abzuleiten.<br />
Bolzano hingegen hält die Wahrheit für die platonische Idee und sowohl<br />
für unabhängig von der Möglichkeit diese subjektiv urteilend mit Evidenz<br />
zu erkennen wie auch für unabhängig von Existenz im Sinne konkreter<br />
und individualer Realität überhaupt. Der Unterschied der Ausdrucksweise
— 375 —<br />
zieht aber einiges nach sich: Für Bolzano ist die Wahrheit an sich; und nur<br />
in diesem Beispiel auch gemeinsam mit der Existenz im Sinne der Realität<br />
als wechselwirkender Wirklichkeit. Für Brentano ist die Wahrheit allein<br />
ein fingiertes Seiendes, welches erst durch die gemeinsame Existenz von<br />
Urteilenden und Vorstellenden und Beurteiltem bzw. Vorgestelltem ist .<br />
❆<br />
Es gibt in transzendentaler Betrachtung aber mindestens zwei Gründe,<br />
weshalb mögliche Elemente einer Menge nicht nur bloß rein intellektuell<br />
als Elemente derselben Menge zueinander in Beziehung gesetzt werden<br />
können: Der eine liegt in der realen Wechselwirkung anstatt in der<br />
Wesensnotwendigkeit, mit der die Prädikate eines Gegenstandes in der<br />
Definition über ein Drittes, dem Wesensbegriff, aufeinander bezogen<br />
werden, der andere in der kontinuierlichen Erzeugung der formalen<br />
Anschauung von Raum und Zeit, anstatt die Teile des Raumes mittels<br />
Identität der Teile mit dem ganzen Raum — also wiederum wesenslogisch<br />
über ein Drittes — in Beziehung zu setzen. 177 Damit sollte die logische<br />
Zufälligkeit des bloßen Anwesens auch unabhängig von der dynamischen<br />
Wechselwirkung in der Kategorie des Commerciums als wirklicher Grund<br />
des Zugleichseins widerlegt werden können: Während die Erscheinungen<br />
im Fluß der empirischen Apperzeption vor dem willentlichen Hinzusetzen<br />
einer Vorstellung zu einer anderen in § 16 keinen anderen Grund als eben<br />
die Willkür unserer spontanen Verstandeshandlung oder die zufällige<br />
Assoziativität sinnlicher Affektationen vor jeder kategorialen Bestimmung<br />
besitzt, wird der bloßen Anwesenheit von »etwas« in der formalen<br />
Anschauung bereits ein raumzeitlich geregelter Horizont konstituiert.<br />
Deren Elemente besitzen also bereits zueinander Relationen, die nicht<br />
allein in der Beliebigkeit der abstrakt festsetzbaren Zuordenbarkeit eines<br />
Elementes zu einer Menge begründet sein können, auch ohne sofort auf<br />
einen dynamischen Realgrund angewiesen zu sein. 178<br />
177 Refl. 4049, AA. XVII, p. 389.<br />
178 In diesem Zusammenhang ist folgende Reflexion bemerkenswert: »Die Einheit der<br />
apprehension ist mit der Einheit der Anschauung Raum und Zeit nothwendig<br />
verbunden, denn ohne diese würde die letztere keine realvorstellung geben. Die<br />
principien der exposition müssen einerseits durch die Gesetze der apprehension<br />
bestimmt seyn, andererseits durch die Einheit des Verstandesvermögens.« (Refl. 4678,<br />
AA XVII, p. 660). Zu den Gesetzen der Apprehension zählt offensichtlich auch die<br />
Bedingung, daß die Einheit der Apprehension mit der Einheit der Anschauung<br />
verbunden sein muß, um eine »Realvorstellung« zu ergeben.
— 376 —<br />
c) Die Affinität als Voraussetzung eines Horizontes der Anschauung<br />
Kant verwendet die Kennzeichnung in nicht durchwegs für Verhältnisse<br />
zwischen logische Begriffe. Im Übergang von der abstrakten Bezogenheit<br />
einer Vorstellung auf einen Gegenstand im Begriff zum Verhältnis von<br />
Begriffen im Urteil wird zur weiteren Bestimmung der logischen Relation<br />
in der prädizierenden Aussage das Quantum des Urteils in eine<br />
intensionale und extensionale Beziehung gebracht, welche eben die oben<br />
getroffene Unterscheidung mittels in und unter gebraucht:<br />
»Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Verstand geht, als bloß die<br />
Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand<br />
unmittelbar, sondern auf irgend eine andere Vorstellung von demselben<br />
(sei es Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen. Das Urteil ist also<br />
die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer<br />
Vorstellung desselben. In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und<br />
unter diesem Vielen auch gegebene Vorstellung begreift, welche letztere<br />
dann auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird. [...] Alle Urteile sind<br />
demnach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellung, da nämlich<br />
statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere<br />
unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht, und viel<br />
mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden.« 179<br />
Die Unterscheidung des Enthaltenseins Freges in der Funktion für Begriffe<br />
(in einem Begriff) und in der Funktion für Begriff und seinem Gegenstand<br />
(unter einem Begriff enthalten) ist hier also unter der Voraussetzung, daß<br />
die Schematen der Synthesis der Vorstellungen (seien sie nun rein oder<br />
sinnlich) den Gegenstand der Anschauung unter den Begriff bekommen,<br />
für die Verwendung der Kennzeichnung in durchaus angezeigt, obgleich<br />
Kant in transzendentaler Einfachheit die Prädikate nur als Merkmal des<br />
Begriffes im Urteil und nicht eigens als Begriff vorstellt, 180 wie es Frege tut.<br />
Im Nachweis der transzendentalen Ästhetik in § 2, daß der Raum kein<br />
Begriff, sondern Anschauungsform eines Gegenstandes sei, ist die<br />
Bedeutung der Kennzeichnung der Relation des Enthaltenseins mit in<br />
allerdings gegenläufig. In der vierten metaphysischen Erörterung des<br />
179 K.r.V., B 93/A 68 (Hervorhebung von mir)<br />
180 Selbstredend ist das weder Kants Auffassung in der reinen noch in der allgemeinen<br />
Logik selbst sondern ist nur im Zusammenhang mit der Erörterung der<br />
tranzendentalen Logik anläßlich der Schwierigkeiten eines Konzepts im Grundurteil<br />
erklärbar.
— 377 —<br />
Raumes ist diesbezüglich nachzulesen: 181 »Nun muß man zwar einen jeden<br />
Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von<br />
verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches<br />
Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält; aber kein Begriff,<br />
als ein solcher, kann so gedacht werden, als ob er eine unendliche Menge<br />
von Vorstellungen in sich enthielte. Gleichwohl wird der Raum so gedacht<br />
(denn alle Teile des Raumes ins unendliche sind zugleich). Also ist die<br />
ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori, und nicht<br />
Begriff .« 182<br />
Hier wird im ersten Schritt der Begriff als Vorstellung seiner Merkmale<br />
aufgefaßt — also bereits als Vorstellung, die Anschauung enthält, und als<br />
solche in einer Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen<br />
enthalten ist. Das geht daraus hervor, daß Kant gleich von einer<br />
womöglich unendlichen Menge verschiedener möglicher Vorstellungen<br />
spricht. Dennoch ist das Enthaltensein der Vorstellungen der Merkmale in<br />
der unendlichen Menge möglicher Vorstellungen nach dem Vorbild des<br />
Enthaltenseins von einem Begriff in einem anderen gedacht, da eigentlich<br />
nicht gemeint ist, daß die Merkmalsvorstellungen in einer Menge anderer<br />
Vorstellungen einfach enthalten sind, sondern die Merkmalsvorstellung<br />
(sei sie nun selbst auch noch komplex) jeweils als Teilvorstellung der<br />
verschiedenen möglichen Vorstellungen in jeder von ihnen (als ihr<br />
gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist. Im zweiten Schritt werden<br />
zuerst die möglichen Vorstellungen der Merkmale (als Prädikate) noch wie<br />
die Gegenstände unter die Einheit des Begriffes gebracht, insofern die<br />
Anschauung enthaltenden Vorstellungen Produkte der unter den Begriff<br />
gebrachten Einbildungskraft sind. Anschließend wird im dritten Schritt<br />
aber nicht das Enthaltensein eines Begriffes in einem anderen wie in der<br />
allgemeinen Logik oder das Enthaltensein einer Vorstellung als jeweilige<br />
Teilvorstellung in anderen Vorstellungen, sondern das Enthaltensein<br />
unendlich vieler Vorstellungen in einer Vorstellung als Kennzeichnung der<br />
Anschauung gedacht. Der eigentliche Unterscheidungsgrund liegt also im<br />
Quantum: es ist denkbar, daß eine endliche Menge von Vorstellungen in<br />
einem Begriff als seine Merkmale enthalten sind, mit welchen diejenigen<br />
unendlich vielen Vorstellungen, die die möglichen Anschauungen der<br />
Gegenstände einer Gattung enthalten, unter dem Begriff gebracht werden,<br />
181 Das eine unendliche Größe als gegebene Größe nur gedacht, aber nicht selbst als<br />
gegeben werden kann, ist hier nicht der Fragepunkt.<br />
182 K.r.V., B 39 f./A 25 f.
— 378 —<br />
in welchem die Merkmalsvorstellungen enthalten sind. Sollen aber<br />
unendlich viel Vorstellungen in einer Vorstellung enthalten sein, dann sei<br />
diese Vorstellung kein Begriff, sondern Anschauung. Kant hat aber nicht<br />
bedacht, daß die unendlich vielen Vorstellungen, die in der Vorstellung<br />
der Anschauung enthalten sind, nicht dem Enthaltensein der Merkmale in<br />
ihrem Begriff, sondern dem Enthaltensein der Gegenstände unter einem<br />
Begriff entsprechen. Er übersieht also, daß weder unendlich viele<br />
Vorstellungen individueller Gegenstände unter einen Begriff enthalten<br />
sind, sondern nur bestimmte Vorstellungen (als Anschauung enthaltend)<br />
womöglich unendlich viele Gegenstände betreffen könnten; noch daß der<br />
Raum (hier als bloße Vorstellung von Anschauung überhaupt) unendlich<br />
viele Vorstellungen (also unendlich viele qualitative Merkmale respektive<br />
ihre Abschattungen) enthält. 183 Richtig wäre es allerdings, den Begriff vom<br />
objektiven (noch nicht im vollen Sinn realen) Raume von einem Begriff<br />
eines Gegenstandes darin zu unterscheiden, daß die Unterschiede<br />
zwischen Gattungsbegriff und Artbegriff, und zwischen diesem und dem<br />
Individualbegriff im letzten Falle spezifische Differenzen ausbildet, im<br />
ersten Falle aber nicht. Dieses der Kantschen Argumentationsstruktur im<br />
logischen Verhältnis von Vorstellungen immanentes Element kann nicht<br />
durch die Kritik des Teilbegriffes als Merkmal der Vorstellung des ganzen<br />
Gegenstandes hintergangen werden.<br />
d) Die Struktur der Affinität als Vorausetzung des Horizontes von<br />
Existenz<br />
Abermals anders wird das gleiche formale Argument (die Unterscheidung<br />
in in und unter) im schon bekannten Abschnitt »Vom transzendentalen<br />
Ideale« gebraucht: »Also ist der transzendentale Obersatz der<br />
durchgängigen Bestimmung aller Dinge nichts anderes, als die Vorstellung<br />
des Inbegriffs aller Realität, nicht bloß ein Begriff, der alle Prädikate ihrem<br />
transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift,<br />
und die durchgängige Bestimmung eines Dinges beruht auf der<br />
Einschränkung dieses All der Realität, indem Einiges derselben dem Ding<br />
beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird, welches mit dem<br />
Entweder und Oder des disjunktiven Obersatzes und der Bestimmung des<br />
183 Vgl. Grund und Ganzes, I, b: Dort wird gezeigt, unter welchen Bedingungen eine<br />
Vorstellungen sich nicht von ihrem Gegenstand unterscheidet: divisio logica und<br />
Prädikate des Raumes, Prädikate eines Gegenstandes.
— 379 —<br />
Gegenstandes, durch eins der Glieder dieser Teilung im Untersatze,<br />
übereinkommt.« 184 Während die Vorstellung als Anschauung enthaltend<br />
zur Fundierung der Objektivität des Raumes (bei Kant allerdings<br />
geometrisch auch gleich mit der Dreidimensionalität so gut wie schon<br />
mitgegeben) das Ding an sich, das der Anschauung zugrundeliegt,<br />
intellektuell als notwendige Voraussetzung immer schon aus der ersten<br />
metaphysischen Erörterung des Raumes mitbringt, 185 auch ohne deshalb<br />
zuvor formale oder auch reine Anschauung vom Objekt der Erfahrung zu<br />
benötigen, welches als eigenes Merkmal die Verwendung von »unter«<br />
gestatten würde, ist im zuletzt gegebenen Zitat von Anschauung oder von<br />
etwas außer sich nicht die Rede: Nicht der Begriff, der alle Prädikate ihrem<br />
transzendentalen Inhalte nach unter sich hat, wird in der<br />
Anschauungsform gedacht, sondern nur derjenige Begriff, der alle<br />
Merkmale des von den Dingen schon abgesondert gedachten Raumes in<br />
sich vereinigt. Hier nun aber ist ausgehend vom Begriff des Gegenstandes<br />
vom Inbegriff der Realität die Rede. 186 Während anhand § 12 gerade die<br />
Frage aufgeworfen wurde, wie aus einer Menge von Prädikaten der Begriff<br />
von einem Objekt werden könnte, und sei ihr Zusammenhang<br />
untereinander auch nur deshalb gesetzmäßig, da die Beziehung der<br />
Prädikate (Merkmale und Folgen) auf den Begriff ein und der selben<br />
Bedingung (der Rückführbarkeit) unterworfen ist, wird im Ideal der reinen<br />
Vernunft die Bedingung gesucht, welche die wesensnotwendigen<br />
Prädikate (Merkmale) im Begriff von einem einzelnen Gegenstand von<br />
anderen möglichen Prädikaten dieses Dinges unterscheidet. In § 12 geht es<br />
nur um die Einheit des Begriffsinhaltes, im Ideal der reinen Vernunft ist<br />
hingegen die Beziehung des wesentlichen Merkmals als Prädikat des<br />
Gegenstands des Begriffes und als wesenslogischer Grund der Einheit<br />
eines jeden Begriffes desselben Gegenstandes explizite vorausgesetzt. 187<br />
Der Inbegriff der Realität im transzendentalen Obersatz geht über den<br />
Begriff von einem e i n z e l n e n Gegenstand aber hinaus: Dann ist das<br />
184 K.r.V. B 605, Hervh. von mir<br />
185 Und zwar nicht nur intellektuell sondern auch empirisch a priori: Vgl. hiezu die<br />
Untersuchung der Ersten metaphysischen Erörterung des Raumes in »Grund und<br />
Ganzes«<br />
186 HEINRICH 1986: p. 88, Existentialurteile sind synthethisch - die logische Struktur von<br />
Existentialurteile ist verschieden von der logischen Struktur der Urteile über den<br />
Begriffsinhalt; p. 90, Vaihinger: Aufhebung des Raumes widerspricht sich nicht<br />
(Notiz Kants in seinem Handexemplar der K. r. V.) - die logische Struktur von<br />
Raumurteile ist insofern gleich der logischen Struktur der Urteile über den<br />
Begriffsinhalt.<br />
187 Vgl. die Funktion des Teilbegriffes als Erkenntnisgrungd der ganzen Vorstellung. ◊◊
— 380 —<br />
Kriterium der Zugehörigkeit eines Merkmals zum Begriff nicht mehr die<br />
der qualitativen Einheit als Einheit eines Begriffes von einem in der<br />
Erfahrung gebbaren Objektes, noch die Wesensnotwendigkeit des<br />
Prädikates für den Begriff des Gegenstandes, sondern wiederum nichts<br />
anderes als diejenige vermeintliche Ganzheit der Allheit aller möglichen<br />
Prädikate, welche gegenüber der Totalität aller Prädikate das Prädikat, das<br />
Existenz bejahend aussagt, enthalten muß, wie es zuvor schon das<br />
disjunktiv vorgehende erste Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges mittels Prädikate verlangt: »Es ist aber auch durch diesen Allbesitz<br />
der Realität [als Bestimmung des omnitudo realtatis] der Begriff eines<br />
Dinges an sich selbst, als durchgängig bestimmt, vorgestellt, und der<br />
Begriff eines entis realissimi ist der Begriff von einem einzelnen Wesen,<br />
weil von allen möglichen entgegengesetzten Prädikaten eines, nämlich das,<br />
was zum Sein schlechthin gehört, in seiner Bestimmung angetroffen<br />
wird.« 188 Das, »was zum Sein schlechthin gehört«, ist aber die Existenz,<br />
weshalb die Definition der Allheit der Prädikate eines Dinges als<br />
Einschränkung der Totalität der Prädikate ersetzt werden kann durch die<br />
ontologische Identität von Ding und Existenz. Die Definition der Allheit<br />
der Prädikate hat bekanntlich den Fehler, daß die freilich notwendige<br />
Beziehung der Prädikate auf etwas, schließlich auf ein Ding, von Kant<br />
diskussionslos auf ein einzelnes konkretes Ding gewendet wird, während<br />
doch eine Vielheit der Dinge die Bedingung der Prädikate, auf etwas<br />
beziehbar zu sein, ebensogut erfüllt. 189<br />
Das erste logische Kriterium der durchgängigen Bestimmung eines Dinges<br />
soll insofern durchaus noch eine diskriminierende Funktion besitzen, da es<br />
nicht selbstverständlich ist, daß die Totalität des Realen (hier gleich ob<br />
extensiv als omnitudo realitatis oder intensional als ens realissimum ) die<br />
Totalität aller möglichen Prädikate überhaupt ausschöpft, sondern die<br />
Totalität aller möglichen Prädikate überhaupt allererst nur durch das<br />
Existenzprädikat in Reales und Mögliches geteilt wird. 190 Es stellt sich von<br />
hier aus die Frage: ist dazu aber das Konzept des Dinges überhaupt noch<br />
erforderlich? — Die Menge der möglichen Prädikate überhaupt reicht für<br />
sich jedenfalls nicht zur Weiterbestimmung des Begriffes der Relation des<br />
188 K.r.V., B 603/A 575<br />
189 Vgl. dazu etwa Robert Zimmermann, Anthroposophie im Umriss. Entwurf eines<br />
Systems idealer Welt- ansicht auf realistischer Grundlage, Wien 1882, §§ 270-274<br />
190 Zitat aus transzendentalen Ideal: Die zwei Fassungen der Einteilung der möglichen<br />
und wirklichen Prädikate (B 599 ff.).
— 381 —<br />
Enthaltenseins aus, 191 sondern muß zuerst eingeteilt werden. 192 Die Frage,<br />
inwieweit zu dieser Einteilung ein Begriff vom Ding schon kanonisiert<br />
worden sein muß, führt neben der Unterscheidung in der Frage, ob ein<br />
Prädikat sich auf eines oder auf viele Dinge bezieht, bzw. ob viele<br />
Prädikate sich auf ein oder auf mehrere (viele) Dinge beziehen, noch zu<br />
einer dritten Möglichkeit der Interpretation der Beziehung eines<br />
Prädikates auf etwas: nämlich die Beziehung eines Prädikates nur auf ein<br />
Element der Sphäre der Vielheit (oder auch der ursprünglichen Totalität)<br />
bezogen. Daraus folgt von selbst mindest eine weitere Möglichkeit:<br />
Prädikate, die sich auf die Vielheit (auch als jeweilige Totalität) als Ganzes<br />
charakterisierend beziehen. Daraus wieder: Prädikate bloß als Titel einer<br />
Mannigfaltigkeit, die allerdings als Zusammenfassendes charakterisierbar<br />
sein muß. Dieser oder ein ähnlicher als Inbegriff der Realität vorgestellter<br />
Begriff vom ens realissimum soll hier offenbar noch ungeteilt (die<br />
intensionale Fassung des nicht-ausschließendes »oder«) das Urbild und<br />
wohl zugleich das Substrat der konkreten und individuellen Realität sein,<br />
bevor die unmittelbare Selbstkritik Kantens das transzendentale Ideal<br />
(prototypon transcendentale als ens realissimum und ens originarium)<br />
endgültig vom »transzendentalen Obersatz« (der Inbegriff möglicher<br />
Prädikate) unterscheidet. Das scheint intellektuell auch die Vorausetzung<br />
zu sein, daß von einem prädikatisierbaren Ding in kategorialer Hinsicht<br />
desweiteren überhaupt die Rede sein kann (ectypa).<br />
Es bleibt festzuhalten, daß Kant sowohl Anschauungsverhältnisse wie das<br />
Verhältnis der Prädikate als Begiffe des transzendentalen Inhalts durch die<br />
Kennzeichnung des Enthaltenseins mit in indiziert; gemeinsam ist ihnen<br />
ein System vorgängiger Einschränkungen eines totums , auch wenn im<br />
»prototypon transcendentale« das System der Einschränkung nur erwähnt<br />
aber nicht auf die Allheit (eigentlich Vielheit) der möglichen Prädikate<br />
191 Die erste logische Regel des Prinzips der durchgängigen Bestimmung eines Dinges<br />
benötigt wie die bloße synthetische Einheit des Mannigfaltigen als primitive Regel<br />
des Enthaltenseins mittels Identität (Sich-decken) eine vorgängige Einschränkung<br />
des totums .; hier in § 11.<br />
192 Vgl. ImreThot, Von Wien bis Temesvar: Johann Bolyais Weg zur nichteuklidischen<br />
Revolution, in: in: Verdrängter Humanismus - Verzögerte Aufklärung, Bd. 3,<br />
Philosophie in Österreich 1820 - 1880: Bildung und Einbildung, Vom verfehlten<br />
Bürgerlichen zum Liberalismus, Michael Benedikt, R. Knoll (Hg.), Ruppitz (Mithg.),<br />
Klausen-Leopoldsdorf-Ludwigsburg-Klausenburg, Etidura Triade 1995, p. 419 ff..<br />
Aristoteles: Der Punkt, der eine Linie teilt, und anschließen ein Doppelpunkt ist (je<br />
Linien-abschnitt ein Punkt). Diese Teilung stellt den Blick in die Fluchtlinie der<br />
geometrischen Linie; der Doppelpunkt ist gleichsam der Punkt von Rückblick und<br />
Vorblick.
— 382 —<br />
angewendet wird. Die Definition der Einschränkung der Vielheit auf die<br />
Allheit aller möglichen Prädikate eines Dinges hat hier einen eigenen<br />
Ursprung: eben die oben angeführte Ineinssetzung von Existenz und Ding<br />
der Möglichkeit nach. Das ist aber keine einfach fortgehende<br />
Einschränkung eines vorgängigen Totums, sondern setzt für das Konzept<br />
(Begriff) eines Dings nur mögliche Existenz, für die Existenz ein Ding, das<br />
aber eben unbedingt, voraus. 193<br />
Diese Assymmetrie hat zur Folge, daß das Konzept eines universiellen<br />
Dinges unter Druck kommt, einen Begriff als Definition des universiellen<br />
Dinges, das eben nicht sofort das Ding an sich ist, zu geben, und der<br />
verschieden ist von der Menge zuschreibbarer Prädikate und den<br />
Verfahren aktueller oder überhaupt bloß giltiger Zuschreibung derselben.<br />
Der Definitionsnotstand hinsichtlich eines eigenen Begriffes vom Ding<br />
führt weiter zur Frage nach dem eigentlichen Begriff vom Objekt (nicht als<br />
Titel aller Merkmale) in § 12 und schließlich zur reinen Kategorie der<br />
Substanz, also zu einer rein grammatikalischen und formal fassbaren<br />
Definition. Das aber führt nur zum transzendentalen Objekt = X ganz ohne<br />
jede prädikative Bestimmbarkeit und somit erst zum Ding an sich. Diese<br />
topologische Definition des Substrats vermag zwar weder das Konzept des<br />
durchgängig bestimmbaren Dinges noch das Konzept des von einer Idee<br />
durchgängig bestimmten Begriffes (Begriff vom einzelnen Gegenstand) zu<br />
befriedigen, jedoch zeigt sich daran auch analytisch die Notwendigkeit des<br />
Konzeptes eines prädikatisierbaren Dinges im Gang der Untersuchung,<br />
und sei es nur, die Einschränkung der Vielheit der Prädikate<br />
zustandezubringen, die der Teilung der Menge der Prädikate eines Dinges<br />
gemäß dem Existenzprädikat vorausgesetzt ist. — Daß zuvor oder<br />
unabhängig davon die Frage entschieden sein muß, ob ein bestimmtes<br />
Prädikat nur einem oder vielen Dingen zukommen kann, und warum in<br />
der Fragestellung nach dem Etwas eines Prädikates die intensionale<br />
Fassung der extensionalen Fassung der Logik vorgezogen werden muß,<br />
193 Vgl. »Von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines<br />
höchsten Wesens zu schließen« (B 611 ff./A 583 ff.). Dort wird noch versucht,<br />
kritisch die absolute Notwendigkeit der obersten Ursache im Verhältnis zum<br />
Allerrealsten zu argumentieren. Hier wird von mir schon vorweggenommen, daß<br />
für uns nur das kontingente Dasein als Ausgangspunkt einer solchen Spekulation in<br />
Frage kommt, sodaß die Idee von der absoluten Notwendigkeit transzendental in<br />
Abhängigkeit von einer bedingten Existenz kommt. Komplementär erhält a fortiori<br />
die bedingte Existenz nur mittels durchgängiger Determination durch die als<br />
wirklich gesetzte obersten Ursache selbst als Zufall die modal gleichzubewertende<br />
Notwendigkeit zugesprochen.
— 383 —<br />
hat Kant nicht ausreichend explizit dargestellt, obgleich für letzteres<br />
genügend Hinweise verstreut aufzufinden sind. Die Untersuchung der<br />
Ersetzung des wesenslogischen Prädikates durch das Existenzprädikate<br />
verläßt also nicht von selbst notwendigerweise die intensionale Logik und<br />
folgt insofern der Definition des Enthaltenseins gemäß dem Partikel »in«.<br />
Die Vorstellung, daß alle möglichen Prädikate überhaupt einen<br />
transzendentalen Inhalt besitzen müssen, weil sie nach dem Prinzip der<br />
durchgängigen Bestimmbarkeit eines Dinges zu möglichen Prädikaten<br />
eines und nur eines Dinges (einzelnen Wesens) erklärt worden sind, ist<br />
nach der Darstellung des »Inbegriffs« als gegliederte Disjunktion im<br />
ausschließendem »oder« des transzendentalen Obersatzes 194 nicht aufrecht<br />
zu erhalten: Die starke ausschließende Interpretation der Disjunktion nach<br />
Entweder und Oder verbietet jede Spekulation, die bloße Denkmöglichkeit<br />
(d. h. hier dann schon auch gleich jede bloß gedachte Realmöglichkeit)<br />
ohne der Möglichkeit einer ursprünglich kontingenten Assertion<br />
apodiktisch zu behaupten. — Eine Aufhebung der starken Interpretation<br />
widerspräche auch dem zweiten Kriterium des Ideals der reinen Vernunft,<br />
das Prädikate, die neben einander nicht stehen können, ausschließt. Dieser<br />
Widerspruch wäre nur damit zu beheben, wenn die Realität, die im<br />
Inbegriff der Realität als Übereinstimmung des All der Realität mit der<br />
Allheit aller möglichen Prädikate eines Dinges begriffen werden sollte,<br />
eine andere Bedeutung besitzt, als die vom Ding dem Begriff von einem<br />
einzelnen Gegenstand vorausgesetzte Existenz. Genau das scheint aber<br />
von der Differenz der eingangs zitierten Erklärung des transzendentalen<br />
Obersatzes zum Inbegriff der Realität als Vertretung des ens realissmum ,<br />
welcher erst eingeteilt werden muß, zur Unterscheidbarkeit von omnitudo<br />
realitatis und ens realissimum in der Definition des Begriffs von einem<br />
einzelnen Wesen (der erste und zweite logische Bedingung des Prinzips<br />
der durchgängigen Bestimmung — also Allheit und Allgemeinheit — zu<br />
vereinbaren scheint) angezeigt zu sein.<br />
Ich komme also nochmals auf die Fassung zurück, wonach die omnitudo<br />
realitatis als die Allheit möglicher Prädikate eines Dinges zu gelten hat,<br />
dabei aber immer noch ein Rest an Unklarheit geblieben ist, ob damit die<br />
verlangte Einteilung der Sphäre aller möglichen Prädikate eines Dinges<br />
194 Als alternative Argumentationen im »Ganzen der möglichen Erkenntnis«, vgl. § 9<br />
und § 11 der metaphyischen Deduktion. Nicht mehr sagt bekanntlich der<br />
»transzendentale Obersatz« im disjunktiven Urteil des transzendentalen Ideals aus.
— 384 —<br />
nach dem Existenzprädikat der Charakterisierung der Allheit möglicher<br />
Prädikate eines Dinges vorangeht oder nachfolgt. So sollen die Begriffe der<br />
entscheidenden Opposition im Felde der logischen Analogien des<br />
transzendentalen Ideals nochmals dargestellt werden:<br />
a) omnitudo realitatis versammelt alle möglichen Prädikate entweder eines<br />
existierenden Dinges oder aller möglichen Dinge (ectypa ), worauf die<br />
Menge aller möglichen Prädikate überhaupt (Vielheit) zu beziehen<br />
genügen würde, eine kategoriale Definition der Allheit zu erhalten.<br />
b) Das ens realissimum ist hingegen bei Kant erst dann eindeutig die Idee<br />
eines Substrats des Begriffs von einem einzelnen Gegenstand, wenn die<br />
Allheit der möglichen Prädikate eines Dinges durch das Existenzprädikat<br />
in zwei entgegengesetzte Sphären geteilt werden kann. Diese Teilung ist<br />
eine kategoriale Bedingung der Wahrheit, setzt hier aber eine ontologische<br />
Implikation (die Existenz) und eine logische Bedingung (das<br />
Existenzprädikat als möglicher Einteilungsgrund) voraus. Letzteres hat zur<br />
Folge, daß die Prädikate die phänomenologische Charakteristik erhalten,<br />
daß sie in entgegengesetzten Termen ausgedrückt werden können (kalt,<br />
warm, hell, dunkel etc.), um das Existenzprädikat als Einteilungsgrund<br />
empirisch anwenden zu können. — Der Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand im Ideal der reinen Vernunft setzt als Wesenslogik hingegen<br />
nur die R e a l m ö g l i c h k e i t voraus; erst die Vereinigung von<br />
Wesenslogik und Modallogik anhand des Existenzprädikats gibt die<br />
Notwendigkeit, auch für einen eingegrenzten Seinsbezirk die Einzelheit<br />
notwendig als konkret und individuell zu denken.<br />
Im transzendentalen Ideal, das als Bestimmung des Begriffs vom einzelnen<br />
Wesen dem Ideal der reinen Vernunft nachfolgt, geht es auch um die<br />
Zusammensetzung der logischen Regeln der Durchbestimmung zwischen<br />
Merkmalslehre und Urteilslehre; nicht nur Zusammensetzung zweier<br />
gleichursprünglicher Horizonte des Zusammenhangs von Existenz und<br />
Ding: 1. direkt intensional im Vergleich der Begriffe an ihrer Möglichkeit,<br />
2. indirekt extensional in der Bestimmung der Sphäre möglicher Prädikate<br />
eines Dinges.<br />
Aber im Ideal der reinen Vernunft (dem Begriff vom einzelnen<br />
Gegenstand) wird direkt intensional Ding und Existenz in eins gedacht.<br />
Wo noch das wesenslogisch entscheidende Merkmal des Gegenstands<br />
gesucht wird, indem alle aus Prädikate abgeleiteten Prädikate
— 385 —<br />
ausgeschieden werden, kann keine kontinuierliche Beziehung in der<br />
Menge der möglichen Prädikate eines Dinges hergestellt werden. Hier sind<br />
die Definitionen des omnitudo realitatis und des prototypon<br />
transcendentale genau zu beachten, um meine Darstellung nachvollziehen<br />
zu können: a) »Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer<br />
Vernunft ein transzendentales Substratum zum Grunde gelegt wird,<br />
welches gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes, daher a l l e<br />
m ö g l i c h e P r ä d i k a t e d e r D i n g e genommen werden können,<br />
enthält, so ist dieses Substratum nichts anderes, als die Idee von einem All<br />
der Realität (omnitudo realitatis)«; 195 (also sowohl für ein Ding wie für eine<br />
Vielheit der Dinge, wie von mir behauptet).<br />
b) »Das Ideal ist ihr also das Urbild (Prototypon) aller Dinge, welche<br />
insgesamt, als mangelhafte Kopien (ectypa), den Stoff ihrer Möglichkeit<br />
daher nehmen [...]«. 196<br />
Die Gleichsetzung der Begriffsverwendung des »Stoffes« in der Definition<br />
des omnitudo realitas und in der Definition des prototypon transcendentale<br />
wird von mir als Aufhebung des principium contradictionis im<br />
disjunktiven Urteil kritisiert: Der Stoff, worauf sich die ectypa als<br />
mangelhafte Kopien ihre Möglichkeit beziehen, ist das Urbild (prototypon<br />
transcendentale), und ist der Versuch einer Materialisation der Idee der<br />
reinen Vernunft (Begriff vom einzelnen Gegenstand). Der Stoff, woher alle<br />
möglichen Prädikate der Dinge genommen werden, ist allerdings die<br />
Sinnlichkeit (oder auch Erfahrung); insofern die bloß gedachte Totalität<br />
des inneren Sinnes als transzendentale Materie. Das entspricht durchaus<br />
der schon öfters kritisierten Neigung, Anschauungstotalität und<br />
Gegenstandstotalität räumig ineinanderfallen zu lassen, jedoch gibt es von<br />
Seiten der möglichen Definitionen der »transzendentalen Materie« keinen<br />
zureichenden Grund, Identität mit dem Substanzbegriff, den Begriff vom<br />
Ding, oder dem Begriff von einzelnen Gegenstand (noch weniger mit dem<br />
Begriff vom einzelnen Wesen) mit Notwendigkeit zu fordern. Und: Nur<br />
anhand der Sinnlichkeit kann die Kontinuitätsbedingung in der Erfahrung<br />
gegeben werden; die durchgängige Bestimmung eines Begriffes aus der<br />
Idee bleibt eine subjektive Vernunftidee. Hingegen ist der Stoff, von dem<br />
im Verhältnis von prototypon transcendentale und ectypa die Rede ist,<br />
von einer Amphibolie dieserart unberührt und bezeichnet ursprünglich<br />
195 K. r. V., B 603/A 575<br />
196 B 606/A 579
— 386 —<br />
die Idee des Begriffes vom einzelnen Gegenstand. 197 — Offenbar ist hier die<br />
Verwendung des Begriffes »Stoff« nicht nur nicht deckungsgleich<br />
(verschieden) sondern auch noch disparat. Diesen ausgezeichneten Topos<br />
der philosophischen Reflexion des Substanzbegriffes hat Robert<br />
Zimmermann schön markiert, indem er in seiner Ideenlehre jeder Idee<br />
einen eigenen »Positivimus« als pragmatischen Kanon einer<br />
Erkenntnislehre zugesprochen hat. 198 Was unter der Charakterisierung der<br />
Bestimmung eines Begriffes durch eine Idee als Durchgängigkeit<br />
methodisch zu verstehen sein soll, wird damit aber nur undeutlicher.<br />
Unter der Voraussetzung eines Wesensbegriffs (der offenbar auch das<br />
Existenzprädikat sein kann) geht es nicht mehr um die Durchbestimmung<br />
der Menge aller möglichen Prädikate, sondern es kann nur mehr die<br />
Durchbestimmung der Methode gemeint sein, eine allgemeine Regel zu<br />
bestimmen. Diese hat als Teilungsgrund der schon zur Allheit<br />
eingeschränkten Vielheit der Prädikate 1. weil auf ein Ding bezogen, 2.<br />
weil durch Existenzprädikat die Menge der möglichen Prädikate geteilt,<br />
einen logischen und einen transzendentalen Aspekt.<br />
Die Durchgängigkeit der Bestimmung als Prinzip selbst wäre mit der<br />
omnitudo realitatis als Kontinuitätsprinzip demnach zweifach zu<br />
interpretieren: Zuerst, wie Kant will, als Allheit der Prädikate bereits auf<br />
ein einzelnes Ding bezogen, woraus mittels des Begriffs von einem<br />
einzelnen Wesen die Vorstellung eines entis realissimum zu entpringen<br />
scheint. Dann aber ist hier noch als alternative Möglichkeit der<br />
Interpretierbarkeit der omnitudo realitatis bereits aufgefallen, daß die<br />
notwendige Beziehung von Prädikaten auf etwas außer sich nicht<br />
notwendigerweise als in einem Substrat vereinigbar gedacht werden muß.<br />
Das ist eine entscheidende Alternative in der Definitionsmöglichkeit, die<br />
für die Charakteristik des Inbegriffes der Realität ihre Folgen hat:<br />
1. Der I n b e g r i f f der Realität als Menge aller Dinge (ectypa) und als<br />
Menge aller Prädikate eines Dinges (nach Kant: omnitudo realitatis) ist<br />
aber zweimal ursprünglicher als V i e l h e i t gefordert: Erstens immer<br />
schon gemäß der Einheit des Raumes, und zweitens gemäß der notwendig<br />
gesetzen ursächlichen Beziehung auf das prototypon transcendentale als<br />
exzentrische Vorform der theologischen Idee, als ob die Vielheit im<br />
197 Eine — wenn auch äußerliche — Verwandtschaft zur platonischen Idee als mit<br />
dynamis und energeia begabt, ist unverkennbar.<br />
198 Zimmermann Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft, Wien 1865, ab § 181, § 366
— 387 —<br />
Progressus grundsätzlich Angelegenheit einer einzelnen analytisch im<br />
Regressus gefundenen ersten Ursache sein könnte. Weder diese noch jene<br />
ist aber im omnitudo realitatis trotz der mit Existenz verbundenen<br />
räumlichen und zeitlichen Aspekte mit analytischer Notwendigkeit<br />
enthalten.<br />
2. Der I n b e g r i f f der Realität als der transzendente Gebrauch des<br />
Begriffes vom einzelnen Gegenstand im Begriff vom einzelnen Wesen<br />
(ens realissimus) aber koordiniert keinerlei Prädikate, sondern bezieht sich<br />
in einer rein ontologischen Untersuchung letztlich allein auf das<br />
Existenzprädikat. 199 Ens realissimum ist also tauglich als Mittelbegriff<br />
zwischen der reinen Kategorie (grammatikalische Substanzdefinition),<br />
dem Ideal der reinen Vernunft als Begriff vom einzelnen Gegenstand, dem<br />
transzendentalen Ideal als prototypon transcendentale (ens originarium) und<br />
der theologischen Idee (als Idee des allerhöchsten Wesens). Die Frage ist,<br />
behandelt man das prototypon transcendentale als theologische Idee oder als<br />
transzendente Idee 200 weiter, die modallogisch als von jedem existierenden<br />
Ding erfüllbar zu denken ist, dessen wesentliches Prädikat bekannt ist. Es<br />
gibt demnach drei verschiedene Bedingungen für das Enthaltensein des<br />
Existenzprädikates im Begriff: Einmal als Sichdecken im Begriff von<br />
Existenz selbst im Dasein als reines Bewußtsein (a) und einmal als<br />
Existenzprädikat in der qualifizierten Menge von Prädikaten, die<br />
qualitative Merkmale vom Ding aussagen, und zwar so, das wenn sie nicht<br />
das eine Prädikat dieser Qualität, dann doch sein genaues (oppositionelles)<br />
Gegenteil aussagen (aber nicht einfach die Qualität überhaupt verneinen<br />
müssen) (b) und schließlich im transzendenten Gebrauch des Begriffs von<br />
einem einzelnen Gegenstand als Ideal (c). — Der transzendentale<br />
Gebrauch des Existenzprädikates bezieht sich aber auf unsere geordneten<br />
und geprüften Vorstellungen von einem Objekt der Erfahrung und nicht<br />
auf deren Gegenstand als Ding oder als Ding an sich und ist aquipollent<br />
mit dem Begriff »Wahrheit« — .<br />
Die mit Frege herausgearbeitete Kennzeichnung der Relationsverhältnisse<br />
von Begriff und seinem Gegenstand kann mit dem Abschnitt von §§ 10-16<br />
199 Vgl.: »Weil ein solches Wesen also das realste unter allen möglichen ist, indem so gar<br />
alle anderen nur durch dasselbe möglich sein, so ist dieses nicht so zu verstehen, daß<br />
alle mögliche Realität zu seinen Bestimmungen gehöre. Dieses ist eine Vermengung<br />
der Begriffe, die bis dahin ungemein geherrscht hat.« (Beweisgrund Gottes, A 34 f.)<br />
200 K. r. V., B 598
— 388 —<br />
der Deduktion insofern übereingestimmt werden, weil die Kennzeichnung<br />
des Enthaltenseins eines Begriffes in einem anderen durch Frege den<br />
dortigen Ausführungen von Kant nicht widerspricht, sondern von Kant<br />
für das logische Verhältnis von Vorstellungen, Merkmale und Prädikate<br />
des Begriffs zu diesem selbst herangezogen wird. Der Gebrauch der<br />
Kennzeichnung in für diese Vorstellungsverhältnisse erfährt aber sowohl<br />
im Abschnitt der transzendentalen Ästhetik wie im Abschnitt des<br />
transzendentalen Ideals eine radikale Umkehrung: Einerseits wird mit<br />
in nunmehr das Verhältnis zwischen Vorstellungen untereinander, die<br />
Anschauung enthalten, und zur Vorstellung der ursprünglichen Einheit<br />
des Bewußtseins gekennzeichnet, andererseits wird damit eine notwendige<br />
Beziehung aller möglichen Prädikate überhaupt (allerdings bereits als »alle<br />
möglichen Prädikate aller Dinge«) auf den »Inbegriff aller Realität«<br />
charakterisiert, bevor entschieden wird, welches der jeweils<br />
entgegengesetzten Prädikate dem bejahenden Existenzprädikat zugrunde<br />
liegt. Die Kennzeichnung einer Relation des Enthaltenseins mit unter wird<br />
jedoch von Kant für die transzendentale Subsumtion reserviert.
— 389 —<br />
3. Logische und transzendentale Subsumtion<br />
§ 14<br />
Die Möglichkeit der Geltung einer abstrakten Relation des Enthaltenseins<br />
selbst ist aber eben auch nicht auf das bloße Enthaltensein von<br />
Erscheinungen in unserem Bewußtsein bzw. der Begleitung der<br />
Erscheinung mit Bewußtsein zurückzuführen, sondern bleibt allen<br />
möglichen Interpretationen gegenüber abstrakt. So kann offenbar die<br />
ursprüngliche Einheit des Bewußtseins selbst nicht ohne der Relation des<br />
Zusammennehmens, des Hinzusetzens, kurz der Verbindung zwischen<br />
den Teilen gedacht werden. Die bloße Begleitung einer Erscheinung mit<br />
Bewußtsein entspricht nicht der Relation des Enthaltenseins, sondern der<br />
Relation des Zusammensetzens bzw. der Verbindung; erst der Akt der<br />
Einverleibung der Erscheinung im Zuschreibungsurteil als »ich denke«,<br />
was die Erscheinungen mit der Erklärung zu meinen Vorstellungen in<br />
Besitz nimmt, 201 sagt aus, daß die Erscheinung als meine Vorstellung im<br />
Bewußtsein aufgrund der Zusammennehmung der Anschauungen in der<br />
transzendentalen Apprehension in der ursprünglich-synthetischen Einheit<br />
der Apperzeption erst erzeugt worden sind. Damit ist auch völlig abstrakt<br />
das Bewußtsein als Regelbewußtsein meines Bewußtseins erzeugt worden,<br />
was aus der bloßen Begleitung einer Empfindung mit Bewußtsein nicht<br />
hervorgehen kann. Der Akt des »ich denke« im Hinzusetzen einer<br />
Vorstellung zu einer anderen setzt das Enthaltensein im Kontinuum eines<br />
Bewußtseins allerdings schon wieder voraus, wenn dieses Hinzusetzen<br />
bloß die Vorstellungen von den Teilen des gegebenen Mannigfaltigen<br />
betrifft. Dieses Gegebensein von Erscheinungen hat für die ursprüngliche<br />
Einheit der Apperzeption in § 16 selbst aber, wie bereits gezeigt, außer der<br />
Zeitlichkeit der spontanen intellektuellen Handlung des Verbindens keine<br />
formale Bedingung der Anschauung, sodaß hier weiterhin das abstrakte<br />
»ich denke« bislang den einzigen Verbindungsbegriff liefert.<br />
Die Zusammennehmung der Teile eines gegebenen Mannigfaltigen einer<br />
Anschauung kann demnach zwar als in der reinen Anschauungsform der<br />
Möglichkeit nach enthalten gedacht werden, doch gibt das eben noch nicht<br />
die spezifische Regel des Zusammennehmens dieser bestimmten<br />
Erscheinungen in der synthesis speciosa, noch weniger schon der<br />
201 Vgl. die Unterscheidung in quid facti und quid iuris in § 13.
— 390 —<br />
Vorstellungen in der transzendentalen Apprehension. Die<br />
Zusammennehmung selbst ist wie das Hinzusetzen einer Vorstellung zu<br />
einer anderen zunächst für sich unabhängig vom, von der<br />
Anschauungsform vorausgesetzten, Kontinuum anzusetzen. 202 Erst die<br />
Annahme eines qualifizierten Kontinuums der Erscheinungen, die über die<br />
Annahme eines Kontinuums der Aufmerksamkeit hinausgeht, erlaubt<br />
auch die Annahme, daß die Teile des Mannigfaltigen der<br />
Zusammennehmung selbst wiederum gleichartige Teile enthalten können;<br />
die Kontinuität der Zeitform des inneren Sinnes (empirische<br />
Apperzeption) reicht allein bekanntlich zur Konstitution von Kontinuität<br />
in der Wahrnehmung nicht aus.<br />
Der logischen Subsumtion (als Subordination von Begriffe unter Begriffe;<br />
von Frege gegenüber dem konkreten syllogistischen Vorbild durch in<br />
gekennzeichnet) wird in der transzendentalen Deduktion von der<br />
ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption ausgehend gleich<br />
die Verknüpfung von gegebenen Vorstellungen zur Weiterbestimmung<br />
der Relationen der Elemente der Zusammensetzung und deren Prinzipien<br />
vorausgesetzt und nicht die Relation des Enthaltenseins der<br />
Erscheinungen im Bewußtsein, die freilich ebenfalls vorausgesetzt ist, aber<br />
nur empirisch-psychologisch und kollektiv. Andererseits setzt gerade die<br />
logische Verwendung der Kennzeichnung der Relation des Enthaltenseins<br />
von Begriffen durch unter (also entgegen der Konvention Freges als<br />
Subordination) die Relation des Enthaltenseins voraus, die nur mit in zu<br />
kennzeichnen ist: Um Begriffe unter einen anderen Begriff zu bringen,<br />
muß, so scheint es, zuvor erwiesen werden, daß die Merkmale des oberen<br />
Begriffes auch im unteren enthalten sind. Allerdings bleibt dieses<br />
Bedingungsverhältnis auf die Prädikatenlogik beschränkt: aussagenlogisch<br />
sind Aussagen unter Aussagen zu bringen, weil sie Ableitungen<br />
(Vernunftschlüsse) derselben sind, ohne daß ein Nachweis, daß die<br />
gleichen Merkmale in der einen wie in der anderen enthalten sind, allein<br />
schon der Nachweis für die Richtigkeit der Ableitung als Vernunftschluß<br />
sein könnte. 203<br />
202 »Der Begriff des Zusammengesetzten überhaupt ist keine besondere Kategorie,<br />
sondern in allen Kategorien (als synthetische Einheit der Apperzeption) enthalten.<br />
Das Zusammengesetzte nämlich kann, als ein solches, nicht angeschaut werden;<br />
sondern der Begriff oder das Bewußtsein des Zusammengesetzens (einer Funktion<br />
die allen Kategorien als synthetische Einheit der Apperzeption zum Grunde liegt)<br />
muß vorhergehen (...).« Brief an Tieftrunk vom 11.12.1797, AA XII, p.222<br />
203 Kant skizziert die Regel des Vernunftschluß im logischen Gebrauch (B 361/A 303 f.):
— 391 —<br />
Die transzendentale Subsumtion (nunmehr als Subordination vom Begriff<br />
der Anschauung unter einen Begriff vom objektiven Gegenstand, also als<br />
Begriff objektiver Realität, zu denken) 204 ist nun der Wahrheit einer<br />
Aussage vorausgesetzt, denn es geht nicht allein um die Regeln des formal<br />
richtigen Schließens, deren Gebrauch selbst allemal subjektiv bleiben kann,<br />
sondern um die Regeln der objektiven Erkenntnis. Jedoch bleibt die<br />
Konzeption Kants einstweilen mit dem Makel behaftet, nur nach dem<br />
Vorbild der Prädikatenlogik vorzugehen; d.h. also, daß es seiner<br />
Darstellung gemäß zunächst vorrangig darum geht, wie ein Begriff mit<br />
einer Anschauung anhand der Doppeldeutigkeit des Begriffes einer<br />
Vorstellung (einmal als Begriffsmerkmal, einmal als Anschauung<br />
enthaltend) in Übereinstimmung gebracht werden kann. Der für objektive<br />
Realität geforderte Vernunftschluß ist aber dadurch gekennzeichnet, kein<br />
medium tertium zu besitzen. 205<br />
§ 15 Compositio und nexus<br />
a) Transzendentale Subsumtion und Verbindung<br />
Die logische Subsumtion scheint trotz der Berücksichtigung der Grenzen<br />
dieser Kennzeichnung zuvor als Enthaltensein eines Begriffes in einen<br />
anderen Begriff von Frege gegenüber der transzendentalen Subsumtion<br />
zureichend beschrieben worden zu sein, obwohl Kant im Sprachgebrauch<br />
inkonsequent bleibt. Zwanglos beschreibt er die logische Subsumtion<br />
Regel durch Verstand (Obersatz)<br />
Erkenntnis unter dessen Bedingung durch Urteilskraft (Untersatz)<br />
Bestimmung der Erkenntnis durch das Prädikat der Regel (conclusio)<br />
Beispiel: Alle Menschen sind sterblich und daraus analytische Folgerungen. Der<br />
Satz: Alle Gelehrte sind sterblich, folgt daraus nicht ohne dem Zwischenurteil: Alle<br />
Gelehrte sind Menschen.<br />
Hiezu ist die Unterscheidung in Ableitungs- und Kausalitätsbeziehung zwischen<br />
Aussagen von Bolzano in der Wissenschaftslehre erhellend: Auch der logische<br />
Ableitungsbegriff kommt ohne Enthaltensein von Merkmalen in beiden Aussagen<br />
nicht aus, allerdings sind diese Merkmale bereits Begriffe in Variablen, deren<br />
verschiedene Möglichkeiten der konkreten Einsetzung in der Aussageform dann mit<br />
der Menge der möglichen Einsetzungen einer anderen Aussageform verglichen<br />
werden. Sind alle möglichen Einsetzungen der ersten Aussageform dann wahr,<br />
wenn auch alle Einsetzungen der zweiten Aussageform wahr sind, dann besteht<br />
zwischen den beiden Aussageformen das logische Verhältnis einer richtigen<br />
Ableitung. Bernard Bolzano: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und<br />
größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherigen<br />
Bearbeiter, Sulzbach 1837, bezüglich der Verträglichkeit von Sätzen bes. §§ 155-157<br />
204 Sinnliche Begriffe als Titel der Anschauung, Regel der Wahrnehmung in der<br />
Erfahrung als Titel der Erscheinung, ◊<br />
205 »Die hypothetischen Vernunftschlüsse haben [...] keinen medium tertium, [...].«<br />
(AA IX, § 75, p 129, Anmk. 1)
— 392 —<br />
zuerst gemäß dem extensionalen Schema von Art- und Gattungsbegriff mit<br />
Enthaltensein eines Begriffes unter einem höheren. Dann folgt die<br />
Begründung aber intensional nach der Regel der Identität; die<br />
Homogenität des niedrigeren mit dem höheren Begriff geht auf das<br />
Enthaltensein des höheren in dem niedrigeren Begriff zurück:<br />
»Die logische Subsumtion eines Begriffs unter einem höheren geschieht<br />
nach der Regel der Identität : und der niedrigere Begriff muß hier als<br />
homogen mit dem höheren gedacht werden. Die transcendentale dagegen,<br />
nämlich die Subsumtion eines empirischen Begriffs unter einem reinen<br />
Verstandesbegriffe durch einen Mittelbegriff, nämlich den des<br />
Zusammengesetzten aus Vorstellungen des inneren Sinnes ist unter eine<br />
Categorie subsumiert, darunter etwas dem Inhalte nach Heterogenes wäre,<br />
welches der Logik zuwider ist, wenn es unmittelbar geschähe, dagegen<br />
aber doch möglich ist, wenn ein empirischer Begriff unter einen reinen<br />
Verstandesbegriff durch einen Mittelbegriff, nämlich den des<br />
Zusammengesetzten aus Vorstellungen des inneren Sinnes des Subjects,<br />
sofern sie den Zeitbedingungen gemäß, a priori nach einer allgemeinen<br />
Regel ein zusammengesetztes überhaupt (dergleichen jede Categorie ist)<br />
homogen ist und so unter den Namen eines Schema die Subsumtion der<br />
Erscheinungen unter dem reinen Verstandesbegriffe ihrer synthetischen<br />
Einheit (des Zusammensetzens) nach, möglich macht. — Die darauf<br />
folgenden Beispiele des Schematismus lassen diesen Begriff nicht<br />
verfehlen.« 206<br />
Die transzendentale Subsumtion bezieht die Vorstellung demnach nicht<br />
unmittelbar auf einen Gegenstand, sondern behandelt das Verhältnis<br />
zweier Arten von Begriffen, von denen niemals unmittelbar ein Begriff in<br />
dem anderen enthalten sein kann: Die reinen Verstandesbegriffe sind nicht<br />
nur reine Begriffe a priori wie die philosophischen Begriffe der<br />
Mathematik oder der reinen allgemeinen Logik, sondern auch<br />
transzendental, enthalten aber selbst weder die empirischen<br />
Allgemeinbegriffe der gegebenen Gegenstände (Genus) noch deren<br />
empirisch-sinnliche Begriffe aus der Anschauung. Letztere werden nur<br />
durch Begriffe der empirischen synthesis speciosa assertorisch gegeben<br />
(Eidos). Durch diese empirische Begriffe sind aber niemals die reinen<br />
206 I. Kant, aus dem Briefwechsel mit Tieftrunk AA XII, 224 f. (vgl. auch BENEDIKT 1977,<br />
p. 389)
— 393 —<br />
Verstandesbegriffe für unser empirisches Bewußtsein einfach schon<br />
mitgegeben worden. Die Kategorien vereinigen den Allgemeinbegriff<br />
(Genus) eines Gegenstandes und die allgemeinen Regeln des empirischen<br />
Begriffs der Anschauung allererst mit dem universiellen kategorialen<br />
Schema seiner Anschauung und Erfahrung zum Erfahrungsbegriff; und<br />
nicht nur zum Begriff des Genus.<br />
Der Hinweis auf die Homogenität der Logik hat im obigen Zitat<br />
vermutlich die Funktion, von der formalen Wahrheit als bloße Funktion<br />
der logischen Form zur Erkenntnis im Begriff der Regel als (heterogenes)<br />
Produkt eines Urteils überzuleiten. So ist es doch entscheidend, daß von<br />
Kant an dieser Stelle das Ungleichartige, daß in der transzendentalen<br />
Subsumtion vereinigt werden soll, der Homogenität der Logik<br />
gegenübergestellt wird. In der K. r. V. kennt man die Opposition des<br />
Ungleichartigen in den Erscheinungen sonst nur als das Gleichartige der<br />
Anschaungsformen. 207 Die Homogenität liegt dann in der Allgemeinheit<br />
der Regel der formalen Anschauung gegenüber reiner und empirischer<br />
Anschauung. Im Begriff der Regel wird nun nur die Form des inneren<br />
Sinnes herangezogen. Die transzendentale Subsumtion, welche erst<br />
möglich macht, daß ein gegebenes Objekt als einzelner Gegenstand unter<br />
einen Begriff fällt, hat aber mehrfach ausdrücklich die Verbindung<br />
heterogener Vorstellungen in Raum und Zeit vorausgesetzt. — Vergleiche<br />
dazu die Verwendung der Verbindung in der Anmerkung der Einleitung<br />
zur Systematischen Vorstellung aller synthetischen Grundsätze des reinen<br />
Verstandes:<br />
»Alle Verbindung (conjunctio) ist entweder Zusammensetzung<br />
(compositio) oder Verknüpfung (nexus). Die erstere ist die Synthesis des<br />
Mannigfaltigen, was nicht notwendig zu einander gehört, wie z.B die zwei<br />
Triangel, darin ein Quadrat durch die Diagonale geteilt wird, für sich nicht<br />
notwendig zu einander gehören, 208 und dergleichen ist die Synthesis des<br />
Gleichartigen in allem, was mathematisch erwogen werden kann 209<br />
(welche Synthesis wiederum in die der Aggregation und Koalition<br />
eingeteilt werden kann, davon die erstere auf extensive, die andere auf<br />
intensive Größen Größen gerichtet ist). Die zweite Verbindung (nexus) ist<br />
207 Vgl. hiezu die Überlegungen zu Logik und totum analyticum in Grund und Ganzes<br />
208 Man könnte sagen: doch. Und zwar wegen der gemeinsamen Hypothenuse.<br />
209 Vgl. K. d. U, § 10 (Zweckmäßigkeit überhaupt, ästh. Urteil), § 61 (Zweckmäßigkeit in<br />
der Mathematik, teleolog. Urteil)
— 394 —<br />
die Synthesis des Mannigfaltigen , so fern es notwendig zu einander<br />
gehört, wie z.B. das Akzidens zu zu irgend einer Substanz, oder die<br />
Wirkung zu der Ursache, — mithin auch als ungleichartig doch a priori<br />
verbunden vorgestellt wird, welche Verbindung, weil sie nicht willkürlich<br />
ist, ich darum dynamisch nenne, weil sie die Verbindung des Daseins des<br />
Mannigfaltigen betrifft, (die wiederum in die physische der Erscheinungen<br />
unter einander, und metaphysische, ihrer Verbindung im<br />
Erkenntnisvermögen a priori, eingeteilt werden kann).« 210<br />
Die beiden Zitate sind nur bedingt vergleichbar, jedoch fällt auf, daß im<br />
ersten Zitat aus dem Brief an Tieftrunk nur die Feststellungen, daß der<br />
Mittelbegriff einen empirischen Begriff unter die Kategorie zu bringen hat<br />
und es sich bei der Zusammensetzung durch den Mittelbegriff um die<br />
Zusammensetzung von etwas Heterogenem handele, den Hinweis gibt,<br />
daß Kant hier die dynamische Kategorie im Auge hat. Also nur die<br />
standartisierte Unterscheidung von mathematischer und dynamischer<br />
Kategorie, daß die erstere Gleichartiges, die letztere Ungleichartiges<br />
zusammensetze, macht deutlich, daß es sich hiebei um die transzendentale<br />
Subsumtion eines gegebenen Gegenstandes unter einem empirischen<br />
Begriff im Sinne eines Begriffes von einem Erfahrungsgegenstand handelt<br />
und nicht nur um einen Titel der Untersuchung. 211<br />
Im ersten Absatz vom § 26 erklärt nun Kant genau den Unterschied, der<br />
oben mit compositio und nexus gekennzeichnet worden ist: nicht die Form<br />
der Anschauung, sondern die Gesetze ihrer Verbindung a priori zu<br />
erkennen; also »der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben« 212 führt<br />
zu objektiven Erkenntnis: »In der metaphysischen Deduktion wurde der<br />
Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige<br />
Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des<br />
Denkens dargetan, in der transzendentalen aber die Möglichkeit derselben<br />
als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt<br />
(§§ 20, 21) dargestellt.«<br />
»Jetzt soll die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände, die nur<br />
immer unseren Sinnen vorkommen mögen, und zwar nicht der Form ihrer<br />
210 K.r.V., B 201/A 161,<br />
211 B 181/A 142. Vgl. hier auch das nachfolgende Kapitel über die Schematen der<br />
Einbildungskraft.<br />
212 B 159 f.
— 395 —<br />
Anschauung, sondern den Gesetzen ihrer Verbindungen nach a priori zu<br />
erkennen, also der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben und sie so<br />
gar möglich zu machen, erklärt werden. Denn ohne diese ihre Tauglichkeit<br />
würde nicht erhellen, wie alles, was unseren Sinnen nur vorkommen mag,<br />
unter den Gesetzen stehen müsse, die apriori aus dem Verstande allein<br />
entspringen.« 213<br />
Darin ist ein Übergang zur praktischen Vernunft zu erkennen: Das<br />
Erfahrungmachen in § 26 (B 518) verlangt zur Konstitution des<br />
transzendentalen Subjekts bereits nach dem Subjekt der praktischen<br />
Vernunft, und gehört somit womöglich nicht mehr zur<br />
transzendentalanalytischen Methode, sondern zu der von Kant im<br />
Paralogismus entgegengesetzte Methode, das Bewußtsein als synthetischmetaphysisches<br />
Wesen vorauszusetzen. — Insofern gewinnt Heideggers<br />
Darstellung des personalen Subjekts bei Kant als unmittelbar an<br />
scholastische Traditionen anschließend (in: Grundprobleme der<br />
Phänomenologie), an Gewicht. Allerdings würde ich meine Kritik an<br />
dieser Darstellung auch gegen Kant selbst aufrecht halten: Der<br />
Paralogismus der psychologischen Idee ist mit der Widerlegung der<br />
Mendelsohnschen Seelenlehre im Rahmen einer ontologischen Erörterung<br />
des Daseins nicht erschöpft, und auch nicht durch eine synthetische<br />
Metaphysik der praktischen Vernunft ersatzlos außer Kraft zu setzen.<br />
Diese kritische Haltung wird meines Erachtens durch die psychologischen<br />
Abschnitte in der Kritik der praktischen Vernunft (Gefühl der Achtung<br />
nach dem Vorbild des Erhabenen aus der dritten Kritik gegenüber der<br />
Psychologie von Engeln in der Dialektik — wie in Bolzanos Ästhetik)<br />
einerseits wie durch eine kritische Untersuchung der Maximenlehre<br />
insbesondere hinsichtlich des kategorischen Imperativs und dessen<br />
Beziehung zur Allgemeinheit der geforderten Geltung zum schlichten<br />
Wollenkönnen andererseits unterstützt.<br />
❆<br />
Vermag nun der § 26 der Ankündigung Kants im § 21 zu entsprechen? Wie<br />
sich zeigen wird, vielleicht mit größerer Entschiedenheit, keinesfalls mit<br />
größerer Deutlichkeit als in den Reflexionen Kants zur Wahrheitsfrage im<br />
Duisburger Nachlaß. Es wird aber im Fortgang der Untersuchung im<br />
213 l. c.
— 396 —<br />
Rahmen der Analytik der Begriffe und Grundsätze des Verstandes der<br />
Ursprung der Notwendigkeit dynamischer Grundsätze kenntlich gemacht<br />
(und zwar in beiden Fassungen): nicht die Form der Anschauung, sondern<br />
die Gesetze ihrer Verbindung nach a priori zu erkennen; also »der Natur<br />
gleichsam das Gesetz vorzuschreiben« vervollständigt erst den<br />
Erfahrungsbegriff (die Einheit der Apprehension in der Einheit der<br />
Apperzeption). 214<br />
»Alles, was im Raume oder der Zeit bestimmt vorgestellt werden soll«,<br />
muß »a priori als Bedingung der Synthesis aller Apprehension schon mit<br />
(nicht in) diesen Anschauungen zugleich gegeben« sein. 215 Kant findet in<br />
der Deduktion selbst nur zu einer sehr ungefähren Darstellung der mit der<br />
Unterscheidung in compositio und nexus aufgetretenen Aufgabenstellung:<br />
Und zwar noch am Besten in der Gegenüberstellung von<br />
natura materialiter spectata (Natur als Inbegriff aller Erscheinungen der<br />
Natur) — natura formaliter spectata (Natur als Grund der notwendigen<br />
Gesetzmäßigkeit und Inbegriff aller Arten von notwendigen<br />
Verbindungen der Erscheinungen der Natur). 216 Es bleibt weiterhin die<br />
Bedeutungsveränderung der Formalität gegenüber der formalen<br />
Bedingung der Anschauung zu bedenken. In der Fußnote aus dem Text,<br />
der den Unterschied von »Welt« und »Natur« (Welt als mathematisches,<br />
Natur als dynamisches Ganzes im Dasein der Erscheinungen) erläutert,<br />
findet sich dazu: »Natur, adjective (formaliter) genommen, bedeutet den<br />
Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges, nach einem inneren<br />
Prinzip der Kausalität. Dagegen versteht man unter Natur, substantive<br />
(materialiter), den Inbegriff der Erscheinung, so fern diese, vermöge eines<br />
inneren Prinzips der Kausalität, durchgängig zusammenhängen. Im<br />
ersteren Verstande spricht man von der Natur der flüssigen Materie, des<br />
Feuers etc. und bedient sich dieses Worts nur adjective; dagegen, wenn<br />
man von den Dingen der Natur redet, so hat man ein bestehendes Ganzes<br />
in Gedanken.« 217<br />
Während die Erklärung der natura formaliter spectata im § 26 allem<br />
Anschein nach auf die Einheit der Spontaneität im intelligiblen Wesen<br />
selbst zielt, bleibt die Erklärung aus dem System der kosmologischen<br />
214 l. c.<br />
215 B 161<br />
216 B 163 f.<br />
217 B 446/A 418
— 397 —<br />
Ideen (der erste Abschnitt der Antinomien) unmißverständlich im Ganzen<br />
der Natur. Es ist zu erkennen, daß der Überschritt aus dem Formalen der<br />
Anschauung in das Formale der wirklichen Verbindungen der Dinge im<br />
Ganzen der Natur (und nicht nur im Ganzen des Daseins) nur mittels den<br />
Vernunftbegriffen der transzendentalen Ideen gelingen kann.<br />
b) Die formale und die allgemeine Bedingung<br />
Ich will nun anhand der obigen Unterscheidung in compositio und<br />
nexus die verschiedenen Darstellungen des Problems in Verbindung<br />
bringen. Damit soll der Hintergrund zur prädikatslogisch verfaßten<br />
transzendentalen Subsumtion geliefert werden, um zu einem schärfer<br />
differenzierenden Entwurf zu gelangen. — Entscheidend für die Stellung<br />
der beiden Ansätze vor allem in der Analytik der ersten Kritik, und<br />
entscheidend für die hier waltende Absicht ist die Normierung des<br />
Verhältnisses von Begriff und Anschauung im Kapitel »Von dem<br />
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe« allein anhand des<br />
Verhältnisses von Begriff und Sinnlichkeit: »Denn da haben wir gesehen,<br />
daß Begriffe ganz unmöglich sind, noch irgend eine Bedeutung haben<br />
können, wo nicht, entweder ihnen selbst, oder wenigstens den Elementen,<br />
daraus sie bestehen, ein Gegenstand gegeben ist, mithin auf Dinge an sich<br />
(ohne Rücksicht, ob und wie sie uns gegeben werden mögen) gar nicht<br />
gehen können; daß ferner die einzige Art, wie uns Gegenstände gegeben<br />
werden, die Modifikation unserer Sinnlichkeit sei; endlich, daß reine<br />
Begriffe a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie,<br />
noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren<br />
Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingung<br />
enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand<br />
angewandt werden kann.« 218<br />
Nun kann im Lichte des vorhergehenden Zitats die Formulierung der<br />
allgemeinen Bedingung des Zusammensetzens entweder nur als die der<br />
compositio nicht aber als die der Verknüpfung (nexus) verstanden werden,<br />
sodaß die Verknüpfung in die Position der allgemeinen Bedingung<br />
gegenüber der formalen Bedingung der Zusammensetzung bloß deren Regel<br />
218 B 178 f./A 139 f., Herv. v. Verf.. Im vierten Kapitel dieser Arbeit werden die<br />
Verhältnisse der Schematismen der reinen Verstandesbegriffe mit Rücksicht sowohl<br />
auf die dafür bedeutsamen Aussagen in der transzendentalen Deduktion wie auf die<br />
Positionen in den synthetischen Grundsätzen näher erörtert.
— 398 —<br />
ausdrückt, 219 oder aber doch in die Position einer Regel, die noch über den<br />
allgemeinen Bedingungen der Zusammensetzung der Teile des Kontinuums,<br />
das die formale Bedingung ausdrückt, als nexus zu stehen kommt, wonach<br />
erst die Vorstellungen des inneren Sinnes gemäß den objektiven und<br />
realen Zeitbedingungen zusammengesetzt werden müßten. Damit gerät<br />
aber im zweiten Falle die mathematische Kategorie im Aufbau der<br />
Schematen der reinen Verstandesbegriffe unter den Einfluß der<br />
dynamischen Kategorie. 220 Daß die Mathematik und die Geometrie ihren<br />
Charakter als Erkenntnis anhand der objektiven Realität erhält, die<br />
letztlich erst im Begriff der Kausalität erkannt werden kann, gehört zum<br />
Verständnis Kants von Erkenntnis überhaupt. Während deshalb in der<br />
K.r.V. über die Selbstständigkeit der mathematischen und geometrischen<br />
Erkenntnis Zweifel bestehen bleibt, drückt sich Kant zum Verhältnis von<br />
Mathematik und wirklicher Erfahrung am deutlichsten in der Analytik der<br />
teleologischen Urteilskraft aus:<br />
»Alle geometrischen Figuren, die nach einem Prinzip gezeichnet werden,<br />
zeigen eine mannigfaltige, oft bewunderte, objektive Zweckmäßigkeit,<br />
nämlich die Tauglichkeit zur Auflösung vieler Probleme nach einem<br />
einzigen Prinzip, und auch wohl eines jeden derselben auf unendlich<br />
verschiedene Arten an sich. Die Zweckmäßigkeit ist hier offenbar objektiv<br />
und intellektuell, nicht aber bloß subjektiv und ästhetisch. Denn sie drückt<br />
die Angemessenheit der Figur zur Erzeugung vieler abgezweckter<br />
Gestalten aus, und wird durch Vernunft erkannt. Allein die<br />
Zweckmäßigkeitmacht doch den Begriff von dem Gegenstande selbst nicht<br />
möglich, d.i. er wird nicht bloß in Rücksicht auf diesen Gebrauch als<br />
möglich angesehen.« 221<br />
Die Objektivität und Intellektualität der Geometrie sichert ihrer<br />
Zweckmäßigkeit die Unabhängigkeit sowohl von der Subjektivität des<br />
ästhetischen Urteils wie auch vom Begriff vom Gegenstand. Der Grund der<br />
Abzweckung vom Prinzip einer Figur zur Erzeugung einer bestimmten<br />
Gestalt liegt aber gänzlich außerhalb der Geometrie: obwohl Kant eben<br />
219 B 179/A 139 f.<br />
220 Diese Formulierung ist nur mit Bedacht richtig zu verstehen: Sie ist zunächst nur in<br />
Hinblick auf die objektive Geltung der Geometrie richtig; im Aufbau des<br />
transzendentalen Arguments ist die konsti-tutive Kategorie vorausgesetzt, um die<br />
weiteren Gründe der Zusammensetzung, die nicht in der Erscheinung selbst zu<br />
finden sind, überhaupt erst ausmachen zu können.<br />
221 K.d.U., § 62, B 271/A 267
— 399 —<br />
den geometrischen Figuren eine gewisse Gegenständlichkeit für sich selbst<br />
als bestimmte Vorstellungen zugestanden hat (was er deutlicher auch in<br />
der K. r. V. hätte tun müssen), bleibt der Begriff vom einzelnen<br />
Gegenstand im transzendentalen Ideal im Verhältnis von Erster<br />
metaphysischer Erörterung des Raumes und der Bestimmung des Dinges<br />
überhaupt eingespannt und erlaubt dessen Vernunftbegriff nur in den<br />
Grenzen der Erkenntnis von Wirklichkeit. Anders als in der K. r. V.<br />
bestimmt Kant in der K. d. U. die Objektivität der Mathematik<br />
(insbesondere der Geometrie) aber unabhängig vom Gegenstand: »Diese<br />
intellektuelle Zweckmäßigkeit aber, ob sie gleich objektiv ist (nicht wie die<br />
ästhetische subjektiv), läßt sich gleichwohl ihrer Möglichkeit nach als bloß<br />
formale (nicht reale), d.i. als Zweckmäßigkeit, ohne daß doch ein Zweck<br />
ihr zum Grunde zu legen, mithin Teleologie dazu nötig wäre, gar wohl,<br />
aber nur im allgemeinen, begreifen.« 222<br />
Daß gemäß der Willkürlichkeit der compositio in der Anmerkung zu B 201<br />
die mathematische Kategorie gleich keiner allgemeinen Regel mehr fähig<br />
sein sollte, dürfte also doch zu weit zu gehen, vergegenwärtigt man sich<br />
noch dazu, daß Kant die mathematischen Kategorien alternativ auch<br />
konstitutive Kategorien nennt. Vielmehr lassen sich die beiden Zitate dann<br />
übereinstimmen, wenn die weitere Bestimmung des Begriffes der<br />
Zusammensetzung im ersten Zitat aus dem Brief an Tieftrunk so<br />
verstanden wird, daß sowohl die mathematische wie die dynamische<br />
Kategorie die Vorstellungen im inneren Sinn zusammensetzt, aber eben<br />
nach zweierlei Regeln, womit sowohl die Unterscheidung in compositio und<br />
nexus aus B 201 wie deren Einordnung in ein Konzept der<br />
transzendentalen Subsumtion möglich bleibt. Die Vorrede zur<br />
»Systematischen Vorstellung aller synthetischen Grundsätze«, wo Kant die<br />
Unterscheidung derselben in mathematische und in dynamische<br />
Grundsätze vorstellt (aber an Stelle von compositio und nexus aus der<br />
Anmerkung im Text Intuitivität und Diskursivität zur Unterscheidung<br />
heranzieht) schließt mit einem Gedanken, der diese Überlegung indirekt<br />
unterstützt: »Man wird aber wohl bemerken: daß ich hier eben so wenig<br />
die Grundsätze der Mathematik in einem Falle, als die Grundsätze der<br />
allgemeinen (physischen) Dynamik im anderen, sondern nur die des<br />
reinen Verstandes im Verhältnis auf den inneren Sinn (ohne Unterschied<br />
der darin gegebenen Vorstellungen) vor Augen habe, dadurch denn jene<br />
222 cit. op. B 274/A 270
— 400 —<br />
insgesamt ihre Möglichkeit bekommen. Ich benenne sie also mehr in<br />
Betracht der Anwendung, als um ihren Inhalts willen [...].« 223<br />
Kant will also allein die Verhältnisse der Spontaneität des<br />
Apperzeptionsvermögens betrachten, unterstellt dabei aber eine den<br />
mathematischen wie dynamischen Kategorien gemeinsame Methode<br />
(»dadurch denn jene insgesamt ihre Möglichkeit bekommen«), die nur<br />
anhand der Arten der Anwendung unterschieden werden soll. Dafür bietet<br />
sich der einfachen Spontaneität von Einbildungskraft und<br />
Verstandeshandlung 224 die obige doppelte Interpretation der formalen und<br />
allgemeinen Bedingung geradezu an.<br />
c) Die »Intellection« der Subjektivität ist Objektivität<br />
Zumal in der K.r.V. die Zeitlichkeit des inneren Sinnes als<br />
Anschauungsform und die Zeitlichkeit der Verstandeshandlung<br />
keineswegs in die Parallelisierung von synthesis speciosa und<br />
synthesis intellectualis aufgeht, vielmehr nach wie vor die Unzeitlichkeit<br />
des reinen Verstandesbegriffes und die Nicht-Sukzessivität der<br />
Einbildungskraft in der »absoluten Einheit« der (transzendentalen)<br />
Apprehension auch in den Kritiken in Stellung bleibt, kann in diesem<br />
Zusammenhang m. E. durchaus auf die Reste der Konzeption von 1770 225<br />
zurückgegriffen werden, wonach die »subjektive Erscheinungsform des<br />
Mannigfaltigen der Sinnlichkeit (als Raum und Zeit)« dem »nicht mehr<br />
näher abgeleiteten abstrakt-objektiven System der Verstandeswelt (als<br />
logische Reflexion des gesamten Vernunftraumes)« 226 gegenübergestellt<br />
und zur Vermittlung aufgeben wird:<br />
»Die subiective Bedingungen der Erscheinungen, welche a priori erkannt<br />
werden können, sind Raum und Zeit: intuitionen.<br />
Die subiective Bedingung der empirischen Erkenntnis ist die apprehension<br />
in der Zeit überhaupt und also nach Bedingungen des innern Sinnes<br />
überhaupt.<br />
223 K.r.V., B 201/A 162<br />
224 Die selbe Funktion, die als Verstandeshandlung Einheit im Urteil schafft, gibt auch<br />
der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit.<br />
(B 105/ A 78 f.)<br />
225 I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibililis forma et principiis, § 3, 4, 8, 12, 24<br />
u.a.<br />
226 BENEDIKT 1977 p. 254 ff.
— 401 —<br />
Die subjektive Bedingung der rationalen Erkenntnis [ist] die construction<br />
[in der Zeit] durch die Bedingung der apprehension überhaupt.<br />
Alles, was gegeben wird, wird unter den allgemeinen Bedingungen der<br />
apprehension gedacht. Also ist das subiectiv allgemeine der apprehension<br />
die Bedingung des obiectiv allgemeinen der intellection.« 227<br />
Nun ist das subjektiv Allgemeine in der K.d.U. die Grundlage, im<br />
ästhetischen Urteil, sowohl im Falle des Schönen wie im Falle der<br />
Erhabenheit, Allgemeinheit zu beanspruchen , also auch dann, wenn deren<br />
Objektivität gerade nicht dargetan werden kann. Im Rahmen der K.r.V.,<br />
insbesondere in der Frage des Schematismus der reinen<br />
Verstandesbegriffe, interessiert aber zuerst, daß im obigen Zitat die<br />
Bedingungen der Apprehension, eben die Unterscheidung von formaler<br />
Bedingung der Apprehension (innerer Sinn) und allgemeiner Bedingung<br />
der Konstruktion aus dem Schematismuskapitel noch im Subjektiven<br />
verbleiben. 228 Deshalb bleibt diese Unterscheidung zwischen subjektiver<br />
und objektiver Geltung hier wegen der subjektiv bleibenden Bedeutung<br />
der »Konstruktion« noch im Rahmen der compositio . Insofern ist fraglich,<br />
ob die Unterscheidung der formalen Bedingung des inneren Sinnes von<br />
der allgemeinen Bedingung der Regel im Kapitel »Vom Schematismus der<br />
reinen Verstandesbegriffe« auch wirklich zur »objektiven Realität«<br />
zureicht, die die Definition des nexus in der Anmerkung aus der Vorrede<br />
zur »Systematischen Vorstellung aller synthetischer Grundsätze« zugleich<br />
mit der metaphysischen Notwendigkeit (d.i. ihre Verbindung a priori im<br />
Erkenntnisvermögen!) vorstellig macht, oder ob sie bloß die Differenz von<br />
Intuition und Diskursivität beschreibt, 229 ohne die Regeln der Verhältnisse<br />
der Objekte der Erfahrung (die also nicht in den Erscheinungen selbst<br />
227 Refl. 4675, AA XVII, p. 652 f.. Die nachfolgend behandelten Reflexionen sind unter<br />
der Bezeichnung des Duisburger Nachlaß bekannt; sie wurden zuerst von Th.<br />
Haering bearbeitet: Der Duisburg'sche Nachlaß und Kants Kritizismus um 1775,<br />
Tübingen 1910.<br />
228 Vgl. in § 10: »Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a<br />
priori gegeben sein muß, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis<br />
dieses Mannigfaltige durch die Einbildungskraft ist das zweite, gibt aber noch keine<br />
Erkenntnis. Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben, und lediglich<br />
in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das dritte<br />
zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen auf dem<br />
Verstande.« (B 104 f./A 78)<br />
229 Kant stellt in der Logik der einzelnen Vorstellung (repraesentatio singularis) den<br />
Begriff gegenüber: dieser ist eine allgemeine (repraesentatio per notas communes)<br />
oder eine reflektierte Vorstellung (repraesentatio discursiva). (Logik, hersg. von G. B.<br />
Jäsche, Werke, Bd. IX, Wiederabdruck Berlin 1968, p. 91).
— 402 —<br />
gefunden werden können, vgl. § 26) 230 zu erreichen. Obgleich die<br />
Beobachtung der Diskursivität als analoges Prinzip zur Objektivität in der<br />
Darstellung intensiver Größen durch Bewegung im Raume (also nur durch<br />
extensive Größen) auf eine ebenfalls entscheidenden Entwicklungslinie<br />
Kantens hinweist, kann allein daraus gerade nicht die Lösung der<br />
anstehenden Probleme erwartet werden. 231 So beruht andernorts der<br />
Begriff der Regel immer schon auf der Assertion des Einzelfalles unter<br />
einer allgemeinen Bedingung:<br />
»Eine Regel ist eine Assertion unter einer allgemeinen Bedingung. Das<br />
Verhältnis der Bedingung zur Assertion, wie nämlich diese unter jener<br />
steht, ist der Exponent der Regel.« 232<br />
Hier wird der Grund dieses Übersprunges von der allgemeinen Bedingung<br />
zur Regel im Einzelfall noch nicht ersichtlich. Die Regel, die eine solche<br />
Assertion allgemein ermöglichte, wäre selbst schon das Allgemeine des<br />
Subjektiven im Einzelfall der Begegnung mit Einzelnem. Sofern nun die<br />
formale Bedingung vor der Interpretation der allgemeinen Bedingung als<br />
nexus selbst eine allgemeine Bedingung beansprucht, kann diese<br />
formale Bedingung noch nicht den Einzelfall bestimmen, da die<br />
formale Bedingung nur das Allgemeine am Subjektiven beinhalten kann,<br />
und die allgemeine Bedingung der formalen Bedingung im Rahmen der bloßen<br />
intellektuellen Zweckmäßigkeit verbleibt. 233 Es bleibt also fraglich, ob es<br />
von Kant ausgehend gelingt, der formalen Anschauung (als produzierte<br />
Vorstellung von Raum und Zeit) die Leistung, auf Individuelles und<br />
Einzelnes zu gehen, nachzuweisen. Dazu bleibt noch zu beobachten, daß<br />
Kant in diesem Zusammenhang die Formen der Anschauung überhaupt<br />
schon zur reinen Form hin entwickelt hat, und gegenüber dem<br />
conceptus singularis fraglich bleibt, ob Kant das »Intuitum« für eine formale<br />
230 Was offensichtlich nichts anderes als das Ergebnis der kritischen Abarbeitung des<br />
Begriffes vom nexus ist (K.r.V., B 162)<br />
231 Refl. 2875: »Bei jedem conceptus communis müssen zwar Vergleichungen angestellt<br />
werden, sonst wäre er nicht conceptus communis, aber er darf doch nicht allererst<br />
aus diesen verglichenen Vorstellungen gebildet werden.«<br />
Logik Dohna-Wundlacken:,»Im einzelnen Urteil hingegen wird der Prädikatsbegriff<br />
allein auf den Gegenstand bezogen, denn hier fungiert als Subjekt eine Vorstellung<br />
von Einzelnem, und "repraesentatio singularis " — hat einen intuitum, zeigt ihn<br />
unmittelbar an, ist aber im Grunde kein conceptus. Z. B. Sokrates ist kein<br />
conceptus.«(AA XXIV, p. 754)«<br />
232 Refl. 3202, vgl. Klaus Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel,<br />
Hamburg, 3 1986, p.. 66<br />
233 K.d.U., § 62.
— 403 —<br />
Anschauung (Konstruktion) noch weiter behaupten kann. Andererseits<br />
bleibt das Problem, dem nexus als das allgemeine Prinzip selbst eine eigene<br />
formale Bedingung zu geben (natura formaliter spectata ).<br />
Nun unterscheidet Kant in der Refl. 4675 234 die Zeitlichkeit des inneren<br />
Sinnes überhaupt als erste Bedingung der Apprehension, die selbst als<br />
Bedingung für die »construction« als die zweite Bedingung derselben<br />
Apprehension zu verstehen ist. 235 Insbesondere mit dem Zusatz zur<br />
»construction«, daß es sich bei der »construction« um die Bedingungen der<br />
Erkenntnis handelt, ist auch schon klar geworden, daß die »construction«<br />
zuerst die Hinordnung einer allgemeinen Regel der compositio auf die<br />
Intuitivität als Medium der Evidenz von Realität im subjektiven Sinne der<br />
Materialität von Erscheinungen qua sinnlicher Empfindung und Form der<br />
Ausdehnung bedeutet und erst in zweiter Linie die Diskursivität als<br />
Kriterium der Intersubjektivität. 236 Das dem subjektiv Allgemeinen<br />
entgegengestellte objektiv Allgemeine des letzten Satzes aus dem<br />
gegebenen Zitat der Refl. 4675 hingegen stimmt im normativen Anspruch<br />
schon mit der metaphysischen Definition der Verknüpfung (nexus ) aus der<br />
Anmerkung in der Vorrede zur »Systematischen Vorstellung aller<br />
synthetischen Grundsätze« zusammen. Damit bleibt aber die »objektive<br />
Realität« wie die a priori Geltung der — logischen — Gesetze der<br />
Verstandeswelt für die Apperzeption jeweils ein gleichermaßen<br />
unableitbares Faktum, ohne daß diese schon verbunden werden konnten<br />
— die Synthesis (Physik und Metaphysik), die im Begriff des nexus zu<br />
denken aufgegeben wurde, bleibt unerklärlich.<br />
234 Refl. 4675, AA XVII, p. 652 f.<br />
235 Wie anfangs der Axiome der Anschauung die reine Anschauungsform auf die<br />
formale Anschauung gebracht worden ist.<br />
236 Das wird in der Methodenlehre der K.r.V. deutlicher ausgedrückt: »Alle unsere<br />
Erkenntnis bezieht sich doch zuletzt auf mögliche Anschauungen: denn durch diese<br />
allein wird ein Gegenstand gegeben. Nun enthält ein Begriff a priori (ein nicht<br />
empirischer Begriff) entweder schon eine reine Anschauung in sich, und alsdenn<br />
kann er konstruiert werden; oder nichts als die Synthesis möglicher Anschauungen,<br />
die a priori nicht gegeben sind, und alsdenn kann man wohl durch ihn synthetisch<br />
und a priori urteilen, aber nur diskursiv, nach Begriffen, und niemals intuitiv durch<br />
die Konstruktion des Begriffes.« (B 747/A 719)
— 404 —<br />
§ 16 Die subjektiven Bedingungen des »Konzepts« und die Objektivität<br />
der Erkenntnis<br />
a) Die ganze Sinnlichkeit und das ganze Denken<br />
Dazu gibt folgende Reflexion noch näheres zu bedenken: »Concipere heißt<br />
sich einen Begriff wovon a priori machen. Die principien der conception<br />
(gehen auf subj) sind entweder des Denkens überhaupt oder des absoluten<br />
setzens oder der zusammennehmung a priori. Vom ersten ist die sinnliche<br />
Bedingung die ganze Sinnlichkeit, von dem zweyten das ganze Denken in<br />
ansehung eines dati überhaupt, vom dritten das ganze an sich selbst oder<br />
totalitaet.« 237<br />
Die Refl. 4683 behandelt, was es heißt, »sich einen Begriff wovon a priori<br />
[zu] machen« (concipere); danach gibt es dreierlei Arten von Prinzipien der<br />
conception : die des Denkens überhaupt, die des absoluten Setzens und die<br />
der Zusammennehmung a priori. Diese alle gehen einerseits aber auf das<br />
Subjektive; sollen andererseits aber noch am Boden des Subjektiven<br />
zusammen betrachtet, zum Objektiven gelangen können. In der<br />
Zusammenstellung dieser und umliegender Stellen: »Die principien der<br />
conception (gehen auf subj) sind entweder des Denkens überhaupt oder<br />
des absoluten setzens oder der zusammennehmung a priori«; 238 und »in<br />
der Synthesis aber [ist] die Zeit durch eine Erscheinung z.E. dessen, was<br />
existiert oder geschieht oder zusammen ist [bestimmt]«; 239 aber auch<br />
»welche Verbindung, weil sie nicht willkürlich ist, ich darum dynamisch<br />
nenne, weil sie die Verbindung des Daseins des Mannigfaltigen betrifft,<br />
(die wiederum in die physische der Erscheinungen unter einander, und<br />
metaphysische, ihrer Verbindung im Erkenntnisvermögen a priori,<br />
eingeteilt werden kann)«, 240 zeigt sich, wie Kant versucht, von der<br />
subjektiven Bedingung zur objektiven Bedingung der Erkenntnis<br />
überzugehen. Bemerkenswert ist besonders die Beziehung, die sich<br />
zwischen »absoluten setzen«, »geschieht« einerseits und der<br />
Zusammennehmung und der »dynamischen Verbindung« andererseits<br />
herstellen läßt. Diese auf den ersten Blick vielleicht etwas willkürlich<br />
scheinende Verbindung kann durch folgende Erklärungen klarer werden.<br />
237 Refl. 4683, AA XVII, p. 670<br />
238 l. c.<br />
239 Refl. 4684, AA XVII, p. 671<br />
240 K.r.V., B 201/A 161
— 405 —<br />
(a) Das Prinzip des »Denkens überhaupt« macht zuerst nur die (formale)<br />
Bedingung der Sinnlichkeit 241 zur Basis der allgemeinen Bedingung; und<br />
das gleich in zweierlei Hinsicht: einerseits als kollektive Einheit der Form<br />
der Sinnlichkeit und andererseits als jene Allgemeinheit des Subjektiven,<br />
wonach dem ästhetischen Urteil nur der Anspruch auf Allgemeingültigkeit<br />
(nicht die Geltung selbst) jederzeit zuzugestehen ist. In Frage steht<br />
insbesondere im Vergleich der verschiedenen Zitate, ob eben schon als Zeit<br />
und Raum.<br />
(b) Das Prinzip des »absoluten Setzen« scheint nun auf den ersten Blick<br />
gänzlich ungeeignet zu sein, auf das Subjektive zu gehen, doch wird eine<br />
Erinnerung an die Paralogismen der reinen Vernunft 242 oder besser noch,<br />
an die Widerlegung des Idealismus zureichen, den Problemkreis gerade<br />
hier ein erstes Mal genauer ausmachen zu können: Denn zwar fundiert<br />
gerade die subjektive Gewißheit des Daseins eine »absolute« Position;<br />
Kant hält den archimedischen Punkt des cartesianischen Zweifels aber für<br />
nicht ausreichend und stellt in der Widerlegung des Idealismus in<br />
verschiedenen Stufen der Argumentation deutlich fest, daß es nicht die<br />
reine subjektive Selbstgewißheit ohne empirische Beziehung ist, von der er<br />
ausgeht. Stärker noch als im Übergang von der rationalen Psychologie zur<br />
Kosmologie wird nicht nur das Empirische des Daseins (Ich existiere als<br />
Denkendes) behauptet, was für sich sicherlich nichts an der Subjektivität<br />
des Daseins ändert, sondern den Gegenstand zugleich mit dem Raume<br />
exponiert: »Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines<br />
eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer<br />
mir.« 243 In der ersten Anmerkung wird das Dasein vom Gegenstand im<br />
Raum zur Voraussetzung der Bestimmung der inneren Erfahrung in der<br />
Zeit: »Allein hier wird bewiesen, daß äußere Erfahrung eigentlich<br />
unmittelbar sei, 244 daß nur vermittelst ihrer, zwar nicht das Bewußtsein<br />
241 Die scheinbar sichere Quelle des Subjektiven, während die a priori Geltung der<br />
logischen Gesetze der Verstandeswelt für die Apperzeption einerseits subjektiv ist,<br />
aber doch zugleich auch objektiv gelten soll — vgl. auch K.r.V., § 19<br />
242 Hierin ist besonders an den Portalsatz von der »Allgemeinen Anmerkung, den<br />
Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie betreffend« zu denken:<br />
»Der Satz, Ich denke, oder ich existiere denkend, ist ein empirischer Satz.« (B 428)<br />
243 Widerlegung des Idealismus, B 275<br />
244 An dieser Stelle gibt Kant eine Fußnote, die eine psychologische Argumentatinslinie<br />
verfolgt: »Das unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge wird in dem<br />
vorstehenden Lehrsatze [Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines<br />
eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir] nicht<br />
vorausgesetzt, sondern bewiesen, die Möglichkeit dieses Bewußtseins mögen wir<br />
einsehen, oder nicht. Die Frage wegen der letzteren würde sein: ob wir nur einen
— 406 —<br />
unserer eigenen Existenz, aber doch die Bestimmung derselben in der Zeit,<br />
d.i. innere Erfahrung möglich sei.« 245<br />
Die im obigen Zitat gegebene Erklärung des »absoluten« Setzens ist auch<br />
in Verbindung zur ersten metaphysischen Erörterung des Raumes<br />
ausdrückbar: Dessen Prinzip bezieht sich auf »das ganze Denken in<br />
Ansehung eines dati überhaupt«, wobei im Begriff des Datums, wenn<br />
schon nicht Objektivität, dann doch zwischen Realität der Apperzeption<br />
(ich existiere als Denkendes ) und der Ersten metaphysischen Erörterung des<br />
Raumes (dati als sich auf etwas außer mich beziehendes ) Äußerlichkeit schon<br />
impliziert ist. Ohne Zweifel bedeutet »absolut« in diesem Zusammenhang<br />
das wenigste, was man von einem Gegenstand sagen kann; 246 eben als<br />
diejenige Voraussetzung der Affinität, die Kant schon in der ersten<br />
metaphysischen Erörterung des Raumes herausgestellt hat. Allerdings<br />
bleibt hier dem ganzen Denken »in Ansehung eines dati überhaupt« das<br />
»Denken überhaupt« als das Vermögen gegenübergestellt, zuvor die<br />
sinnliche Bedingung als ganze Sinnlichkeit zu denken — also ohne einen<br />
bestimmten Gegenstand und Raum.<br />
Die Zeitbedingung der Sinnlichkeit und die Konstruktion als die zwei<br />
unabhängigen Bedingungen der Apprehension aus Refl. 4675 sind mit<br />
dieser Unterscheidung erst in Zusammenhang zu bringen: Wohl ist die<br />
Zeitbedingung als die sinnliche Bedingung zu denken, doch das »absolute<br />
Setzen« kann mit der hier vorgestellten Interpretation gemäß der ersten<br />
metaphysischen Erörterung des Raumes nichts mit Konstruktion zu tun<br />
haben. Die weitere Gegenüberstellung der zuletzt behandelten Reflexionen<br />
inneren Sinn, aber keinen äußeren, sondern bloß äußere Einbildung hätten. Es ist<br />
aber klar, um uns auch nur etwas als äußerlich einzubilden, d.i. dem Sinne in der<br />
Anschauung darzustellen, wir schon einen äußeren Sinn haben, und dadurch die<br />
bloße Rezeptivität einer äußeren Anschauung von der Spontaneität, die jede<br />
Einbildung charakterisiert, unmittelbar unterscheiden müssen. Denn sich auch einen<br />
äußeren Sinn bloß einzubilden, würde das Anschauungsvermögen, welches durch<br />
die Einbildungskraft bestimmt werdensoll, selbst vernichten.« (Anmk. zu B 276)<br />
245 B 275 f.<br />
246 »Das Wort absolut wird jetzt öfters gebraucht, um bloß anzuzeigen, daß etwas von<br />
einer Sache an sich selbst betrachtet und also innerlich gelte. In dieser Bedeutung<br />
würde absolut möglich das bedeuten, was an sich selbst (interne) möglich ist,<br />
welches in der Tat das wenigste ist, was man von einem Gegenstande sagen kann.<br />
Dagegen wird es bisweilen gebraucht, um anzuzeigen, daß etwas in aller Beziehung<br />
(uneingeschränkt) gültig ist, (z. B. die absolute Herrschaft,) und absolutmöglich<br />
würde in dieser Bedeutung dasjenige bedeuten, was in aller Absicht in aller<br />
Beziehung möglich ist, welches wiederum das meiste ist, was ich über die<br />
Möglichkeit eines Dinges sagen kann.«, B 381/A 324 f.
— 407 —<br />
würde aber erwarten lassen, daß dem Konzept der Konstruktion in der<br />
Idee des ganzen Denkens »in Ansehung eines datis« eine systematische<br />
Stelle gegeben werden kann. Dazu müßte die angestrebte Totalität aus<br />
definierbaren Teilen synthetisch zu konstruieren sein. Das ganze Denken<br />
wäre dann, »absolut« genommen, das meiste, was man von einem<br />
Gegenstand sagen kann: die völlige rationale Konstruierbarkeit. 247<br />
(c) Das Prinzip der »Zusammennehmung a priori« wird nun im gegebenen<br />
Zitat aus der Refl. 4683 dahingehend erklärt, daß es das Prinzip des<br />
Ganzen an sich selbst sei — Totalität. Erst die Beziehung auf Totalität<br />
könnte dem ganzen Denken »in Ansehung eines datis« auch<br />
objektive Realität verschaffen, und zwar indem erstens das<br />
Konstruktionsprinzip an der Totalität geprüft wird 248 und zweitens das<br />
gegebene Datum darin eine Stelle erhält. 249 Gemäß der Aufstellung in der<br />
Erklärung des »concipere« kann die Konstruktion nicht dem »absoluten<br />
Setzen« zugemutet werden, das selbst noch in der ursprünglichen<br />
Beziehung auf das Objekt zu sehen ist, und mithin sich zwar auf objektive<br />
Realität bezieht, aber nicht was die Möglichkeit eines inhaltlichen<br />
Konzeptes des Objektes angeht, und so im Subjektiven verbleibt. Jedoch<br />
findet die Konstruktion einerseits im Konzept der erst einzuschränkenden<br />
Totalität der (erst dadurch objektivierbaren) Möglichkeiten dieses Objekts<br />
in der sinnlichen Anschauung indirekt, 250 oder andererseits gleich als<br />
Identifikation der Bedingung der Konstruktion mit der Zeitbedingung der<br />
Sinnlichkeit im Denken überhaupt direkt, noch ihren systematischen<br />
Platz. 251<br />
In der Erklärung des »concipere« hat die Konstruktion ihre Stellung erst zu<br />
finden, da die »Zusammennehmung« eine vorhergehende Regel verlangt,<br />
um die zu konstruierenden Elemente der »Zusammennehmung« allererst<br />
bestimmen zu können. Diese Untersuchung der Bedingung der<br />
»Zusammennehmung« selbst kann unter diesem Gesichtspunkt mit der<br />
247 AA XVII, p. 652 f.<br />
248 Das kann nach Leibniz auf zwei Wege geschehen: Erstens als Nachweis, daß die<br />
Wahrheit (Urteil als Aussage, Satz usf.) endlich analysierbar ist oder wenn nicht,<br />
dann zweitens, daß die Wahrheit unendlich analysierbar ist. Letzteres gibt<br />
zumindest eine Regel der Analyse. Der Nachweis der Wahrheit wird demnach nur<br />
dadurch verhindert, wenn gezeigt werden kann, daß sich eine gegebene Reihe nicht<br />
anhand einer gleichen Regel als endlos analysierbar herausstellt.<br />
249 Vgl. Obersatz und Untersatz der empirischen Postulate<br />
250 Vgl. das Ding der Allheit im Kapitel über das prototypon transcendentale<br />
251 Vgl. das primitive Schema der Apprehension; hier in: A, II, b
— 408 —<br />
eidetischen Variation Edmund Husserls oder mit den Variablen in den die<br />
Aussageformen interpretierenden Sätzen Bolzanos verglichen werden. —<br />
Die Dynamik wird im Duisburger Nachlaß nicht eigens thematisiert.<br />
b) Begriff und transzendentale Idee<br />
Die Prinzipien, die für die Bildung eines Begriffes (Konzeptes) von<br />
»etwas« nötig sind, sind transzendentale Ideen: Wenn auch die Refl. 4683<br />
(und deren Umkreis) nicht völlig mit der Entwicklung im zweiten<br />
Abschnitt der Dialektik der K.r.V. zusammengestimmt werden kann, ist<br />
der Zusammenhang unübersehbar: »Nun ist das Allgemeine aller<br />
Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können, 1) die Beziehung aufs<br />
Subjekt, 2) die Beziehung auf Objekte, und zwar entweder als<br />
Erscheinungen, oder als Gegenstände des Denkens überhaupt. Wenn man<br />
diese Untereinteilung mit der oberen verbindet, so ist alles Verhältnis der<br />
Vorstellungen, davon wir uns entweder einen Begriff, oder eine Idee<br />
machen können, dreifach: 1. das Verhältnis zum Subjekt, 2. zum<br />
Mannigfaltigen des Objekts in der Erscheinung, 3. zu allen Dingen<br />
überhaupt.« 252<br />
Versteht man den zweiten Abschnitt des gegebenen Zitates dahingehend,<br />
daß a) das »Verhältnis zum Subjekt« die Prinzipien des »Denken<br />
überhaupt« als die sinnliche Bedingung, b) die Beziehung »zum<br />
Mannigfaltigen des Objekts in der Erscheinung« als das »ganze Denken in<br />
Ansehung eines dati überhaupt« und c) die Beziehung »zu allen Dingen<br />
überhaupt« als das »Ganze an sich selbst oder Totalität« aufzufassen ist, so<br />
wird man sich auch der Auffassung, daß Kant den Ursprung eines<br />
Begriffes oder eines Konzeptes in den transzendentalen Ideen<br />
(psychologisch, kosmologisch, theologisch), die auf Totalität gehen,<br />
gesucht und gefunden hat, anschließen können. 253 Kant läßt die Ideenlehre<br />
252 K.r.V., B 390 f./A 333 f.<br />
253 Vgl. Refl. 2836 (1772-1777): »Cognitio est vel intuitus vel conceptus (repraesentatio<br />
discursiva). Beim ersteren bin ich leidend (Rezeptivität), beim zweiten handelnd<br />
(Spontaneität). Intuitus ist einzeln, conceptus ist repraesentatio per notam<br />
communem. Der Verstand ist hier die formale Ursache der Begriffe. Notio (conceptus<br />
intellectualis): wenn der Begriff auch dem Inhalte nach aus dem Verstande<br />
entspringt.« (Herv. v. Verf.) Zur Stützung der Auffassung, daß die oben im Text<br />
gemachten Überlegungen zur transzendentalen Idee auch für Konzepte gelten<br />
können, deren Inhalte nicht aus dem Verstand entspringen, vgl. hier »Der Verstand<br />
ist hier die formale Ursache der Begriffe«, was für alle »notio« gelten soll, und die<br />
Anmk. aus der Logik, § 4: »Die Form eines Begriffes als einer diskursiven<br />
Vorstellung ist jederzeit gemacht.« (AA IX, p. 93) — also unabhängig vom Ursprung
— 409 —<br />
auf reine Vernunftschlüsse beruhen 254 und kritisiert in der Dialektik die<br />
Totalität, die nicht nur in der metaphysischen Deduktion (§ 9, § 11)<br />
sondern noch in § 26 der transzendentalen Deduktion die Voraussetzung<br />
für eine prinzipiell restlose (wenn im metaphysischen Abschnitt der<br />
Deduktion auch alternative) Teilung der gegebenen ganzen Erkenntnis<br />
war, als bloß unvermeidlichen Schein von objektiver Realität.<br />
»Nun beruhet wenigstens die transzendentale (subjektive) Realität der<br />
reinen Verstandesbegriffe darauf, daß wir durch einen notwendigen<br />
Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden. Also wird es<br />
Vernunftschlüsse geben, die keine empirische Prämissen enthalten und<br />
vermittelst deren wir von etwas, das wir kennen, auf etwas anderes<br />
schließen, wovon wir doch keinen Begriff haben, und dem wir gleichwohl,<br />
durch einen unvermeindlichen Schein, objektive Realität geben.« 255<br />
»Dieser dialektischen Vernunftschlüsse gibt es also nur dreierlei Arten, so<br />
vielfach, als die Ideen sind, auf die ihre Schlußsätze auslaufen«; 256 diese<br />
sind die Paralogismen der absoluten Einheit des Subjekts selbst, die<br />
Antinomien der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einer<br />
gegebenen Erscheinung und das Ideal der reinen Vernunft »von der<br />
Totalität der Bedingungen, Gegenstände überhaupt, so fern sie mir<br />
gegeben werden können, zu denken, auf die absolute synthetische Einheit<br />
aller Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt« 257 zu bringen.<br />
Für die Erörterung der Dialektik der reinen Verstandesbegriffe der<br />
Kategorien ist die kosmologische Idee (der absoluten Totalität der Reihe<br />
der Bedingungen zu einer gegebenen Erscheinung) wesentlich. Kant stellt<br />
die vier kosmologische Ideen zu einer eigenen Tafel auf: Die absolute<br />
Vollständigkeit (1) der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller<br />
Erscheinung, (2) der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung,<br />
(3) der Entstehung einer Erscheinung überhaupt, (4) der Abhängigkeit des<br />
Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung. 258<br />
des Inhalts, sondern als »diskursive Vorstellung«. Bekanntlich hat Kant zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht streng systematisch zwischen Verstand und Vernunft<br />
unterschieden.<br />
254 K.r.V., B 605/A 577<br />
255 B 397/A 339<br />
256 B 397 f./A 339 f.<br />
257 B 398/A 340<br />
258 B 442/A 416
— 410 —<br />
»Zuerst ist hierbei anzumerken: daß die Idee der absoluten Totalität nichts<br />
anderes, als die Exposition der Erscheinungen, betreffe, mithin nicht den<br />
reinen Verstandesbegriff von einem Ganzen der Dinge überhaupt.« 259<br />
»Die Ideen, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, habe ich oben<br />
kosmologische Ideen genannt, teils darum, weil unter Welt der Inbegriff<br />
aller Erscheinungen verstanden wird, und unsere Ideen auch nur auf das<br />
Unbedingte unter den Erscheinungen gerichtet sind, teils auch, weil das<br />
Wort Welt, im transzendentalen Verstande, die absolute Totalität des<br />
Inbegriffs existierender Dinge bedeutet, und wir auf die Vollständigkeit<br />
der Synthesis (wiewohl nur eigentlich im Regressus zu den Bedingungen)<br />
allein unser Augenmerk richten.« 260<br />
Die absolute Totalität des Inbegriffs ist also erstens nicht der Inbegriff aller<br />
Prädikate eines Dinges sondern ein Inbegriff aller existierender Dinge,<br />
zweitens bedeutet dieser Inbegriff im transzendentalen Verstand nur die<br />
Vollständigkeit der Synthesis im Regressus. Gleich in welcher Alternative<br />
der Antinomien die Lösung auch erwartet wird, es bleibt der Gegenstand<br />
der Aufmerksamkeit die Ganzheit der als Vergangenheit gesetzten Zeit. —<br />
Die »Exposition der Erscheinungen« unter Verstandesbegriffe zu<br />
bekommen soll aber die Aufgabe der Kategorien sein Das macht für den<br />
Gang dieser Untersuchung die Wesentlichkeit der kosmologischen Ideen<br />
aus. Die kosmologischen Ideen, deren Antinomien von Kant anschließend<br />
aufgestellt werden, haben die Eigentümlichkeit, daß sie gleich auf eine<br />
Weise eingeführt werden, die alle mögliche Kritik eines transzendentalen<br />
Scheines vorwegnimmt (eben die Einschränkung der Totalität auf die<br />
regressive Synthesis), während Kant in den Paralogismen wie im<br />
prototypon transcendentale den dialektischen Schein und seine immanente<br />
Notwendigkeit vor der Kritik vorstellt. Allerdings zeigt ein Blick auf die<br />
Antinomien selbst, daß dort Kant die Progression nicht völlig ausschließen<br />
kann.<br />
Eine weitere Eigentümlichkeit ist in der Exposition der Antinomie (Die<br />
Antinomie der reinen Vernunft) zu finden. Die Einteilung der<br />
dialektischen Vernunftschlüsse wird dort noch logisch vorgenommen: Die<br />
kategorischen Vernunftschlüsse gehen auf »die unbedingte Einheit der<br />
subjektiven Bedingungen aller Vorstellungen überhaupt«, die<br />
259 B 443/A 416<br />
260 B 447/A 418
— 411 —<br />
hypothetischen Vernunftschlüsse auf »die unbedingte Einheit der<br />
objektiven Bedingungen in der Erscheinung« und »die dritte Art« hat die<br />
»unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen der Möglichkeit der<br />
Gegenstände überhaupt« zum Thema. 261 Kant meint nun, die disjunktiven<br />
Vernunftschlüsse (die dritte Art) seien ausschließlich die logische Basis der<br />
Antinomien der kosmologische Idee und unterscheidet zwei Seiten weiter<br />
den Weltbegriff der absoluten Totalität in der Synthesis der Erscheinungen<br />
als transzendentale Idee einerseits vom Ideal der reinen Vernunft,<br />
»welches von dem Weltbegriffe gänzlich unterschieden ist, ob es gleich<br />
darauf in Beziehung steht« 262 (vgl. das »ganze Denken in Ansehung eines<br />
dati überhaupt« [Refl. 4683] und andererseits deren Beziehung »zum<br />
Mannigfaltigen des Objekts in der Erscheinung« [K. r. V.,<br />
B 390 f./A 333 f.]). Die Tafel der kosmologischen Ideen selbst hat den<br />
hypothetischen Vernunftschluß, als dialektischer Vernunftschluß in der<br />
Exposition der Antinomie aber den disjunktiven Vernunftschluß zum<br />
logischen Leitfaden: Die »absolute Vollständigkeit der Entstehung einer<br />
Erscheinung überhaupt« 263 ist eindeutig gleichsinnig mit der Exposition<br />
der Totalität der hypothetischen Vernunftschlüsse zu verstehen; nämlich,<br />
indem diese »die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der<br />
Erscheinung zu ihrem Inhalt machen«. 264 — Der Unterschied besteht nur<br />
darin, daß Kant hier vom hypothetischen Vernunftschluß verlangt, die<br />
objektiven Bedingungen alle als in der Erscheinungsreihe enthalten zu<br />
denken, während die dritte kosmologische Idee zwar die absolute<br />
Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt denken zu<br />
können voraussetzte, aber nicht verlangt, daß alle objektiven Bedingungen<br />
auch aktuell in derselben Erscheinungsreihe enthalten sein müßten. Es<br />
handelt sich um einen Lapsus Kantens: Die Totalität der kosmologischen<br />
Idee ist schon in der Einleitung zu den Antinomien auf die Reihe<br />
empirischer Erscheinungen restringiert worden, während erst der<br />
dialektische disjunktive Vernunftschluß selbst die Bedingung der Totalität<br />
logisch unbedingt fordert — aber eben ohne insgesamt deren<br />
Enthaltensein in einer einzelnen Erscheinungsreihe zu verlangen. Die<br />
Bestimmung der Antiomie einmal anhand des hypothetischen<br />
Vernunftschlusses und einmal anhand des disjunktiven Vernunftschlusses<br />
führt zur Frage nach der Zeitbedingung. Ist die Zeit nun kontinuierlich<br />
261 B 432 f./A 405 f.<br />
262 B 435/A 408<br />
263 B 442/A 416<br />
264 B 433/A 406
— 412 —<br />
vergehend wie in der Sinnlichkeit, unterscheidbar und doch untrennbar<br />
verknüpft wie der Stoß mit der »Richtungsänderung« in der Mechanik,<br />
oder historisch. Oder schließlich in regressiver Betrachtung der Kette von<br />
Ursache und Wirkung oder der Zustände der Dinge?<br />
Die Eigentümlichkeit der kosmologischen Idee und deren Antinomie<br />
gegenüber den kategorialen, hypothetischen und disjunktiven<br />
Vernunftschlüssen der anderen transzendentalen Ideen war nun an der<br />
logischen Darstellung im Stück »Die Antinomie der reinen Vernunft«<br />
abzulesen: Zur Aufstellung der kosmologischen Antinomien benötigt Kant<br />
sowohl die Überlegung zu den Paralogismen der unbedingten Einheit aller<br />
Vorstellungen (ad 1), das Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges (ad 2), die Regression der empirischen Ursachen (ad 3) wie das<br />
Ideal der reinen Vernunft in der Dialektik zwischen der zum Weltbegriff<br />
oder schon zum einzelnen Gegenstand restringierten Totalität (ad 4).<br />
❆<br />
Die Ideenlehre Kants weist den transzendentalen Analogien der reinen<br />
Verstandesbegriffe der Kategorien präzise ihre systematische Stelle zu: die<br />
kosmologischen Ideen. So stellen sich die kosmologischen Ideen aus<br />
architektonischen Gründen der Ideenlehre für die Deduktion der<br />
Kategorien als entscheidend heraus: In den Antinomien wird das Ganze<br />
wieder wie in der metaphysischen Deduktion als alternative Totalität<br />
diskutiert, die schon in Refl. 4675 und Refl. 4683 im Übergang vom bloß<br />
subjektiven Ganzen zur objektiven Realität als einfaches Kriterium<br />
gefordert wird. Auch ist die kontinuierliche Zeitbedingung in der<br />
kosmologischen Idee der K. r. V. bereits eine der gemachten und zu<br />
machenden Erfahrung 265 eher zur Form der Sinnlichkeit oder der<br />
Konstruktionshandlung passend als für einen Erfahrungsbegriff im<br />
historischen Sinn. Ich verzichte hier darauf, weitere Parallelen zu den<br />
transzendentalen Ideen aufzuzeigen, wie sie insbesondere anhand der<br />
Entwicklung zu den kosmologischen Ideen im Kontrast zur theologischen<br />
Idee zu verfolgen interessant wären. 266 Vielmehr sind noch einige<br />
Betrachtungen darüber anzustellen, was näher unter der<br />
physischen Verbindung der Erscheinungen unter einander zu verstehen ist<br />
265 Die Reihe der Erscheinungen, die die empirische Ursachen enthalten, in der Thesis<br />
der dritten Antinomie<br />
266 B 442/A 416
— 413 —<br />
und wie, komplementär dazu, die metaphysische Verbindung im<br />
Erkenntnisvermögen abermals das Problem von Subjektivität und<br />
Objektivität bloß reproduziert — oder wie aus einer subjektiven Idee eine<br />
transzendentale Idee werden soll.<br />
c) Logische und analytische Definitionen<br />
Die Erscheinung ist das Gegebene, welches erst analytisch zerlegt werden<br />
muß, um die Erscheinung als Anschauung in der Wahrnehmung zu<br />
apprehendieren, worauf das Schema der — transzendentalen —<br />
Apprehension die Erscheinung im Konzept vom einzelnen Gegenstand<br />
erst als Objekt der Erfahrung zu apperzipieren erlaubt. Diese von mir<br />
schon seit Beginn herausgestellte Unterscheidung im Gebrauch des<br />
Begriffs von einer »Erscheinung« ist der Kantinterpretation zumeist erst<br />
anhand der Beschäftigung mit der Spätphilosophie Kantens bewußt<br />
geworden. 267 Diese variable Doppeltheit im Gebrauch des Begriffes von der<br />
»Erscheinung« drückt Kant schon im Duisburger Nachlaß folgendermaßen<br />
aus:<br />
»Sonst werden Erscheinungen durch die Zeit determiniert; in der Synthesis<br />
aber die Zeit durch eine Erscheinung z.E. dessen, was existiert oder<br />
geschieht oder zusammen ist.« 268<br />
Unter dem Titel der Mehrdeutigkeit der »Erscheinung« ist also auch die<br />
Mehrdeutigkeit der »Apprehension« befaßt, 269 die damit eben mit der<br />
doppelsinnigen Verwendung des Begriffs der »Zusammensetzung«, die<br />
einmal als compositio und einmal als nexus nach dem weiter oben<br />
gegebenen Zitat aus dem Brief an Tieftrunk bestimmt werden kann. In<br />
dem hier gegebenen Zitat ist aber offensichtlich eine Schleife eingebaut:<br />
Die Erklärung, daß die Zeit durch eine Erscheinung determiniert wird,<br />
267 »Die reine Anschauung des Mannigfaltigen im Raum enthält die Form des<br />
Gegenstandes in der Erscheinung a priori vom ersten Rang, d. i. direkte. Die<br />
Zusammensetzung der Wahrnehmungen, Erscheinung [...] zum Behuf der Erfahrung<br />
ist [...] indirekt und ist vom zweiten Range, Erscheinung von der Erscheinung [...].«<br />
(AA XXII, p. 367), »Der Gegenstand einer indirekten Erscheinung ist [...] ein solcher,<br />
den wir nur insofern aus der Anschauung herausheben, als wir sie selbst<br />
hineingelegt haben, d. i. insofern sie unser eigenes Erkenntnisprodukt ist.« (AA XXII,<br />
p. 340)<br />
268 Refl. 4684, AA XVII, p. 671<br />
269 Also einerseits zwischen Apprehension, Reproduktion und Rekognition in A und<br />
andererseits zwischen Apprehension, transzendentaler Apprehension und<br />
Apperzeption in B
— 414 —<br />
macht nicht deutlich, wie die »Erscheinung«, die zuerst bloß das subjektiv<br />
in der empirischen Apperzeption gegebene Phänomen ist, und erst deren<br />
erkennbaren Teile in der Synthesis der transzendentalen Apprehension,<br />
die die Vorstellung eines Raumes und einer Zeit erzeugt, 270 eine Stelle in<br />
der Zeit erhalten haben, 271 nun von der selben Erscheinung ihr eigenes<br />
Verhältnis zu anderen Erscheinungen in der Zeit bestimmt bekommen soll.<br />
Durch welche Synthesis die Bestimmung von »objektiver« Realität geleistet<br />
werden soll — nämlich die Bestimmung der Zeit durch das, was existiert<br />
(Beharrliches) und durch das, was geschieht (Ereignis), bleibt hier unklar<br />
oder scheint gleich wieder in einem Zirkelschluß zu münden. Damit<br />
würde nicht die »objektive Realität« unserer Vorstellungen erwiesen<br />
werden, sondern die Position, von wo aus die »objektive Realität« unserer<br />
Vorstellungen zu beurteilen ist, schon vorausgesetzt werden.<br />
Im Duisburgschen Nachlaß findet sich eine andere Variante zu dieser<br />
Problemstellung, die besser zum synthetischen Grundsatz paßt: »Durch<br />
die Regeln der Wahrnehmung sind die (Sachen) Objekte der Sinne<br />
bestimmbar in der Zeit; in der Anschauung sind sie als Erscheinung bloß<br />
gegeben. Nach jenen Regeln wird eine ganz andere Reihe gefunden, als die<br />
ist, worin der Gegenstand gegeben war.« 272 Das drückt in der Konsequenz<br />
eine zum vorhergehenden Zitat differenziertere Ansicht aus: Zwar sind die<br />
Erscheinungen, die durch die Zeit determiniert werden, jene, die in der<br />
Anschauung bloß gegeben werden, aber nicht die Erscheinungen<br />
bestimmen im Anschluß wiederum die Objekte der Sinne in der Zeit,<br />
sondern die Regeln der Wahrnehmung sollen das Objekt der Erscheinung<br />
gemäß der zeitlichen Form der Sinne bestimmen. 273 Hier sind die Regeln<br />
270 K. r. V., B 202/A 162<br />
271 Als reproduzierte Erscheinungen dann eben schon Vorstellungen<br />
272 Refl. A 4681, AA XVII, p. 666. Vgl. dazu K. r. V.: »Man siehet bald, daß, weil<br />
Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist, hier nur nach den<br />
formalen Bedingungen der empirischen Wahrheit gefragt werden kann, und<br />
Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den Vorstellungen der Apprehension, nur<br />
dadurch als das davon unterschiedene Objekt derselben könne vorgestellt werden,<br />
wenn sie unter einer Regel steht, welche sie von jeder anderen Apprehension<br />
unterscheidet.« (B 236/A 191)<br />
273 Vgl. dazu auch aus dem synthetischen Grundatz: »Wenn wir also erfahren, daß<br />
etwas geschiehet, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe,<br />
woraus es nach einer Regel folgt. Denn ohne dieses würde ich nicht von dem Objekte<br />
sagen, daß es folge, weil die bloße Folge in meiner Apprehension, wenn sie nicht<br />
durch eine Regel in Beziehung auf ein vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im<br />
Objekte berechtiget. Also geschieht es immer in Rücksicht auf eine Regel, nach<br />
welcher die Erscheinungen in ihrer Folge, d. i. so wie sie geschehen, durch den<br />
vorigen Zustand bestimmt sind, daß ich meine subjektive Synthesis (der
— 415 —<br />
auch als jene der bloßen compositio gegenüber denen des nexus zu<br />
verstehen: sinnliche Begriffe sind Titel der Anschauung, Regel der<br />
Wahrnehmung in der Erfahrung sind Titel der Erscheinungen. 274 Damit hat<br />
auch der Begriff der Erscheinung den Stellungswechsel als Begriff des<br />
Gegebenen zum Begriff der Wahrnehmung als Erscheinung des Objektes<br />
der Erfahrung schon hinter sich gebracht.<br />
❆<br />
Kant schlägt parallel dazu eine Brücke von der formalen Bedingung des<br />
inneren Sinnes zur allgemeinen Bedingung (im Sinne des<br />
Schematismuskapitels, bes. B 180 f.), indem er die Unterscheidung in<br />
formale und in allgemeine Bedingung als bloße Gegenüberstellung von<br />
Analysis und Synthesis vorstellt: »Die Regeln also der Auflösung der<br />
Erscheinungen sind eigentlich die Bedingungen der Apprehension,<br />
insofern sie von einer zur anderen übergeht und sie konjugiert.« 275 Mit<br />
dieser, die vorige Darstellung zweier Reihen (der in der Anschauungsform<br />
gegebenen Erscheinungen und der durch eine Regel bestimmten<br />
Vorstellungen, die Anschauung enthalten), unterbietende Vorstellung sind<br />
die Regeln in Abhängigkeit von den Definitionen von »Erscheinung« und<br />
»Apprehension« zu verstehen: Insofern es die Apprehension ist, die etwas<br />
konjugiert, wird sich das zweite »sie« im obigen Zitat nicht auf die<br />
Apprehension oder auf deren Bedingungen sondern auf die<br />
Erscheinungen beziehen. Diese aber müssen als gegebene Erscheinungen<br />
betrachtet werden, deren Analyse erst die Regeln der Apprehension gibt.<br />
Zunächst bedeutet das Konjugieren der Erscheinungen für sich nichts als<br />
die Indifferenz zwischen den Regeln des nexus und den Regeln der<br />
compositio ; erst schränkt man das Gegebenwerden auf die Kontinuität<br />
nicht nur des inneren Zeitsinnes sondern auch auf die Kontinuität der<br />
äußeren Sinnlichkeit ein, wird auch der Begriff der Regel auf die<br />
allgemeine Bedingung der formalen Bedingung (compositio ) beschränkt.<br />
Damit ist aber nicht nur die subjektive Bedingung der Erscheinungen,<br />
welche als Anschauungsformen a priori erkannt werden können (Raum<br />
und Zeit) den selbst subjektiven Bedingungen der empirischen Erkenntnis,<br />
Apprehension) objektiv mache, und, nur lediglich unter dieser Voraussetzung allein,<br />
ist selbst die Erfahrung von etwas, was geschieht, möglich.« (B 240/A 195)<br />
274 BENEDIKT 1977, . p. 261ff. p. 263: Refl. 4681, AA XVII. p. 666 f..<br />
275 Refl. 4678, AA XVII, p. 660 f.
— 416 —<br />
also der Apprehension in der Zeit überhaupt nach Bedingungen des<br />
innern Sinnes überhaupt gegenübergestellt worden, 276 sondern auch die,<br />
für sich freilich noch nicht befriedigende, aber entscheidende<br />
Unterscheidung von compositio und nexus betroffen. Die Unterscheidung<br />
des Zusammensetzens in compositio und nexus wird also auch als<br />
Unterscheidung im Konzept eines Begriffes negativ erkenntlich, sofern nur<br />
die ursprüngliche Komposition der Erscheinung die Möglichkeit der<br />
Dekomposition, also eines reinen analytischen Verfahrens besitzt. Deshalb<br />
ist nur jene Naturwissenschaft wirklich Wissenschaft, wenn sie ihre<br />
Verhältnisse auch quantitativ (mathematisch) zur Darstellung bringen<br />
kann. Das sagt nun nichts weiter über die physische Verbindung zwischen<br />
den Gegenständen der Erscheinungen selbst aus, macht aber doch den<br />
Mangel der einfachen Unterscheidung des Begriffs der Verbindung<br />
zwischen Erscheinungen vom Begriff der Verbindung zwischen<br />
Eigenschaften des Gegenstandes oder der Gegenstände untereinander<br />
gegenüber der transzendentalen Analytik deutlich: Kants Einsicht besteht<br />
darin, daß es kein befriedigendes Verfahren gibt, daß die Verhältnisse der<br />
Eigenschaften empirisch gegebener Gegenstände (Objekte) selbst als<br />
Verhältnisse in der Anschauungsform untersucht, sondern daß nur ein<br />
Verfahren möglich ist, welches zwischen Regeln der Zusammensetzung<br />
von Erscheinungen in der Anschauung , die der Dekomposition und<br />
Synthesis a posteriori der kontinuierlichen Anschauung entspringen (als in<br />
der Anschauung gegeben), und Regeln der Zusammensetzung<br />
in der Erfahrung , welche der Analyse der Bedingungen von Erfahrung<br />
entstammen (als mit der Anschauung gegeben), die eben nicht alle in der<br />
Kontinuität der äußeren Sinnlichkeit als Anschauungsform sondern bloß<br />
wieder in der Kontinuität des inneren Zeitsinnes fundiert sind, zu<br />
unterscheiden vermag. — Die eigentlich reine metaphysische Analytik,<br />
welche dem Satzsubjekt den Begriff sucht, welcher nicht selbst mehr in<br />
einem Satz als Prädikat verwendet werden kann, ist gleichfalls nicht die<br />
der Dekomposition von Erscheinungen eines Gegenstandes eines solchen<br />
Begriffes. Vielmehr bedarf der Begriff vom Objekt selbst der<br />
Verhältnisprädikate von Erscheinungen, um das transzendentale<br />
Objekt = X als unbestimmtes Ding an sich mit der limitierenden Negation<br />
aller Möglichkeiten weiter zum Begriff vom einzelnen Gegenstand zu<br />
bestimmen. Diese besondere Art von Verhältnisprädikate beziehen sich<br />
aber nicht auf bloße Erscheinungsverhältnisse, sofern darunter nichts als<br />
276 Vgl. Refl. 4675, AA XVII, p. 652 f.
— 417 —<br />
Verhältnisse möglicher Erscheinungen in der Anschauung zu verstehen<br />
sind, sondern sind mit dem Begriff des nexus hinreichend deutlich<br />
gekennzeichnet worden: Erst der Schluß auf die Kausalität der Objekte<br />
selbst, die den Erscheinungen zugrundeliegen (die physische Verbindung),<br />
kann dem Begriff eines einzelnen Gegenstandes (die metaphysische<br />
Verbindung) objektive Realität geben.<br />
Jedoch wird bei näherer Untersuchung ersichtlich werden, daß die<br />
regressive Reihe der Kausalität, welche Ort, Lage und Qualitäten eines<br />
einzelnen Gegenstandes letztlich, d. h. aus wirklichen Gründen bestimmt,<br />
wie auch die grammatikalische Analytik des kategorischen Urteiles zur<br />
metaphysischen Bestimmung, was der einzelne Gegenstand an sich selbst<br />
ist, verlassen werden muß; also die Regression auf die letzte bzw. auf die<br />
erste Ursache der Reihe in der Frage nach objektiver Realität des<br />
gegebenen Gegenstandes nicht entscheidend ist. Die Reihe der Regression<br />
der empirischen (Natur-)Ursachen wird also nicht nur mit dem Begriff<br />
vom intelligiblen Subjekt verlassen, von wo aus dem Einsatz der<br />
menschlichen Freiheit (Kausalität aus Freiheit mittels Kausalität durch<br />
Freiheit) die Möglichkeit offen gehalten wird, sondern schon mit dem<br />
Begriff von der Substanz. 277 Aber eben gilt nunmehr: Weder der einfachen<br />
Substanz noch der Wesentlichkeit der Merkmale des Begriffs von einem<br />
einzelnen Gegenstand kann selbst objektive Realität gegeben werden,<br />
sondern diese ist immer nur vermittelst der Art der Verbindungen der<br />
Eigenschaften, die in und mit den Erscheinungen gegeben werden, zu<br />
denken möglich.<br />
277 Vgl. Friedrich Kaulbach, Der philosophische Begriff der Bewegung, Köln, Graz 1965,<br />
ab p. 181. Vgl. auch die direkte Argumentation in der zweiten Anmerkung zur<br />
zweiten Antithesis der Antinomien der reinen Vernunft: »Es mag also von einem<br />
Ganzen aus Substanzen, welches bloß durch den reinen Verstand gedacht wird,<br />
immer gelten, daß wir vor aller Zusammengesetzung desselben das Einfache haben<br />
müssen; so gilt dieses doch nicht vom totum substantiale phaenomenon, welches, als<br />
empirische Anschauung im Raume, die notwendige Eigenschaft bei sich führt, daß<br />
kein Teil desselben einfach ist, darum, weil kein Teil des Raumes einfach ist.«<br />
(B 471/A 443) — Die Fortsetzung des Zitats führt in die nämliche Schierigkeit<br />
zwischen Ich und einfacher Substanz wie im Text angedeutet.
— 418 —<br />
§ 17 Die Allgemeinheit der Reflexionsformen im Urteil<br />
a) Das Gegebene, die Bedingung des Gegebenseins und das Prinzip<br />
Inzwischen ist hinreichend deutlich geworden, daß ein Begriff von einem<br />
Gegenstand, nur als Verstandesbedingung der Anschauung betrachtet,<br />
zwar auch mit den Kriterien des Ideals der reinen Vernunft<br />
übereingestimmt werden kann, obwohl nur das sinnlich Gegebene und<br />
dessen Verhältnisse, aber nicht deren Stellung in der Reihe der Ursachen<br />
betrachtet wird, aber gerade deshalb nicht die objektive Gültigkeit so ohne<br />
weiteres zugesprochen bekommen kann. Unabhängig davon aber kann<br />
ohne Anschauungsbedingungen der Begriff vom einzelnen Gegenstand<br />
auch nicht als Objekt der Erfahrung interpretiert werden. Der sinnlichen<br />
Empfindung wird demnach zwar transzendentalanalytisch die absolute<br />
Position der Realität überhaupt zugesprochen, was gemäß den<br />
Überlegungen zur Ersten metaphysischen Erörterung des Raumes die Idee<br />
vom Ding überhaupt (ontologisch als das bereits von sich Verschiedene<br />
und Distanzierte als Nicht-ich und bloß psychologisch als Grund der<br />
Störung des einfachen Gleichgewichts) mit sich bringt. Aber erst den<br />
Grundsätzen der Erfahrung anhand der Verhältnisse der sinnlichen<br />
Empfindungen untereinander gemäß der Ordnung der Erscheinungen in<br />
der Anschauung (also schon den Regeln im Sinne von compositio und von<br />
nexus gemäß) ist es demgegenüber möglich, das Ding überhaupt als die<br />
Grundlage des Begriffes vom einzelnen Gegenstand in einem in der<br />
Erscheinung gegebenen Objekt der Erfahrung auch in objektiver Realität<br />
zu denken.<br />
Schon in den Überlegungen im Duisburger Nachlaß findet sich die<br />
eigentümliche Stellung der formalen Bedingung wieder, einerseits<br />
gegenüber dem Ding überhaupt einer allgemeinen Bedingung der<br />
Verhältnisse der Erscheinungsprädikate untereinander im Begriff von<br />
einem einzelnen Gegenstand unterworfen zu werden (universalitas), 278<br />
andererseits gegenüber der allgemeinen Bedingung der durchgängigen<br />
Bestimmung eines Dinges als Allheit aller Prädikate hervorzutreten<br />
(universitas), 279 und zwar jeweils ohne eine Anschauungsform zu<br />
beanspruchen. Der Begriff des Formalen ist nicht nur darauf hin zu<br />
fixieren, ausschließlich als Form des Gegebenseins von Anschauung und<br />
278 B 600/A 572<br />
279 B 601 f./A 573 f
— 419 —<br />
Sinnlichkeit zu fungieren, wie schon aus der Überlegung, ob denn die<br />
formale Logik gegenüber der allgemeinen Logik einen eigenen<br />
Begründungszusammenhang zwischen Diskursivität und Intuitivität<br />
besitzt, hervorgegangen ist. Vielmehr ist das Formale auch zur<br />
Bezeichnung von Begriffsverhältnissen in Absehung von Inhalten in<br />
Gebrauch, ohne das aus diesem Gebrauch zu schließen wäre, die<br />
fraglichen Inhalte wären alle notwendigerweise ihrer Form nach auch<br />
gegeben. 280<br />
Im Kernstück des Duisburger Nachlasses scheint das Verhältnis von<br />
formaler und allgemeiner Bedingung im Verhältnis von aptitudo des<br />
Gegebenen zur Regel und vom Exponenten der Regel, der die Abhängigkeit<br />
des Prinzips von den Formen des Gegebenseins ausdrückt, diskutiert zu<br />
werden, ohne die formale Bedingung auf Formen der Anschauung<br />
zwangsläufig zu einzuschränken. Dabei wird der Exponent u. a. selbst<br />
nochmals als das Verhältnis des schon der Regel unterworfenen<br />
Gegebenen zum Prinzip der Regel (also nicht als Regel der formalen<br />
Bedingung der Erscheinung selbst) beschrieben. Kant erhebt im Zuge<br />
seiner Untersuchungen zwei Forderungen: Einerseits geht Kant von der<br />
Idee der Einheit der Apperzeption aus, und andererseits versucht er das<br />
Konzept des Exponenten regional zu spezifizieren. Für die hier<br />
stattfindende Untersuchung scheint der Einsatz mit der Refl. 4676 am<br />
geeignetsten zu sein. Zunächst wird eine Reflexion über die zwei Kriterien<br />
des »ich denke« in § 16 als Vorbild der transzendentalen Apprehension<br />
vorgestellt:<br />
»Wenn etwas apprehendiert wird, so wird es in die function der<br />
apperception aufgenommen. ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir.<br />
Dieses sind insgesamt verhältnisse, welche zwar nicht regeln der<br />
Erscheinungen gaben, aber machen, daß alle Erscheinungen als unter<br />
Regeln enthalten vorgestellt werden. Das Ich macht das Substratum zu<br />
einer Regel überhaupt aus, und die apprehension bezieht jede Erscheinung<br />
darauf.« 281<br />
280 Vgl. weiter oben § 16, b zum doppelten Ursprung der transzendentalen Idee als<br />
intelligible Anschauung der Vernunft (intuitus der notio): »Intuitus ist einzeln,<br />
conceptus ist repraesentatio per notam communem. Der Verstand ist hier die formale<br />
Ursache der Begriffe. Notio (conceptus intellectualis): wenn der Begriff auch dem<br />
Inhalte nach aus dem Verstande entspringt.« (Refl. 2836)<br />
281 AA XVII, p. 656
— 420 —<br />
Das heißt wohl soviel, wie daß die Regel der Zusammensetzung von<br />
Vorstellungen, die in § 16 erst ein Ich, das denkt, rechtfertigen konnte, jene<br />
»Regel überhaupt« ist. Dieses Urbild einer jeden weiteren Regel soll nun<br />
weiter bestimmt werden. In unmittelbarer Folge darauf versucht Kant die<br />
konstitutiven Verhältnisse einer Regel der Sinnlichkeit im reinen Verstand<br />
zum ersten Mal in einer Formel zu erfassen:<br />
»Zur Entstehung einer Regel werden drey Stücke Erfordert: 1. x. als das<br />
datum zu einer Regel (object der Sinnlichkeit oder vielmehr sinnliche reale<br />
Vorstellung), 2. a. die aptitudo zur Regel oder die Bedingung, dadurch sie<br />
überhaupt auf eine Regel bezogen wird. 3. b. der exponent der Regel.« 282<br />
Die Formulierung des ersten Bestimmungsstückes als Datum oder Objekt<br />
der Sinnlichkeit beinhaltet kein Bestimmungsstück der reinen<br />
Anschauungsform; aber der Ausdruck »sinnlich reale Vorstellung« zwingt<br />
zu bedenken, ob damit auch die formale Bedingung in diesem Sinne als<br />
mit eingeschlossen zu gelten hat. 283 Ist der Begriff a (als aptitudo zur Regel)<br />
ein Teil der — vollständigen — gegebenen Erfahrung X, dann sieht Kant<br />
zunächst keine Schwierigkeiten für synthetische Urteile überhaupt. 284 Im<br />
Duisburger Nachlaß wird das x nur teilweise voraussetzungslos als der<br />
Gegenstand gedacht, von dem Erfahrung gemacht wird, und die<br />
entscheidende Frage nach dem Verhältnis vom Begriff a und dem<br />
Erfahrungsganzen gestellt, die Kant in der Einleitung der K. r. V. schon<br />
gelöst zu haben verspricht. Hier wird eben das Verhältnis vom Begriff a<br />
und dem Ganzen der Erfahrung nochmals problematisiert, aber doch so,<br />
daß nach wie vor das x auch als transzendentaler Gegenstand vorkommt:<br />
»Wenn ich beide Prädikate auf das x referiere und dadurch aufeinander, so<br />
ist es synthetisch. [...] Wenn aber a von b in x nicht getrennt werden kann,<br />
282 l. c.<br />
283 cit. op., »Ist das x die Form der Sinnlichkeit oder das reale der Apperzeption?«,<br />
p. 657.<br />
284 Vgl. auch in der Einleitung zur K.r.V., A 8: »Nun ist hieraus klar: 1. daß durch<br />
analytische Urteile unsere Erkenntnisse gar nicht erweitert werden, sondern der<br />
Begriff, den ich schon habe, auseinandergesetzt, und mir selbst verständlich gemacht<br />
werde; 2. daß bei synthetischen Urteilen ich außer dem Begriffe des Subjekts noch<br />
etwas anderes (X) haben müsse, worauf sich der Verstand stützt, um ein Prädikat,<br />
das in jenem Begriffe nicht liegt, doch als dazu gehörig zu erkennen. Bei empirischen<br />
oder Erfahrungsurteilen hat es hiermit gar keine Schwierigkeit. Denn dieses X ist die<br />
vollständige Erfahrung von dem Gegenstande, den ich durch einen Begriff A denke,<br />
welcher nur einen Teil dieser Erfahrung ausmacht. [...].«
— 421 —<br />
e.g. kein x, was ein Körper ist, ist untheilbar, so ist zu sehen, daß das x,<br />
welches durch a gedacht wird, niemals durch non a könne gedacht<br />
werden, daß kein Wesen, was die Natur eines Körpers hat, niemals<br />
unkörperlicher werden könne und daß das a an sich selbst in Ansehung<br />
des x kein Prädikat sei, sondern mit ihm ein Wechselbegriff sei und also<br />
substantive gültig sei. [...] Wenn aber a und b nicht identisch sind, sie<br />
mögen nun bejahend oder verneinend gebraucht werden, und x ist durch<br />
den Begriff von a nicht ganz bestimmt gedacht, so sind a und b nicht in<br />
logischem, sondern realem Verhältnisse der Kombination, mithin nicht der<br />
Involution. Also ist ihr Verhältnis nicht durch ihre Begriffe an sich selbst,<br />
sondern vermittelst des x, wovon a die Bezeichnung enthält, bestimmt. 285<br />
Wie sind solche syntheses möglich?« 286<br />
Hier wird das (a), anhand des zuvor gegebenen Zitates als aptitudo (die<br />
Bedingung zur Regel) bezeichnet, im analytischen Urteil des gegebenen<br />
Beispieles als jener Begriff, der mich einen Gegenstand denken läßt,<br />
bezeichnet, und (b) als Prädikat, welches mich anweist, in welchen<br />
Erfahrungszusammenhang ich nun (a) zu denken habe. Eben diese<br />
Erfahrungsbedingung (b) des x ist nun die Bedingung, ob die Menge der<br />
sinnlichen dati überhaupt im Begriff a und seinem Erfahrungsganzen X<br />
analytisch gedacht werden können, oder ob das Merkmal in (b) nicht in<br />
der vom Begriff (a) bezeichneten Menge der sinnlichen dati enthalten ist.<br />
Kant wirft also zwei Fragen auf: Die Frage: Wie ist eine solche Synthesis<br />
möglich? hat zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens ist nicht<br />
selbstverständlich, daß es möglich sein muß, daß der Begriff eines Dinges<br />
ein weiteres Merkmal aufnehmen kann; es ist zuerst die Kompossibilität<br />
als das Nebeneinanderstehenkönnen von Prädikaten eines Dinges (!) zu<br />
entscheiden. Zweitens ist zu fragen, ob eine solche Erweiterung des<br />
Ganzen der Erfahrung (also einmal empirisch-synthetisch, einmal<br />
analytisch) nicht auf eine Regel bezogen werden können muß, welche die<br />
Form des Gegebenseins näher zu bestimmen und zu unterscheiden<br />
vermag:<br />
»Weil nun alles in der Zeit gegeben sein muß, sie also alles in sich befasset,<br />
so ist (b) ein actus (function) der apperzeption; nämlich das Bewußtsein<br />
des Subjekts, welches appercepiert, als desjenigen, was in der ganzen Zeit<br />
285 Offensichtlich ist a ein Begriff, der ein Teilmerkmal, der das ganze Objekt bezeichnet,<br />
enthält.<br />
286 Refl. 4676
— 422 —<br />
gegeben ist, ist notwendig damit verbunden, denn sonst würde die<br />
Empfindung nicht als zu mir gehörig vorgestellt werden.« 287<br />
Die formale Bedingung ist als aptitudo also nicht primär jene Form der<br />
Anschauung der Sinne, die dem gegebenen Objekt vorausliegt, 288 die,<br />
gleichwohl dieses bloß der Möglichkeit nach jener vorausliegt, zur<br />
Kontinuität der formalen Anschauung noch notwendigerweise die reine<br />
Möglichkeit des bloß aus dem Erscheinungsverhältnissen<br />
herauszuhebenden Begriff von der Beharrlichkeit anhand der Sinnlichkeit<br />
benötigt, 289 sondern vor allem die Bedingung der Diskursivität der<br />
Merkmale des Begriffes a. Das Prädikat b als Erweiterung des<br />
Erfahrungsganzen über den Begriff a hinaus hat zwar eine synthetische<br />
Funktion in der Apperzeption zu Grunde liegen (was in der ganzen Zeit<br />
gegeben ist und b), ist aber noch nicht selbst die erwartete empirischkonkrete<br />
Bestimmung des Erfahrungsganzen im Naturgesetz zur Einheit<br />
der ganzen Zeit im Bewußtsein des apperzepierenden Subjekts, in welcher<br />
nur jede Erfahrung gegeben werden muß, wie es oben in Refl. 4676<br />
geschieht. Die Zeitlichkeit des inneren Sinnes als Funktion der<br />
Apperzeption ist hier nun aber abstrakt der Exponent der allgemeinen<br />
Bedingung als Prinzip der Einheit des Bewußtseins selbst.<br />
b) Das Argument in der Grammatik<br />
Der Exponent der Regel ist nun unabhängig von dieser transzendentalen<br />
Bestimmung nichts als die bestimmte Anweisung der Regel auf ihren<br />
Geltungsbereich selbst; gilt eine Regel, sei sie nun auf Begriffsverhältnisse<br />
oder auf Verhältnisse formaler Anschauung bezogen, so gilt ein Exponent<br />
als Charakteristik eines bestimmten Verfahrens, der die Angemessenheit<br />
der anzuwendenden Regel für die aptitudo des Gegebenen wie der<br />
Angemessenheit der anzuwendenden Regel für die allgemeine Bedingung<br />
der Regel (dem Prinzip der Regel) ausdrückt. Der dazu gegebene<br />
Algorithmus bleibt allerdings zunächst auf die Ableitungen der<br />
grammatikalischen Form der Prädikatsverhältnisse in einem Urteil<br />
beschränkt: »Wir denken uns alles durch Prädikate, also ist jederzeit ein<br />
287 Refl. 4676, AA XVII, p. 656<br />
288 Vgl. Prol., § 13: Anschauung von etwas setzt aber immer schon etwas vor der<br />
Anschauung voraus.; gleichwohl liegt beiden die Anschauungsform subjektiv<br />
allgemein voraus.<br />
289 HEINRICH 1985, p. 90, Vaihinger: Aufhebung des Raumes widerspricht sich nicht<br />
(Notiz Kants in seinem Handexemplar der K. r. V.)
— 423 —<br />
Verhältnis zu x. In Urtheilen aber ist ein Verhältnis von a : b, welches<br />
beydes sich auf x bezieht. a und b in x, x vermittelst des a : b, endlich a + b<br />
= x.« 290<br />
Jedes Prädikat und jede Vorstellung bezieht sich auf x, aber eben bloß auf<br />
ein Ding überhaupt, nicht auf einen bestimmten einzelnen Gegenstand. In<br />
Urteilen besitzen i. a. sowohl Subjektbegriff wie Prädikatsbegriff ein<br />
eigenes Merkmal und bilden also das Verhältnis a : b, wobei beide Glieder<br />
sich auf das selbe Subjekt x, also auf eine möglich seiende Identität von<br />
Ungleichartigen, beziehen sollen (die Bestimmung des Gegebenen zum<br />
Gegenstand). Nun muß aber aus dem Text ein Grund gefunden werden,<br />
ob das »x« bloß das gegebene Datum ist (dessen innere Struktur wiederum<br />
zwischen Sinnlichkeit und Erfahrungsbedingung verborgen bleibt), oder<br />
doch schon das — transzendentale — Objekt selbst. Es gelte also in jedem<br />
Falle die Annahme, daß a in x und daß b in x. Diese Ausdrucke bedeuten<br />
nun nicht, daß der Begriff a oder der Begriff b in den Begriff x falle, wie in<br />
der logischen (syllogistischen) Subsumtion, weil »x« gar kein Begriff ist,<br />
der ein subordinierendes Merkmal zum Inhalt hat. Vielmehr halte ich hier<br />
bereits die transzendentale Beziehung von a und b auf ein x vorausgesetzt;<br />
und zwar unabhängig, ob unter dem x die (mögliche) ganze Erfahrung<br />
vom transzendentalen Objekt oder gleich dieses selbst gemeint ist. Die<br />
Formulierung »x vermittelst des a : b« ist nun ein deutlicher Hinweis, daß<br />
das »x« bereits als der Gegenstand des Urteils zu denken ist, da allein aus<br />
dem Verhältnis der Prädikate in einem Urteil nicht die vollständige<br />
Einteilung des Ganzen der Erfahrung von diesem Gegenstand erwartet<br />
werden kann. Vielmehr bleibt die Bestimmung des Verhältnisses von a : b<br />
gemäß der logischen Subsumtion übrig: welcher Begriff, a oder b, an der<br />
Stelle des Satzsubjekts, und welcher an der Stelle des Prädikates nach der<br />
Proportion der extensionalen Begriffsumfänge oder der intensionalen<br />
Bedeutungsumfänge zu stehen kommt. Die Proportion a : b ist hier der<br />
Exponent der Regel, die aber nur nach der Bestimmung der extensionalen<br />
Umfangsverhältnisse von Satzsubjekt und Prädikat als logische Form des<br />
Gegebenseins dann schon dem intensionalen Enthaltensein der Merkmale<br />
des höheren Begriffs im niedrigeren analytisch (begriffslogisch) oder<br />
synthetisch (aus der Erfahrung) vorhergeht.<br />
290 Refl. 4676, AA XVII, p. 656 f.
— 424 —<br />
Jedoch kann das x vermittelst von a : b nicht anders herausgehoben<br />
werden, wie schon vermittelst a oder b allein das x herausgehoben werden<br />
könnte. Es bleibt fraglich, wie diese Proportion dem bloß vorausgesetzten<br />
gemeinsamen x als der transzendentale Gegenstand eine Bestimmung<br />
hinzufügen können sollte. Der Ausdruck a + b bedeutet nun erst in Bezug<br />
auf x die Behauptung, daß a und b Eigenschaften des selben einzelnen<br />
Gegenstandes aussagen, weil zur Ganzheit der Erfahrung nicht nur die<br />
formale Bedingung als Einheit der Zeit der Erfahrung, sondern auch die<br />
aptitudo des Begriffes a, daß etwas in dieser Zeit sei, was Objekt der<br />
Erfahrung werden kann, gehört: Das x bleibt so in der Doppelrolle als<br />
(mögliche) Ganzheit der Erfahrung (alle möglichen Prädikate eines<br />
Dinges) und als das transzendentale Objekt = X der Erfahrung, dessen<br />
unvollständige Bezeichnung mit dem Subjektbegriff (a) nur die aptitudo<br />
zur Regel zum Vorschein bringt, welche das x mittels des a mit dem<br />
Prädikat b verbinden kann. Ob das a + b nun analytisch oder synthetisch<br />
zu deuten ist, kann daraus abermals nicht geschlossen werden.<br />
Das ist hier der Exponent der Regel: die Behauptung, daß a und b nicht<br />
bloß beliebig die Stellen in der Konjunktion von Prädikaten einnehmen,<br />
und daß a und b nicht in einem bloß problematischen Urteil als<br />
Eigenschaften eines einzelnen Gegenstandes ausgedrückt werden, sondern<br />
in ihrem S-P-Verhältnis apodiktisch in jedem wahren assertorischen Urteil<br />
gelten. 291 Der normative Gehalt, Satzsubjekt und Prädikat aus der<br />
Proportion der extensionalen Begriffsumfänge zu bestimmen, erscheint in<br />
diesem Beispiel als der Prinzip; daß diese Prädikate in der Erfahrung auf<br />
den Begriff von einem einzelnen Gegenstand überhaupt bezogen werden<br />
können, erscheint hier als die ursprünglicheaptitudo zur Regel. Allem<br />
Anschein nach ohne ausreichende Argumente wird im weiteren<br />
Zusammenhang dieser Überlegung auch die Synthesis nach einer Regel a<br />
priori beansprucht; und zwar mittels einer weiteren Bestimmung von (a)<br />
zur Regel des reinen Denkens des Objektes:<br />
»Die Synthesis enthält regeln des Denkens a priori, aber in so fern es auf<br />
obiecte bestimmt ist. Also ist darin 1. das reine Denken (a) und die Regel<br />
291 Vgl. das syntaktische Kriterium in der analytischen Urteilstheorie Leibnizens (1686):<br />
Schupp (22, 274 f.):»A ist B, wenn jedes A und ein B sich decken«, (22, 271 f.): »A sei<br />
das Subjekt, B das Prädikat, wenn B an die Stelle von A unbeschadet der Wahrheit<br />
substituiert werden kann.« C 325, 2. Satz: »ist, z.B. e>d, bedeutet, daß d an die Stelle<br />
von e substituiert werden kann.« (wobei > intensional zu lesen wäre), GI § 195, § 184:<br />
»jene, die sich decken, sind wechselseitig ineinander enthalten«
— 425 —<br />
desselben, 2. die Bedingung des obiects, d.i. unter der etwas als obiect zu<br />
denken gegeben ist (x) (oder gebracht wird), 3. die Bestimmung des<br />
Gedankens aus diesem Verhältnis (b).« 292<br />
Das (x) wird hier auf das sinnliche Datum ohne jede weitere eigene<br />
Bedingung des Erfahrungsganzen (der inneren Struktur des Datums)<br />
beschränkt; das (b) wird hier als das Verhältnis der Regel in (a) und der<br />
Bedingung des Gegebenseins eines Objektes in (x) bezeichnet. Die<br />
Funktion des Exponenten ist wohl ähnlich, wie weiter oben angeführt, aber<br />
nunmehr wird die Regel nicht zur Verbindung eines Prinzips mit dem<br />
Merkmal der Geeignetheit von etwas Gegebenen, unter dieses Prinzip<br />
gebracht zu werden, gebraucht, sondern nunmehr wird die Regel der<br />
Mannigfaltigkeit des reinen Denkens von (a) entnommen. Insofern wird<br />
zwar der Anspruch auf eine Regel der Synthesis auf richtige und selbst<br />
regelgerechte Weise erhoben, doch die Regel der Synthesis ist nur die des<br />
reinen Gegenstandes und somit nicht die gesuchte Synthesis, die nur a<br />
posteriori notwendig gemacht werden kann. — Abgesehen von der<br />
überhaupt bestehenden Schwierigkeit, zwischen synthetischem Urteil und<br />
analytischem Urteil ein für alle Mal zu unterscheiden (so auch an den<br />
Beispielen synthetischer Urteile a priori in der Geometrie ersichtlich), ist<br />
hier auch kein Grund ausfindig zu machen, zwischen einem synthetischen<br />
Urteil a posteriori und a priori verläßlich zu unterscheiden.<br />
In der Sammlung der logischen Vorlesungen Kants, bearbeitet und<br />
herausgegeben von Jäsche ist in den Vernunftschlüssen der Obersatz das<br />
Prinzip, der Untersatz der Exponent, um über eine bestimmte Art von<br />
Gegenständen oder über einen einen bestimmten einzelnen Gegenstand<br />
eine allgemeine Regel aussagen zu können (Konsequenz). Auf diese<br />
Auffassung vom Exponenten spielt Kant auch in den allgemeinen<br />
Aussagen zu den Vernunftideen in der Dialektik der ersten Kritik an. 293<br />
Die formallogische Interpretation des Exponenten folgt der obigen<br />
Erklärung nur äußerlich, auch bedarf das principium contradictionis im<br />
292 Refl. 4678, AA XVII, p. 661, vgl.dazu BENEDIKT 1977. p. 270<br />
293 Kant, Logik Jäsche, AA IX, p. 121, § 58, Wesentliche Bestandstücke der<br />
Vernunftschlüsse, Anmerkung:»Eine Regel ist eine Assertion unter einer<br />
allgemeinen Bedingung. Das Verhältnis der Bedingung zur Assertion, wie nämlich<br />
diese unter jener Steht, ist der Exponent der Regel. Die Erkenntniß, daß die<br />
Bedingung (irgendwo) stattfinde, ist die Subsumtion. Die verbindung desjenigen,<br />
was unter der Bedingung subsummiert worden, und der Assertion der Regel ist der<br />
Schluß.«
— 426 —<br />
Syllogismus eine weitere Bedingung. Im Untersatz (dem Exponenten) wird<br />
dem Prinzip aus dem Obersatz die Gattung des Objektes zugesprochen,<br />
also das Gegebene (a) für das Prinzip für tauglich erklärt. Im Schlußsatz<br />
fallen das transzendentale Objekt = X und das »x« als Erfahrungsganzes<br />
zusammen.<br />
§ 18 Der Exponent als der zureichender Grund der Konstitution des<br />
Begriffes vom Gegenstand in der Verstandeshandlung<br />
Eine andere Auswahl aus den Reflexionen 4674-4684 zeigt auch einen<br />
anderen Horizont der Entwürfe der Verhältnisse von a, b und x; nämlich<br />
die Beziehbarkeit dieses Entwurfes sowohl auf die Metaphysik der Logik<br />
wie auf die Psychologie des Gemüts. Dabei ergeben sich auch weitere<br />
Definitionen der zuvor eingeführten Glieder:<br />
»In der Erscheinung x also, worin a ein begrif ist, müßen außer dem, was<br />
durch a gedacht wird, Bedingungen seiner specificationen enthalten seyn,<br />
welche eine regel nothwendig machen, deren function durch b<br />
ausgedrückt wird. a kann nicht anders specifisch determinirt werden in<br />
der Zeit, wenn es geschieht, als vermittels einer Regel.« 294<br />
Es fällt auf, daß Kant hier gegen Ende seiner variierenden Überlegungen x<br />
wieder als Erscheinung behandelt. Abermals wird der Exponent (b) zur<br />
Spezifikation des Mannigfaltigen der Erscheinung (x) herangezogen.<br />
Unabhängig vom Mannigfaltigen des Erfahrungsganzen und unabhängig<br />
von jeder Anweisung durch den Begriff a kann dem Prinzip der Regel die<br />
Bedingung der Zeitlichkeit als Exponent gegeben werden. Zu untersuchen<br />
ist, ob weitere Bestimmungen des Exponenten nur mehr anhand der<br />
Mannigfaltigkeit des Gegebenen möglich sind. Es soll nun zunächst eine<br />
weitere den hier vorliegenden Kantschen Entwürfen nahestehende<br />
Interpretation und anschließend eine in diesen Entwürfen nicht intendierte<br />
Anwendung auf die Logik selbst vorgestellt werden.<br />
294 Refl. 4680, AA XVII, p. 665
— 427 —<br />
a) Hinsichtlich des Gemüts<br />
»Die Apperzeption ist das Bewußtsein des Denkens, das ist der<br />
Vorstellungen, so wie sie im Gemüte gesetzt werden. Hierbei sind drei<br />
Exponenten: 1. der Verhältnis zum Subjekt, 2. der Verhältnis der Folge<br />
untereinander, 3. der Zusammennehmung [...]« 295<br />
Es ist aus der Fortsetzung des obigen Zitates aus der Refl. 4674 zu<br />
entnehmen, wie (a) als aptitudo der Regel und wie (b) als Exponent durch<br />
die gegebenen Zitate zu interpretieren ist, aber nicht, woran die drei<br />
Exponenten sich näher unterscheiden: »Die Bestimmung von a in diesen<br />
momentis der Apperzeption ist die Subsumtion unter einen von diesen<br />
actibus des Denkens; man erkennt ihn als an sich selbst bestimmbar und<br />
also objektiv, nämlich den Begriff a, wenn man ihn unter eine dieser<br />
allgemeinen Handlungen des Denken bringt, vermittelst deren er unter<br />
einer regel kommt. Dergleichen Satz ist ein principium der Regel [...].« 296<br />
(a) als aptitudo der Regel ist also die Möglichkeit, den Namen a von x<br />
unter die Allgemeinheit der Handlung (actibus) des Denkens, d.i. erst<br />
unter einen Begriff zu bringen. Der Satz, der diese Handlung in einer<br />
allgemeinen Regel zum Ausdruck bringt, ist als Prinzip der Regel zu<br />
bezeichnen. Das ist soweit schon bekannt: »Weil nun alles in der zeit<br />
gegeben sein muß, sie also alles in sich befasset, so ist (b) ein actus<br />
(function) der Apperception; nämlich das bewußtseins, welches<br />
appercepiert, als dasjenigen, was in der ganzen Zeit gegeben ist, ist<br />
notwendig damit verbunden, denn sonst würde die empfindung nicht als<br />
zu mir gehörig vorgestellt werden«. 297 In diesem Zusammenhang ist nun<br />
noch die Bestimmung des Exponenten bedeutsam, nämlich den gegebenen<br />
und in a gedachten Vorstellungen die Zeitstelle zu bestimmen: »b<br />
[bedeutet] die allgemeine Funktion des Gemüts, dem a seine Stelle in [ihm]<br />
zu determinieren, also den Exponenten der Verhältnisse der [gegebenen<br />
Vorstellungen], mithin deren Stelle nach einer Regel zu bestimmen.« 298<br />
Zwar sagt zum letzten Zitat Klaus Reich nicht ganz zu unrecht, daß die<br />
»Stelle« nicht ein Begriff sei, der notwendigerweise die Begriffe des<br />
295 Refl.4674, AA XVII p. 647; Klaus Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen<br />
Urteilstafel, Hamburg, 31986 p. 68<br />
296 AA XVII, p. 647<br />
297 Refl. 4676, AA XVII, p. 656<br />
298 cit. op., p. 655,
— 428 —<br />
Raumes oder der Zeit voraussetzt, doch hat Reich im vorhergehenden<br />
Zitat die Stellen, die auf die Zeitlichkeit nicht nur der Handlung, sondern<br />
auch des mediums, welches die Vorstellungen, die a gibt, verweist,<br />
herausgestrichen. 299 — Die aptitudo zur Regel ist in diesem Zusammenhang<br />
also nichts als die Möglichkeit der sinnlich gegebenen Empfindungs-<br />
Komplexionen, die mit der Vorstellung von a verbunden werden können,<br />
dem Schema des Exponenten einer Regel zu gehorchen, welches für das<br />
ganze x gelten können muß. Dem gegenüber soll die allgemeine Funktion<br />
des Gemüts, in welchem die Empfindungskomplexion mit dem<br />
Bedeutungssyndrom 300 in Verbindung kommt, vom Exponenten der Regel<br />
erst die »Stelle« bestimmt bekommen: »1. der Verhältnis zum Subjekt, 2.<br />
der Verhältnis der Folge untereinander, 3. der Zusammennehmung«. 301<br />
Die vom Exponenten bestimmte Stelle als Zugehörigkeit zu einer der<br />
transzendentalen Ideen überhaupt zu verstehen, entspricht durchaus der<br />
Textlage; es kann aber nicht der Aufmerksamkeit entgehen, daß »das<br />
Verhältnis der Folgen untereinander« dazu bestimmt ist, den gegebenen<br />
Vorstellungen in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen daseiender<br />
Objekte die Stelle in der Zeitreihe zu bestimmen. Der Exponent als<br />
Zeitbedingung des Bewußtseins hatte im ersten Schritt 302 noch allein die<br />
Zugehörigkeit der Vorstellungen zu einem als in der »ganzen Zeit«<br />
gegebenes identischen Bewußtsein zum Thema. Nunmehr stellt sich im<br />
nächsten Schritt doch die Frage nach der objektiven zeitlichen Bedeutung<br />
der zu bestimmenden »Stelle« der Vorstellungen im Bewußtsein. Im<br />
Duisburger Nachlaß kann die dritte transzendentale Idee der<br />
Zusammennehmung überhaupt der Untersuchung zugrundegelegt<br />
werden; diese wird, wie bekannt, ebenfalls bis zum Problem der<br />
Bestimmbarkeit des Einzelfalles geführt: »Eine Regel ist eine Assertion<br />
unter einer allgemeinen Bedingung. Das Verhältnis der Bedingung zur<br />
Assertion, wie nämlich diese unter [!] jener steht, ist der Exponent der<br />
Regel.« 303<br />
Hier wird die Regel selbst als die Assertion, also nur in der Anwendung<br />
auf den gegebenen Einzelfall stehend, aufgefaßt, und das Allgemeine einer<br />
299 REICH 1986, p. 69<br />
300 BENEDIKT. 1977, p. 267, Refl. 4678, AA 660 ff.<br />
301 Vgl. Refl. 4674<br />
302 Refl. 4676, AA XVII, p. 656<br />
303 REICH 1986, p. 66, Refl. 3202
— 429 —<br />
jeden Regel der möglichen Einzelfälle, die unter diese Regel fallen, der<br />
Assertion als Prinzip gegenübergestellt. Der Exponent wäre dann wieder<br />
als das Verhältnis der »allgemeinen Bedingung« als das Prinzip der Regel<br />
zur Möglichkeit (aptitudo ) des Gegebenen der Assertion (insofern das<br />
Gegebensein selbst als formale Bedingung) zu denken. Der Einzelfall ist<br />
bereits als Benennung einer Vorstellungskomplexion aus dem<br />
Erfahrungsraum x zum Bedeutungssyndrom geworden und bleibt als<br />
»Ereignis« der systematischen Unterscheidung in Wahrnehmungsurteil<br />
und Erfahrungsurteil gegenüber indifferent, obwohl aus den Attributen<br />
des Erfahrungsraumes und der »ganzen Zeit« des identischen Bewußtseins<br />
anzunehmen ist, daß Kant in seiner vorläufigen Untersuchung des<br />
synthetischen Urteils eher von der Vorstellung eines Erfahrungsurteiles als<br />
von der Vorstellung eines Wahrnehmungsurteiles ausgegangen ist.<br />
Erst nach der erfolgten Abstraktion vermag das Kalkül von aptitudo und<br />
Exponent im Rückblick von der Kritik der reinen Vernunft aus ein Modell<br />
der Synthesis der bislang nur getrennt in den Blick der Untersuchung zu<br />
bringenden Weisen von Synthesis des Wahrnehmungsurteiles (als Prinzip<br />
des Gegebenen) und des Erfahrungsurteil (als Prinzip des Grundes)<br />
vorstellen lassen: nämlich erstens die Synthesis im Wahrnehmungsurteil<br />
entsprechend des ersten Schrittes in der Untersuchung des Schematismus<br />
der reinen Verstandesbegriffe als die allgemeine Regel der formalen<br />
Bedingung des inneren Sinnes, in welcher die Regeln eines in reiner<br />
Anschauung Gegebenen (des Zweckes jeder Anschauung) der Möglichkeit<br />
nach in der Zweckmäßigkeit der Mathematik 304 schon als enthalten zu<br />
denken sind (compositio) 305 und zweitens die Synthesis im Erfahrungsurteil<br />
entsprechend des zweiten Schrittes als allgemeine Regel der allgemeinen<br />
Bedingung der Objekte der gegebenen Erscheinungen (Erscheinung der<br />
Erscheinungen) 306 im erfahrenden Gemüt (nexus). Die im Duisburger<br />
Nachlaß formulierte Problemstellung bis zur Doktrin der transzendentalen<br />
Einbildungskraft durchzutragen habend, vermöchte ich also das Problem<br />
der transzendentalen Subsumtion etwa wie folgt formulieren: Im<br />
jeweiligen Verhältnis dieser allgemeinen Bedingungen der Regel (also<br />
jeweils Wahrnehmungsurteile wie Erfahrungsurteile auch nach aptitudo<br />
und Exponent betrachtet) zur angewendeten Regel im Einzelfall der<br />
Assertion (also diesmal an jener Stelle in der objektivierenden Synthesis,<br />
304 K.d.U., § 62<br />
305 K. d. V., B 181<br />
306 Refl. 4681, AA XVII, p. 666 f.
— 430 —<br />
die K. Reich vermutet hat) sei nun erst die vollständige Definition der<br />
Exponenten der Assertion zu finden möglich. — Hier werden eindeutig<br />
die Problemstellungen der »transzendentalen Logik« angerissen, die im<br />
Duisburger Nachlaß nicht gelöst werden können, weil die Frage nach dem<br />
Ursprung der Regel des Exponenten zwischen dem gegebenen<br />
Mannigfaltigen und dem Prinzip unentschieden geblieben ist. 307<br />
b) Hinsichtlich der Struktur der transzendentalen Reflexion überhaupt<br />
Es liegt nahe, unter der Bestimmung des Exponenten überhaupt die<br />
transzendentale Reflexion zu verstehen. Der unterstellten Erklärung des<br />
behaupteten Unterschiedes von Wahrnehmungsurteil und<br />
Erfahrungsurteil als Weiterbestimmung der drei Arten von Exponenten<br />
kommt man auf diese Weise aber nicht näher, sondern wird vorausgesetzt:<br />
»Weil aber, wenn es nicht auf die logische Form, sondern auf den Inhalt<br />
der Begriffe ankommt, d.i. ob die Dinge selbst einerlei oder verschieden,<br />
einstimmig oder im Widerstreit sind etc., die Dinge ein zwiefaches<br />
Verhältnis zu unserer Erkenntniskraft, nämlich zur Sinnlichkeit und zum<br />
Verstande haben können, auf diese Stelle aber, darin sie gehören, die Art<br />
ankommt, wie sie zueinander gehören sollen: so wird die transzendentale<br />
Reflexion, d.i. das Verhältnis gegebener Vorstellung zu einer oder der<br />
anderen Erkenntnisart, ihr Verhältnis untereinander allein bestimmen<br />
können, und ob die Dinge einerlei oder verschieden, einstimmig oder<br />
widerstreitend seien etc., wird nicht so fort aus den Begriffen selbst durch<br />
bloße Vergleichung (comparatio), sondern allererst durch die<br />
Unterscheidung der Erkenntnisart wozu sie gehören, vermittelst einer<br />
transzendentalen Überlegung (reflexio) ausgemacht werden können.« 308<br />
Die Grundoperation des Denkens als Verstandestätigkeit ist demnach das<br />
Vergleichen von Begriffen. Hier ist auf die universielle Interpretierbarkeit<br />
von aptitudo und Exponent hinzuweisen: Die transzendentale Reflexion hat<br />
noch die comparatio vorausliegen, das bloße Vergleichen von Begriffen geht<br />
der Bestimmung der Bedingungen, um den Satz vom Widerspruch<br />
überhaupt anwenden können, voraus. Auch hier lassen sich die<br />
(intensionalen) Verhältnisse der Begriffsteile (Begriffsmerkmale) als<br />
307 Vgl. hiezu die Behandlung der Regel in der Reproduktion und in der Rekognition in<br />
der ersten Fassung der K.r.V..<br />
308 Von der Amphibolie der Verstandesbegriffe:, B 318
— 431 —<br />
aptitudo und der Satz vom Widerspruch als logischen Exponenten<br />
darstellen. (Diese Interpretation ist bemerkenswerterweise in der formalen<br />
Konsequenz vergleichbar mit dem Gegensatz zur metaphysischen<br />
Interpretation der logischen Prinzipien, also der Interpretation des<br />
transzendentalanalytischen Untersuchungsganges zur Logik: auch dort ist<br />
die Anwendung des Satzes vom Widerspruch erst die Konsequenz; vgl.<br />
den Fortgang dieser Punktation). Dem Satz vom Widerspruch ist schon<br />
von Leibniz die Beziehbarkeit der Aussagen auf wirklich Mögliches (das<br />
Mittlere zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit = Kontingenz) 309<br />
vorausgesetzt worden. 310 Insofern sind demnach die Kategorien hier das<br />
erste Prinzip (reflexio), principium contradictionis als zweites Prinzip der<br />
Exponent , und die Vergleichbarkeit der Begriffsmerkmale (comparatio ) 311<br />
die aptitudo der gegebenen Mannigfaltigkeit. Um empirische Begriffe nicht<br />
nur zu vergleichen, sondern auch auf Widersprüchlichkeit ihrer<br />
Zusammensetzung zu untersuchen, bedürfen diese eben eine kategoriale<br />
Deduktion. Allerdings finden sich bei Leibniz wie bei Kant auch<br />
überzeugende Stellen, die den Satz vom Widerspruch traditionell der<br />
metaphysischen Untersuchung analytisch voraussetzen. Dies dürfte aber<br />
vor allem ein Problem der Wahl der Perspektive der transzendentalen<br />
Überlegung zu sein: so findet Kant auch nicht die richtige Formulierung,<br />
zwischen Widersprüchlichkeit empirischer Konzepte und logischen<br />
Widersprüchen in der Deduktion des transzendentalen Schematismus mit<br />
letzter Deutlichkeit zu unterscheiden.<br />
c) Hinsichtlich der metaphysisch (rational) begründeten Logik:<br />
In den verschiedenen Metaphysiken (Logiken) behandelt Kant nun zwei<br />
Prinzipien der Logik der Wahrheit, die mit den zwei Abschnitten der<br />
Urteilsreflexion aus dem Duisburger Nachlaß übereingestimmt werden<br />
können. Die Beziehung des Denkens auf Wahrheit im Sinne von<br />
Erkenntnis hat für sich gleichfalls zwei Bedingungen. Die erste Bedingung:<br />
Der Satz vom Widerspruch als das Prinzip des Denkens von der logischen<br />
Möglichkeit. Die zweite Bedingung ist der Satz vom zureichenden Grund<br />
(als das Prinzip des Denkens der realen Möglichkeit). Aber auch hier wird<br />
deutlich, daß mit dem Verlassen der logischen Denkmöglichkeit das<br />
309 Man beachte den Unterschied diesbezüglich zwischen Aristoteles und Leibniz.<br />
310 Vgl. zunächst die »24 Sätze« Leibnizens, Gerhardt, Bd. VII, Kap. VIII, p. 289 ff<br />
311 Beachte für die auch der Diairesis vorausgesetzen comparatio die für die<br />
Vergleichung grundlegende Unterscheidung von disparat und verschieden bei Leibniz,<br />
GP VII., p. 225, p. 237.
— 432 —<br />
Denken bloß ins konkrete subjektive Bewußtsein entlassen wird und dann<br />
erst das Problem ansteht, wie man zum objektiven Bewußtsein gelangt:<br />
»Subjective Wahrheit ist Übereinstimmung mit den Gesetzen des<br />
Verstandes und der Vernunft« 312<br />
»Ist die Rede vom Criterio der Wahrheit, so kann es hier nur bestehen in<br />
der Übereinstimmung des Erkenntnisses mit der Regel des Verstandes<br />
überhaupt.« 313<br />
»Die Logik hat nur mit der Zusammenstimmung der erkenntnis mit sich<br />
selbst so wohl nach dem principio contradictionis als rationis zu thun.« 314<br />
Obwohl in diesen beiden Zitaten bereits von Erkenntnisse gehandelt wird,<br />
bleibt offen, ob schon die »subjective Wahrheit«, von der Kant in der<br />
Wiener Logik ausdrücklich spricht, wirklich verlassen werden konnte.<br />
»Die Formale wesentliche Kentniße der Wahrheit a.) eine Kentniß muß<br />
möglich seyn, dies ist ein negatives Kriterium, b.) eine Erkentniß muß<br />
gewißerweise gegründet seyn.« 315<br />
»Die Regeln der Übereinstimmung der Erkenntniße mit sich selbst sind 1.)<br />
der Satz des Widerspruches und 2.) der Satz des zureichenden<br />
Grundes.« 316<br />
»Das erste Kriterium der Wahrheit (nach dem Satz des Widerspruchs) [...]<br />
Das zweite Prinzip ist der Satz des zureichenden Grundes.« 317<br />
Das erste Zitat aus der Logik Busolt läßt anscheinend ausdrücklich eine<br />
Weise von Begründetsein zu, welche nicht notwendig anders nicht sein<br />
könnte. Ausgehend von der rein modallogischen Behandlung des Dinges,<br />
das selbst zufällig ist und woraus doch aus den zufälligen<br />
Prädikatsverhältnissen desselben eine Regel der Verknüpfung aus dem<br />
Gegensatz zu entnehmen sein sollte, wie sie Kant in der sogenannten<br />
312 Wiener. Logik, AA XXIV, p. 833<br />
313 Logik Pölitz, AA XXIV, p. 527<br />
314 Refl. 2142, AA XVI, p. 250<br />
315 Logik Busolt, AA XIV, p. 629<br />
316 l. c.<br />
317 Logik Dohna-Wundlacken, AA XIV, p. 719
— 433 —<br />
»vorkritischen« Zeit und noch in den Siebziger Jahren vorgestellt hat, 318<br />
will ich zu den genannten zwei logischen Prinzipien auf folgenden<br />
Hintergrund aufmerksam machen:<br />
Zum ersten »logischen« Prinzip: Vgl. in der Nova dilucidatio: Nicht eine<br />
Ursache, sondern die bloße Denkunmöglichkeit des Gegenteils ist der<br />
Grund eines unbedingten Seins (prop. VI). Kant verlegt hier letztlich das<br />
unbedingte Sein in das Denken im Sinne des logischen Urteilens, indem er<br />
hier in der Negation zwischen Erkenntnisgrund und Seinsgrund nicht<br />
unterscheidet.<br />
Zum zweiten »logischen« Prinzip: Vgl. in der Widerlegung des<br />
ontologischen Gottesbeweises: Nicht nur der Grund, warum eher das ist,<br />
als jenes, sondern auch der Grund, weshalb eher etwas als nichts ist, ist<br />
gegenüber der bloß logischen Möglichkeit real nur zufällig. 319<br />
»Es ist etwas überaus Merkwürdiges, daß, wenn man voraussetzt, etwas<br />
existiere, man der Folgerung nicht Umgang haben kann, daß auch irgend<br />
etwas notwendigerweise existiere. Auf diesem ganz natürlichen (obzwar<br />
darum noch nicht sicheren) Schlusse beruhete das kosmologische<br />
Argument. Dagegen mag ich einen Begriff von einem Dinge annehmen,<br />
welchen ich will, so finde ich, daß sein Dasein niemals von mir als<br />
schlechterdings notwendig vorgestellt werden könne, und daß mich nichts<br />
hindere, es mag existieren, was da wolle, das Nichtsein desselben zu<br />
denken, mithin ich zwar zu dem Existierenden überhaupt etwas<br />
Notwendiges annehmen müsse, kein einziges Ding aber selbst als an sich<br />
notwendig denken könne. Das heißt: ich kann das Zurückgehen zu den<br />
Bedingungen des Existierens niemals vollenden, ohne ein notwendiges<br />
Wesen anzunehmen, ich kann aber von demselben niemals anfangen.« 320<br />
Kant sieht hier offenbar keine reelle Möglichkeit, die Frage, warum das<br />
eine und nicht das andere ist, einer prinzipiellen Erörterung zuzuführen.<br />
Aber auch nach dem Grund, warum eher etwas ist als nichts, kann nur<br />
analytisch-regressiv im Rückgang von einem bereits existierenden Etwas<br />
gefragt werden und versäumt die Möglichkeit, diese Frage aus einem<br />
obersten Prinzip abzuleiten, bereits von je her. Kant zeigt nun, daß eben<br />
318 Vgl. hier den zweiten Abschnitt (B), I., 2.<br />
319 Leibniz, »Die vierundzwanzig Sätze«, GP p. 289<br />
320 K.r.V., B 643 f./A 615
— 434 —<br />
diese Möglichkeit als bloße Denkmöglichkeit nur transzendentaler Schein<br />
ist. Das Prinzip des zureichenden Grundes ist aber nicht nur nicht<br />
imstande, allein den Ausgangspunkt des Seins oder der Vernunft zu<br />
sein, 321 sondern, wie in den Antinomien der kosmologischen Idee<br />
gelegentlich zu zeigen sein wird, auch außerstande, den Regressus auf die<br />
Bedingungen des Existierens zu vollenden.<br />
Kant hat in der Analytik in der K.r.V. demgegenüber wie gegenüber der<br />
Aussage in der Nova dilucidatio den Erkenntnisvermögen deutlich die<br />
Kategorie der Kausalität als Prinzip der Erfahrung zugrunde gelegt;<br />
allerdings: nur unter der Bedingung der Einschränkung auf mögliche<br />
Erfahrung erhält die kontingente Geltung des Satzes von Grund und Folge<br />
eine vom Zufall unterscheidbare Bestimmung, während die reine<br />
kategoriale Bestimmung des Zufalls selbst bloß dem Satz vom<br />
Widerspruch nicht widerspricht — allerdings zuerst allein unter der<br />
Voraussetzung des Kompossibilitätsprinzip betrachtet. 322 — Demgemäß<br />
und nach den Logiken aber wäre (x) die Kenntnis oder Erkenntnis, also die<br />
Wahrheit, deren Rechtfertigung allein durch Gesetze der Logik gesucht<br />
wird. D.h., nicht die Kenntnis quid facti wird behandelt, sondern nur<br />
deren Wahrheit soll erwiesen werden — allerdings hier nur im Rahmen<br />
der »rationalen« Logik. (a) ist dann die negative Möglichkeit, der Satz vom<br />
Widerspruch als das der Logik zugrundeliegende formale Prinzip des<br />
Vergleichens von Begriffssystemen und insofern die aptitudo der<br />
gegebenen Kenntnis zur Regel: das als Wahrheit zu rechtfertigende<br />
Gewußte (Kenntnis) muß widerspruchsfrei sein, was gegenüber bloß<br />
reproduktiv zusammengenommener Assoziation (die selbst keiner<br />
Wahrheit fähig ist) die Bedingung ist, als Denkmöglichkeit überhaupt erst<br />
321 Zunächst ist zwischen Satz vom zureichenden Grund und dem Satz vom<br />
ununterscheidbaren Unterschied zu unterscheiden und erst dann zwischen dem Satz<br />
vom zureichenden Grund und dem Satz vom Widerspruch. Leibniz, Die<br />
vierundzwanzig Sätze, GP VII, p. 289 ff. — Demzufolge ist der Unterschied vom Satz<br />
vom Widerspruch und vom Satz vom ausgeschlossenen Dritten allein<br />
grammatikalisch-logisch nicht zu erklären. Mit dem Satz vom ausgeschlossenen<br />
Dritten dürfte einerseits schon das Kontinuitätsprinzip der mathematisch-logischen<br />
Formalwissenschaft (an Stelle des Kompossibilitätsprinzipes) gegeben worden sein,<br />
während derselbe andererseits bei Aristoteles im Problem der Aussagen über<br />
zukünftige Ereignisse aufgehoben wird.<br />
322 Schon Leibniz unterscheidet im Prinzip der Kompossibilität das Prinzip des<br />
Zugleichseins und das Prinzip des Widerspruches. Nochmals anders unterscheidet<br />
Kant letztlich in der ersten Kritik die Anwendungsbedingungen des principium<br />
contradictionis in die der Wesenslogik und in die der Aussagenlogik im<br />
transzendentralen Schematismus. Vgl. hier den dritten Teil des vierten Abschnittes.
— 435 —<br />
als Erkenntnis (Wahrheit) erwiesen werden zu können. (b) ist demnach der<br />
Exponent als das Verhältnis des Prinzips der Regel (dem Satz vom<br />
zureichenden Grund) 323 zu der allgemeinen Möglichkeit des Gebbaren,<br />
unter eine Regel der Assertion gebracht zu werden: im Rahmen des auf die<br />
verfließende Zeit erweiterten Kompossibilitätsprinzips eben den Satz von<br />
Grund und Folge durch den Satz vom Widerspruch weiterbestimmend<br />
zum Satz vom zureichenden Grund.<br />
d) Hinsichtlich der doppelten Struktur des zureichenden Grundes im<br />
transzendentalen Schematismus:<br />
Wie bereits im ersten Teil des zweiten Abschnitts und auch hier schon<br />
festgestellt worden ist, wird aber die Relation der Kausalität, die zweifelos<br />
eine Interpretation der Beziehung von Grund und Folge ist, nicht durch<br />
das Kompossibilitätsprinzip im Rahmen der Charakteristik des<br />
Zugleichseins, was der Geltung des Satzes vom Widerspruch für<br />
Objektaussagen vorausgesetzt ist (und nicht umgekehrt), oder durch ein<br />
Kompossibilitätsprinzip im Rahmen der Charakteristik der verfließenden<br />
Zeit gerechtfertigt, sondern der zureichende Grund in der Interpretation<br />
des Kausalitätsprinzips (als Relationsbegriff und nicht als Grundurteil)<br />
wird zur Bedingung der Anwendung des Satzes vom Widerspruch auf<br />
empirische Aussagen: Es ist also das Kausalitätsprinzip (als Relation) der<br />
zureichende Grund, die Kompossibilität der Objekte im Zugleichsein und<br />
in der verfließenden Zeit in zufällige (nur dem Satz vom Widerspruch<br />
gehorchend) oder in gesetzmäßige Abläufe des Geschehens (nunmehr:<br />
Kausalität als Determination) diskriminieren zu können. Diese<br />
Weiterbestimmung zur Alternativität sollte also in Hinblick auf die erste<br />
Kritik folgendermaßen gedacht werden: Das Gegebene (datis in Beziehung<br />
323 Der Satz vom zureichenden Grund und der Satz von Grund und Folge: Eine andere<br />
Interpretation dieses Satzes geht von der Frage aus, wie der Grund, als das den<br />
Ungrund in seiner Abgründigkeit Verbergende jeweils von uns aus gesehen letzte<br />
Ereignis, mit der Folge beliebiger Erscheinungen zusammenkommt. Vergleiche auch<br />
§ 15 (K. r. V.): Vereinigung von Einheit und Mannigfaltigkeit (als Vorstellungen)<br />
ergibt Verbindung. — Unter der Voraussetzung der Zeitlichkeit geht es um die<br />
Interpretation folgender Formel in zwei Richtungen: {a,b,c,d,...}={x,x,x,x,...}. Geht<br />
man vom x aus, bleibt die Frage, wie kommt es zum Gewinn der Bestimmungen.<br />
Geht man von a aus, bleibt die Frage, wie kommt es zum Verlust der Bestimmungen.<br />
Zwischen Komprehension und Abstraktion stellt sich die Frage nach dem Grund<br />
noch verwickelter, als hier angedeutet; hier ist bloß formal nach dem Grund des<br />
Überganges von einer Reihendarstellung zur anderen gefragt. — Grund und Folge<br />
(Vgl. Bolzano, Wissenschaftslehre, zweites Buch, zur Unverträglichkeit der Sätze<br />
und zum Verhältnis der Relation logischer Ableitung und der Relation kausaler<br />
Folgesätze)..
— 436 —<br />
auf das transzendentale Objekt = X) wird zwar in der objektiven Zeit<br />
gegeben, aber im inneren Sinn vorgestellt und in der Apperzeption<br />
gedacht, wozu das principium contradictionis zur Möglichkeit einer<br />
Erkenntnis notwendig ist. Der Grund der Verknüpfung der Vorstellungen<br />
und Gedanken zu empirischer Erkenntnis liegt jedoch in der objektiven<br />
Zeit und ist »mit« (nicht ausschließlich »in«) der Anschauung gegeben.<br />
Dieser Grund wird von den Verstandesbegriffen bzw. Kategorien der<br />
dynamischen Grundsätze allgemein ausgesagt, und ist für die synthetische<br />
Metaphysik der Erkenntnisbedingungen der zureichende Grund.<br />
Der Grund der Verknüpfung von Prädikaten in der Zeit setzt nun, wie<br />
bereits gesagt, überhaupt die logische Regel der Sukzessivität voraus,<br />
Prädikate ein und desselben Dinges, die zugleich geltend kontradiktorisch<br />
entgegengesetzt wären, in der Zeit zu verbinden. Das wurde im zweiten<br />
Abschnitt, I (»Die Zeitbedingung der Wahrheit«) als sprachliche<br />
Eigenschaft ausführlich genug vorgestellt. Nicht die empirischen Inhalte<br />
der Anschauung überhaupt (worunter auch bloße Empfindungen<br />
verstanden werden könnten) oder deren Stellung in der Zeitreihe, sondern<br />
die Beziehungen derselben auf einen äußerlichen Gegenstand ist die<br />
hinzutretende Bedingung zur Bestimmung des Wechsels der<br />
Erscheinungen zur Sukzessivität gemäß dieser logischen Regel der<br />
Verknüpfung von zugleich entgegengesetzten Erscheinungen in der Zeit.<br />
Der Grund einer Erkenntnis liegt hier aber zuerst in der Beziehung der<br />
Erscheinungen auf einen äußerlichen Gegenstand überhaupt als ersten<br />
zureichenden Grund Leibniz und ist dem Prinzip der Regel der<br />
Sukzessivität der Erscheinungen vorgeordnet. Die allgemeine Bedingung<br />
dieser Beziehung wäre demnach das Prinzip überhaupt, daß<br />
Erscheinungen sich auf Gegenstände beziehen, und deren Exponent unter<br />
der Bedingung der Zeit die logische Regel der Sukzessivität als der<br />
zureichende Grund der Beziehbarkeit von verschiedenen Prädikaten auf<br />
ein und den selben Gegenstand in der verfließenden Zeit.<br />
Dieses Ergebnis der grammatikalisch-logischen Untersuchung des<br />
Gebrauches der Prädikate in der Zeit stimmt aber nicht überein mit der<br />
metaphysischen Untersuchung der Logik: Es ist dem Ergebnis der<br />
Untersuchung der zwei Bedingungen aus den Logiken genau<br />
entgegengesetzt. Nunmehr ist nicht die gegebene Mannigfaltigkeit als<br />
modallogisch definierte Sukzessivität jenes, was das Prinzip vom<br />
Widerspruch repräsentiert, und der zureichende Grund ist nicht der der
— 437 —<br />
Verknüpfung oder nexus im Dasein sondern eben die bloße<br />
Veränderlichkeit der Merkmale oder der bloße Wechsel der Prädikate ist<br />
das Gegebene und die Bestimmung der verfließenden Zeit zur<br />
Sukzessivität ist der Exponent, wobei die Beziehung des Prädikats auf den<br />
gemeinten Gegenstand, der intentional als etwas vom Prädikat<br />
verschiedenes gedacht werden muß, das reine Prinzip des Exponenten ist<br />
(grammatikalisch-logische Analyse). Zuerst soll die Verknüpfbarkeit<br />
einander zugleich widersprechender Prädikate in der Zeit den<br />
zureichenden Grund Leibnizens, eben die vorausgesetzte Beziehung von<br />
Prädikate auf Gegenstände, allererst transzendentallogisch rechtfertigen,<br />
schließlich muß hier nunmehr ein synthetisches Urteil a priori die<br />
Verknüpfung von Prädikaten zur transzendentalen Rechtfertigung der<br />
zweiten Fassung des zureichenden Grundes in der Zeit bewerkstelligen.<br />
Man sieht, daß man mit der Interpretation der Unterscheidung in<br />
principium contradictionis und zureichenden Grund insbesondere in der<br />
Fassung der Logik Busolt, gemäß welcher nicht strenger Determinismus<br />
gefordert werden kann, nach aptitudo des Gegebenen, dem Prinzip, und<br />
dem Exponenten des Prinzips in der Lage ist, eine Fassung des<br />
transzendentalen Schematismus herzustellen. Es muß aber bezweifelt<br />
werden, daß Kant selbst dergleichen unternommen hat, obwohl die<br />
Zwecksetzung seiner Unternehmen damit in modaler Hinsicht vermutlich<br />
erreicht werden würde. Allerdings kann mit einer solchen Vorgangsweise<br />
nicht auch das systematische Ziel Kants, die Unterscheidung und<br />
Vereinbarung von Verstand und Sinnlichkeit erreicht werden, vielmehr<br />
fiele mit dieser sprachanalytisch-intentionalen Vorgangsweise die<br />
Sinnlichkeit wieder ohne weitere eigene inhaltliche Charakterisierung<br />
außer dem unbestimmbaren aptitudo in ihre völlige Passivität zurück. Der<br />
Erfahrungsraum wäre demnach nicht logisch anhand der Sukzessivität<br />
durchgehend charakterisierbar. So wird die hier vorgelegte Fassung eines<br />
transzendentalen Schematismus, wenngleich sie meiner Auffassung nach<br />
auch völlig korrekt aufgestellt wurde, nicht das gewünschte Ergebnis<br />
erzielen, weil der Erfahrungsraum nicht wie in der Kritik der reinen<br />
Vernunft durch die Sinnlichkeit transzendentalästhetisch eingeschränkt<br />
worden ist, was offenbar die Bedingung für eine kontinuierliche<br />
Prädikation ist. Im Erfahrungsraum des Duisburger Nachlasses ist die<br />
Sinnlichkeit hingegen nur passiv als das die Mannigfaltigkeit ursprünglich<br />
gebene Moment berücksichtigt.
— 438 —<br />
Die in den folgenden Kapitel (viertes Kap.: Die Schematen der<br />
Einbildungskraft, und fünftes Kap.: Intellection und Einbildungskraft)<br />
durchgeführten Untersuchungen werden aber nicht nur zeigen, daß die<br />
Fassung des transzendentalen Schematismus im Abschnitt<br />
(Transzendentale Logik, Die transzendentale Analytik) der ersten Kritik<br />
eben das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit zum Gegenstand hat<br />
und daraus auch seine Rechtfertigung erfährt, sondern auch, daß der<br />
seinerseits unhintergehbare metaphysische Abschnitt des transzendentalen<br />
Schematismus eine Umgestaltung erfahren hat. Es scheint, das es nach der<br />
Kritik hinsichtlich der Reinheit und Idealität zu einer Widerlegung der<br />
rationalen Metaphysik gar nicht kommt, sondern vielmehr nur die<br />
Vernunftideen dargestellt und deren Dialektik kritisiert werden.<br />
e) Hinsichtlich der dialektisch (wesenslogisch) begründeten Logik:<br />
Die Frage nach dem Übergang vom mittels Entgegensetzung möglicher<br />
Prädikate bestimmten Ding (kategoriale Allheit) zum Begriff vom<br />
einzelnen Gegenstand im Ideal der reinen Vernunft (logische<br />
Allgemeinheit) im Kapitel über das transzendentale Ideal als prototypon<br />
transcendentale führt die Darstellung der logischen Bedingungen der<br />
Erkenntnis im Rahmen der Anwendbarkeit von aptitudo und Exponent zu<br />
folgender Betrachtung:<br />
Das erste Prinzip der durchgängigen Bestimmung (Allheit) schließt<br />
bekanntlich implizite für sein Verfahren zuerst unter allen möglichen<br />
Prädikaten eines Dinges überhaupt diejenigen aus, die kein Gegenteil<br />
haben. Unter der zusätzlichen, von Kant an Ort und Stelle nicht eigens<br />
diskutierten Bedingung, daß immer nur eines von zwei kontradiktorisch<br />
entgegengesetzen Prädikate der jeweils gleichen Qualität gelten kann,<br />
werden weiters »alle möglichen Prädikate eines Dinges« diesem Ding<br />
zugeschrieben. Für das entscheidende Kriterium des Ausschlußes von<br />
Prädikaten aus der nunmehr bereits gemäß dem Prinzip der Allheit<br />
spezifizierten Menge »aller möglichen Prädikate eines Dinges«, der zum<br />
Begriff vom einzelnen Gegenstand führt (das zweite Prinzip der<br />
Durchbestimmung eines Dinges: Allgemeinheit gemäß der Idee), ist das<br />
erste Prinzip der durchgängigen Bestimmung aber nicht in einem präzise<br />
logisch faßbaren Sinn die Bedingung, die vorliegen muß, bevor mit der<br />
Operation zur Herstellung eines allgemeinen Begriffs vom Gegenstand<br />
begonnen werden kann. Das erste Kriterium der logischen Allgemeinheit
— 439 —<br />
als Ideal der reinen Vernunft erweist sich als unabhängig von der<br />
kategorialen Allheit des Dinges. 324<br />
Wir denken mit dem ersten Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges (Allheit) auch nicht den »Inbegriff aller möglichen Prädikate<br />
überhaupt«, wie Kant unterstellt werden kann, 325 sondern bereits einen<br />
Inbegriff »aller möglichen Prädikate eines Dinges überhaupt«. Das kann<br />
man, wie weiter oben gezeigt, für die Erkenntnis des Einzelnen die<br />
aptitudo zur Regel der Allgemeinheit nennen; die Beziehung des Prädikates<br />
auf irgendein Ding allerdings ist auch ohne dem Verfahren der<br />
Einschränkung der Vielheit auf das erste Prinzip (Allheit) dem Prädikat<br />
von wo anders vorauszusetzen. So halte ich zwar den Moment der Menge<br />
aller Merkmale überhaupt in ihrer durch die Einklammerung sich<br />
zeigenden Beziehungslosigkeit eigens fest, bevor ich durch Einschränkung<br />
der Vielheit durch die Bedingung, daß alle möglichen Prädikate Prädikate<br />
eines einzelnen Dinges sein sollen, die Menge erst zur Allheit bestimme,<br />
aber stelle mir unter dem Inbegriff aller Prädikate die Idee des Beziehens<br />
eines abstrakt gedachten Vorstellungsinhalts auf ein Ding vor, die man<br />
formal jedem Prädikat abermals zusprechen kann, und nicht das Ding an<br />
sich. Der logische Gegenstand der Intentionalität ist wiederum nicht das<br />
Ding an sich, sondern dieses hat immanent betrachtet die Funktion des<br />
Statthalters für das Substrat des Erfahrungsobjektes. Allerdings vermute<br />
ich, daß im Zuge der Erörterung der hier anstehenden Fragen Kant diese<br />
Unterscheidungen nicht immer konsequent durchgehalten hat.<br />
Auch die beabsichtigte Offenhaltung einer Äquipollenz zwischen<br />
»Inbegriff aller möglichen Prädikate überhaupt« (Vielheit) und »Inbegriff<br />
aller möglichen Prädikate eines Dinges« (Allheit) kann ich an dieser Stelle<br />
nicht völlig ausschließen, könnte mich dieser Vorgangsweise aber nicht<br />
anschließen. Die Einschränkung der ersteren auf die Allheit der zweiteren<br />
ist mit der Beziehung der Prädikate in einem Urteil, und somit erst<br />
dadurch auf ein Ding (logischer Gegenstand) bezogen und entspricht dem<br />
zureichenden Grund aus der selbst schon transzendentalen Kritik der<br />
»rationalen« logischen Metaphysik nach Leibniz, wie im vorangehenden<br />
Punkt behandelt. Das eigentliche Verfahren der Limitation und Negation<br />
nach dieser ersten Einschränkung besteht selbst aus zwei Schritten. Zuerst<br />
324 Vgl. hier §§ 8-13<br />
325 K.r.V., B 601/A 572
— 440 —<br />
wird von allen möglichen Prädikate eines Dinges ein zusätzliches<br />
Kriterium verlangt, nämlich ein Gegenteil zu haben. Danach entscheidet<br />
jeweils die Empirie (das Existenzprädikat) welches der beiden<br />
Möglichkeiten gelte. Derart ergibt sich ein Profil in der selbst<br />
gleichbleibenden Idee eines durchbestimmten Dinges, das bestimmte<br />
Prädikate ein-, und das Gegenteil bestimmter Prädikate auschließt. Das<br />
kann nicht als Erzeugung des logischen Gegenstandes der Intention<br />
verstanden werden, sondern ist bereits die Weiterbestimmung der Stelle,<br />
die vom Ding an sich freigehalten worden ist, zu einem Begriff vom<br />
aktuellen und wirklichen (physischen) Objekt zwischen Grundurteil,<br />
Wahrnehmungsurteil und Erfahrungsurteil. Die Teilung aller teilbaren (in<br />
Oppositionen ausdrückbare) Prädikate gemäß dem Existenzprädikat kann<br />
dann als das Prinzip, die Teilbarkeit (die oppositionelle Ausdrückbarkeit)<br />
der emprischen Prädikate als dessen Exponent, und die Menge aller<br />
möglichen Prädikate überhaupt als die aptitudo besitzend, auf ein Ding<br />
(zunächst noch unentschieden, ob auf ein Ding überhaupt oder auf irgend<br />
ein Ding) qua Prädikat bezogen zu sein, dargestellt werden. Erst darauf<br />
aufbauend kann in der nächsten Abstraktionsstufe das Existenzprädikat<br />
des Dinges (selbst nur ein Urteil über eine Vorstellung des Dinges) als<br />
Geltungssaussage über eine bestimmte Aussage (Wahrheit oder Falschheit)<br />
aufgefaßt werden, womit das Prinzip der Limitation und Negation durch<br />
das einfache principium contradictionis hinsichtlich der Wahrheitswerte<br />
von Aussagen ersetzt wird. Das ist die Fundierungsebene der Logik als<br />
Formalwissenschaft, die aber doch schon den Prinzipien der rationalen<br />
Metaphysik mit vorausgesetzt ist. Dies ist in der transzendentalen Analyse<br />
nicht mit der gleichen Sicherheit und vor Allem nicht mit gleichen Umfang<br />
von Beginn an zu behaupten.<br />
❆<br />
Das Prinzip der Regel als zweites Prinzip der durchgängigen Bestimmung<br />
(Allgemeinheit) ist dann in der Forderung Kants enthalten, den Begriff<br />
vom einzelnen Gegenstand als Ergebnis der durchgängigen Bestimmung<br />
eines Begriffs durch die bloße Idee anzusehen. 326 Das könnte aus dem<br />
Zusammenhang, wie schon angedeutet, freilich auch so verstanden<br />
werden, als würde das erste Prinzip der durchgängigen Bestimmung die<br />
Kriterien des Ausschlusses zur Bestimmung der Idee zu einem Begriff<br />
326 B 602/A 573
— 441 —<br />
schon erfüllen. Das Ding ist nämlich nun auch schon seit Beginn die Idee<br />
eines die transzendentale Materie vereinigenden Substrates und nicht nur<br />
das zwischen Vielheit und Einzelheit unbestimmte etwas aller möglichen<br />
Prädikate, die allerdings erstens zusammen gelten können und zweitens<br />
analytisch das Existenzprädikat der Vorstellung vom Ding selbst auch<br />
schon vor der Teilung enthalten müssen. Ich denke aber doch, daß der<br />
wesenslogischen Formulierung der logischen Allgemeinheit eine von der<br />
kategorialen Allheit selbstständige Bedeutung unterlegt werden kann: Die<br />
Idee ist zum Begriff zu bestimmen, um einen allgemeinsten Begriff zu<br />
erhalten, und sei es ein bloß spekulativer Vernunftbegriff (was vom<br />
transzendenten Gebrauch reiner Verstandesbegriffe als Quelle des Scheins<br />
zu unterscheiden ist). Demnach wären die Kriterien des Ausschlusses des<br />
zweiten Prinzips der durchgängigen Bestimmung eines Dinges (Prädikate<br />
zu erhalten, die nicht aus Prädikaten abgeleitet sind und ohne<br />
Widerspruch nebeneinander stehen können), die aus der Vorstellung<br />
(Idee) eines Dinges den Begriff vom einzelnen Gegenstand machen, bereits<br />
als die Exponenten des Ideals der reinen Vernunft zu interpretieren, um<br />
ein bestimmtes Prädikat auf einen durch den Exponenten auch spezifisch<br />
bestimmbaren Gegenstand mit Notwendigkeit zu beziehen. 327 Die<br />
aptitudo des Gegebenen (hier dann die Bestimmung zu Prädikate, wovon<br />
schon die Untersuchung von aptitudo und Exponent des<br />
Bedeutungssyndroms a ausgeht) wäre dann, um es nochmals zu sagen,<br />
unabhängig vom ersten Prinzip der durchgängigen Bestimmung<br />
(kategoriale Allheit) die vorausgesetzte Beziehung der Vorstellungen auf<br />
ein bestimmbares Ding, was zuvor bereits als eine Interpretation des<br />
zureichenden Grundes nach Leibniz firmiert hat. Unter diesen<br />
Voraussetzungen wäre dann das wesensnotwendige Prädikat (klassisch:<br />
Begriffsmerkmal als Teilbegriff eines nur möglichen ganzen Begriffs vom<br />
Gegenstand) der Exponent des (wesenslogischen) Prinzips, den Begriff aus<br />
einer Idee, schließlich abstrakt-allgemein den Begriff von einem einzelnen<br />
327 BENEDIKT 1977:»Jedenfalls ist interessant, daß Kant die Reflexion des gesamten<br />
Vernunftraumes, ob jetzt nur partiell (im Sinne der Konstruktionslogik der Setzung<br />
der Vernunft unter den Verstand und der Bestimmung der Basis der Position der<br />
sinnlichen Mannigfaltigkeit in diesem Rahmen) als Prädikatenlogik durch die<br />
Vorstellung der kategorischen Beurteilungsform als Wahrnehmungsurteil in die<br />
Basis materialer Implikation der Propositionslogik im Falle der Exigenz des<br />
gesamten Vernunftraumes über die Anschauungsintention hinaus nochmals<br />
analytisch als prinzipielle Denkbarkeit (a) im Sinne des Prädikativ-Allgemeinen<br />
zusammenfaßt. Von hier aus stellt sich die Frage, wie dieses Bedeutungssyndrom (a)<br />
auf das gesuchte: das (x) der sinnlichen Gegenstandsbeziehung unserer<br />
Erkenntnisweisen, hier also als das problematisch, das heißt abstrakt Gemeinte<br />
unseres subjektiven Sinnes, zu vermitteln ist.« (p. 266 f.)
— 442 —<br />
Gegenstand aus der Idee vom Ding zu bestimmen. — Es wäre aber ein<br />
Fehler, würde man den Begriff vom einzelnen Gegenstand, die sogenannte<br />
Idee vom Ding und den logischen Gegenstand im Verstandesurteil<br />
schlechterdings in eins setzen wollen. Der Begriff vom einzelnen<br />
Gegenstand ist eine Vernunftidee (Ideal der reinen Vernunft); die Idee vom<br />
Ding entstammt der vollständigen (transzendentalen) Intentionalität des<br />
Vorstellens (sinneserfüllende Intention), die Vorstellung des logischen<br />
Gegenstandes entspringt dem Verstandesurteil und kann Verstandesidee<br />
heißen.<br />
Die Prinzipien der Reflexion des Verstandesvermögens führen also nicht<br />
garantiert zum gleichen Substrat, führen aber gegenüber der sinnlichen<br />
Erfahrung (die also Anschauung beinhaltet) zu aufeinander beziehbaren<br />
Ergebnissen. Kant steigert damit aber nicht, wie im Syllogismus der<br />
empirischen Postulate versucht, mit der Wesentlichkeit des das Ding zum<br />
Gegenstand bestimmenden Prädikates die Notwendigkeit der Beziehung<br />
eines Prädikates auf etwas außer sich, sondern setzt diese Beziehung da<br />
wie dort voraus und dehnt im Ideal der reinen Vernunft den<br />
Geltungsbereich notwendiger Bestimmungen der Wesenslogik auf die<br />
Allgemeinheit von Erfahrungsbegriffen aus — allerdings ohne dortselbst<br />
Erfahrungsbedingungen angeben zu können, weshalb der Begriff vom<br />
einzelnen Gegenstand auch kein Verstandesbegriff, sondern ein<br />
Vernunftbegriff ist.<br />
§ 19 Der Übergang von der metaphysischen zur transzendentalen<br />
Deduktion<br />
Die eigentliche Problemstellung bleibt nun die aus dem § 18 der<br />
transzendentalen Deduktion bekannte Unterscheidung in subjektive und<br />
in objektive Einheit des Bewußtseins, die dann in § 19 anhand der<br />
Unterscheidung des hypothetischen Urteils vom kategorischen Urteil als<br />
bereits grundsätzlich gelöst nochmals vorstellig gemacht worden ist. Im<br />
Rückblick auf die Einheit des Bewußtseins von der Dreifaltigkeit des<br />
Prinzips des concipere ausgehend lassen sich folgende Formulierungen<br />
finden, welche zusammendfassend die fragliche Gliederung der<br />
Erkenntnisvermögen, die in der Kritik der reinen Vernunft weiter
— 443 —<br />
behandelt wird, 328 schon im Duisburger Nachlaß im Rahmen der<br />
bekannten Formel einer ersten transzendentalen Untersuchung näher<br />
bringen. Dazu gibt es eine Fassung der Formel von x, a, und b, die zwar<br />
gegenüber der von mir gewählten Grundauffassung defizient ist, weil b<br />
nur als allgemeine Handlung beschrieben wird, was zu Mißverständnissen<br />
führen kann, hier aber deshalb interessant ist, weil x als die Stelle der<br />
subjektiven Bedingungen, und a gleich als einzelne Erscheinung, und nicht<br />
mehr als Namen einer Vorstellungs-Komplexion (oder gleich eines<br />
Bedeutungssyndroms) eingeführt wird: »Weil also die subjektiven<br />
Bedingungen (x) zu allen diesen Positionen zulangen soll, so muß die<br />
Bestimmung von (a) d.i. (b) eine allgemeine Handlung sein, wodurch die<br />
Erscheinung von a exponiert wird.« 329<br />
Die Allgemeinheit der Handlung soll also nicht nur das Allgemeine des<br />
Subjektiven, sondern das Allgemeine von Subjekt und Objekt in der<br />
Handlung umfassen. Das ist der entscheidende Punkt, worin Kant den<br />
Überschritt von traditioneller Metaphysik einerseits und cartesianischen<br />
radikalen Transzendentalsubjektivismus andererseits zur<br />
Transzendentalphilosophie eigentlich vollzieht. In diesem Punkt spaltet<br />
sich die Strategie der Argumentation: Einerseits bleibt alles unter dem<br />
Prius der allgemeinen Handlung, die nach der erfolgten Trennung von<br />
subjektiver und objektiver Realität des Daseins nunmehr die bewußte<br />
Synthesis leisten soll, andererseits sollen die drei subjektiven Funktionen<br />
des Gemüts die Exponenten der Regel allererst bestimmen:<br />
»Die drey Verhältnisse im Gemüth erfordern also drey analogien der<br />
Erscheinung, um die [...] subjectiven functionen des Gemüths in obiective<br />
zu verwandeln und [...] sie dadurch zu Verstandesbegriffe zu machen,<br />
welche den Erscheinungen realität geben.« 330<br />
Welche drei Verhältnisse sind gemeint? Man erinnere sich an die drei<br />
subjektiven Bedingung, die zusammen als das subjektiv Allgemeine die<br />
Bedingung zum objektiv Allgemeinen (die Intellection) ausmachen<br />
sollten. 331 Die subjektiven Bedingungen der Erscheinung als<br />
328 Und zwar in § 10 der Deduktion wie in der Ideenlehre der Dialektik in der K.r.V..<br />
329 Refl. 4678, AA XVII. p. 660 ff.<br />
330 Refl. 4675, AA XVII, p. 648<br />
331 »Die subiective Bedingungen der Erscheinungen, welche a priori erkannt werden<br />
können, sind Raum und Zeit: intuitionen.
— 444 —<br />
Anschauungsform, als Bedingung der Apprehension und als Bedingung<br />
der Konstruktion sollten in der Refl. 4675 zur »intellection« zureichen. Man<br />
denke auch an die Erklärungen zum »concipere«: 332 Die Anschauungsform<br />
und die Bedingung zur Apprehension wird in der Refl. 4683<br />
zusammengefaßt zur sinnlichen Bedingung der ganzen Sinnlichkeit, die<br />
Bedingung der Konstruktion erklärt Kant dortselbst mit dem Prinzip des<br />
»ganzen Denkens in Ansehung eines dati überhaupt« in der Konsequenz<br />
schon als so gut wie mitgegeben, bevor er anhand der<br />
Zusammennehmung wiederum zur Totalität übergeht, welche Objektivität<br />
garantieren soll. 333 Hiebei ist die Formulierung eines Prinzipes des »ganzen<br />
Denkens in Ansehung eines dati überhaupt« besonders bemerkenswert,<br />
weil es hier nicht um die Empirie überhaupt geht, sondern eben um das<br />
Prinzip des Umgangs mit einen selbst schon als Assertion bestimmten<br />
empirischen Datums, sei es hier in der Allgemeinheit der Erörterung auch<br />
unbestimmt, welches. Es bleibt aber dennoch verblüffend, welche<br />
Formulierung er für diese als da wie dort als subjektiv vorgestellte<br />
Prinzipien findet:<br />
»Es dienen also die Begriffe Substanz, Grund und Ganzes nur dazu, um<br />
jeder realität [Erscheinung] in der Erscheinung ihre Stelle anzuweisen,<br />
indem ein jedes eine function oder [potenz der] dimension der Zeit<br />
vorstellt, darin das obiect, was wargenommen wird, soll bestimmt und aus<br />
der Erscheinung Erfahrung werden.« 334<br />
Demnach ist die »sinnliche Bedingung der ganzen Sinnlichkeit« (Refl. 4683;<br />
das Denken überhaupt) bzw. die Anschauungsform und die zeitliche<br />
Die subiective Bedingung der empirischen Erkenntnis ist die apprehension in der<br />
Zeit überhaupt und also nach Bedingungen des innern Sinnes überhaupt.<br />
Die subjektive Bedingung der rationalen Erkenntnis [ist] die construction [in der<br />
Zeit] durch die Bedingung der apprehension überhaupt.<br />
Alles, was gegeben wird, wird unter den allgemeinen Bedingungen der<br />
apprehension gedacht. Also ist das subiectiv allgemeine der apprehension die<br />
Bedingung des obiectiv allgemeinen der intellection.« (Refl. 4675, AA XVII, p. 652 f.).<br />
Vgl. hier § 16, c<br />
332 »Die principien der conception (gehen auf subj) sind entweder des Denkens<br />
überhaupt oder des absoluten setzens oder der zusammennehmung a priori. Vom<br />
ersten ist die sinnliche Bedingung die ganze Sinnlichkeit, von dem zweyten das<br />
ganze Denken in ansehung eines dati überhaupt, vom dritten das ganze an sich<br />
selbst oder totalitaet.« (Refl. 4683, AA XVII, p. 670)<br />
333 Vgl. diese naive Einstellung mit der differenzierteren Darstellung des Unterschiedes<br />
von omnituda synthetica (der Kategrorie der Größe) und Totalität hier im ersten<br />
Abschnitt.<br />
334 Refl. 4682, AA XVII, p. 669
— 445 —<br />
Bedingung zur Apprehension (Refl. 4675, als innerer Sinn) in die Stellung<br />
eines Prinzips der Substanz (Seinsgrund) gerückt und das Prinzip des<br />
»ganzen Denkens in Ansehung eines dati überhaupt« und damit das<br />
Prinzip der Konstruktion zum Prinzip des Erkenntnisgrundes geworden.<br />
Zusammenfassend scheint der damit initierte Begriff von Substanz sich<br />
ohne Bedingung der Konstruktion vom Status von »Empirie überhaupt« in<br />
der ersten Bestimmung der Materie in der M.A.d.N. nicht deutlich zu<br />
unterscheiden:<br />
»Wenn ich den Begriff der Materie nicht durch ein Prädikat, was ihr selbst<br />
als Objekt zukommt, sondern nur durch das Verhältnis zum<br />
Erkenntnisvermögen, in welchem mir die Vorstellung allererst gegeben<br />
werden kann, erklären soll, so ist Materie ein jeder Gegenstand äußerer<br />
Sinne, und dies wäre die bloß metaphysische Erklärung derselben.« 335<br />
»Der Raum aber wäre bloß die Form aller äußeren sinnlichen Anschauung<br />
(ob eben dieselbe auch dem äußeren Objekt, das wir Materie nennen, an<br />
sich selbst zukomme, oder nur in der Beschaffenheit unseres Sinnes bleibe,<br />
davon ist hier gar nicht die Frage.) Die Materie wäre im Gegensatz der<br />
Form das, was in der äußeren Anschauung ein Gegenstand der<br />
Empfindung ist, folglich das Eigentlich-Empirische der sinnlichen und<br />
äußeren Anschauung, weil es gar nicht a priori gegeben werden kann.« 336<br />
Offensichtlich stimmt der Begriff der Materie, wie Kant sich in den jeweils<br />
ersten Formulierungen Kants im Duisburger Nachlaß gebildet hat, mit der<br />
Überlegung zur »Empirie überhaupt« in den M.A.d.N. insofern überein.<br />
Hingegen stimmt die Bestimmung von »Empirie überhaupt« schon in der<br />
Absicht nicht mit den oben gegebenen letzten Zitaten des Duisburger<br />
Nachlasses überein, die auf Begriffe der dynamischen Kategorien gehen<br />
(Substanz, Grund, Ganzes): der Gebrauch des Ausdruckes »Gegenstand«<br />
ist m. E. gerade im Zusammenhang mit Empfindungen durchaus kein<br />
Anlaß, hier eine Weise der Gegenstandskonstitution bei Kant zu vermuten,<br />
335 M. A. d. N., Erkl. 1, Anmk. 2, AA IV, 481. Vgl dazu auch in der K. r. V.: »[...]<br />
Wahrnehmung überhaupt und deren Verhältnis zu anderer Wahrnehmung, ohne<br />
daß irgendein besonderer Unterschied dersel-ben und Bestimmung empirisch<br />
gegeben ist, kann nicht als empirische Erkenntnis, sondern muß als Erkenntnis des<br />
Empirischen überhaupt angesehen werden, und gehört zur Untersuchung der<br />
Möglich-keit einer jeden Erfahrung, welche allerdings transzendental ist.«<br />
(B 401/A 343)<br />
336 M. A. d. N., Phoron. Erkl. 1, Anmk. 2, AA IV p. 481
— 446 —<br />
sondern bloß als verkürzte Redeweise zu verstehen. Konrad Cramer<br />
kritisiert an diesen Formulierungen insofern zu Recht, daß sie nicht<br />
zureichen, die Kriterien für die Koextensivität von »Materie« und<br />
»Gegenstände der äußeren Sinne« zu enthalten. 337 Richtig ist in jedem Fall,<br />
daß mit obiger Argumentation kein Gegenstandsbegriff notwendig<br />
gemacht wurde, sondern eben nur »Empirie überhaupt« (Materie). Die<br />
Verwendung der Formulierung vom »Gegenstand der äußeren Sinne«<br />
bleibt nicht zuletzt wegen dem Attribut »metaphysisch« für die<br />
Erklärungsart zweideutig, wegen des weiteren Textverlaufes darf aber<br />
vermutet werden, daß Konrad Cramer auch für die erste Phoronomische<br />
Erklärung recht behalten dürfte, wo die »Materie« abatraktiv zum<br />
Massepunkt wird.<br />
Allerdings geben die zuletzt gegebenen Definitionen aus dem Duisburger<br />
Nachlaß durchaus Anlaß, den Begriff eines einzelnen Gegenstandes als<br />
Begriff eines Objekt der Erfahrung im Sinne der Kritik der theoretischen<br />
Vernunft zu denken, auch wenn sie noch nicht als kategoriale Ableitungen<br />
ausgewiesen werden können: Der selbst subjektive, aber reale Grund des<br />
Gegenstandes (der selbst eben noch nicht objektiv als »Gegenstand«<br />
angesprochen werden kann: Erfahrungsobjekt) hat anhand seiner<br />
objektivierbaren Verknüpfungen unter dem Prinzip des »ganzen Denkens<br />
in Ansehung eines dati überhaupt« schließlich im Übergang zur<br />
synthetischen Totalität nach der Bedingung der Konstruktion mit der<br />
gesuchten Definition des Verbindungsbegriffes zu tun, welcher den mit<br />
der Affinität von Gegenstand, Raum und Bewußtsein immer schon<br />
vorauszusetzenden nexus auszudrücken imstande sein soll. Die<br />
Bedingungen der Objektivierbarkeit der dynamischen Verknüpfung, die<br />
im Zusammenhang des Duisburger Nachlasses, wenn auch defizient,<br />
zumindest als Forderung formuliert werden konnte, werden erst in der<br />
transzendentalen Analytik der ersten Kritik ausreichend diskutiert.<br />
❆<br />
In § 19 der transzendentalen Deduktion scheint es, als wäre das<br />
hypothetische Urteil transzendental (als Bedingung der Möglichkeit) die<br />
Voraussetzung zum kategorischen Urteil; und somit auch die<br />
transzendentale Analogie des ersteren die Voraussetzung für die Analogie<br />
337 CRAMER 1985, p. 134; Cramer beruft sich in dieser Frage auf P. Plaass.
— 447 —<br />
des zweiteren. Allerdings: Zwar benötigt die Analogie der Kategorie der<br />
Substanz die Zeit, um den Begriff als Schema der Apprehension der<br />
Beharrlichkeit in den Erscheinungen zu bilden, aber nicht die Kausalität.<br />
Vielmehr kommt die Analogie der Kategorie der Kausalität ohne<br />
Substanzbegriff nicht aus. Dieser kann aber für die Kategorie der<br />
Kausalität nicht selbst einfach der Begriff der Beharrlichkeit oder der<br />
Beweglichkeit als Bestimmung der kontinuierlichen<br />
Erscheinungsverhältnisse sein, sondern nimmt den Status einer<br />
analytischen Ableitung aus dem Begriff der Ursache ein (Repulsion) ein,<br />
deren Wirkung die Ausgedehntheit der Substanz ist. 338 Diese Behandlung<br />
der Ursache führt aber erstens über die logische Form des bloßen<br />
Grundurteils nicht hinaus, und ist zweitens sowenig wie die Sollizitation<br />
im mechanischen Stoß Bestandteil der Kontiniuitätsbedingungen, die mit<br />
der reinen Anschauungsform in Raum und Zeit gefordert werden. Hier<br />
wird aber gefordert, die Kausalität als Relation zu denken, womit deutlich<br />
wird, daß der Substanzbegriff nicht geeignet ist, selbst den Rahmen für<br />
eine Diskussion des dynamischen Verbindungsbegriffes abzugeben.<br />
Hingegen ist der Begriff (das Schema) der Beharrlichkeit die Legitimation<br />
des Substanzbegriffes in der kontinuierlichen Anschauung, die sich aber<br />
noch nicht selbst ausdrücklich auf dynamische Verhältnisse bezieht.<br />
Insofern ist aus der Sicht des Methodenvergleichs der Begriff des<br />
Beharrlichen ein Seitenstück zur Phoronomie und nicht zur Dynamik.<br />
Beharrlichkeit und Wechsel bilden ein ähnliches Paar wie Ursache und<br />
Wirkung, insofern von beiden sowohl gesagt werden kann, daß die<br />
Behauptung des einen analytisch die Behauptung des anderen nach sich<br />
zieht, wie auch, daß sie einander entgegengesetzt sind. Für die Begriffe<br />
von Ursache und Wirkung ist dies schon bekannt, für die Begriffe von<br />
Beharrliches und Wechsel (der Wechsel ist zunächst allerdings auch als<br />
Veränderliches unabhängig von einer Kontinuitätsbedingung zu denken)<br />
scheint dieser selbstverständliche Gedankengang bislang noch wenig<br />
beachtet worden zu sein: Es ist eine logische und metaphysische Aussage,<br />
wenn in Form einer bloßen Namenserklärung expliziert wird, daß das<br />
Beharrliche als solches nur im Wechsel von Veränderlichem hervortreten<br />
kann, und die Veränderung nur anhand eines Beharrlichen erscheint. 339<br />
Insofern gehorchen die reinen Verstandesbegriffe dem ersten logischen<br />
338 In der traditionellen analytischen Metaphysik Leibnizens wird das Merkmal des<br />
wesentlichen Prädikats als Wirkung einer Ursache verstanden, die ident ist mit der<br />
Substanz.<br />
339 Vgl. in diesem Abschnitt Kap. 5
— 448 —<br />
Prinzip der Durchbestimmung eines Dinges mittels der Allheit der<br />
Prädikate, deren Teilung in zwei Mengen einander entgegengesetzter<br />
Prädikate das Existenzprädikat bestimmen lassen sollte; darüberhinaus<br />
sind die beiden Paare durch die logische Bestimmbarkeit des<br />
Veränderlichen noch strukturell über die transzendentale Zeitbedingung<br />
der Kategorie mit der Kausalitätskategorie verbunden. Der an dieser Stelle<br />
vielleicht zu erhebende Einwand, es gäbe nicht den geringsten Hinweis auf<br />
eine ausgezeichnete Stellung der behandelten analytisch<br />
entgegengesetzten Begriffspaare, also die Behauptung reiner<br />
Verstandesbegriffe von Kategorien sei bloße Willkür, muß eben wegen der<br />
Verbindung des Veränderlichen, einmal im Rahmen des reinen<br />
Verstandesbegriffes analytisch das notwendige Gegenüber des<br />
Beharrlichen zu sein, ein andermal modalkategorial der logischen<br />
Definition der verlaufenden Zeit zur Sukzession, welche eine kausale<br />
Interpretation der Zeit transzendentallogisch überhaupt erst möglich<br />
macht, zu Grunde zu liegen, unbedingt widersprochen werden.<br />
Mit der sich seit der streng und rein analytischen Vorstellung der<br />
Substanzkategorie in § 26 durchzeichnenden relativen Unabhängigkeit des<br />
Substanzbegriffes von der eigentlich dynamischen Kategorie der<br />
Kausalität besteht aber die Neigung, daß die Problematik, den nexus nach<br />
phänomenalen Grund, nach physischem Grund und nach metaphysischem<br />
Grund unterscheiden und wieder vereinbaren zu müssen, innerhalb der<br />
Erörterung der Substanzkategorie von der metaphysischen Notwendigkeit<br />
(ens rationis : das Prinzip des zureichenden Grundes) verschluckt und als<br />
bereits immer schon gelöst vorgestellt wird: Das Mannigfaltige der<br />
Subordination, weil dieses in der Subordination als das Ganze gedacht<br />
werden muß, ist sowohl als Ganzes des Bewußtseins, dessen Prinzip die<br />
Subordination ist, wie auch als Menge der koordinierbaren Teile des<br />
Ganzen zu denken notwendig, ansonsten die Subordination nicht die<br />
ganze Mannigfaltigkeit subordiniert hätte.<br />
Eben diese Forderung wird von Kant im Duisburger Nachlaß parallel zu<br />
den Bestimmungsversuchen der Exponenten der Regel ausdrücklich<br />
erhoben: »Die transcendentale Logik handelt von Erkenntnissen des<br />
Verstandes dem Inhalte nach, aber unbestimmt in ansehung der Art, wie<br />
obiecten gegeben sind. Die Bedingung aller apperception ist die Einheit<br />
des denkenden subjects. Daraus fließt die Verknüpfung (des<br />
Mannigfaltigen) nach einer Regel und in einem Ganzen, weil [...] die
— 449 —<br />
Einheit der Funktion sowohl zur subordination als coordination zureichen<br />
muß.« 340<br />
Sofern die ganze Mannigfaltigkeit subordiniert wird, muß das<br />
Mannigfaltige als Ganzes auch seine Teile koordiniert beinhalten, was es<br />
nunmehr herauszuheben gelte. Kant meint nun die logische<br />
Unterscheidung der Disjunktion nach dem nicht auschließenden »oder«<br />
und nach dem auschließenden »oder« in der logischen Funktion mit den<br />
Kriterien des Ideals der reinen Vernunft im transzendentalen Obersatz<br />
zuerst vereinbaren zu können, um diese anschließend in der Zeit als<br />
Antinomie zwischen der empirisch unbedingten Möglichkeit eines<br />
intelligiblen Wesens, welches darum von aller empirischen Bedingung<br />
nicht nur als frei zu denken ist, sondern vielmehr den Grund der<br />
Möglichkeit aller dieser Erscheinungen enthält, einerseits, und dem<br />
Eigenrecht der als »empirischbedingt« bezeichneten Existenz andererseits,<br />
herausstellen zu können. 341 Die empirisch unbedingte Möglichkeit ist<br />
gemäß dem ausschließenden »oder« strukturiert: Entweder es existiert<br />
etwas oder es existiert nichts. Der Grund, warum eher etwas als nichts<br />
existiert 342 ist für Leibniz das principium rationis oder das ens rationis (das<br />
Prinzip des zureichenden Grundes); Kant bleibt für diese Frage letztlich<br />
bei der lapidaren modallogischen Feststellung, daß das Gegenteil<br />
denkunmöglich ist: 343 Die Aufhebung des ganzen Seins schließt die<br />
Aufhebung des Denkens mit ein. Über die absolute Notwendigkeit von<br />
340 Refl. 4675, AA XVII, p. 651, Kant spricht hier von der Beharrlichkeit des Raumes<br />
341 In: »Vom empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips«: »Es ist aber hierbei<br />
garnicht die Meinung, das unbedingtnotwendige Dasein eines Wesens zu beweisen,<br />
oder auch nur die Möglichkeit einer bloß intelligibelen Bedingung der Existenz der<br />
Erscheinung der Sinnenwelt hierauf zu gründen, sondern nur eben so, wie wir die<br />
Vernunft einschränken, daß sie nicht den Faden der empirischen Bedingungen<br />
verlasse, und sich transzendente und keiner Darstellung in concreto fähiger<br />
Erklärungsgründe verlaufe, also auch, andererseits, das Gesetz des bloß empirischen<br />
Verstandesgebrauchs dahin einzuschränken, daß es nicht über die Möglichkeit der<br />
Dinge überhaupt entscheide, und das Intelligibele, ob es gleich von uns zur<br />
Erklärung der Erscheinungen nicht zu gebrauchen ist, darum nicht für unmöglich<br />
erkläre. Es wird also dadurch nur gezeigt, daß die durchgängige Zufälligkeit aller<br />
Naturdinge und aller (empirischer) Bedingungen, ganz wohl mit der willkürlichen<br />
Voraussetzung einer notwendigen, ob zwar bloß intelligibelen Bedingung<br />
zusammen bestehen könne, also kein wahrer Widerspruch zwischen diesen<br />
Behauptungen anzutreffen sei, mithin sie beiderseits wahr sein können.«<br />
(B 590 f./A 562 f.)<br />
342 G. W. Leibniz, Gerhardt, Bd. VII, p. 289, Kap. VIII, Vierundzwanzig Sätze<br />
343 Nova dilucidatio, prop. VI: Die Formulierung ist aber so gehalten, daß dieser Satz<br />
nur die Frage nach dem Grund von konkret einzelnen Seienden zu beantworten<br />
scheint.
— 450 —<br />
Sein überhaupt wird damit aber so oder so nichts ausgesagt, dessen<br />
Notwendigkeit ist nicht mehr oder weniger notwendig, wie auch ein<br />
Produkt des Zufalls ein nicht aufhebbares Faktum sein kann, selbst wenn<br />
es zuvor vermeidbar gewesen wäre. Die empirisch bedingte Existenz als<br />
bestimmte Washeit unterscheidet sich der Notwendigkeit nach nicht von<br />
der Notwendigkeit der unbedingten Möglichkeit der Empirie selbst,<br />
sondern nur im Grund der Notwendigkeit. Die Folgen empirisch bedingter<br />
Existenz sind gemäß dem nicht ausschließenden »oder« strukturiert: Die<br />
Frage nach dem Grund, warum eher dies und nicht das andere existiert,<br />
behandelt beide Alternativen gleichermaßen als real möglich. Um<br />
zwischen real möglichen Alternativen nicht bloß zu unterscheiden,<br />
sondern auch zu entscheiden, welcher Grund für die Existenz des einen<br />
und nicht des anderen ausschlaggebend ist, muß allerdings neuerlich nach<br />
dem zureichenden Grund gefragt werden.<br />
Es zeigt sich mit dem Fortgang der Untersuchung, daß es keine einzelne<br />
Handlung gibt, die die Subordinierung des Ganzen der Mannigfaltigkeit<br />
wie auch die Koordination ihrer Teile auf einem Schlag zustande bringen<br />
kann. 344 Deshalb war es m. E. auch richtig, die Spannungen in §§ 15-18 der<br />
transzendentalen Deduktion gegenläufig zu der Vorstellung aus der<br />
transzendentalen Ästhetik zu interpretieren, daß Ganze sei vor seinen<br />
Teilen gegeben; also daß vielmehr erst die Zusammensetzung der<br />
Mannigfaltigkeit (Koordination) das Ganze derselben als Einheit<br />
rechtfertigen könne. Im Kontrast der oben gebotenen Überlegungen aus<br />
dem Duisburger Nachlaß, daß das »Ich als Substratum aller Regel«<br />
imstande sei, mit der Subordination des Mannigfaltigen als ein Ganzes<br />
auch deren Teile zu koordinieren, zeigt sich schon ebendort, daß es zu<br />
mehreren Handlungen kommen muß, um das mannigfaltige Ganze bzw.<br />
das Mannigfaltige als Ganzes zu denken. Diese jeweils »allgemeinen<br />
Handlungen« (die Funktionen des Exponenten: b) haben nun eine<br />
Funktion für das Gemüt (die Einheit des Bewußtseins in dem damit<br />
gedachten Gedanken) und eine Funktion, den in den Gedanken gedachten<br />
Gegenstände objektive Realität zu geben. So hat Kant schon im Duisburger<br />
Nachlaß die Frage nach subjektiver und objektiver Einheit des<br />
344 »Die transcendentale Logik handelt von Erkenntnissen des Verstandes dem Inhalte<br />
nach, aber unbestimmt in ansehung der Art, wie obiecten gegeben sind. Die<br />
Bedingung aller apperception ist die Einheit des denkenden subjects. Daraus fließt<br />
die Verknüpfung (des Manigfaltigen) nach einer Regel und in einem Ganzen, weil<br />
[...] die Einheit der Funktion sowohl zur subordination als coordination zureichen<br />
muß.« (Refl. 4675, AA XVII, p. 651)
— 451 —<br />
Bewußtseins mit hinreichenden Deutlichkeit aufgestellt, auch wenn trotz<br />
der Betonung des Konstruktionsprinzips das Kausalitätsprinzip keine<br />
eigene Stellung erhält.<br />
In der K. r. V. ist aber bis zur systematischenVorstellung aller<br />
synthetischen Grundsätze außer in § 19 (hypothetisches — kategorisches<br />
Urteil) kein weiteres eindeutiges Kriterium zu finden, der Grund zur<br />
Annahme geben könnte, daß die subjektive Allgemeinheit verlassen<br />
worden wäre, um die geforderte objektive Allgemeinheit zu erreichen,<br />
wenngleich natürlich in der transzendentalen Deduktion selbst die<br />
Forderung nach der objektiven Gültigkeit der Kategorien erhoben und<br />
begründet wird, aber nichts als die Notwendigkeit dieser Forderung<br />
bewiesen wird. 345 Erst in der systematischen Vorstellung der synthetischen<br />
Grundsätze sind neben analytisch metaphysischen (naturphilosophischleibnizianische)<br />
und synthetisch-metaphysischen (spinozistischpsychologische)<br />
Abschnitten auch Argumente aus dem Bereich der<br />
metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften zu finden,<br />
welche den Anspruch auf objektive Allgemeinheit dokumentieren. Die<br />
eigentliche transzendentale Deduktion findet aber zwischen Verstand und<br />
Sinnlichkeit anhand des Vergleiches von Erscheinungsreihe und<br />
Vorstellungsreihe statt. Obgleich allem Anschein nach in direktem<br />
Widerspruch zur Bestimmung der transzendentalen Logik, daß sie von<br />
Inhalten, unabhängig wie sie uns gegeben sein mögen, handele, wird<br />
dementsprechend im Kapitel »Von dem Schematismus der reinen<br />
Verstandesbegriffe« behauptet, daß die formale Bedingung schon auch die<br />
allgemeine Bedingung enthalte:<br />
»Nach demjenigen, was in der Deduktion der Kategorien gezeigt worden,<br />
wird hoffentlich niemand im Zweifel stehen, sich über die Frage zu<br />
entschließen: ob diese reine Verstandesbegriffe von bloß empirischem oder<br />
auch von transzendentalem Gebrauche seien, d.i. ob sie lediglich, als<br />
Bedingung einer möglichen Erfahrung, sich a priori auf Erscheinungen<br />
beziehen, oder ob sie, als Bedingung der Möglichkeit der Dinge überhaupt,<br />
auf Gegenstände an sich selbst (ohne einige Restriktion auf unsere<br />
Sinnlichkeit) erstreckt werden können.« 346<br />
345 Diese zentrale Schwierigkeit wird in Folge nach der Analyse des<br />
Schematismuskapitels noch eingehend behandelt werden.<br />
346 K.r.V., B 178 f./A139 f.,
— 452 —<br />
Mit der hier gebrauchten Unterscheidung in empirischem und<br />
transzendentalem Gebrauch wird freilich nicht etwa die Idee der<br />
transzendentalen Subsumtion aufgegeben: 347 »Denn da haben wir gesehen,<br />
daß Begriffe ganz unmöglich sind, noch irgend eine Bedeutung haben<br />
können, wo nicht, entweder ihnen selbst, oder wenigstens den Elementen,<br />
daraus sie bestehen, ein Gegenstand gegeben ist, mithin auf Dinge an sich<br />
(ohne Rücksicht, ob und wie sie uns gegeben werden mögen) gar nicht<br />
gehen können; daß ferner die einzige Art, wie uns Gegenstände gegeben<br />
werden, die Modifikation unserer Sinnlichkeit sei; endlich, daß reine<br />
Begriffe a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch<br />
formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a<br />
priori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter<br />
der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand angewandt werden<br />
kann.« 348 Das Schematismuskapitel in der K. r. V. droht also das<br />
Problembewußtsein, das anhand der Diskussion der gegeben Zitate aus<br />
dem Duisburger Nachlaß gewonnen worden ist, insofern zu unterbieten,<br />
indem die formale Bedingung (im Schematismuskapitel der K. r. V.<br />
zunächst vorwiegend als Anschauungsform in Gebrauch) bereits die ganze<br />
allgemeine Bedingung (dann also schon die Regel des nexus) beinhalten<br />
347 Hier stellt sich die Frage: Vermögen empirische Begriffe als solche den reinen<br />
Verstandesbegriffen zu widerprechen? Vgl. R. Stuhlmann-Laeisz: Widersprechen<br />
empirische Begriffe ohne Bezug auf einen Gegenstand den transzendentalen Sätzen?<br />
Dieser Widerspruch ist im Vergleich zum Widerspruch zwischen empirischen<br />
Begriffen zu betrachten, die den Bezug zum Gegenstand erst jeweils mittels den<br />
transzendentalen Sätzen (den synthetischen Grundsätzen der Kategorien) erhalten<br />
(und damit die Wahrheitsfähigkeit). In diesem Sinne ist kein Widerspruch denkbar.<br />
Andererseits D. Henrich: alle sinnlichen Begriffe der Anschauung müssen unter<br />
Kategorien zu bringen sein (§ 20). Die Vorstellung, es gäbe derart einen empirischen<br />
Begriff, der nicht den Bedingungen der Kategorien genügen könnte, würde schon<br />
einen Widerspruch hervorrufen. Das Problem entsteht aber nur aus einer nur<br />
scheinbar noch strengeren Fragestellung: alle empirischen Begriffe müßten wahr<br />
sein. Letzteres ist offensichtlich eine Überinterpretation; die immer nur innere<br />
Widersprüchlichkeit von empirischen Begriffen, die keinen Bezug zum Gegenstand<br />
erhalten können, bleibt in der transzendentalen Reflexion verschieden vom<br />
Widerspruch zwischen wahren und falschen empirischen Begriffen, die alle einen<br />
solchen Bezug voraussetzen (§ 20) — und zwar unabhängig von dem<br />
Scheinproblem, ob empirische Begriffe überhaupt falsch sein könnten: Denn es ist<br />
erst festzustellen, ob ein empirischer Begriff falsch ist, weil er unmöglich ist oder<br />
eben bloß jetzt nicht zutrifft. Keinesfalls läßt sich daraus schließen, bei Kant müßten<br />
alle empirischen Begriffe zu den reinen Verstandesbegriffen im Widerspruch stehen.<br />
Vielmehr wäre mit sinnlichen Begriffen zu rechnen, die sich nicht nach Raum und<br />
Zeit darstellen lassen, und so auch nicht in die Verlegenheit kommen, der Forderung<br />
in § 20 nachkommen zu müssen. Vgl. Dieter Henrich, Die Beweisstruktur von Kants<br />
transzendentaler Deduktion«, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkenntnis<br />
und Handeln, Hrsg. v. G. Prauss, Köln 1973.<br />
348 K. r. V., B 178 f./A 139 f.,
— 453 —<br />
können soll. Soll in diesem Sinne die ganze allgemeine Regel in der<br />
formalen Bedingung enthalten sein, bliebe aber die Erörterung im Rahmen<br />
der compositio ohne eine allgemeine Regel oder auch nur allgemeine<br />
Bedingung über die Möglichkeiten (als innere Zweckmäßigkeit) der<br />
Anschauungsform hinausgehend ausfindig gemacht zu haben. Inwieweit<br />
dieser Vorwurf gerechtfertigt ist, und ob die Darstellung der empirischen<br />
und reinen Schematen, die dem Schematismus der transzendentalen<br />
Apprehension vorausgesetzt sind, trotz dieses Vorwurfs einen Fortschritt<br />
in der Frage, wie dem wesenslogischen Begriff vom einzelnen Gegenstand<br />
eine allgemeine Bedingung der Erfahrung gegeben werden kann,<br />
anzuzeigen imstand ist — oder zumindest, wie dieser Begriff als Ideal der<br />
reinen Vernunft an den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung<br />
gerechtfertigt werden kann — soll in weiterer Folge behandelt werden.
— 454 —<br />
4. Die Schematen der Einbildungskraft<br />
(Zur transzendentalen Doktrin der Urteilskraft)<br />
§ 20 Die Aufgabenstellung des Schematismus der<br />
reinenVerstandesbegriffe<br />
Wenn auch bisher wenig dafür spricht, daß in der transzendentalen<br />
Analytik der Grundsätze die Unterscheidung der Verbindungsbegriffe in<br />
compositio und in nexus von selbst mit der gewünschten Deutlichkeit zur<br />
Darstellung kommt, ist es neben den doch zu erwartenden Fortschritten<br />
hinsichtlich der ungenügenden Unterscheidung zwischen der<br />
Verwendung des Regelbegriffs in der Reproduktion und in der<br />
Rekognition in der ersten Fassung der ersten Kritik einerseits bzw. der<br />
Verwendung des Regelbegriffs zwischen dem Syndrom (a) und dem<br />
Syndrom (b) im Duisburger Nachlaß andererseits noch aus anderen<br />
Gründen entscheidend, daß das Subjekt und seine Vermögen zum<br />
eigentlichen Gegenstand der Untersuchung gemacht worden ist: Erstens<br />
wird mit der bloßen Unterscheidung der Arten von Verbindungsbegriffe<br />
die Bedeutung der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft in der<br />
Anschauung für eine wirkliche Erkenntnis unterschlagen. Damit wird in<br />
Aussicht gestellt, dem Kalkül von aptitudo und Exponent in der<br />
Untersuchung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand eine<br />
nähere Bestimmung beibringen zu können, ohne eine universielle<br />
Kontinuitätsbedingung wie die reine Sinnlichkeit des inneren<br />
Zeitbewußtseins voraussetzen zu müssen. Zweitens aber würde ohne der<br />
möglichen Transformation der Substanzmetaphysik zum Ich im<br />
intelligiblen Subjekt der ontologische Moment der Handlung im<br />
Erfahrungmachen unterschlagen. Erst mit der anthropologischen<br />
Betrachtung des Subjekts der Handlungen und Entscheidungen ist der<br />
Horizont der Erörterung um die Dimension des Freiheitsproblems reicher,<br />
die eine transzendentale Analyse des Bewußtseins systematisch überhaupt<br />
möglich macht. Ohne wenigstens auf die praktisch-anthropologische Seite<br />
der Überlegungen Kants zu hinzuweisen, wird es nicht möglich sein, den<br />
Verwicklungen der Untersuchung gerecht zu werden. Es ist aber trotz<br />
dieser Implikation des Freiheitsproblems 349 weiterhin die Frage nach der<br />
Bedingung von wahrheitsfähiger empirischer Kenntnis, die Erkenntnis<br />
349 Vgl. eben die besondere Schwierigkeit, zwischen Folgen der Naturkausalität und<br />
Folgen der Kausalität durch Freiheit zu unterscheiden, welche die Anmerkung zur<br />
Antithese der dritten Antinomie ausdrückt.
— 455 —<br />
genannt zu werden verdient, eigens zu untersuchen, und wie die formale<br />
und die allgemeine Bedingung im Kapitel »Von dem Schematismus der<br />
reinen Verstandesbegriffe« vor dem Hintergrund der Unterscheidung in<br />
subjektive und objektive Bedingung zusammenhängt.<br />
In § 10, wo Kant die Tafel der Kategorien vorstellt, leitet er dieselbe mit<br />
folgenden Worten ein:<br />
»Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori<br />
gegeben sein muß, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die<br />
Synthesis dieses Mannigfaltige durch die Einbildungskraft ist das zweite,<br />
gibt aber noch keine Erkenntnis. Die Begriffe, welche dieser reinen<br />
Synthesis Einheit geben, und lediglich in der Vorstellung dieser<br />
notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das dritte zum<br />
Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen auf dem<br />
Verstande.« 350<br />
»Wir wollen diese Begriffe, nach dem Aristoteles, Kategorien nennen,<br />
indem unsere Absicht uranfänglich mit der seinigen zwar einerlei ist, ob<br />
sie sich gleich davon in der Aufführung gar sehr entfernete.« 351<br />
Die genannten Begriffe sind jene reine Verstandesbegriffe, die Kategorien<br />
genannt werden können, weil sie sich a priori auf Gegenstände beziehen.<br />
In Frage steht von Anfang an die Bedingung der Möglichkeit einer »reinen<br />
Mannigfaltigkeit« und die Bedeutung derselben für die objektive<br />
Geltungsfähigkeit unserer Vorstellungen. Der Umfang der Aufgabe,<br />
Verstandesvermögen und Sinnlichkeit zu vermitteln, welche die<br />
Schematen zu leisten haben, wird aber erst anhand der Gegenüberstellung<br />
folgender Zitate aus dem »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe«<br />
und aus dem »Obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile« wirklich<br />
deutlich. Zunächst scheint es sich nur psychologisch um die besagte<br />
Vermittlung der beiden Erkenntnisvermögen zu handeln:<br />
»Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der<br />
Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß,<br />
und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese<br />
350 K.r.V., B 104 f./A 78<br />
351 B 105 f./A 79
— 456 —<br />
vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch<br />
einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das<br />
transzendentale Schema.« 352<br />
Geht man weiter zum Obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile,<br />
wird der Zielpunkt des hier anstehenden Untersuchungsabschnittes klar:<br />
Diese »vermittelnde Vorstellung« (im übrigen eine höchst problematische<br />
Formulierung) 353 soll allererst die Bedingung der Möglichkeit von<br />
synthetischen Urteilen zu erklären gestatten. Zum folgenden Zitat sollte<br />
man sich an das anfangs zum reinen synthetischen Urteil in der Geometrie<br />
Gesagte erinnern:<br />
»Also zugegeben: daß man aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen<br />
müsse, um ihn mit einem anderen synthetisch zu vergleichen; so ist ein<br />
Drittes nötig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann.<br />
Was ist nun aber dieses Dritte, als das Medium aller synthetischen Urteile?<br />
Es ist nur ein Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind,<br />
nämlich der innere Sinn, und die Form desselben a priori, die Zeit. Die<br />
Synthesis der Vorstellungen beruht auf der Einbildungskraft, die<br />
synthetische Einheit derselben aber (die zum Urteile erforderlich ist) auf<br />
der Einheit der Apperzeption. Hierin wird also die Möglichkeit<br />
synthetischer Urteile, und da alle drei die Quellen zu Vorstellungen a<br />
priori enthalten, auch die Möglichkeit reiner synthetischer Urteile zu<br />
suchen sein, ja sie werden sogar aus diesen Gründen notwendig sein,<br />
wenn eine Erkenntnis von Gegenständen zu Stande kommen soll, die<br />
lediglich auf der Synthesis der Vorstellungen beruht.« 354<br />
Offensichtlich stellt Kant hier wieder den Gebrauch verschiedener<br />
Vorstellungsbegriffe unmittelbar nebeneinander: Die erste Nennung im<br />
dritten Satz verwendet anscheinend das Wort »Vorstellung« gleichsinnig<br />
mit der Bestimmung des inneren Sinnes, der sowohl Begriff wie auch<br />
Anschauung als Oberbegriff umfaßt. 355 Die Formulierung eines bloßen<br />
Inbegriffes, worin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, legt das um so<br />
eher nahe, als das dieses Dritte, das man erreicht, wenn man aus einem<br />
352 B 177/A 138<br />
353 Der transzendentale Schematismus ist selbst nicht vorstellbar. (B 181 f.)<br />
354 K. r.V., B 194/A 155<br />
355 Die Vorstellung wird von Kant in Perzeption, Empfindung, Erkenntnis (diese wieder<br />
zwischen Anschauung und Begriff) und bloßer Notion oder Idee unterschieden<br />
(»Von den Ideen überhaupt«, B 376 f.)
— 457 —<br />
gegebenen Begriff hinausgeht, nicht etwa die reine Anschauung ist, wie im<br />
rein geometrischen synthetischen Urteil, sondern allgemeiner das Medium<br />
des synthetischen Vergleiches des Begriffs eines gegebenen mit einem<br />
anderen Begriff, der offensichtlich ebenfalls ein Begriff von etwas<br />
Gegebenen ist, ohne analytisch im Begriff des ersteren enthalten zu sein.<br />
Dieses Medium sei gleich der innere Sinn 356 und die Form desselben ist die<br />
Zeit.<br />
Es bleibt aber aber unbestimmt, ob Kant im vierten Satz mit der<br />
Gegenüberstellung von der Synthesis der Vorstellungen (dann<br />
offensichtlich auf Anschauung bezogen), die auf der Einbildungskraft<br />
beruht, und der Einheit der Apperzeption überhaupt hat ausdrücken<br />
wollen, daß auch die Einheit der Apperzeption der Form des inneren<br />
Sinnes unterstünde, oder ob damit die reinen Verstandesbegriffe selbst frei<br />
von jeder Zeitbedingung gestellt und derart von der Zeitlichkeit der<br />
Einbildungskraft getrennt werden sollten. Im fünften Satz sucht Kant den<br />
noch fehlenden Grund zur Erkenntnis von Gegenständen eben dort, wo<br />
auch die reinen 357 synthetischen Urteile ihren Ursprung haben sollen: in<br />
den drei Quellen, synthetische Einheit der Apperzeption, Synthesis der<br />
Vorstellungen durch die Einbildungskraft, und nunmehr als dritte Quelle,<br />
dem inneren Sinn. Nun sagt hier Kant im Schlußsatz aber, daß die<br />
Erkenntnis von Gegenständen, die nunmehr in Rede steht, lediglich auf<br />
der Synthesis der Vorstellungen beruht. Das kann doch nur bedeuten, daß<br />
von den drei Quellen eine besonders angesprochen ist; daß also das reine<br />
synthetische Urteil a priori, das gesucht wird, das Schema der<br />
Einbildungskraft in der Synthesis der (verschiedenartigen) Vorstellungen<br />
sein muß. Dennoch wird der innere Sinn als Medium der Vermittlung<br />
nochmals herausgestellt, erfährt dabei aber eine Erweiterung seiner<br />
Bestimmung.<br />
356 Die Abhebung der Vorstellung als Begriff von den Vorstellungen als Affektationen<br />
(Zustände) des inneren Sinnes kennzeichnet Kant ansonsten auch gerne mit dem<br />
Gebrauch des Wortes „Gemüt“ an Stelle von „innerer Sinn“.<br />
357 Diese Reinheit entspringt Vorstellungen oder besser Vorstellungsverhältnissen, die<br />
Kant als a priori bezeichnet. Darunter wird aber eher Ursprünglichkeit zu verstehen<br />
sein als deren abermaligen Reinheit. Die Reinheit, die analytische oder synthetische<br />
Sätze über a priori geltende Verhältnisse besitzen sollen, ist eines; diese Verhältnisse<br />
aber können ihrerseits einen Grund besitzen, der u.U. zwar a priori gilt, aber selbst<br />
nicht rein genannt werden kann. Vgl. die Kausalität, die selbst nicht angeschauut<br />
werden kann, als Erkenntnis eines reinen Begriffes. Vgl. die verschiedenen<br />
Verhältnisse von a priori und rein im Kantschen Text bei K.Cramer, Nicht-reine<br />
synthetische Urteile a priori, Heidelberg 1985
— 458 —<br />
Wie erinnerlich, war der innere Sinn zuerst die Form der empirischen<br />
Apperzeption und der Assoziation, 358 dann prägte die<br />
Verstandeshandlung die Sukzessivität als allgemeinste Regel, die alle<br />
weiteren der Möglichkeit nach enthält, dem inneren Sinn als Form auf. 359<br />
Jedoch konnte die Zeit als Form des inneren Sinnes selbst bislang nicht<br />
mehr nach dem Grund der Sukzession und dem Grund der Zeitlichkeit der<br />
Verstandeshandlung verläßlich unterschieden werden. Dabei blieb der<br />
innere Sinn aber das Medium, in welches die Spontaneität der<br />
Verstandeshandlung mittels Einbildungskraft sich darstellt, indem die<br />
Apperzeption nicht nur als Aufmerksamkeit die Affektationen des inneren<br />
Sinnes wahrnimmt, sondern diese als Spontaneität auch in der<br />
reproduktiven Synthesis ordnet. 360 Der Ausdruck »Synthesis der<br />
Vorstellungen durch die Einbildungskraft« kann also sowohl bedeuten,<br />
daß die bestimmende Urteilskraft die Vorstellungen nach einem Konzept<br />
(Schema) ordnet, wie es bedeuten kann, daß die Erscheinungen durch die<br />
reproduktive Funktion der Einbildungskraft zusammengenommen<br />
werden, ohne das eine Verstandeshandlung vorliegt. 361 Damit wird jedoch<br />
prinzipiell eingeschlossen, daß der Schematismus dieser reproduktiven<br />
Funktion zum Schema eines Verstandesbegriffes tauglich wäre. Derart<br />
findet aber die Synthesis der Vorstellungen durch die Einbildungskraft<br />
doch immer schon im inneren Sinn statt, und zwar gleich, ob als<br />
Verstandeshandlung oder nicht. Jedoch hat der innere Sinn selbst nichts<br />
zur Synthesis der Vorstellung beizutragen, außer eben das Medium der<br />
Synthesis zu sein.<br />
Weiters: Die Verselbstständigung des inneren Sinnes als dritte Quelle des<br />
gesuchten synthetischen Urteils a priori (mit eigenen Verhältnisprädikaten<br />
und Vorstellungsverhältnissen a priori) ist mit der Entscheidung, die<br />
Synthesis der Vorstellungen durch die Einbildungskraft wäre in diesem<br />
Zusammenhang eben nur als Synthesis ohne Verstandeshandlung zu<br />
verstehen, noch nicht systematisch begründbar, da Kant von einem<br />
Zusammenwirken von Sinnlichkeit und Verstand ausgeht. Ohne weitere<br />
Eigenschaften des inneren Sinnes als notwendig anzunehmen, bliebe diese<br />
Erweiterung des inneren Sinnes ein bloßes Manöver, dem Widerspruch,<br />
358 Rekognition im Begriffe, A 107<br />
359 § 24, B 154 f.<br />
360 Vgl. dazu die Subordination des Ganzen, die zugleich die Koordination der Teile der<br />
Mannigfaltig-keit des Ganzen beinhalten sollte.<br />
361 Im Sinne des Übergangs im Begriff der Regel in der Synthesis der Reproduktion in<br />
der Einbildung und in der Synthesis der Rekognition im Begriffe, A 99 ff..
— 459 —<br />
den inneren Sinn, der schon der Synthesis der Vorstellungen (die<br />
Anschaungen enthalten) durch die Einbildungskraft psychologisch als<br />
Medium vorausgesetzt worden ist, nochmals als eigene Quelle der<br />
Urteilssynthesis herauszuheben, aus dem Wege zu gehen.<br />
Das Motiv ist klar: Kant will der Subjektivität der Konstitutionsleistung<br />
entkommen; zumal die Rechtfertigung des Gegenstandsbegriffes am<br />
gegebenen Objekt der Erfahrung bislang nicht restlos geglückt ist. Kant<br />
befreit nun den inneren Sinn von jedem Zusammenhang mit der<br />
transzendentalen Physiologie und macht ihn zum Innenraum der<br />
Probehandlung: Nicht Wahrnehmungen sollen verknüpft, sondern<br />
Begriffe zuerst anhand der Erfahrung verglichen werden, bevor ihr<br />
Verhältnis bestimmt wird, das im Anschluß daran den Vorstellungen in<br />
der Synthesis des Ungleichartigen begrifflich vorgeschrieben wird. Kant<br />
setzt an dieser Stelle also die Freiheit und Spontaneität der produktiven<br />
Einbildungskraft selbst, deren Unterordnung (Subordination) unter dem<br />
Verstand nur in der bestimmenden Urteilskraft allgemein gesichert ist,<br />
voraus. Unterscheiden und Vergleichen sind die Grundoperationen der<br />
Reflexion, und diese setzen die Freiheit der Reflexion voraus, die in der<br />
bloß reproduktiven Funktion der Einbildungskraft nicht gegeben ist. Es<br />
gibt also einige Gründe, Kant an dieser Stelle die Überlegung zuzumuten,<br />
er hätte mit der Heraushebung des inneren Sinnes zu einer eigenen Quelle<br />
des gesuchten reinen synthetischen Urteils a priori nicht jenen logischen<br />
Fehler begangen, sondern wahrhaftig hier mit dem Ausdruck »innerer<br />
Sinn« etwas anderes gemeint, als die psychologische Verwendung des<br />
gleichen Ausdrucks im Rahmen der Synthesis der Vorstellungen durch die<br />
Einbildungskraft bedeutet hat: denn diese Verwendung vermochte gerade<br />
psychologisch die Spontaneität in der Handlung der Reflexion nicht von<br />
der Spontaneität in der reproduktiven Funktion der Einbildungskraft zu<br />
unterscheiden.<br />
Die Hereinnahme der für sich selbst praktischen reinen Vernunft, die zur<br />
rein theoretischen Rechtfertigung der Möglichkeit von Erkenntnis<br />
offensichtlich nötig ist, bringt freilich einen Grund mit sich, die<br />
Subjektivität des erkennenden Subjekts gegenüber einem anderen<br />
erkennenden Subjekt intersubjektiv zu verlassen. Gerade das diskursive<br />
Moment an den Begriffen unseres Verstandes überhaupt kann aber nicht<br />
die Quelle des fraglichen Inhalts der empirischen Begriffe ausmachen; die<br />
Eröffnung des inneren Sinnes zum Raum von als praktisch vorgestellten
— 460 —<br />
Probehandlungen mit empirischen Begriffen kann in diesem Rahmen nur<br />
in der Funktion einer Hilfshypothese gesehen werden.<br />
Es bleibt also die Gegenüberstellung dreier Argumentationslinien zu<br />
beachten: 1. Die Zeitlichkeit der Verstandeshandlung versus Zeitlichkeit<br />
der Form des inneren Sinnes, 2. Die Synthesis als compositio und als nexus,<br />
3. Die Erweiterung des »inneren Sinnes« vom Raum der Konstruktion zum<br />
Innenraum der selbst schon diskursiv verfaßten Probehandlung. — Man<br />
sieht, wie der Raum der transzendentalen und reinen Reflexion mit den<br />
Raum der Synthesis mittels der Einbildungskraft in der Anschauung und<br />
in den sinnlichen Vorstellungen beginnen, ineinander überzugehen.<br />
§ 21 Die Zeitlichkeit der Verstandeshandlung und des inneren Sinnes<br />
a) Das ursprünglich bestimmende Verhältnis ist keines<br />
der Einbildungskraft<br />
In § 24 rechnet Kant eben dieses bestimmende Verhältnis von spontaner<br />
(reproduzierender und produzierender) Einbildungskraft zum inneren<br />
Sinn zuerst noch zur transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft: »Er<br />
[der Verstand] also übt, unter der Benennung einer transzendentalen<br />
Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt,<br />
dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere<br />
Sinn dadurch affiziert werde. Die Apperzeption und deren synthetische<br />
Einheit ist mit dem inneren Sinne so gar nicht einerlei, daß jene vielmehr,<br />
als Quell aller Verbindung auf das Mannigfaltige der Anschauung<br />
überhaupt unter dem Namen der Kategorien, vor aller sinnlichen<br />
Anschauung auf Objekte überhaupt geht; dagegen der innere Sinn die<br />
bloße Form der Anschauung, aber ohne Verbindung des Mannigfaltigen in<br />
derselben, mithin noch gar keine bestimmte Anschauung enthält, [...].« 362<br />
Die transzendentale Synthesis dürfte nach der Überlegung im hier<br />
vorhergehenden Paragraphen also die Bestimmung der empirischen<br />
Begriffe von den Affektationen des inneren Sinnes im Rahmen der<br />
Begrifflichkeit von Erscheinungsverhältnissen zwischen und innerhalb der<br />
Erscheinungen zu leisten haben. In der in § 24 darauf folgenden<br />
Darstellung bleibt für die Einbildungkraft aber kein Platz: die Sukzessivität<br />
362 B 153 f.
— 461 —<br />
einer jeden Handlung soll nicht mittels Einbildungskraft dem inneren Sinn<br />
bestimmt werden, sondern durch Einschränkung mittels Abstraktion<br />
bereits gegebener Erscheinungen der Anschauungen: »Bewegung, als<br />
Handlung des Subjekts, (nicht als Bestimmung eines Objekts,) folglich die<br />
Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren<br />
und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn<br />
seiner Form gemäß bestimmen, bringt so gar den Begriff der Sukzession<br />
zuerst hervor.« 363<br />
b) Zwei Zeitbedingungen: Der Wechsel und die logische Regel des<br />
Veränderlichen<br />
Nun soll der innere Sinn in § 24 die Sukzessivität erst durch die reine<br />
Verstandeshandlung ganz ohne äußere Sinnlichkeit bestimmt<br />
bekommen. 364 Soll das nun bedeuten, daß der bloße Wechsel der<br />
Erscheinungen in der empirischen Apperzeption (also vor dieser<br />
Verstandeshandlung) nicht der logischen Regel der Sukzessivität gehorcht,<br />
nämlich daß das, was zugleich kontradiktorisch entgegengesetzt wäre, also<br />
unmöglich ist, nach einander möglich sein kann? 365 Ja, denn die<br />
Sukzessivität nach der logischen Regel des Veränderlichen setzt die<br />
Beziehung der Prädikate auf ein und das selbe Ding voraus, um den<br />
Unterschied von B und non-B als kontradiktorischen Unterschied<br />
darstellen zu können. Das heißt, daß der bloße Wechsel der Erscheinungen<br />
in der empirischen Apperzeption nicht mit dem kontradiktorischen<br />
Gegensatz dargestellt werden kann, weil im bloßen Wechsel der<br />
Erscheinungen, auch wenn diese als solche vorgestellt werden, noch keine<br />
Beziehung eines Prädikates auf ein Ding enthalten ist. Das geschieht in der<br />
figürlichen Konstruktion. Auch wenn die wechselnden Erscheinungen der<br />
empirischen Apperzeption als wechselnde Zustände des empirischen<br />
Bewußtseins angesehen werden, ist der bloße Wechsel im Fluß der<br />
Erscheinungen der empirischen Apperzeption nicht geeignet, von der<br />
363 B 154<br />
364 B 154, Der Begriff bringt die Sukzession im inneren Sinn erst hervor.<br />
365 „Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil<br />
möglich ist. Was verändert wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer<br />
anderen Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist dieses nicht das<br />
kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfordert wird, daß in<br />
derselben Zeit, da der vorige Zustand war, an der selben Stelle desselben sein<br />
Gegenteil hätte sein können, welches aus der Veränderung gar nicht geschlossen<br />
werden kann. [...] Also beweist die Sukzession entgegengesetzter Bestimmungen, d.i.<br />
die Veränderung, keineswegs die Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes.“<br />
(K.r.V., A 456/B 486 f., Herv. v. Verf.)
— 462 —<br />
logischen Regel der Sukzessivität ausgedrückt zu werden, denn unter den<br />
Erscheinungen ist keine, die als Prädikat des empirischen Bewußtseins<br />
gelten könnte; noch mehr: die Erscheinungen der empirischen<br />
Apperzeption sind schlechterdings noch nicht als Prädikate von<br />
irgendetwas aufzufassen. 366 Die Form des inneren Sinnes ist nicht von<br />
selbst reine Anschauungsform und bestimmt auch nicht alle Arten der<br />
Zeitlichkeit weiter, sondern wird weiter bestimmt; darüber hinaus ist im<br />
nächsten Schritt noch zu fragen, ob zur Bestimmung der<br />
Anschauungsform nicht die räumliche Dimension unbedingt<br />
vorauszusetzen ist, ansonsten ja nicht von Anschauungs-form die Rede sein<br />
könnte. Es ist jedoch gerade nicht möglich, jeder gegenüber dem inneren<br />
Sinn bestimmenden Verstandeshandlung eine räumliche Bedeutung zu<br />
garantieren, wie die Bestimmungsversuche der Sukzession des inneren<br />
Sinnes durch den Verstand in § 24 zeigen, wie auch die logische Regel der<br />
Sukzessivität für sich allein eben noch nicht die vollständige formale<br />
Bestimmung der reinen Anschauung nach sich zieht.<br />
Die Bestimmung des inneren Sinnes durch die Verstandeshandlung des<br />
Einteilens und Verknüpfens kann also nur die zeitliche Dimension einer<br />
reinen Anschauung betreffen. Sofern aber Erscheinungen gegeben werden,<br />
wird mit ihnen auch der Raum gegeben, sobald ich diese als Vorstellung<br />
auf ein Objekt außer mir beziehe. 367 Gegeben werden sie aber nur im<br />
inneren Sinn, dessen Form die Zeit ist, schon bevor die<br />
Verstandeshandlung diesen zur Sukzession bestimmt. Daß der Raum<br />
selbst zur Vorstellung wird, dazu ist aber die bloße Zuschreibung einer<br />
Vorstellung auf ein Objekt außer mir nicht ausreichend, denn damit wird<br />
nur das Bewußtsein der Distanz erzeugt. Erst in der Synthesis der<br />
Apprehension wird der Ausdehnung eine Vorstellung erzeugt und damit<br />
kann der Raum auch allererst von uns eingeteilt werden.<br />
Die Bedeutung des Zugleichseins für die Frage nach den Bedingungen von<br />
Erkenntnis durch Anschauung verschärft noch die Gegenüberstellungen in<br />
der Zeitbedingung überhaupt, die sowohl einerseits die Form der bloßen<br />
Assoziation (auch als empirische Apperzeption), die Form der Synthesis<br />
der geregelten Vorstellungen durch die reproduktive Funktion der<br />
empirischen Einbildungskraft, wie nochmals die Zeitlichkeit der<br />
366 R.Aschenberg, Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982, p. 219.<br />
Der Wechsel der Erscheinungen ist keine Prädikabilie.<br />
367 Erste metaphys. Erörterung des Raumes
— 463 —<br />
Verstandeshandlung selbst wie auch gegenüber dem inneren Sinn als<br />
Vorstellungsreihe der reproduktiven Einbildungskraft gemäß reiner<br />
Verstandesbegriffe umfaßt, aber auch der absoluten Einheit der nichtsukzessiven<br />
Synthesis und auch der behaupteten Unabhängigkeit der<br />
reinen Verstandesbegriffe von jeder Zeitbedingung andererseits gegenüber<br />
zu stellen ist. Der Nachweis, daß auch die synthesis intellectualis als<br />
Verstandeshandlung mit der logischen Regel der Sukzession die nämliche<br />
Zeitbedingung des inneren Sinnes besitzt, reicht nicht aus, die<br />
Unabhängigkeit reiner Verstandesbegriffe von Zeitbedingungen zu<br />
widerlegen. Vgl. etwa § 25:<br />
»So wie zum Erkenntnisse eines von mir verschiedenen Objekts, außer<br />
dem Denken eines Objekts überhaupt (in der Kategorie), ich doch noch<br />
einer Anschauung bedarf, dadurch ich jenen allgemeinen Begriff<br />
bestimme, so bedarf ich auch zum Erkenntnisse meiner selbst außer dem<br />
Bewußtsein, oder außer dem, daß ich mich denke, noch eine Anschauung<br />
des Mannigfaltigen in mir, wodurch ich diesen Gedanken bestimme, und<br />
ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt<br />
ist, in Ansehung des Mannigfaltigen aber, das sie verbinden soll, einer<br />
einschränkenden Bedingung, die sie den inneren Sinn nennt, unterworfen,<br />
jene Verbindung nur nach Zeitverhältnissen, welche ganz außerhalb den<br />
eigentlichen Verstandesbegriffen liegen, anschaulich machen, und sich daher<br />
selbst doch nur erkennen kann, wie sie, in Absicht auf eine Anschauung<br />
(die nicht intellektuell und durch den Verstand selbst gegeben sein kann),<br />
ihr selbst bloß erscheint, nicht wie sie sich erkennen würde, wenn ihre<br />
Anschauung intellektuell wäre.« 368<br />
Zwar liegt in der transzendentalen Freiheit nichts von der Erfahrung<br />
entlehntes (B 561), aber es ist mitnichten ein Widerspruch, wenn Kant an<br />
anderer Stelle einräumt, daß die Folgen der spontanen Handlungen in den<br />
Erscheinungen erfahren werden können. Die Fortsetzung des gegebenen<br />
Zitats: »Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das<br />
Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin, ebenso<br />
so vor dem Actus des Bestimmens gibt, wie die Zeit das Bestimmbare, so<br />
kann ich mein Dasein, als eines selbstständigen Wesens nicht bestimmen,<br />
sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d. i. des<br />
368 B 158 f., Hervorh.v. mir
— 464 —<br />
Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich [...]« 369 besagt<br />
aber alles andere als die Feststellung, daß die spontane Aktivität doch als<br />
unmittelbare Erfahrung existiert, wie mancherorts behauptet wird,<br />
sondern gerade, daß ich mich, im Bestimmen der Sinnlichkeit, selbst<br />
unmittelbar nur als Spontaneität meines Denkens vorstellen kann. Die<br />
Fortsetzung des Zitats, sagt also aus, daß ohne die hypothetische<br />
Selbstanschauung, wo das Bestimmende wie das Bestimmte ebenso<br />
(zugleich) gegeben wird, ich mein Dasein als ein selbsttätiges Wesen (nicht<br />
bloß empirisch kausiert) nicht bestimmen, sondern nur vorstellen könne.<br />
Nun sagt Kant schon eingangs, daß unter dem Vermögen des Vorstellenkönnens<br />
in diesem Zusammenhang nur das Denken in einem Begriff<br />
gedacht werden kann. —<br />
Kant zeigt hier zweierlei: Erstens, daß wir als anschauende Intelligenzen<br />
uns das Anschauungsvermögens a priori bewußt machen können, ohne<br />
das auf die Spezifikation der empirischen Mannigfaltigkeit<br />
zurückgekommen werden muß. Zweitens, daß die Zeitbedingung des<br />
inneren Sinnes zuerst die des Wechsels ist, auch wenn die<br />
Verstandeshandlung dem inneren Sinn die logische Ordnung der<br />
Sukzessivität gibt. Insofern muß die Gegenüberstellung von<br />
synthesis intellectualis und synthesis speciosa in § 24, B 151, die für Verstand<br />
wie für Sinnlichkeit die nämliche Zeitbedingung vorstellig macht, nicht<br />
gegen die Reinheit der Verstandesbegriffe von jeder Zeitbedingung<br />
sprechen. Im dritten Hauptstück der transzendentalen Doktrin der<br />
Urteilskraft (Analytik der Grundsätze), in: »Von dem Grunde der<br />
Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und<br />
Noumena« findet sich eine Formulierung über die reine Kategorie ohne<br />
jede Zeitbedingung, die schon aus einem anderen Zusammenhang bekannt<br />
ist: »Vom Begriffe der Ursache würde ich (wenn ich die Zeit weglasse, in<br />
der etwas auf etwas anderes nach einer Regel folgt,) in der reinen<br />
Kategorie nichts weiter finden, als daß es so etwas sei, woraus sich auf das<br />
Dasein eines anderen schließen läßt, und es würde dadurch [...] Ursache<br />
und Wirkung gar nicht voneinander unterschieden werden können.« 370<br />
Offensichtlich wird erwartet, durch Hinwegnahme der Bedingungen der<br />
Anschauungsform zum transzendentallogischen Inhalt der reinen<br />
369 l. c.<br />
370 A 243/B 301
— 465 —<br />
Verstandesbegriffe zu gelangen. Sehen wir von der Form der Handlung<br />
ab, die uns die Objekte in der Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen im<br />
Raume bestimmen, »so sehen wir, daß die Verstandeshandlung sogar die<br />
Sukzessivität des inneren Sinnes bestimmt« — das Absehen von der<br />
räumlichen Bedeutung des Schemas der Verstandeshandlung führt aber<br />
nicht zuerst zur Zeitlichkeit des inneren Sinnes, sondern gleich zur<br />
Zeitlichkeit der Verstandeshandlung, die ihre Regel allererst der<br />
Zeitlichkeit des inneren Sinnes aufprägt. — Wie aber soll es möglich sein,<br />
von der Zeit als Form des inneren Sinnes abzusehen, wie in § 26 für die<br />
Exponation der Kausalitätskategorie verlangt?<br />
c) Die Exponation der dynamischen Kategorien in der transzendentalen<br />
Deduktion erfolgt durch Abstraktionshandlung und nicht durch<br />
Synthesis<br />
Die systematische Exponation der dynamischen Kategorien in der<br />
transzendentalen Deduktion erfolgt nun in § 26 ebenfalls mittels der<br />
Abstraktion. Obgleich im § 24 der Deduktion zuerst die Notwendigkeit der<br />
Schematen vorgestellt wird (synthesis speciosa in empirischer und in<br />
transzendentaler Funktion), wird sowohl zur Bestimmung der Kategorie<br />
der Substanz wie der Kategorie der Kausalität in § 26 nochmals die<br />
Abstraktion herangezogen.<br />
Die Argumente der beiden Zitate (Apprehension des Hauses,<br />
Apprehension des gefrierenden Wassers) in § 26 verfahren nach dem<br />
gleichen Argument wie in § 24, nach welchem der Verstand den inneren<br />
Sinn zur Sukzessivität bestimme:<br />
i. »[...] dieselbe synthetische Einheit aber, wenn ich von der Form des<br />
Raumes abstrahiere, hat im Verstande ihren Sitz, und ist die Kategorie der<br />
Synthesis des gleichartigen in einer Anschauung überhaupt, d.i. die<br />
Kategorie der Größe [...]« (B 162)<br />
ii. »[...] wenn ich von der beständigen Form meiner inneren Anschauung,<br />
der Zeit, abstrahiere, [ist] die Kategorie der Ursache, [...]« (B 162 f.)<br />
iii. »Bewegung, als Handlung des Subjekts, (nicht als Bestimmung eines<br />
Objekts,) folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir<br />
von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch<br />
wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt so gar den<br />
Begriff der Sukzession zuerst hervor.« (B 154)
— 466 —<br />
Die Abstraktion vom Raum in (i) und (iii) zu einer Regel der Zeitordnung<br />
im Begriff führt zu gegenüber der Zeitlichkeit des inneren Sinnes und der<br />
Verstandeshandlung selbstständigen Inhalten; die Abstraktion in (ii), mit<br />
welcher von der Zeit überhaupt abgesehen werden soll, nimmt aber die<br />
Zeit sowohl für die Sinnlichkeit wie für die Verstandeshandlung hinweg<br />
— ich wüßte nicht, auf welche Weise man hier noch von Kausalität reden<br />
könnte. (ii) kann so verstanden werden, daß a) die bloße Worterklärung<br />
der Ursache bereits eine Zeitbedingung mitbringt, oder aber auch so, daß<br />
b) die Kategorie der Ursache ohne Zeitbedingung nichts anderes als die<br />
mit dem Dasein notwendigerweise zu setzende Vielheit ausdrückt. Doch<br />
ist die Abstraktion in (ii) nicht als — womöglich ideales — Zugleichsein<br />
zu verstehen. Die Behandlung der Kategorien in § 26 ist in der Tat so, wie<br />
sie Konrad Cramer 371 beurteilt hat: nur das erste Beispiel der Apprehension<br />
des Hauses kann überhaupt als Kategorie in der transzendentalen<br />
Deduktion erkannt werden — aber nur als mathematische Kategorie und<br />
nicht als Kategorie der Substanz oder Beharrlichkeit. Ich schließe aber<br />
daraus, daß erstens zur Behandlung der Frage der objektiven Realität<br />
unserer Vorstellungen die Behandlung der Schematen (die Untersuchung<br />
der Urteilskraft) vorausgesetzt wird (wie eben schon in § 24 angezeigt),<br />
und daß zweitens die Bedeutung von objektiver Gültigkeit von deren<br />
grundsätzlich festgesetzten Verbindung zur objektiven Realität unserer<br />
Vorstellungen abhängt. Eine verminderte Geltung von »objektiver<br />
Gültigkeit« bietet Kant bekanntlich in der K.d.U., § 62 an: die reine<br />
Zweckmäßigkeit der Mathematik erweise ihren Elementen objektive<br />
Gültigkeit, unabhängig von einem gegebenen äußeren Zweck der<br />
Konstruktion. Insofern kann zumindest von der Exposition der Kategorie<br />
der Beharrlichkeit objektive Gültigkeit auch ohne vollständigen Nachweis<br />
371 CRAMER 1985, Exkurs IV. K.C.'s Denkfehler scheint mir in der Übertreibung zu<br />
liegen, die empirische Zufälligkeit unserer subjektiven Verfaßtheit der Sinnlichkeit<br />
auf den ganzen Umkreis des Schematismus, ja selbst auf die Subjektivität von Raum<br />
und Zeit als Formen unserer Anschauung auszudehnen: »Ich kann nicht nur,<br />
sondern muß sogar in beiden Fällen [die Beispiele der Apprehension des Hauses<br />
und des gefrierenden Wassers in § 26] von den Formen "meiner" Sinnlichkeit, Raum<br />
und Zeit, absehen, um mich darüber ins Klare zu setzen, daß die Synthesisfunktion<br />
der in Frage stehenden Kategorien auch dann, wenn sie auf diese Formen bzw. auf<br />
in diesen Formen gegebene Inhalte angewendet werden, unabhängig von dieser<br />
oder jener Anwendung zu explizieren ist. Gerade und nur auf Grund dieser ihrer<br />
logischen Unabhängigkeit von dem, auf was sie dabei angewendet werden, können<br />
sie überhaupt eine solche (oder eine andere) Anwendung erfahren — wie immer<br />
deren Bedingungen näher aussehen mögen.« (p. 373). Hingegen halte ich die<br />
empirische Zufälligkeit der Organisation unserer Sinnlichkeit nicht für äquipollent<br />
mit der Subjektivität des Bewußtseins.
— 467 —<br />
der objektiven Realität erwartet werden, der eben definitionsgemäß nur<br />
mehr dynamisch erfolgen kann.<br />
Kant hat nun inmitten und gegen Ende des Abschnittes der Deduktion, die<br />
gemeinhin als transzendentale Deduktion bekannt ist, die Überlegung<br />
zwischen rationaler Psychologie (ich denke) und rationaler Physiologie<br />
(innerer Sinn) abgebrochen, und dieser Erörterung als metaphysischsynthetische<br />
die transzendental-analytische Untersuchung<br />
gegenübergestellt. Das kann nur als Rückbesinnung auf eine Überlegung,<br />
die Kant schon in der ersten Fassung im Rahmen der Paralogismen<br />
angestellt hat, verstanden werden.<br />
d) Zur Stellung der synthetischen Metaphysik in der<br />
transzendentalen Analytik. Die Methodenfrage<br />
Nach der Substanzkritik im Paralogismus ist das Verhältnis von rationaler<br />
Psychologie des »ich denke« und rationaler Psychologie des inneren<br />
Sinnes in der transzendentalen Deduktion für Kant bereits als eine<br />
synthetisch-metaphysische Strategie zu verstehen, deren Entwürfe im<br />
Rahmen des Zusammenwirkens der Erkenntnisvermögen (also<br />
Psychologie) schlußendlich in das Schematismusproblem münden. Ich<br />
zitiere diese zentrale Schaltstelle in der Methodenfrage:<br />
»Nehmen wir nun unsere obigen Sätze, wie sie auch für alle denkenden<br />
Wesen gültig, in der rationalen Psychologie als System genommen werden<br />
müssen, in synthetischem Zusammenhange, und gehen, von der Kategorie<br />
der Relation, mit dem Satze: alle denkenden Wesen sind, als solche,<br />
Substanzen, rückwärts die Reihe derselben, bis sich der Zirkel schließt,<br />
durch, so stoßen wir zuletzt auf die Existenz derselben [...]. Hieraus folgt<br />
aber, daß der Idealism in eben demselben rationalistischen System<br />
unvermeidlich sei, wenigstens der problematische, und, wenn das Dasein<br />
äußerer Dinge zu Bestimmung seines eigenen in der Zeit gar nicht<br />
erforderlich ist, jenes auch nur ganz umsonst angenommen werde, ohne<br />
jemals einen Beweis davon angeben zu können. Befolgen wir dagegen das<br />
analytische Verfahren, da das Ich denke, als ein Satz, der schon ein Dasein<br />
in sich schließt, als gegeben, mithin die Modalität, zum Grunde liegt, und<br />
zergliedern ihn, um seinen Inhalt, ob und wie nämlich dieses Ich im Raum<br />
oder der Zeit bloß dadurch sein Dasein bestimmt, zu erkennen, so würden<br />
die Sätze der rationalen Seelenlehre nicht vom Begriffe eines denkenden
— 468 —<br />
Wesens überhaupt, sondern von einer Wirklichkeit überhaupt anfangen,<br />
und aus der Art, wie diese gedacht wird, nachdem alles, was dabei<br />
empirisch ist, abgesondert worden, das was einem denkenden Wesen<br />
überhaupt zukommt gefolgert werden [...].« 372<br />
Es gibt also in der transzendentalen Deduktion (ab § 14) nicht nur die<br />
doppelte Strategie von Anschauung oder Verstand als ursprüngliche<br />
Synthesis, sondern auch die doppelte Strategie von synthetischmetaphysischer<br />
Argumentation und transzendentalanalytischer<br />
Argumentation, wobei die erstere plötzlich auch die Argumentation der<br />
ursprünglich-synthetischen Apperzeption (und deren Doppeltheit)<br />
umfaßt, auf die am Beginn der transzendentalen Analytik, aber<br />
offensichtlich nicht im Rahmen der transzendentalen Deduktion verzichtet<br />
werden kann. Wir haben diese synthetische Metaphysik (das »Ich denke«<br />
zwischen Verstand und Anschauung: transzendentale Psychologie)<br />
selbstredend von den metaphysischen Anfangsgründen der<br />
Naturwissenschaften, aber auch von einer Metaphysik der Geschichte oder<br />
der Gesellschaft abzuheben.<br />
Ich verstehe diese Unterscheidung in synthetisch-metaphysischer und<br />
transzendentalanalytischer Methode folgendermaßen: Sind wir uns als<br />
geistige Wesen bewußt, die wir uns der objektiven Realität anhand der<br />
Erfahrung erst synthetisch vergewissern müssen, 373 dann ist formal aus<br />
dem Prinzip von Grund und Folge das Kausalitätsprinzip in beiden<br />
Sinnarten abzuleiten (Handlungsfolgen und rein naturgesetzlich<br />
beschreibbare Naturvorgänge). Sind wir uns aber als empirische Wesen<br />
bewußt, haben wir uns im Gegenzug zum cartesianischen cogito ergo sum<br />
der subjektiven Realität des eigenen Bewußtseins durch Abstraktion von<br />
jeder empirischen Erfahrung erst analytisch zu vergewissern, sodaß von<br />
dem dann nur praktisch als Postulat eines jeden Verhaltens als Handlung<br />
der Spontaneität vorausgesetzten Kausalitätsprinzip zum reinen Prinzip<br />
von Grund und Folge erst abstrahiert und verallgemeinert wird. 374 Die<br />
Verwickeltheit der Argumentation des von Kant aus guten Gründen<br />
gewählten zweiten Untersuchungsganges, der analytisch die Erfahrung als<br />
372 B 416 ff.<br />
373 Vgl. eben hier im Paralogismus die analytische (numerische) und synthetische<br />
Vorstellung des Bewußtseins als Subjekt, B 416 f..<br />
374 Das kategoriale Aussagen als Feststellung einer Schuld, M. Heidegger, Aristoteles,<br />
GW, Bd. 33: Die ersten drei Bücher der Metaphysik, § 1.
— 469 —<br />
Fundament auch der subjektiven Realität voraussetzt, führt zu der nicht<br />
wenig absonderlichen Situation, daß das Kausalitätsprinzip, ungeschieden<br />
nach Kausalität aus Freiheit (die Entscheidung, welcher Endzweck zu<br />
verfolgen ist) oder nach Kausalität als Ursache und Wirkung in der Natur<br />
überhaupt (für unsere Technik: Kausalität durch Freiheit), einem<br />
Untersuchungsgang vorausgesetzt ist, der nach der abermaligen<br />
Abstraktion von diesem allgemein intelligibel vorausgesetzten<br />
Kausalitätsprinzip nur neuerlich zum Prinzip von Grund und Folge als ein<br />
formal ursprünglich erscheinendes Gesetz der reinen Geistestätigkeit<br />
gelangt (was zuvor als synthetische Metaphysik und als unzureichend<br />
bezeichnet worden ist), von dem ausgehend dann wiederum erst die auf<br />
das Subjektive gerichtete transzendentale Analytik das Kausalitätsprinzip<br />
in der Gestalt der Kausalität aus Freiheit als Wiedergewinnung der<br />
Strebung in der transzendentalen Freiheit des Subjektiven konkretisiert<br />
wird. Zugleich tritt damit die Kausalität der Handlung (Kausalität durch<br />
Freiheit) als Vorbild der Naturkausalität nach dem Schema von Ursache<br />
und Wirkung auf, 375 dessen Überprüfbarkeit anhand der empirischen<br />
Erfahrung (entlang der Falsifikation konkreter Entwürfe) allein Auskunft<br />
über die empirische Gesetzmäßigkeit der Determinationen in der Natur<br />
überhaupt gemäß des Kausalitätsprinzipes geben können soll — dabei<br />
allerdings die transzendentale Vorausgesetztheit des Kausalitätsprinzipes<br />
überhaupt eben schon vor dessen Abstraktion zum Prinzip von Grund<br />
und Folge als Prinzip reiner, von jeder Erfahrung unabhängiger<br />
Geistestätigkeit der Verknüpfung, unterschlagend. 376<br />
Kant setzt demnach die zwei Alternativen eigentlich nicht kontradiktorisch<br />
gegeneinander, sondern weist zwei verschiedene phänomenologische<br />
Ansätze an, wobei der transzendentalanalytische zwar grundlegend ist zur<br />
Unterscheidbarkeit von möglich und wirklich, aber schon wie der<br />
synthetisch-metaphysische von der gleichen Orientierung im Denken<br />
ausgeht. 377 Geht die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von<br />
375 So im synthetischen Grundsatz, K.r,V., B 249<br />
376 Eine weiterführende Diskussion Spinozas muß ich hier leider verweigern<br />
377 Damit gehen auch die zwei Konzepte des Ding an sich einher: das eine als<br />
transzendentales Objekt = X ohne Einbildungskraft, das andere als Ding der Allheit<br />
aller möglichen Prädikate mit Einbildungskraft Vgl. dazu die verschiedene<br />
Interpretationen des philosophischen Atomismus von Herbart und Zimmermann:<br />
Herbart sieht transzendentalanlaytisch das philosophische Atom als Grund des<br />
Widerspruches in der Erfahrung, Robert Zimmermann sieht das philosophische<br />
Atom als Abschluß der Erfahrung (transzendentale Einbildungskraft). Siehe weiters<br />
auch G. W. Cernoch: Zimmermanns Grundlegung der Herbartschen Ästhetik: Eine
— 470 —<br />
Erfahrung also auf das Schema der Apprehension der Erscheinungen (der<br />
Zeitreihenfolge) oder auf eine objektiv-transzendentale Apperzeption der<br />
Zeitordnung (die allerdings gerade die Mitwirkung des intelligiblen<br />
Ursache-sein-könnens des Subjekts selbst im Rahmen der Kausalität aus<br />
Freiheit praktisch für die inhaltliche Bestimmung der Zeitordnung in<br />
kategorialer Erkenntnisabsicht ausschließt), so ist unter diesen<br />
Vorausetzungen nicht nur im Rahmen der rationalen Physiologie und der<br />
rationalen Psychologie immer schon notwendigerweise von einer<br />
synthetischen Metaphysik die Rede, die freilich streng von den<br />
metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft oder einer<br />
analytischen Metaphysik (sei sie realistisch oder hermeneutisch)<br />
überhaupt zu unterscheiden ist.<br />
Während zuerst die metaphysische Deduktion im allgemeinen mit dem<br />
§ 12 ihren Abschluß findet, weil mit dem qualitativen Gebrauch der<br />
quantitativen Kategorie auch die Erörterung des Ursprunges des<br />
Verhältnisses von logischen und kategorialen Quantum ihren ersten<br />
Endpunkt gefunden hat, erweist sich nun nach der Einspielung der<br />
gegenläufigen Perspektiven von transzendentaler Analytik und<br />
synthetischer Metaphysik aus dem Umkreis der Paralogismen (was<br />
durchaus als Selbstkritik Kantens an Teile der rationalen Physiologie der<br />
transzendentalen Analytik, insbesondere des Gebrauches der<br />
Einbildungskraft überhaupt verstanden werden kann), die transzendentale<br />
Deduktion selbst nochmals gespalten in synthetischer Metaphysik und<br />
transzendentaler Analytik. Damit wird die ursprüngliche Problemstellung<br />
zwischen formaler und allgemeiner Logik als Problem des Ursprunges der<br />
Kategorien in die Problemstellung, zwischen transzendentalem und<br />
empirischem Subjekt entscheiden zu müssen, verschoben. Das<br />
entscheidende Problem wird nicht mehr als ein allein formal zwischen<br />
Logik und Kategorie lösbares angesehen, sondern als Problem eines<br />
endlichen und in der Welt seiendes Wesens aufgefaßt, das mit Intelligenz<br />
und mit Anschauung begabt ist (transzendentale Anthropologie).<br />
Kant macht anhand des Wechsels seiner Strategie, die im § 24 anhand der<br />
Bedeutung der Einbildungskraft zwischen Verstand und Sinnlichkeit<br />
Brücke zwischen Bolzano und Brentano, in: Verdrängter Humanismus - verzögerte<br />
Aufklärung, Bd. 3, Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum<br />
Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820-1880), Hrsg. Michael Benedikt,<br />
Reinhold Knoll, Verlag Edituria Triade, Klausen-Leopoldsdorf, Ludwigsburg,<br />
Klausenburg 1995
— 471 —<br />
ersichtlich wird, auf die Schwierigkeit aufmerksam, daß die theoretische<br />
Vernunft für sich selbst betrachtet, praktisch wird (so wie die<br />
Untersuchung der praktischen Vernunft, für sich selbst nach ihrem<br />
Ursprung betrachtet, theoretisch und psychologisch wird). Dieser<br />
Perspektivenwechsel ist in Ansätzen auch in den Untersuchungen des<br />
Duisburger Nachlasses zu erkennen, insofern dort — unter wechselnden<br />
Vorzeichen — vom Erfahrungsganzen ausgegangen worden ist. M. a. W.,<br />
die Neufassung der Problemstellung der transzendentalen Deduktion in B<br />
ist nicht allein dem gesteigerten Problembewußtsein Kantens hinsichtlich<br />
der Stellung der empirischen Anthropologie im Rahmen einer<br />
transzendentalen Anthropologie und Transzendentalphilosophie zu<br />
überantworten. So bleibt gerade allein auf diese Wendung zu einer<br />
»transzendentalen Psychologie« (rationale Psychologie im Verhältnis zur<br />
rationalen Pysiologie) Bezug nehmend die entscheidende Frage, wie sind<br />
synthetische Urteile a priori möglich, in kategorialer Hinsicht ohne<br />
Rückgriff auf modallogische Problemstellungen nur unvollständig<br />
beantwortbar. Eben dieser Fragestellung ist aber Kant auch nach seiner<br />
Einspielung des Paralogismus in die sogenannte transzendentale<br />
Deduktion spätestens ab § 24 beharrlich auf jenem Weg nachgegangen, der<br />
nunmehr inmitten der transzendentalen Analytik synthetischmetaphysisch<br />
heißen müßte; also in der Tat insofern schon zumindest die<br />
abschnittweise Verwandlung der Metaphysik in<br />
Transzendentalphilosophie genannt werden darf.<br />
Ich will das Ergebnis (nicht die Methode) der transzendentalen Deduktion<br />
(als Textkorpus selbst), gerade nur hinsichtlich der genannten<br />
Feststellungen zur Modalität der Kategorien in § 26 nicht für viel<br />
weitergehend halten, als das Ergebnis der Untersuchungen im Duisburger<br />
Nachlaß, die nur zur Einheit von Vernunftideen geführt haben. Die<br />
Prinzipien der Darstellung sind zwar verschieden, aber beide<br />
Unternehmungen führen bloß zur Behauptung, sie könnten die in B bereits<br />
charakterisierten Kategorien 378 mit objektiver Gültigkeit wegen der<br />
Rechtfertigung des Anspruchs auf die Einheit der natura materialiter<br />
378 Hier will ich nur kurz meine Auffassung zur Frage der Einteilung skizzieren; eine<br />
Diskussion folgt später:<br />
1) bis § 20 »daß« Kategorien gelten als Forderung aus der subjektiven Deduktion<br />
2) ab § 21, »wie« Kategorien gelten müssen als Forderung:<br />
a) Unterscheidung nach subjektiver (§ 24, 25) und objektiver Deduktion (§ 22, § 26)<br />
b) Unterscheidung nach mathematischer (§ 22) und dynamischer Kategorie (§ 26)<br />
innerhalb der objektiven Deduktion
— 472 —<br />
spectata und natura formaliter spectata (respektive auf Totalität) 379 behaupten.<br />
Ich denke nun, daß die synthetischen Grundsätze die Bedingungen der<br />
objektiven Realität unserer Vorstellungen mit objektiver Gültigkeit<br />
formulieren (oder als solche Grundsätze angesehen werden müssen), die<br />
transzendentale Deduktion aber die Notwendigkeit reiner<br />
Verstandesbegriffe für anschauende Intelligenzen sowohl in objektiver<br />
Deduktionsrichtung wie in subjektiver Deduktionsrichtung überlegt, aber<br />
ohne synthetische Grundsätze noch innerhalb der subjektiven Deduktion<br />
verbleibt. 380 — Da die synthetischen Grundsätze verschiedene Abschnitte<br />
der metaphysischen wie der transzendentalen Deduktion beanspruchen,<br />
ohne daß von Kant die Trennung in Bedingungen der empirischen<br />
Organisiertheit der Sinnlichkeit von den rein begrifflichen Bedingungen<br />
verläßlich für alle Fälle getroffen worden ist, kann insofern zumindest der<br />
Anspruch auf den verminderten Gebrauch von »objektiver Gültigkeit« wie<br />
schon für die bloße Zweckmäßigkeit der Mathematik in § 62 der K.d.U.<br />
auch erhoben werden.<br />
Das zentrale Thema, das Vermittlungsproblem von Leib und Seele, 381<br />
übersetzt sich unter diesen Umständen in die eigentlich dem Leser<br />
aufgegebene Problemstellung, nämlich die anhand der Durchlässigkeit der<br />
Begriffsunterscheidungen sich einstellende Inkonsistenz der<br />
Begriffsverwendungen gegenüber der unwiderleglich als Faktum<br />
behaupteten Möglichkeit der Vermittlung abzuwägen. Was aber soll nun<br />
semiotich diffundierend vermittelt werden? Zuerst Verstandesbegriff und<br />
Sinnlichkeit, aber es soll dem Verhältnis von Vorstellungen dabei eine<br />
Regel gefunden werden, die in der Regel der Reproduktion der bloßen<br />
Formen der Anschauung nicht enthalten sein kann, sodaß erst deren<br />
komplementäre dynamischen Verhältnisprädikate der in der Anschauung<br />
gegebenen Merkmale in der Zeit auch die Aussagen nunmehr gesuchten<br />
synthetischen Urteile a priori über die in der Anschauung identifizierten<br />
Gegenstände sein sollten. Das Bemerkenswerte daran ist, daß diejenigen<br />
Verhältnisprädikate, die die formale und die reine Anschauung<br />
379 Im Duisburger Nachlaß auf objektive Allgemeinheit der Einheit von ganzer<br />
Sinnlichkeit, dem ganzen Denken einem dati gegenüber, und Totalität bezogen.<br />
380 CRAMER 1985, p. 287: Die objektive Gültigkeit der Kategorien ist unabhängig von der<br />
Art der Sinnlichkeit nachzuweisen (Cramer) — oder es wird zuerst jeweils der<br />
Nachweis objektiver Realität der Kategorien fällig (Cernoch).<br />
381 Es soll also im inneren Sinn eine Vorstellung möglich sein, welche nach Suarez<br />
sowohl die Eigenschaften des Phantasma wie die Eigenschaften der Phantasie<br />
besitzt. Vgl. dazu J. Ludwig, Das akausale Zusammenwirken (Sympathia) der<br />
Seelenvermögen in der Erkenntnislehre des Suarez, München 1929, p. 41-51.
— 473 —<br />
konstituieren, zwar eine Synthesis a priori einschließen, aber nicht selbst<br />
ein reines synthetisches Urteil a priori der Geometrie sind; dieselben sollen<br />
vielmehr erst die Folge der Verhältnisprädikate der reinen Anschauung<br />
sein. In der dynamischen Kategorie aber ist für das Verhältnisprädikat<br />
selbst schon ein synthetisches Urteil a priori notwendig.<br />
§ 22 Die drei Quellen der »vermittelnden Vorstellung« und das<br />
transzendentale Schema<br />
a) Analytische und transzendentale Zeitordnung<br />
Nach der Vorstellung des Zielpunktes der Erörterungen im Kapitel »Von<br />
dem Schematismus des reinen Verstandesbegriffes« und der zu<br />
erwartenden Schwierigkeiten, das synthetische Urteil a priori zu<br />
rechtfertigen, kann der folgenden einführenden Bemerkung Kants<br />
nunmehr die nötigen Bestimmungsstücke gesucht werden: »Der<br />
Verstandesbegriff enthält reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen<br />
überhaupt. Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des<br />
inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein<br />
Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Nun ist eine<br />
transzendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie (die die Einheit<br />
derselben ausmacht) so fern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer<br />
Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung so fern<br />
gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des<br />
Mannigfaltigen enthalten ist. Daher wird eine Anwendung der Kategorie<br />
auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen<br />
Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandsbegriffe, die<br />
Subsumtion der letzteren unter die erstere vermittelt.« 382<br />
Demnach ist der reine Verstandesbegriff selbst nicht sukzessive, sondern<br />
erst dessen transzendentale Zeitbestimmung. Die Einheit dieser<br />
Zeitbestimmung soll aber wiederum die der Kategorie sein. 383 Die<br />
382 K.r.V., B 177 f./A 138<br />
383 Vgl. die erste Erklärung in der »Synthesis der Rekognition im Begriff« zu deren<br />
ersten Funktion, das Ganze der sukzessiven Synthesis der Reproduktion gegenüber<br />
der Möglichkeit weiterer (endloser) Sukzession zu beschränken. Diese Funktion geht<br />
der Beziehung auf das transzendentale Objekt = X voraus. Die Zeitbestimmung hier<br />
ist auch nicht sofort gleichbedeutend mit den dynamischen Zeitmodi Beharrlichkeit,<br />
Folge und Zugleichsein (B 220/A 177) oder den mathematischen modi der reinen<br />
Sinnlichkeit (quando, ubi, situs, imgleichen prius, simul, § 10, B 107/A 81); sie ist<br />
also selbst noch nicht notwendigerweise nur als kategoriale Zeitbedingung zu
— 474 —<br />
vorangehenden ersten zwei Sätze des gegebenen Zitats stellen den<br />
Verstandesbegriff als eine reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen<br />
überhaupt enthaltend vor, dem die Zeit, als formale Bedingung des<br />
Mannigfaltigen im inneren Sinn gegenübersteht. Mit welchem Grunde<br />
kann Kant die synthetische Einheit des reinen Verstandesbegriffes mit der<br />
formalen Bedingung des inneren Sinnes verbinden, weshalb kann er die<br />
reine Mannigfaltigkeit des Verstandesbegriffes mit der Mannigfaltigkeit<br />
des inneren Sinnes, schließlich mit der Mannigfaltigkeit der reinen<br />
Anschauung identifizieren? — Im synthetischen Grundsatz wird der reine<br />
Verstandesbegriff bereits als die Zeitordnung beinhaltend vorgestellt:<br />
»Der Begriff aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit bei<br />
sich führt, kann nur ein reiner Verstandesbegriff sein, der nicht in der<br />
Wahrnehmung liegt, und das ist hier der Begriff des Verhältnisses der<br />
Ursache und Wirkung [...],« 384<br />
»Hier muß man wohl bemerken, daß es auf die Ordnung der Zeit, und<br />
nicht den Ablauf derselben angesehen sei; das Verhältnis bleibt, wenn<br />
gleich keine Zeit verlaufen ist.« 385<br />
— hier im Schematismuskapitel benötigt der reine Verstandesbegriff die<br />
transzendentale Zeitbedingung. Die Diskussion der Zeitordnung von<br />
Ursache und Wirkung (als analytischer Begriff) zeigt, daß die wegen der<br />
Abhängigkeit der Wirkung von der Kausalität behauptete Zeitordnung<br />
noch eine »formale Bedingung« benötigt, um der Reihe der Erscheinungen<br />
eine notwendige Zeitrichtung zu bestimmen. Schließlich: Die Kausalität<br />
von Etwas allein erlaubt nicht, dieses Etwas als Ursache zu bezeichnen;<br />
erst mit der Wirkung wird das mit Kausalität begabte Etwas zur Ursache.<br />
Damit wird der dynamischen Kategorie aus der Analyse des reinen<br />
Verstandesbegriffes das Zugleichsein sowohl der Substanz oder<br />
Substanzen wie auch der realen Verbindung von Ursache und Wirkung zu<br />
Grunde gelegt und als Fundament dessen, was geschieht, angewiesen.<br />
Weder die Zeitreihe der Erscheinungen noch der selbst zureichende Grund<br />
einer Zeitordnung des Zugleichseins ist aber im analytischen (reinen)<br />
verstehen, doch aber als die allgemeine Bedingung, den reinen Verstandesbegriff in<br />
der Zeit als deren Bestimmungsgrund zu denken. Die Einheit der Zeitbestimmung<br />
ist in der transzendentalen Reflexion gewissermaßen ein Moment der Intentionalität<br />
noch vor der kategorialen Bestimmung des »Ist«-Sagens.<br />
384 B 234/A 189.<br />
385 B 249/A 202
— 475 —<br />
Verstandesbegriff enthalten. Die transzendentale Zeitbedingung ist also<br />
auch noch dann als »formale« Bedingung (auch bloß als Regel der<br />
compositio) gefordert, wenn eine Regel der Zeitordnung schon im reinen<br />
Verstandesbegriff enthalten ist, da die Zeitordnung im reinen<br />
Verstandesbegriff (hier: Ursache und Wirkung) über die Reihenfolge der<br />
Erscheinungen ohne formale Bedingungen nichts aussagen kann (vgl. etwa<br />
Stoß und Erwärmung, oder Richtungsänderung und Beschleunigung eines<br />
Körpers). Ausdrücklich wird diese Abhängigkeit von einer<br />
transzendentalen Zeitbedingung nur am Anfang des Schematismuskapitel:<br />
Die Fassung des Verstandesbegriff, die eine reine synthetische Einheit des<br />
Mannigfaltigen überhaupt enthält, steht aber selbst unter Verdacht, schon<br />
die Folge einer transzendentalen Zeitbestimmung zu sein. Zweierlei<br />
unterstützt eine solche Annahme: Erstens hat Kant im gegebenen Zitat die<br />
formale Bedingung des inneren Sinnes, anscheinend bereits zur<br />
Sukzessivität bestimmt, ohne viel Aufhebens auf den Begriff der<br />
Bedingung der Möglichkeit der Verknüpfung 386 aller Vorstellungen<br />
erweitert. Das kann doch nur unter dem Einfluß des Verstandesbegriffes<br />
auf den inneren Sinn möglich sein, wenn behauptet werden kann, daß<br />
alles, was gegeben werden kann, unter die Regel der Sukzessivität, und<br />
somit unter die, die Sukzessivität allererst konstituierende<br />
Verstandeshandlung fällt. 387 Derart ist die Frage zu stellen, ob nicht auch<br />
der synthetischen Einheit des reinen Mannigfaltigen, die im reinen<br />
Verstandesbegriff gedacht wird, erst die Bestimmung des inneren Sinnes<br />
zur Sukzessivität durch die Verstandeshandlung vorhergehen muß<br />
(weshalb sollte sie sonst »synthetisch« genannt werden?). Die nähere<br />
Bestimmung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes als das der reinen<br />
386 »Alle Verbindung (conjunctio) ist entweder Zusammensetzung (compositio) oder<br />
Verknüpfung (nexus).« (B 201)<br />
387 Die Sukzessivität des inneren Sinnes ist nach § 24 erst die Folge der<br />
Verstandeshandlung.: »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu<br />
ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des<br />
Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf<br />
einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer<br />
geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die<br />
Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn<br />
sukzessive bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Bestimmung in<br />
demselben, Acht haben. Bewegung, als Handlung des Subjekts (nicht als<br />
Bestimmung eines Objekts), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume,<br />
wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch<br />
wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt so gar den Begriff der<br />
Sukzession allererst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht etwa schon eine<br />
dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn<br />
affiziert« (B 154)
— 476 —<br />
Anschauung im untersuchten und eingangs gegebenen Zitat ist gemäß der<br />
Unterscheidung von formaler und reiner Anschauung ein weiterer, an<br />
Deutlichkeit kaum mehr zu überbietender Hinweis auf die Reihenfolge der<br />
Konstitution, da die Erörterungen der reinen Anschauung immer schon<br />
geometrische, also räumliche und begriffliche Verhältnisse betreffen. 388<br />
Allerdings wird hier der Terminus »Verknüpfung« nicht rein im Sinne der<br />
Definitionen von compositio und nexus gebraucht. Die Schwierigkeit der<br />
Bestimmung der Grenzen der Bedeutung von compositio<br />
(Zusammensetzung) und nexus (Verknüpfung) vor dem Hintergrund der<br />
»vermittelnden Vorstellung« (dem Schema) hat zweierlei Gründe: Erstens,<br />
daß auch für die Bestimmung der Verknüpfung im Sinne des nexus die<br />
Konstitution der Erscheinungen als Zusammensetzung der Vorstellungen<br />
der Anschauung (compositio ) vorausgesetzt ist. Aber auch zweitens, weil<br />
— und das ist hier der eigentliche Grund — die Verstandeshandlung, die<br />
erst die Sukzessivität des inneren Sinnes bestimmt, die Sukzession der<br />
Erscheinungen nicht bloß als Wechsel der Erscheinungen des empirischen<br />
Bewußtseins betrachten kann und die logische Definition der Zeit (als<br />
Verknüpfung der kontradiktorischen Gegensätze wechselnder Prädikate)<br />
die Erscheinungen schon kategorial auf Gegenstände bezieht, obwohl sie<br />
noch keine dynamische Bestimmung besitzt. Die nicht-dynamische<br />
kategoriale Bestimmbarkeit der logischen Verbindung wechselnder<br />
Erscheinungen mittels Gegensätze gegenüber der Freiheit der Spontaneität<br />
ist also der eigentliche Grund, weshalb Kant hier den Inhalt des Terminus<br />
»Verknüpfung« weiter als in der compositio (weil bloß, aber doch die<br />
Beharrlichkeit der Substanz bestimmend), aber enger als im nexus (weil<br />
nicht die dynamische Kategorie bestimmend) faßt. 389<br />
388 Vgl. den ersten Abschnitt, 2, Die reine Anschauung ist das Produkt der<br />
Einbildungskraft in der Konstruktion aus Begriffen, die formale Anschauung das<br />
Produkt der Einbildungskraft in der reproduktiven Funktion, sei es in der Synthesis<br />
der Rekognition im Begriff auf eine Größe gebracht (A 103) oder nicht.<br />
389 Refl. 4041., „Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist. Veränderlich:<br />
das in Verknüpfung mit seinem Gegenteil möglich ist.“ Allerdings beansprucht Kant<br />
an anderer Stelle schon für den Gebrauch des Begriffes »Zusammensetzung« eine<br />
vorkategoriale Bedeutung: „Der Begriff des Zusammengesetzten überhaupt ist keine<br />
besondere Kategorie, sondern in allen Kategorien (als synthetische Einheit der<br />
Apperzeption) enthalten. Das Zusammengesetzte nämlich kann, als ein solches,<br />
nicht angeschaut werden; sondern der Begriff oder das Bewußtsein des<br />
Zusammengesetzens (einer Funktion die allen Kategorien als synthetische Einheit<br />
der Apperzeption zum Grunde liegt) muß vorhergehen (...).“ Brief an Tieftrunk vom<br />
11.12.1797, AA XII, p. 222. Die Verknüpfung ist also eine Bestimmung der modalen<br />
Kategorie, reicht aber nicht zu, um die dynamische Kategorie zu bestimmen.
— 477 —<br />
Dies nur zur Anleitung weiterer kritischer Betrachtung, wie Kant, hier mit<br />
einem weicheren Verknüpfungsbegriff operierend, behaupten kann, daß<br />
die transzendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie insofern<br />
gleichartig ist, als daß sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht:<br />
Die Zeitlichkeit der Verstandeshandlung ist erst in der bloßen<br />
»Verknüpfung« von Prädikaten die Bedingung, daß das Produkt der<br />
transzendentalen Zeitbestimmung im inneren Sinn mit dem reinen<br />
Verstandesbegriff übereinkommen kann. Nun ist dieses Produkt auch mit<br />
den Erscheinungen formal als gleichartig anzusehen, indem sowohl die<br />
reine Einbildungskraft den sinnlichen Begriffen ein Schema gegenüber der<br />
bloßen Zeitlichkeit der Erscheinungen im inneren Sinn vorschreibt wie<br />
auch die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen (als<br />
Menge von Prädikaten, welche Anschaung enthalten) enthalten ist. Das<br />
soll also nicht allein deshalb möglich sein, weil der innere Sinn<br />
definitionsgemäß alle Vorstellungen, also sowohl Anschauungen wie<br />
Begriffe enthält: Zuerst ist die transzendentale Zeitbestimmung der<br />
transzendentalen Reflexion auf die Stammbegriffe der<br />
Verstandeshandlung in der Zeitordnung der Deduktion gleichartig mit<br />
der Anwendung des reinen Begriffes in der Verstandeshandlung<br />
gegenüber dem reinen inneren Sinn als Reihenfolge, sodaß jene diesem die<br />
Sukzessivität bestimmt, nun ist sie auch gleichartig mit den Erscheinungen<br />
empirischer Vorstellung und ihrem Schema empirischer Begriffe, weil in<br />
dieser die Zeit schon qua Anschauungsform notwendig enthalten ist —<br />
sofern die Anschauung mittels empirischer Prädikate gedacht wird, eben<br />
bereits qua Prädikatisierung der logischen Regel der Sukzession<br />
gehorchend. Die logische Regel der Sukzessivität soll nur deren formale<br />
Übereinstimmbarkeit garantieren, nicht die Ursprünge der Definitionen<br />
und deren Einzigkeit oder tiefere Gründe ihrer formalen Gleichartigkeit<br />
aufklären.<br />
Die ärgerliche Unterbestimmtheit eines eigenen logischen Inhalts der<br />
Kategorien wird immanent damit begründet, daß die Anschauung das<br />
Objekt erst geben müsse, bevor die reinen Verstandesbegriffe demonstriert<br />
werden könnten. Zur Konstitution des Objekts im Begriff von einem<br />
einzelnen Gegenstand sind selbstverständlich gegebene Erscheinungen<br />
notwendig; Kant verfällt hier aber wiederum in eine petitio principii, wenn<br />
er gleich von der Erfahrung gegebener Gegenstände spricht:
— 478 —<br />
»Denn da haben wir gesehen, daß Begriffe ganz unmöglich sind, noch<br />
irgend eine Bedeutung haben können, wo nicht, entweder ihnen selbst,<br />
oder wenigstens den Elementen, daraus sie bestehen, ein Gegenstand<br />
gegeben ist, mithin auf Dinge an sich (ohne Rücksicht, ob und wie sie uns<br />
gegeben werden mögen) gar nicht gehen können; daß ferner die einzige<br />
Art, wie uns Gegenstände gegeben werden, die Modifikation unserer<br />
Sinnlichkeit sei; endlich, daß reine Begriffe a priori, außer der Funktion des<br />
Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit<br />
(namentlich des inneren Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die<br />
allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend<br />
einen Gegenstand angewandt werden kann. Wir wollen diese formale und<br />
reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in<br />
seinem Gebrauche restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffes,<br />
und das Verfahren des Verstandes mit diesen Schematen, den<br />
Schematismus des reinen Verstandes nennen.« 390<br />
Es ist an diese zentrale Stelle zurückzukehren und das Problem der<br />
formalen und der allgemeinen Bedingung neu aufzurollen: Die formale<br />
Bedingung wird im zweiten Interpretationsgang nun nicht als eine<br />
Bestimmung der formalen Anschauung gesehen, sondern heißt nun<br />
»formal« aufgrund ihrer Stellung zum Verstandesbegriff. — Reine Begriffe<br />
a priori enthalten außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie noch<br />
formale Bedingungen — also doch eine Funktion des Verstandes<br />
außerhalb der Kategorie macht, daß die formale Bedingung in reinen<br />
Begriffen a priori enthalten ist (die Diskursivität). Diese formale<br />
Bedingung habe weiters die allgemeine Bedingung zu enthalten, unter der<br />
die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand angewandt werden kann.<br />
Darunter könnte eben die transzendentale Zeitbedingung zu verstehen<br />
sein, ließe sich ausschließen, daß dann deshalb die ganze formale<br />
Bedingung im reinen Verstandesbegriff schon enthalten wäre. Über die<br />
reinen Begriffe a priori kann man aber aus diesem Zitat nur soviel sagen,<br />
daß sie erst dann die Kategorien sein können, wenn sie noch diejenige<br />
formale Bedingung enthalten, welche die allgemeine Bedingung enthält,<br />
»unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand angewandt<br />
werden kann«. Sie können auch nicht die reinen Verstandesbegriffe sein:<br />
diese enthalten nicht die transzendentale Zeitbedingung, sondern nur eine<br />
390 K.r.V., B 178 f.
— 479 —<br />
zur notwendigen Verknüpfung von Wahrnehmungen überhaupt allein<br />
nicht zureichende Zeitordnung.<br />
Die reinen Verstandesbegriffe bedürfen also eigentlich einer Restriktion<br />
auf die Zeitbedingung, die in der empirischen Vorstellung der<br />
Erscheinungen enthalten ist, gleichwohl soll der reine Begriff a priori auch<br />
die formale Bedingung des inneren Sinnes selbst enthalten, indem er den<br />
inneren Sinn erst zur Sukzessivität bestimmt hat — und zwar eben gerade<br />
unter der Bedingung, daß Erscheinungen sich auf Gegenstände beziehen.<br />
Erst dann ist von der transzendentalen Zeitbestimmung zu erwarten, daß<br />
sie sowohl mit der Verstandeshandlung in der Kategorie, wie mit der<br />
Spontaneität der Einbildungskraft gegenüber dem inneren Sinn a priori<br />
gleichartig ist, wenn die allgemeine Regel der Verknüpfung erkannt<br />
werden kann: die Sukzessivität als allgemeinste Regel aller Regeln. 391 Die<br />
Beantwortung dieser Frage nach der Gleichartigkeit kann nun aber nicht so<br />
ohne weiteres auf Vollständigkeit der Kriterien zur Bestimmung eines<br />
Erfahrungsbegriffes Anspruch erheben, wie in der Immanenz des Begriffs<br />
unter einer transzendentalen Idee. Die logische Definition der<br />
Veränderung ist nicht dynamisch und geht auch über den Rahmen bloßer<br />
Wahrnehmungsverhältnisse in der Anschauung nicht hinaus: Die<br />
Allgemeinheit der beanspruchten Regelhaftigkeit diskriminiert also<br />
Wahrnehmungsurteile und Erfahrungsurteile 392 nicht notwendigerweise<br />
und ist bloß die intellektuelle Doublette der undifferenzierten Zeitlichkeit<br />
als bloße Form der Reproduktion im inneren Sinnes selbst. Auf diese<br />
Weise ist es leicht möglich, das Ungleichartige (Ausdehnung und<br />
Intensität einerseits und die qualitativen Differenzierungen nach Gestalt<br />
und Wirkung andererseits) im Rahmen von Verhältnissen bloß der reinen<br />
Anschauung oder eben bloß der reinen Form des inneren Sinnes als<br />
Gleichartiges zu betrachten.<br />
391 Kant bestimmt die objektive Realität der Zeit vor der Kausalitätskategorie mit dem<br />
Prinzip des kontradiktorischen Widerspruches: was nicht zugleich an einem Dinge<br />
gelten kann, kann nacheinander gelten. Der damit ausgesprochene strikte<br />
Determinismus wird aber bei einer näheren Untersuchung der Kausalitätskategorie<br />
preisgegeben werden müssen: nicht nur, daß die Behauptung der Wolffschen Partei,<br />
Kontingenz sei gleichbedeutend oder auch nur äquipollent mit Zufälligkeit, Motiv<br />
für eine solche Überzeichnung wäre, macht sich schließlich mit eingehenderer<br />
Betrachtung auch bemerkbar, daß Kant die dynamischen Kategorien immer schon<br />
auch mit regulativen Ideen verglichen hat. Vgl. hier die Zeitbedingung der Wahrheit.<br />
392 Hier den konstitutiven und den regulativen Kategorien zugeordnet.
— 480 —<br />
Es soll aber weiter der Argumentation im Schematismuskapitel gefolgt<br />
werden: Die formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit enthält also die<br />
allgemeine Bedingung zur Anwendung der Kategorie auf Sinnlichkeit;<br />
zugleich ist die formale Bedingung im reinen Begriff a priori nach wie vor<br />
enthalten. 393 Das kann aber selbst nur in Gestalt einer allgemeinen Regel<br />
möglich sein. So müßte der reine Verstandesbegriff allererst auf die<br />
Anwendung auf Sinnlichkeit überhaupt restringiert werden, um zu der<br />
allgemeinen Bedingung für Gegenstände aller empirischen Vorstellungen<br />
zu kommen. Kant kommt aber nicht auf die Zeit, die in der »empirischen<br />
Vorstellung der Erscheinungen« (also als Produkt der reproduktiven<br />
Einbildungskraft) enthalten ist, zurück, sondern hält offensichtlich das<br />
Mannigfaltige der formalen Bedingung des inneren Sinnes schon wegen<br />
der Weiterbestimmung des Zusammennehmens der Apprehension mit<br />
dem Begriff der Verknüpfung des Mannigfaltigen für ausreichend, die<br />
allgemeine Bedingung so zu formulieren, daß auch die Zeit, die in der<br />
empirischen Vorstellung enthalten ist, als gleichartig apperzipiert werden<br />
kann. 394 Die mit der logischen Regel des sukzessiv Veränderlichen<br />
verbundene Voraussetzung, daß Erscheinungen sich auf Gegenstände zu<br />
beziehen haben, garantiert in dieser Allgemeinheit die Erfüllbarkeit der<br />
»reinen Begriffe a priori«, auch wenn damit keine dynamischen<br />
Verhältnisprädikte selbst mit eingehen.<br />
b) Intellektualität versus Anschauung<br />
I.<br />
Es ist kein Zufall, daß Kant für die vermeintliche Demonstration des<br />
Objektes als Gegenstand der Erfahrung in § 18 zuerst ein Beispiel der<br />
Anwendung geometrischer Erkenntnisse auf einen sinnlich gegebenen<br />
393 »Denn da haben wir gesehen, daß Begriffe ganz unmöglich sind, noch irgend eine<br />
Bedeutung haben können, wo nicht, entweder ihnen selbst, oder wenigstens den<br />
Elementen, daraus sie bestehen, ein Gegenstand gegeben ist, mithin auf Dinge an<br />
sich (ohne Rücksicht, ob und wie sie uns gegeben werden mögen) gar nicht gehen<br />
können; daß ferner die einzige Art, wie uns Gegenstände gegeben werden, die<br />
Modifikation unserer Sinnlichkeit sei; endlich, daß reine Begriffe a priori, außer der<br />
Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der<br />
Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die<br />
allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen<br />
Gegenstand angewandt werden kann.« (B 178 f./A 139 f.)<br />
394 Vgl. Die Zeitbedingung der Wahrheit. Damit gäbe es ein weiteres Motiv für den<br />
erweiterten Gebrauches des Terminus »Verknüpfung«. Die allgemeine Bedingung<br />
der Verknüpfung muß schon ein Erfahrungsbegriff sein, auch wenn dieser kein<br />
dynamisches Prinzip ausdrückt.
— 481 —<br />
Gegenstand heranzieht, denn dann kann von Gleichartigkeit zumindest<br />
hinsichtlich der Größe überhaupt erst die Rede sein.<br />
Die aufgrund der Gleichartigkeit von Prädikat (Begriffsmerkmal) und<br />
Eigenschaft behauptete Subsumierbarkeit eines Gegenstandes unter einen<br />
Begriff setzt also schon überhaupt eine Selektion der Eigenschaften des<br />
Gegenstandes voraus. Ohne diese Selektion wäre die Identität des<br />
gedachten mit dem wirklich möglichen Gegenstand gefordert. Für die<br />
behauptete Subsumierbarkeit eines Gegenstandes unter seinem Begriff<br />
steht also durchaus noch in Frage, ob diese recht verstanden worden ist; 395<br />
die transzendentale Subsumtion bleibt von der vorangehenden Erörterung<br />
aus aber gänzlich unverständlich, denn dann ist zwar nicht mehr die<br />
Identität der Vorstellung des Gegenstandes mit seinem Begriff, doch aber<br />
die Existenz desselben in seinem Begriffe zu denken gefordert, bevor das<br />
Dasein außer den Begriff gesetzt werden kann. Kant beschränkt hier die<br />
Problematik, wie Existenz im Begriff vom Objekt enthalten zu denken ist,<br />
im Umkreis zwischen Verstand und Anschauung bekanntlich aufs<br />
Intellektuelle: 396 »Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung<br />
mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz<br />
ungleichartig, und können niemals in irgend einer Anschauung<br />
angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die<br />
erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich,<br />
da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Kausalität, könne auch durch<br />
Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung enthalten? Diese so<br />
natürliche und erhebliche Frage ist nun eigentlich die Ursache, welche eine<br />
transzendentale Doktrin der Urteilskraft notwendig macht, um nämlich<br />
die Möglichkeit zu zeigen, wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen<br />
überhaupt angewandt werden können. In allen anderen Wissenschaften,<br />
wo die Begriffe, durch die der Gegenstand allgemein gedacht wird, von<br />
denen, die diesen in concreto vorstellen, wie er geben wird, nicht so<br />
unterschieden und heterogen sind, ist es unnötig, wegen der Anwendung<br />
des ersteren auf den letzteren besondere Erörterungen zu geben.« 397<br />
395 Bekanntlich unterscheidet sich die Synthesis der konstitutiven Kategorie von der<br />
Synthesis der regulativen Kategorie darin, daß die erstere das Gleichartige, die<br />
letztere das Ungleichartige nach Begriffen zusammensetzen imstande sein soll.<br />
396 Das Existenzprädikat bezieht sich auf die Vorstellung des Gegenstandes, nicht auf<br />
den Gegenstand selbst oder auf die Anschauung in der Vorstellung desselben und<br />
ist insofern notwendigerweise unanschaulich.<br />
397 K.r.V., B 176 f./A 137 f.
— 482 —<br />
Nunmehr ist die Existenz eines Objektes aber nur in einem durch eine<br />
mögliche Anschauung bestimmten Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand gegenüber der aktuellen Anschauung überhaupt und deren<br />
synthetische Prädikate in der Zeit zu denken möglich, während z. B. die<br />
Kausalität wie die reine Substanz nicht angeschaut werden kann und<br />
selbst keine Erscheinung sind (Substanz und Kausalität sind<br />
transzendentale Prädikate der Erscheinung). Auch liegt das Fundament<br />
des gesuchten synthetischen Urteils a priori nicht in der analytischen<br />
Erkenntnis, daß die Totalität des formal Möglichen Existenz beinhalten<br />
muß, sondern hier eben in der Feststellung des Gesetzes der Verknüpfung<br />
der Erscheinungen von bereits als in der Anschauung (nach der Regel des<br />
Beharrlichen in der Apprehension der Erscheinungen) gewiß gegebenen<br />
Objekten. Die reinen Verstandesbegriffe aber sind nicht nur als solche<br />
intellektuell, sondern beziehen sich auch nur auf Unanschauliches.<br />
Keineswegs wird von Kant damit beabsichtigt, jedem rein intellektuellen<br />
Begriff die Qualität zuzusprechen, eine Kausalität auszudrücken oder auch<br />
nur ein Dasein außer dem Begriff zu setzen. Zunächst ist es ratsam, sich<br />
nochmals an das Schlußwort des anfangs der Erörterung des Kapitels<br />
»Von dem Schematismus des reinen Verstandesbegriffes« gegebenen<br />
Zitates zu erinnern, um den transzendentalpsychologischen<br />
Ausgangspunkt der Untersuchung nicht aus dem Auge zu verlieren: »Wir<br />
wollen diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der<br />
Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist, das Schema dieses<br />
Verstandesbegriffes, und das Verfahren des Verstandes mit diesen<br />
Schematen den Schematismus des reinen Verstandes nennen«. 398 Kant<br />
scheint unter dem Schema zunächst die Restringtion des reinen<br />
Verstandesbegriffs selbst zu verstehen. Und zwar nicht, um diese allererst<br />
für das Verfahren des Verstandes gegenüber dem inneren Sinn, sondern<br />
schon um den reinen Verstandesbegriff für den Gebrauch gegenüber der<br />
Anschauung überhaupt in Stand zu setzen. Erst der Schematismus (der<br />
Gebrauch des Schemas) drückt nicht nur die Regel der formalen<br />
Bedingung des Mannigfaltigen der reinen Sinnlichkeit (insofern<br />
definitionsgemäß immer auch schon die Mannigfaltigkeit des zur<br />
Sukzessivität bestimmten inneren Sinnes) allgemein und assertorisch aus,<br />
sondern setzt auch demgegenüber die Kontinuität der Zeitlichkeit der<br />
Dinge der Anschauung in der Erfahrung, also die Beharrlichkeit eines<br />
398 B 179/A 140
— 483 —<br />
wirklichen Dinges in den Erscheinungen intellektuell voraus. Trotz dieser<br />
naturphilosophischen Erklärung der ontologischen Voraussetzung eines<br />
Substrates der Beharrlichkeit für den Gebrauch vom Begriff eines<br />
einzelnen Gegenstandes in der Anschauung überhaupt steht das Schema<br />
der Beharrlichkeit in der Apprehension der Erscheinungen aber selbst<br />
nicht für einen Begriff von Beharrlichkeit als Eigenschaft einer Substanz.<br />
Der Begriff von der Beharrlichkeit als Schema der Apprehension der<br />
Erscheinungen ist selbst nur eine Vorstellung einer Regel zur<br />
Unterscheidung in Erscheinungen, deren Reihenfolge signifikant ist und in<br />
Erscheinungen, deren Reihenfolge gleichgültig ist. Diese Regel eines<br />
grundlegenden Wahrnehmungsexperimentes erzeugt nun bei<br />
Wiederholung a priori eine Unterscheidung in der Menge aller möglichen<br />
(sinnlichen) Prädikate überhaupt nach Beharrliches und Veränderliches.<br />
Die Besonderheit dieser Regel ist u. a., daß sie selbst erstens keine sinnliche<br />
Anschauung enthält, obgleich sie nur auf Erscheinungen angewendet<br />
wird, und zweitens selbst keinerlei logische Regel enthält, da diese<br />
primitive Regel der Apprehension selbst nur durch die Beharrlichkeit in<br />
den Erscheinungen bestimmt ist; die Schlußfolgerung auf die<br />
Veränderlichkeit ist selbst kein unbedingt notwendiger Bestandteil der rein<br />
begrifflichen kategorialen Bestimmung, sondern bereits nur als Bestandteil<br />
des reinen Verstandesbegriffes analytisch notwendig.<br />
Das Schema der Sukzessivität, welches die modallogische Regel der<br />
Veränderung vorstellt, vermag also selbst den Bezug auf einen Gegenstand<br />
in der Erfahrung nicht zu rechtfertigen, obgleich dieser Bezug logisch und<br />
metaphysisch vom zureichenden Grund vorausgesetzt wird. Dazu bedarf<br />
es empirisch des Schemas der Beharrlichkeit, obgleich dessen Regel allein<br />
bekanntlich nicht zureicht, einen einzelnen Gegenstand (oder eine einfache<br />
und individuelle Substanz) eindeutig zu bezeichnen. Diese Regel der<br />
Reproduktion und Apprehension ist wohl ein »reiner Begriff a priori«,<br />
aber keine logische Regel — und doch als »Wechsel« ein reiner<br />
Verstandesbegriff der Kategorie und auch ein Begriff der eine »formale<br />
Bedingung« der Zeit als Anschauungsform ausdrückt. Metaphysisch ist<br />
wegen der analytischen Beziehung von Beharrlichkeit und<br />
Veränderlichkeit damit die Deduktion bereits abgeschlossen, weil die<br />
Normierung der logischen Regel sich über den analytischen Gegensatz der<br />
Beharrlichkeit zur Veränderlichkeit auf jene überträgt.<br />
Transzendentalanalytisch beginnt hier das eigentliche Thema der<br />
subjektiven Deduktion.
— 484 —<br />
II.<br />
Die Funktion der reinen Einbildungskraft in diesen Synthesen geht aber<br />
selbst nicht unmittelbar auf Anschauliches: »Das Schema ist an sich selbst<br />
jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis<br />
der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern Einheit in der<br />
Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch<br />
vom Bilde zu unterscheiden«. 399 Damit wird aber sowohl die Zeitlichkeit<br />
der Verstandeshandlung wie die des gegebenen Objektes der Anschauung<br />
von der Zeitlichkeit der in Frage stehenden Produkte der Einbildungskraft<br />
im inneren Sinn, einmal als Bild vom einzelnen Gegenstand und einmal als<br />
Schema (zuerst bloß das Konzept der Beharrlichkeit) der Art nach<br />
wiederum unterschieden. Die konstituierende Verstandeshandlung erfolgt<br />
hier allein als Handlung des Vermögens der Einbildungskraft gegenüber<br />
dem bloßen inneren Sinn und seiner formalen Bedingung. Die implizite<br />
Voraussetzung der dynamischen Kategorie aber, nämlich der<br />
Verknüpfung der Objekte der Erscheinungen untereinander gemäß den<br />
Naturgesetzen ihres Daseins, welche erst objektive Realität in der<br />
Erkenntnis der gegebenen Gegenstände ermöglicht, muß demnach für das<br />
Schema der Beharrlichkeit nicht weiter als Argument herangezogen<br />
werden. Gleichwohl soll damit der bloßen Objektivität der Geltung der<br />
Zeitbestimmung schon das Fundament gelegt worden sein.<br />
Schließlich ist die Beharrlichkeit sowohl als metaphysisches Konzept der<br />
Substanz, wie auch als Konzept der Apprehension von Erscheinungen<br />
gemeinsam zu bedenken und ist als solches bereits eine Demonstration der<br />
transzendentalen Subsumtion. In beiden Fällen wird nochmals deutlich,<br />
daß die Beharrlichkeit nicht das dynamische Argument benötigt. 400 Das<br />
anschauliche Produkt der Einbildungskraft unter der Verstandeshandlung<br />
entspringt aber nicht dem Schema der Beharrlichkeit sondern besitzt<br />
vielmehr in der Geometrie sein Komplement (was nicht gleich zur Folge<br />
hat, daß die Schematen der Anschauung die Individualität im Einzelnen<br />
eines Gegenstandes beinhalteten). Und nicht nur der Vernunftbegriff von<br />
einem einzelnen Gegenstand als Begriff des gegebenen Objektes in der<br />
399 B 179/A 140<br />
400 Bezüglich des metaphysischen Gebrauchs der Beharrlichkeit als Eigenschaft der<br />
Substanz kann man anderer Auffassung sein (vgl. z.B. K. r. V., B 275 ff.), was die<br />
Beharrlichkeit als Titel des Schemas der Apprehension betrifft, die gleichwohl eine<br />
transzendente Bedeutung zur Folge hat, gilt die Ausschließung der Dynamik ohne<br />
Einschränkung. Vgl. hier zweiter Abschnitt, II..
— 485 —<br />
Erfahrung sondern auch die Verstandeshandlung in der Geometrie besitzt<br />
zwei Produkte: Einerseits, als Handlung abermals betrachtet, ihr Schema<br />
als Begriff von der Handlung (Konstruktionsbegriff), andererseits als<br />
anschauliche Vorstellung ihr Bild als Produkt des Schematismus der<br />
Einbildungskraft. 401 Es ist also festzuhalten, daß nun die Einbildungskraft<br />
nicht nur ein anschauliches Produkt besitzen kann. Insofern ist<br />
transzendentalpsychologisch der Versuch, in § 18 die Einheit des<br />
Gegenstandsbegriffes nach Verstand und Sinnlichkeit zuerst mittels<br />
geometrischer Argumente zu demonstrieren, durchaus nachzuvollziehen.<br />
Allerdings bleibt einstweilen die Frage offen, ob auch das transzendentale<br />
Schema 402 insgesamt ein Produkt der Einbildungskraft ist, wie Kant<br />
anfangs dasselbe als »vermittelnde Vorstellung« bezeichnet hat.<br />
❆<br />
Kant blendet in seiner Darstellung nun die Generationen derjenigen<br />
Vorstellungen, die das Schema selbst als Bild betrachten und damit auch<br />
die Reihe eröffnet, immer wieder auf das Schema, welche das Bild des<br />
Schemas erzeugt, zu reflektieren, aus, und beschränkt sich darauf, das<br />
Schema des Bildes (als Vorstellung, die Anschauung enthält) als das<br />
transzendentale Produkt (als Vorstellung, die selbst nicht mehr<br />
Anschauung enthält) der Einbildungskraft zu bedenken. Kant<br />
unterscheidet offenbar von vornherein den Schematismus der<br />
synthesis speciosa vom Schema der synthesis intellectualis: Der<br />
begrüßenswerten Beschränkung der endlosen Aufstufung der Reflexion in<br />
der transzendentalen Reflexion auf die Stammbegriffe steht die<br />
Schwierigkeit der Vereinbarung der Intellektualität der Regel des Schemas<br />
geometrischer Figuren (Gestalt) im Raume einerseits mit der<br />
Intellektualität der Regel des Schemas der Beharrlichkeit andererseits —<br />
beide zweifelsfrei Schematen der Apprehension — gegenüber. Schließlich<br />
wird die terminologische Verwirrung im Rahmen der Interpretation<br />
Kantens damit komplettiert, daß die »transzendentale« Einbildungskraft<br />
eigentlich für die Vorstellung eines Gegenstandes in objektiver Realität<br />
reserviert bleiben soll. — Weniger als Erklärungsansatz denn als weiterer<br />
401 Bezüglich des Vernunftbegriffes ist einerseits das Verfahren der Bestimmung der<br />
Prädikate ut constitutiva und der Rechtfertigung weiterer Prädikate ut rationata,<br />
andererseits die intellektuelle Vorstellung des Wesensbegriffes vom einzelnen<br />
Gegenstand zu beachten.<br />
402 K.r.V., B 177/A 138
— 486 —<br />
Problemkreis tritt hier die Erinnerung daran auf, was hier als Grund des<br />
nexus zu überlegen wäre: der Grund der Verknüpfung der Dinge der<br />
Erscheinungen im Dasein.<br />
§ 23 Die Beschränktheit der Gegenüberstellung von »Bild« und<br />
»Schema«in der konstituierenden Kategorie<br />
a) In der Arithmetik<br />
Im Fortgang der Lesung des Kapitels »Von dem Schematismus der reinen<br />
Verstandesbegriffe« exponiert Kant die Schematen der mathematischen<br />
Kategorie. Zuerst wiederholt Kant gegenüber der Abstraktheit des Begriffs<br />
des reinen Quantums nochmals das Verhältnis von Bild und Schema:<br />
»So, wenn ich fünf Punkte hinter einander setze, ..... ist dieses ein Bild von<br />
der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun<br />
fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr eine Methode,<br />
einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z.E. Tausend) in einem Bilde<br />
vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letzteren Falle<br />
schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können.<br />
Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der<br />
Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das<br />
Schema zu diesem Begriffe.« 403<br />
Kant stellt hier das Schema auf die anschauliche Vorstellbarkeit ab, und<br />
unterscheidet vom Schema die bloß rechnerisch vorgehende Methode. Im<br />
Falle eines rein arithmetischen Begriffes der Größe ist das Schema nun wie<br />
die Methode die Vorstellung des allgemeinen Verfahrens und völlig<br />
unabhängig von der Anschaulichkeit des Bildes. Von hier ausgehend<br />
scheint zwischen dem Enthaltensein der allgemeinen Regel der<br />
Verküpfung 404 in der bloß rein formalen Bedingung des inneren Sinnes und<br />
dem Enthaltensein derselben in der Zeitlichkeit der Verstandeshandlung<br />
(die logische Regel der Sukzessivität) in der Konsequenz bislang kein<br />
Unterschied festzustellen zu sein, da beide, unbesehen ihres qualitativen<br />
Unterschiedes, unter die Allgemeinheit der Zeitlichkeit der Form des<br />
403 B 179/A 140<br />
404 Wie schon w. o. bemerkt, okkupiert hier der terminus »Verknüpfung« jede<br />
Verstandeshandlung gegenüber dem inneren Sinn (etwa im Sinne des<br />
»Hinzusetzens« von einer Vorstellung zu einer anderen in § 16), sodaß hier die<br />
Anwendung der Definitionen der Verbindung nach compositio und nexus noch nicht<br />
zielführend ist.
— 487 —<br />
inneren Sinnes fallen. Allerdings steht außer Frage, daß gerade in dieser<br />
Indifferenz von Schema und Methode die Bedingung der Bestimmung der<br />
Größe im Sinne einer Vergleichung oder im Sinne einer Messung von<br />
Ausgedehntem nicht als erfüllt gedacht werden kann; dazu ist allemal<br />
eben die formale Bedingung der Anschauungsform des äußeren Sinnes<br />
vonnöten, die damit selbst allerdings auch wiederum die Formulierung<br />
einer eigenen allgemeinen Regel (als reine Sinnlichkeit und reine<br />
Anschauung) erlauben können muß. — An dieser Stelle ist an den<br />
bestehenden Problemkreis zu erinnern, daß auch die Differenz vom<br />
Schema der Beharrlichkeit (als primitives Schema der Apprehension) und<br />
vom Schema geometrischer Figuren (als Schema der reinen Anschauung)<br />
nach wie vor vernachlässigt geblieben ist. 405 — Zuerst schlägt Kant vor, die<br />
Schwierigkeit der Bestimmung, was Schema und was Methode ist,<br />
dadurch zu entgehen, indem die Versinnlichung des Schemas im Produkt<br />
auf die bloße Linearität beschränkt bleibt: »Das reine Bild aller Größen<br />
(quantorum) vor dem äußeren Sinne, ist der Raum; aller Gegenstände der<br />
Sinne aber überhaupt, die Zeit. Das reinen Schema der Größe aber<br />
(quantitas), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine<br />
Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem<br />
(gleichartigen) zusammenbefaßt. Also ist die Zahl nichts anderes, als die<br />
Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung<br />
überhaupt, dadurch, daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der<br />
Anschauung erzeuge.« 406<br />
Zur Bestimmung des arithmetischen Schemas als Begriff der<br />
Größenverhältnisse überhaupt muß aber von vornherein über jede<br />
Anschauung (also sowohl über das Maß der Ausdehnung wie über das<br />
Maß der Intensität) hinausgegangen werden können. Die Schematen der<br />
reinen Kategorie der Größe haben nun, wie sich gezeigt hat, 407 kein<br />
gemeinsames Substrat, und also ist die reine Kategorie außer der Idee von<br />
Allheit, Vielheit und Einheit ohne Inhalt. Da das arithmetische Schema das<br />
reinste und abstrakteste aller Schematen ist, muß also der Begriff (und<br />
nicht ein Schema der Anschauung) der logische Inhalt der Kategorie sein,<br />
und, kurz gesagt, die Regel zur Bestimmung der Allheit aus Vielheit und<br />
Einheit ausmachen. 408 Das behauptet Kant in den Axiomen der<br />
405 Vgl. hiezu eben die Synthesis in der formalen Anschauung.<br />
406 K.r.V., B 182/A 142<br />
407 Vgl. die Einleitung zum ersten Abschnitt oder hier §§ 12-14<br />
408 B 111
— 488 —<br />
Anschauung nicht mehr. 409 Wie im vierten Abschnitt dieser Arbeit noch<br />
Gelegenheit sein wird, näher auszuführen, hat das Schema der Arithmetik,<br />
anhand der Addition als vollständige Summendefinition demonstriert, 410<br />
eine eigene specifica differentia zugrunde liegen, die durchaus nicht<br />
geeignet ist, auch nur den Titel eines Begriffes vom allgemeinen Quantum<br />
abzugeben. — Die Gleichgültigkeit des Begriffes der quantitas der<br />
Arithmetik gegenüber jedem Inhalt (während die quanta der Geometrie<br />
immerhin noch der Ausdehnung zugeordnet bleiben) 411 hat zur Folge, daß<br />
die Arithmetik die Differenz von Vorstellung und Gegenstand<br />
transzendentallogisch nicht auch nur negativ geltend machen müßte. Das<br />
reine Schema der Arithmetik in der Addition ganzer Zahlen benötigt selbst<br />
offensichtlich weder Bestimmungen der Ausdehnung noch der Intensität<br />
zur Darstellung der Gesetzmäßigkeit in der Reihe von Zahlformeln, die<br />
zur Reihe der natürlichen Zahlen führt.<br />
b) In der Geometrie<br />
Es wurde anhand der einfacheren Verhältnisse der reinen Anschauung in<br />
der Tat schon früher vermutet, daß das Schema des Verstandesbegriffes<br />
zunächst nichts anderes als der Konstruktionsbegriff der reinen Geometrie<br />
sei. Die geometrische Rekonstruktion von Erscheinungen im gegebenen<br />
Mannigfaltigen der Anschauung gehört entgegen der arithmetisch reinen<br />
Vorstellung der Größe schon zur Erscheinung des erscheinenden<br />
Gegenstandes, wovon die regulativen Kategorien der Erfahrung abermals<br />
zu unterscheiden sind. 412 Im Kapitel »Von dem Schematismus der reinen<br />
409 B 204 f./A 163 f.. »Was aber die Größe (quantitas) d.i. die Antwort auf die Frage: wie<br />
groß etwas sei? betrifft, so gibt es in Ansehung derselben, obgleich verschiedene<br />
dieser Sätze synthetisch und unmittelbar gewiß (indemonstrabilia) sind, dennoch im<br />
eigentlichen Verstand keine Axiomen. Denn daß Gleiches zu Gleichem hinzugetan,<br />
oder von diesem abgezogen, ein Gleiches gebe, sind analytische Sätze, indem ich mir<br />
der Identität der einen Größenerzeugung unmittelbar bewußt bin; Axiomen aber<br />
sollen synthetische Sätze a priori sein. Dagegen sind die evidenten Sätze der<br />
Zahlenverhältnisse zwar allerdings synthetisch, aber nicht allgemein, wie die der<br />
Geometrie, und eben um deswillen auch nicht Axiomen, sondern können<br />
Zahlformeln genannt werden.« Vgl. hier weiter unten in Kap. 5 a) »Zum Problem<br />
des Inhalts der quantitativen Einheit der Kategorie«.<br />
410 Bolzano, WL. II., §§ 83-86. An anderer Stelle wird Gelegenheit sein, die Definition<br />
der Reihe der natürlichen Zahlen bei Kant und bei Bolzano anhand des Vergleichs<br />
des Beispiels der Zahlenformel und der vollständigen Summendefinition eingehend<br />
zu diskutieren.<br />
411 B 204/A 163<br />
412 »Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja<br />
überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in<br />
irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der
— 489 —<br />
Verstandesbegriffe« bringt Kant anschließend an das arithmetische<br />
Beispiel das gegenüber der Arithmetik wie gegenüber dem<br />
Erfahrungsbegriff selbstständige Argument, weshalb schon im Rahmen<br />
der Geometrie zu behaupten ist, daß dem Begriff (Konzept, oder hier auch:<br />
Schema) eines Gegenstandes ohne eine weitere äußere Bedingung kein<br />
Schematismus entsprechen könne:<br />
»Dem Begriff von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild<br />
desselben jemals adequat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des<br />
Begriffes nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder<br />
schiefwinkelige etc. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre<br />
eingeschränkt sein.« 413<br />
Zwar ist richtig, zu behaupten, daß gar kein Bild eines Triangels der<br />
Allgemeinheit des Begriffs eines solchen jemals adequat sein kann; jedoch<br />
ist das scheinbare Gegenteil wahr: Jedes Triangel entspricht als Bild dem<br />
allgemeinen Begriff desselben. Diese Umkehrung ist aber eben nur<br />
scheinbar symmetrisch: So gibt es in der reinen Geometrie zwar für jedes<br />
konkrete Triangel einen diskreten Konstruktionsbegriff; und es kann auch<br />
der Konstruktionsbegriff seinerseits wiederum so allgemein formuliert<br />
werden, daß dieser dann als der reine Konstruktionsbegriff des<br />
allgemeinsten Begriffes eines Triangels gelten kann, allerdings ohne<br />
Angabe diskreter Größen ein bestimmtes Bild, d.h. ein bestimmtes Dreieck,<br />
noch eine bestimmte Regel der Konstruktion zustande zu bringen.<br />
So etwa, wenn der allgemeine Begriff aller schiefwinkeliger Dreiecke<br />
betrachtet wird. Wohl bedeutet dies eine Einschränkung der allgemeinen<br />
Sphäre des Begriffs vom Triangel überhaupt, doch hat dieser Begriff<br />
zugleich die nämlichen Einschränkungen gegenüber seinen konkreten<br />
Figuren (als Bilder in reiner Anschauung) wie der Allgemeinbegriff eines<br />
Dreiecks gegenüber dem Begriff schiefwinkeliger Vielecke. 414 Erst jeder<br />
beliebige diskret bestimmter Konstruktionsbegriff besitzt also mindestens<br />
letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen<br />
möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Kausalität, könne auch durch<br />
Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung enthalten?.« (K.r.V.,<br />
B 177/A 138)<br />
413 B 180/A 141<br />
414 Vgl. hiezu Edmund Husserl Logische Untersuchungen II: Die ideale Einheit der<br />
Spezies und die neueren Abstraktionstheorien, Tübingen 2 1913, 2. Kap., §§ 7-12: Die<br />
psychologische Hypostasierung des Allgemeinen, p. 121-136. Husserl gibt hier die<br />
Kritik an der Lockeschen Idee wieder, die der Kritik an der Vorstellung bei Kant<br />
soweit vorangeht.
— 490 —<br />
ein adequates Bild, so wie jedes konkrete Triangel einen diskret<br />
bestimmten Konstruktionsbegriff besitzt. Diese Beziehung ist eben<br />
asymmetrisch, da wohl jede konkrete Figur nur einen diskreten<br />
Konstruktionsbegriff, aber doch ein solcher eine Vielzahl identer Figuren<br />
besitzen kann. Weiters ist es bekanntlich möglich, aus ein und demselben<br />
diskreten Konstruktionsbegriff zwei zueinander symmetrische Figuren zu<br />
konstruieren, die nicht ineinander überführt bzw. nicht als ident<br />
bezeichnet werden können. 415 Darüber hinaus sind die näheren<br />
quantitativen Bestimmungen noch neben der Dimensionsbestimmung (ob<br />
Strecke oder Winkel) weiteren Bestimmungen der Verhältnisse ihrer<br />
Elemente unterworfen, um ein Dreieck erzeugen zu können, die nicht im<br />
»philosophischen« Begriff vom Triangel enthalten sind; so eben der Satz<br />
von der Winkelsumme euklidisch-ebener Dreiecke, oder daß die Summe<br />
der Katheten kleiner sein muß als die Strecke der Hypotenuse. 416 Es ist<br />
dabei zweifelos gesondert von der Unterscheidung in »Schema« und<br />
»Schematismus« zu beachten, daß im Konstruktionsbegriff bzw. im<br />
Schema des »philosophischen« Begriffes einer geometrischen Figur<br />
ursprünglich selbst nichts davon zu finden sein darf, was dem<br />
synthetischen Urteil a priori in der reinen Geometrie entspricht. 417<br />
Kant unterscheidet aber die konkrete Anschauung nochmals zwischen<br />
geometrischen Gegenstand der Vorstellung und empirischen Gegenstand,<br />
auf welchen geometrische Verhältnisse angewendet werden können,<br />
sofern die Figuren der reinen Anschauung in der Analytik selbst nichts<br />
sind als Vorstellung reiner Anschauung und nicht noch Vorstellung von<br />
etwas.<br />
415 Prolegomena, § 13<br />
416 Hintikka weist historisch nach, daß nach Euklid in der Unterscheidung der Sätze in<br />
Protasias, Ekthesis, Kataskeue, Apodeixis, im Begriff der Kataskeue die Idee der<br />
Synthesis enthalten ist. Sie entspricht im Rahmen der konstruierenden Geometrie<br />
den Hilfslinien. (Kant on the Mathematical Method, in: Ed. L. W. Beck, La Salle 1969,<br />
p. 117 ff.. Vgl. zum zentralen Element Th. L. Heath; the Thirteen Books of Euklid‘s<br />
Elements translated with Introduction und Commantary, 2nd Ed., New York 1956,<br />
Three Volumes, Vol. I., p. 129 f..<br />
417 K. r. V., B 746 f./A 718 f.: »Ich würde also umsonst über den Triangel<br />
philosophieren, d.i. diskursiv nachdenken, ohne dadurch im mindesten weiter zu<br />
kommen, als auf die bloße Definition, von der ich aber billig anfangen müßte.«
— 491 —<br />
c) Die empirische Einbildungskraft<br />
Kant stellt nun im Fortgang der Lesung im Schematismuskapitel die<br />
empirische Vorstellung in den theoretischen Rahmen der reinen<br />
Anschauung und vergleicht jene mit dieser:<br />
»Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken<br />
existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in<br />
Ansehung reiner Gestalten im Raume. Noch viel weniger erreicht ein<br />
Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den empirischen<br />
Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema<br />
der Einbildungskraft, als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung,<br />
gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe.« 418<br />
Hier wird die Einbildungskraft in beiden Fällen nur für die Produktion<br />
eines Bildes gebraucht: Der geometrische Begriff einer sinnlichen Einheit<br />
von Erscheinungen erreicht schon wegen der Beschränkung des Begriffs<br />
der Größe auf reine Anschauung nicht den empirischen Begriff des<br />
einzelnen Gegenstandes. Im Begriff des Gegenstandes der Erfahrung soll<br />
nun für den empirischen Begriff der Anschauung ein gleiches gelten, da<br />
dieser nicht alle möglichen Prädikate dieses Gegenstandes enthält. 419 Die<br />
transzendentale Subsumtion des wirklichen Gegenstandes, also der<br />
transzendentalanalytische Nachweis, daß das Existenzprädikat ein<br />
Prädikat der notwendigen Prädikate ist, ist damit aber nicht geleistet. Kant<br />
entwickelt an Ort und Stelle nur ein Duplikat der rein quantitativen<br />
Argumentation für das Verhältnis von qualitativen empirischen Begriffen<br />
einer gegebenen Anschauung und allgemeinen Begriff:<br />
»Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine<br />
Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein<br />
verzeichnen kann, ohne auf irgend eine besondere Gestalt, die mir die<br />
Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto<br />
darstellen kann, eingeschränkt zu sein. Dieser Schematismus unseres<br />
418 B 180/A 141<br />
419 Das neuerlich aus zwei verschiedenen Gründen: Erstens, weil die Anschauung nicht<br />
alle Prädikate enthält (sei es, daß sie einige unter anderen Umständen sehr wohl<br />
besitzen könnte, nur jetzt nicht, oder sei es, weil Anschauungen selbst nicht alle<br />
möglichen Prädikate enthalten kann). Zweitens weil ein empirischer Begriff nicht<br />
alle möglichen (jetzt im Sinne von gebbaren) Prädikate einer Anschauung tatsächlich<br />
umfassen kann, sondern bereits eine Auswahl zur Bildung eines empirischen<br />
Begriffes getroffen werden muß.
— 492 —<br />
Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Formen, ist<br />
eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre<br />
Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt<br />
vor Augen legen werden.« 420<br />
Eben das gleiche Verhältnis stellt Kant in einem Entwurf zur späten<br />
Preisschrift analytisch vor; allerdings deutlicher nach Teilvorstellung der<br />
Sinnenvorstellung und Gemeingültigkeit des Begriffes der logischen Form<br />
nach unterschieden:<br />
»Wenn nun ein Begriff ein von der Sinnenvorstellung genommener, d.i.<br />
empirischer Begriff ist, so enthält er als Merkmal, d.i. als Teilvorstellung,<br />
etwas, was in der Sinnenanschauung schon begriffen war, und nur der<br />
logischen Form, nämlich der Gemeingültigkeit nach, sich von der<br />
Anschauung der Sinne unterscheidet, z. B. der Begriff eines vierfüßigen<br />
Tieres in der Vorstellung eines Pferdes.« 421<br />
Läßt man also die Tiefen der menschlichen Seele einstweilen beiseite, 422 so<br />
bleibt nichts als das Argument aus der Geometrie, also etwas wie die<br />
Differenz vom Begriff eines Triangels und einem konkreten Dreieck in<br />
reiner Anschauung als Argument zur Bestimmung konkreter<br />
Individualität übrig. Kant berücksichtigt hier in seinem Beispiel des<br />
Begriffs vom Hunde im bloßen Schema eines Bildes nicht den qualitativen<br />
Begriff, also daß der aus der Anschauung entnommene Begriff bloß der<br />
der eines vierfüßigen Tieres, aber nicht der eines Hundes ist. Die in Frage<br />
kommenden »bloßen Formen« sind aber auch wiederum mehr als die<br />
bloßen geometrischen Formen der Ausdehnung, da die Erfahrung von<br />
einem bestimmten Gegenstande gegenüber der wechselnden Anschauung<br />
auch Farbe, die taktilen Qualitäten des Felles, der Geruch, die Laute,<br />
schließlich allgemein das Verhalten die Vorstellung von den<br />
Erscheinungen eines bestimmten Hundes bestimmt. Während die<br />
Konstruktion einer Gestalt bloß die reine Einbildungskraft benötigt, setzt<br />
die Konstitution eines Erfahrungsgegenstandes aber bereits die<br />
Potentialität der ganzen Einbildungskraft voraus, aber ohne deren<br />
420 K.r.V., B 180/A 141<br />
421 AA XX, p. 237 f.<br />
422 Insgesamt wird das aber durchwegs nicht möglich sein: In der Erörterung des<br />
ästhetischen Urteils wird das Ideal als Normalbild einer ursprünglich<br />
psychologischen und nicht begrifflichen Leistung vorgestellt. K.d.U., B 67 f..
— 493 —<br />
Funktionen eigens als Begriff abzuleiten. Kant scheint hier aus der wie<br />
oben erweiterten »bloßen Form« der Erscheinung nicht auf mathematische<br />
sondern auf dimensionsbestimmende qualitative Relationen aus den<br />
Differenzen der gegebenen Mannigfaltigkeit vom wirklichen Gegenstand<br />
zu schließen, 423 ohne zur deutlichen Unterscheidung von konstitutiver und<br />
dynamischer Kategorie oder zu einem qualitativen Gattungsbegriff zu<br />
gelangen.<br />
d) Das reine Schema der Begriffe<br />
Kant versucht hier neben seiner Einteilung der Kategorien in<br />
mathematische und dynamische Kategorien und deren mit Rücksicht auf<br />
die Kategorie der Antizipation nur implizite zu verzeichnenden<br />
Stufenleiter von arithmetischen, geometrischen und dynamischen Schema<br />
mit den schon bekannten Schwächen ein Modell der transzendentalen<br />
Subsumtion aufzubauen, das erstens auf die psychologische<br />
Unterscheidung in die empirische, reine und transzendentale Funktion der<br />
Einbildungskraft und zweitens auf die Unterscheidung des Produkts der<br />
Einbildungskraft in Bild und Schema beruht: »So viel können wir nur sagen:<br />
das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven<br />
Einbildungskraft [...]«. 424 Gemäß den eben aufgezeigten Kriterien der<br />
Unterscheidung fährt Kant nun fort:<br />
»[Das] Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) [ist<br />
hingegen] ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen<br />
Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst<br />
möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des<br />
Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich<br />
demselben nicht völlig kongruieren.« 425<br />
Unter sinnliche Begriffe sind wohl Begriffe zu verstehen, die Vorstellungen<br />
enthalten, die Anschauungen enthalten. Allein das logische Schema der<br />
Begriffe (z.B. in der Syllogistik) kann als reines Bild abermals betrachtet<br />
werden. Derart würde sich das »Monogramm der reinen<br />
423 Vgl. die Kategorie der Antizipation: Obgleich einerseits die Geometrisierbarkeit des<br />
Raumes die eine Voraussetzung der Beschreibbarkeit des empirischen Raumes ist, ist<br />
andererseits die Materie als Substrat des Objekts des Beweglichen die andere<br />
Voraussetzung der Beschreibbarkeit des Raumes.<br />
424 B 180/A 141<br />
425 B 80/A 141 f.
— 494 —<br />
Einbildungskraft« als Schema aller empirischen Prädikate eines Dinges<br />
gerade gegenüber dem Bild eines Gegenstandes in der Anschauung<br />
verstehen lassen. Jedoch setzt Kant zu der ungewöhnlichen<br />
Ausdrucksweise »sinnlicher Begriffe« noch eine Erklärung in Klammer:<br />
»[...] das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) [...]«. 426<br />
Damit verbleibt Kant in der Konsequenz abermals nur im Rahmen der<br />
Varianz der Argumentation, wie er sie eben vorhin zwischen Geometrie<br />
und den »bloßen Formen« der empirischen und sinnlichen Anschauung,<br />
die eben über die geometrischen Formen hinausgehen, entworfen hat. Die<br />
Erwartung, mit dem »Monogramm der reinen Einbildungskraft« nun im<br />
logischen Schema von Begriffen das transzendentale Verhältnisprädikat<br />
denken zu können, erfüllt sich demnach nicht; und bleibt also neuerlich<br />
auf eine Analogie logischer Verhältnisse zum Konstruieren von »Figuren<br />
im Raume« beschränkt. Die regulativen Kategorien aber bleiben bislang<br />
bestenfalls auf eine Andeutung beschränkt.<br />
§ 24 Die Darstellung des Schematismus der reinen Verstandesbegriffe<br />
(Das transzendentale Schema)<br />
Nach der Interpretation des Bildes als Produkt der<br />
empirischen Einbildungskraft und des Schemas als Monogramm der<br />
reinen Einbildungskraft setzt Kant das Kapitel vom »Schematismus des<br />
reinen Verstandesbegriffes« damit fort, das Schema des reinen<br />
Verstandesbegriffes (nach wie vor ohne ausdrückliche Differenzierung<br />
zwischen konstitutiver und regulativer Kategorie) einmal als Schema<br />
reiner Einbildungskraft und einmal als transzendentales Produkt der<br />
Einbildungskraft vorzustellen.<br />
»Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar<br />
kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis,<br />
gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie<br />
ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft,<br />
welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen<br />
ihrer Form (der Zeit), in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, so fern<br />
diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff<br />
zusammenhängen sollten. « 427<br />
426 B 181/A 141 f.<br />
427 B 181/A 142
— 495 —<br />
Kant behauptet hier nicht, daß das Schema des reinen Verstandesbegriffs,<br />
als allgemeine Regel der Einheit nach Begriffen, selbst das Produkt der<br />
transzendentalen Einbildungskraft ist, sondern daß der reine<br />
Verstandesbegriff, nur sofern er als formale Einheit des inneren Sinnes (und<br />
sofern dessen Vorstellungen der Einheit der Apperzeption gemäß a priori<br />
in einem Begriff zusammenhängen sollte) betrachtet wird, gerade in der<br />
Aktualität der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption als<br />
Schematismus ein Produkt der transzendentalen Einbildungskraft im<br />
inneren Sinn erzeugt. Diese Interpretation legt Kant an verschiedenen<br />
Stellen selbst vor; so etwa in § 10: »Dieselbe Funktion, welche den<br />
verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch<br />
der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung<br />
Einheit, welche allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.<br />
Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen,<br />
wodurch er in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit ; die logische<br />
Form eine Urteil zu Stande brachte, bringt auch, vermittelst der<br />
synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt,<br />
in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine<br />
Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen, welches die<br />
allgemeine Logik nicht leisten kann.« 428<br />
Genau gelesen, heißt hier die Einheit der bloßen Synthesis verschiedener<br />
Vorstellungen, allgemein, also analytisch in Begriffen ausgedrückt, der<br />
reine Verstandesbegriff. Es gibt aber keinen Grund für die Annahme, daß<br />
Kant an der Unterscheidung von synthesis intellectualis und synthesis<br />
speciosa, wie er sie in § 24 getroffen hat, nicht auch im Schematismuskapitel<br />
festgehalten hätte: »Diese Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen<br />
Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist, kann figürlich<br />
(synthesis speciosa) genannt werden, zum Unterschiede von derjenigen,<br />
welche in Ansehung des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt in<br />
der bloßen Kategorie gedacht würde, und Verstandesverbindung<br />
(synthesis intellectualis) heißt; beide sind transzendental, nicht bloß weil<br />
sie selbst a priori vorgehen, sondern auch die Möglichkeit anderer<br />
Erkenntnis a priori gründen.«<br />
»Allein die figürliche Synthesis, wenn sie bloß auf die ursprünglichsynthetische<br />
Einheit der Apperzeption, d.i. diese transzendentale Einheit<br />
428 K.r.V., B 105 f./A 79 f. (Hervorh. v. Autor)
— 496 —<br />
geht, welche in den Kategorien gedacht wird, muß, zum Unterschiede von<br />
der bloß intellektuellen Verbindung, die transzendentale Synthesis der<br />
Einbildungskraft heißen.« 429<br />
Jedoch geht es aber nunmehr nicht allein um die Konstitution eines<br />
gegebenen Objektes (oder auch der bloßen Vorstellung eines gebbaren<br />
Gegenstandes) im inneren Sinn gemäß des Begriffs eines einzelnen<br />
Gegenstandes, sondern — gewissermaßen das transzendentale Produkt aus<br />
dem Schematismuskapitel der Analytik der Grundsätze am Boden der<br />
transzendentalen Deduktion (der Analytik der Begriffe) umstülpend —<br />
abermals um die Konstitution dieses hier zuvor schon behaupteten reinen<br />
Begriffes als Kategorie und Schema gegenüber der bloßen logischen<br />
Funktion reiner Verstandesbegriffe, die diese selbst enthalten. Es ist<br />
festzuhalten, daß Kant im zweiten Abschnitt des gegebenen Zitates aus<br />
§ 24 die Kategorie letztlich nicht mehr von ihrem transzendentalen<br />
Schematismus der Einbildungskraft unterscheidet: da sagt er deutlich, daß<br />
die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft dazu nötig sei, um die<br />
ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, die in den Kategorien<br />
gedacht wird, zu denken, während im ersten Abschnitt des Zitates in der<br />
synthesis intellectualis bloß nochmals die rein intellektuelle Verbindung der<br />
bloßen Kategorie (erster Abschnitt) von der ursprünglich-synthetischen<br />
Einheit der Apperzeption, die in den Kategorien gedacht wird (zweiter<br />
Abschnitt des Zitates), unterschieden wird. Die rein intellektuelle<br />
Verbindung kann nach der Gegenüberstellung von ursprünglichsynthetischer<br />
Einheit und der bloßen Kategorie nur mehr analytisch<br />
gedacht werden. Bemerkenswert ist aber weiters, daß im zweiten<br />
Abschnitt des Zitates die ursprünglich -synthetische Einheit in den<br />
Kategorien gedacht werden soll; etwas, das Kant in § 15 verbietet und in<br />
§ 16 auch gar nicht zustande bringen könnte. Es handelt sich also, dessen<br />
ungeachtet, in § 24 um eine Neuinterpretation des in §§ 16-17 festgestellten<br />
doppelten Interpretierbarkeit der ursprünglich-synthetischen Einheit der<br />
Apperzeption, die Kant hier einerseits intellektuell mit bloßer Kategorie und<br />
andererseits als Schema oder als Formel der Einbildungskraft mit<br />
den Kategorien kennzeichnet.<br />
Im oben gegebenen Zitat aus dem Kapitel »Von dem Schematismus der<br />
reinen Verstandesbegriffe« 430 unterscheidet Kant ebenfalls das Schema<br />
429 B 151 (Hervorh. v. Autor)
— 497 —<br />
vom Schematismus des reinen Verstandesbegriffes nach<br />
synthesis intellectualis und synthesis speciosa, aber derart, daß die erstere<br />
bereits die formale Bedingung des Gegebenseins als allgemeine Bedingung<br />
enthält. Ist in § 24 die qualifizierte Kategorie schließlich nicht mehr ohne<br />
der transzendentalen Funktion der Einbildungskraft (synthesis speciosa) zu<br />
denken möglich, sodaß die synthesis intellectualis demnach dann a<br />
posteriori als analytische Form der Verstandeshandlung in logischer<br />
Funktion verbleibt, wenn die Funktion des Verstandes die »bloße«<br />
Kategorie rein ausdrückt, enthält hier die Verstandeshandlung als<br />
synthesis intellectualis wieder a priori die formale Bedingung in Gestalt<br />
einer allgemeinen Bedingung. 431 Demnach wäre insofern bereits der reine<br />
Verstandesbegriff als die bloße Kategorie, also insofern als rein<br />
intellektuelles und als reines und intellektuelles Schema (ein bereits<br />
spezifiziertes Konzept der Konzepte) metaphysisch-logisch zu denken<br />
möglich, während die fragliche Stelle in § 24 wegen der ursprünglichsynthethischen<br />
Einheit der Apperzeption, die in den Kategorien<br />
stattfindet, nahelegt, die bloße Kategorie nur mehr als analytische<br />
Heraushebung aus der synthesis speciosa der transzendentalen<br />
Einbildungskraft zu verstehen.<br />
Benötigt die derart vorgestellte reine Kategorie, als reiner<br />
Verstandesbegriff schon die formale Bedingung in Gestalt einer<br />
allgemeinen Bedingung enthaltend, nun die transzendentale<br />
Einbildungskraft erst, wenn es sich nur um den Schematismus der<br />
430 Ich beziehe mich hier auf B 178 f./A 139 f. (»daß reine Begriffe a priori [enthalten],<br />
außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der<br />
Sinnlichkeit [...]«) und auf B 181/A 141 (»das Schema eines reinen<br />
Verstandesbegriffes [ist] nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach<br />
Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt [...]«). M. E. drücken beide<br />
Formulierungen eine identifizierbare Auffassung über die fraglichen Verhältnisse<br />
aus.<br />
431 K.r.V., B 178 f./A 139 f.: »Denn da haben wir gesehen, daß Begriffe ganz unmöglich<br />
sind, noch irgend eine Bedeutung haben können, wo nicht, entweder ihnen selbst,<br />
oder wenigstens den Elementen, daraus sie bestehen, ein Gegenstand gegeben ist,<br />
mithin auf Dinge an sich (ohne Rücksicht, ob und wie sie uns gegeben werden<br />
mögen) gar nicht gehen können; daß ferner die einzige Art, wie uns Gegenstände<br />
gegeben werden, die Modifikation unserer Sinnlichkeit sei; endlich, daß reine Begriffe<br />
a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der<br />
Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die<br />
allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand<br />
angewandt werden kann. Wir wollen diese formale und reine Bedingung der<br />
Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauche restringiert ist,<br />
das Schema dieses Verstandesbegriffes, und das Verfahren des Verstandes mit<br />
diesen Schematen, den Schematismus des reinen Verstandes nennen.«
— 498 —<br />
Synthesis einer gegebenen Mannigfaltigkeit einer bestimmten Anschauung<br />
handelt? Und ist es so, wie Kant vorstellig zu machen scheint: Nämlich,<br />
daß der reine Verstandesbegriff, hier gleich die bloße Kategorie als<br />
synthesis intellectualis gedacht, die allgemeine Bedingung (z. B. Ursache<br />
und Wirkung) in Gestalt der formalen Bedingung (die logische Definition<br />
der Sukzessivität) enthalten könnte, nur weil die bloße<br />
Verstandeshandlung der fortlaufenden Prädikatisierung des gegebenen<br />
Mannigfaltigen selbst der Zeitbedingung des inneren Sinn eine logische<br />
Zeitordnung aufgeprägt hat?<br />
§ 25 Die ersten zwei Interpretationen der »bloßen« oder »reinen«<br />
Kategorie<br />
a) Die reine Kategorie ist die analytische Einheit der Synthesis<br />
und als solche der reine Verstandesbegriff<br />
In § 10 sagt Kant deutlich, wie das Verhältnis von reinem<br />
Verstandesbegriff und Kategorie zu denken ist: »Derselbe Verstand also,<br />
und zwar durch eben dieselbe Handlungen, wodurch er in Begriffen,<br />
vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zu<br />
Stande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des<br />
Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen<br />
einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe<br />
heißen, die apriori auf Objekte gehen, welches die allgemeine Logik nicht<br />
leisten kann. [...] Wir wollen diese Begriffe, nach dem Aristoteles,<br />
Kategorien nennen, indem unsere Absicht uranfänglich mit der seinigen<br />
zwar einerlei ist, ob sie sich gleich davon in der Ausführung gar sehr<br />
entfernet.« 432<br />
Kant nennt also die reinen Verstandesbegriffe hier deshalb direkt<br />
Kategorien, weil sie sich auf Objekte der Erfahrung (der transzendentale<br />
Inhalt) beziehen, wenn deren allgemeine Regel die Mannigfaltigkeit in der<br />
Anschauung überhaupt zur synthetischen Einheit bringen, und diese<br />
reinen Verstandesbegriffe selbst — als Formen der Verstandeshandlung im<br />
Urteil mittels Begriffe — auch deren analytische Einheit ausdrücken.<br />
Nichts anderes wurde auch im Schematismusabschnitt des § 24 der<br />
Deduktion behauptet. Was kann es nun bedeuten, wenn von Kant eine<br />
432 B 105 f./A 79
— 499 —<br />
»reine« Kategorie in Stellung gebracht wird? Man darf vermuten, daß<br />
diese Kennzeichnung zunächst bloß auf die Verstandeshandlung im Urteil<br />
aus Begriffe verweisen soll. Nun aber hat Kant schließlich festgestellt, daß<br />
die Erkenntnis der Verhältnisse der Erscheinungen im Dasein nicht<br />
anschaulich sind, sondern rein intellektuell gewonnen werden. Damit ist<br />
die »Reinheit« der Kategorie neu zu bedenken. Es ist zu überlegen, daß<br />
Kant sowohl die transzendentale Reflexion der Relationen, die modale<br />
Reflexion, die Reflexion der reinen Zeckmäßigkeit möglicher<br />
Konstruktionen, aber auch die Reflexion der metaphysischen<br />
Anfangsgründe gemeint haben kann, wenn er wiederum die Erkenntnis<br />
allein in der »reinen« Intellektualität der Begriffe vorstellen kann:<br />
»Vermittelst des Begriffs der Ursache gehe ich wirklich aus dem<br />
empirischen Begriffe von einer Begebenheit (da etwas geschieht) heraus,<br />
aber nicht zu der Anschauung, die den Begriff der Ursache in concreto<br />
darstellt, sondern zu den Zeitbedingungen überhaupt, die in der<br />
Erfahrung dem Begriff der Ursache gemäß gefunden werden möchten. Ich<br />
verfahre also bloß nach Begriffen, und kann nicht durch Konstruktion der<br />
Begriffe verfahren, weil der Begriff eine Regel der Synthesis der<br />
Wahrnehmungen ist, die keine reine Anschauungen sind, und sich also a<br />
priori nicht darstellen lassen.« 433<br />
In der Anmerkung zur vierten Erklärung der Phoronomie ist zu lesen: 434<br />
»Zur Konstruktion der Begriffe wird erfodert: daß die Bedingung ihrer<br />
Darstellung nicht von der Erfahrung entlehnt sei, also auch nicht gewisse<br />
Kräfte voraussetze, deren Existenz nur von der Erfahrung abgeleitet<br />
werden kann, oder überhaupt, daß die Bedingung der Konstruktion nicht<br />
selbst ein Begriff sein müsse, der gar nicht a priori in derAnschauung<br />
gegeben werden kann, wie z.B. der von Ursache und Wirkung, Handlung<br />
und Widerstand etc.« 435<br />
In dieser Gegenüberstellung zweier ähnlicher Gedankengänge zeigt sich<br />
die Schwierigkeit, zu erfassen, was unter der »reinen Kategorie« gemeint<br />
433 K.r.V., Anmk. zu B 750/A 722<br />
434 Ähnlich in der Methodenlehre der K. r. V.: »Synthetische Sätze, die auf Dinge<br />
überhaupt, deren Anschauung sich a priori gar nicht geben läßt, gehen, sind<br />
transzendental. Demnach lassen sich transzendentale Sätze niemals durch<br />
Konstruktion der Begriffe, sondern nur nach Begriffen a priori geben. Sie enthalten<br />
bloß die Regel, nach der eine gewisse synthetische Einheit desjenigen, was nicht a<br />
priori anschaulich vorgestellt werden kann, (der Wahrnehmungen,) empirisch<br />
gesucht werden soll.« (B 748 f/A 720 f.)<br />
435 M.A.d.N., A 14
— 500 —<br />
sein kann, bedenkt man die »Reinheit« allein im Kontrast zur<br />
synthesis speciosa der empirischen Einbildungskraft und zum primitiven<br />
Schema der Apprehension, das zum Beharrlichen in der Erscheinung führt.<br />
Insofern wird die Reinheit der Kategorie aus einem Grund gefordert, der<br />
für sich selbst keinerlei Anspruch auf Apriorität erheben kann: Die<br />
Erkenntnis der dynamischen Gründe sind selbst im Sinne Kants<br />
unanschaulich und nur der Begriff vermag sich intellektuell auf das, was<br />
geschieht, zu richten. Die reine Kategorie 436 bedarf einer allgemeinen Regel<br />
gerade deshalb, weil die Erkenntnis der Gründe des Gegebenen<br />
intellektuell stattfindet, und der Grund deren Regel nicht von der<br />
Einbildungskraft abermals anschaulich vorgestellt werden kann; auch<br />
nicht von der transzendentalen Einbildungskraft. Die letztere bewirkt nur<br />
das Verständnis der Anschauung als Teil der Erfahrung und kennzeichnet<br />
die Stellen der Einsetzung des selbst unanschaulichen Grundes. Während<br />
der Grund der Reinheit, frei von Sinnlichkeit zu sein, in der Anschauung<br />
Apriorität verspricht, 437 ist der Grund der Reinheit hier als eine Bedingung<br />
des Erfahrungsbegriffen vorgestellt worden, der selbst aber nicht<br />
zureichend ist, den Grund des Geschehens a priori zu denken — dazu sei<br />
noch mehr als die Regel a posteriori der Stellung solcher Begriffe in der<br />
Reihe der Erscheinungen notwendig, die mit der Regel der Reproduktion<br />
auch schon gegeben ist.<br />
b) Die Reinheit der Kategorie als rein intellektueller Begriff oder<br />
als rein von jeder Zeitbedingung zu denkender Begriff<br />
Weiter oben (vgl. hier §§ 9-10) wurde der reine Verstandesbegriff, der<br />
grammatikalisch dasjenige in einem Urteil bestimmt, das nicht in<br />
Prädikaten weiter gedacht werden kann, schon als reine Kategorie der<br />
Substanz vorgestellt. So kehrt auch im Schematismuskapitel die<br />
grammatikalische Bestimmung des Objektbegriffes als Bestimmung der<br />
reinen Kategorie wieder, 438 obgleich das der in B 181/A 142 getroffenen<br />
436 Hier noch als reiner Verstandesbegriff zu verstehen.<br />
437 Vgl. die Strategie bei der Exponation der dynamischen Kategorien in § 26<br />
438 K.r.V., B 186/A 147: »In der Tat bleibt den reinen Verstandesbegriffen allerdings,<br />
auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingung, eine aber nur logische<br />
Bedeutung der bloßen Einheit der Vorstellungen, denen aber kein Gegenstand,<br />
mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Objekt abgeben<br />
könnte. So würde z.B. Substanz, wenn man die sinnliche Bestimmung der<br />
Beharrlichkeit wegließe, nichts weiter als ein Etwas bedeuten, das als Subjekt (ohne<br />
ein Prädikat von etwas anderem zu sein) gedacht werden kann.«
— 501 —<br />
Darstellung der Kategorie, welche den reinen Verstandesbegriff schon rein<br />
intellektuell ausdrückt, keineswegs entspricht. 439 Beiden Auffassungen von<br />
einer »reinen« Kategorie muß übrigens das Schema (Regel, Formel) der<br />
Apprehension in figürlicher Hinsicht, aber auch allererst hinsichtlich der<br />
Beharrlichkeit erst in den Erscheinungen gefunden werden.<br />
Der Begriff der Dauerder Substanz 440 und nicht als Schema der<br />
Apprehension der Erscheinungen (Beharrlichkeit) gehört bereits zur<br />
Reflexion der Vorstellungen der metaphysischen Anfangsgründe. Insofern<br />
ist die Darstellung aus § 24, in welcher sowohl die synthesis intellectualis als<br />
reiner Verstandesbegriff wie auch die synthesis speciosa als Produkt der<br />
Einbildungkraft als transzendental bezeichnet werden, 441 gleich in<br />
mehrerer Hinsicht zu erweitern: Denn soll das Produkt der Regel der<br />
Apprehension mit objektiver Realität gedacht werden, muß schließlich der<br />
Beharrlichkeit am Ding des Objektes der Erfahrung auch eine<br />
metaphysische Voraussetzung zumindest zu denken möglich sein. Das<br />
Urteil über die Existenz gegebener Objekte der Erfahrung und über die<br />
Wirklichkeit des Geschehens gehört aber zur Reflexion über die Modalität<br />
der Aussagen. Diese Reflexionen können zweifellos nicht mehr ein<br />
Produkt der Einbildungskraft besitzen. — Der mögliche logische Gehalt<br />
einer Kategorie ist insofern nicht rein (in dem Sinne als nicht frei von<br />
kontingenten Verhältnissen, seien deren Begriffe etwa auch Folgen von a<br />
priori Geltung wie die Beharrlichkeit als Schema der Apprehension),<br />
obgleich da wie dort die sinnliche Figur in der Anschauung des<br />
Gegenstandes hierin gar nicht selbst eingeht. Bekanntlich erhält die<br />
Beharrlichkeit in diesem Zusammenhang in der M.A.d.N. späterhin eine<br />
dynamische Erklärung. 442<br />
Allerdings wurde die Beharrlichkeit selbst zuvor schon als rein<br />
intellektuelles Schema der Vermittlung vorgestellt: einmal als Regel der<br />
Apprehension der Erscheinungen (nicht selbst der Anschauung; diese<br />
geschieht nur mittels der synthesis speciosa), die unabhängig von der<br />
439 »Das Schema eines reinen Verstandesbegriffes [ist] nur die reine Synthesis, gemäß<br />
einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt [...]«<br />
(B 181/A 142)<br />
440 M.A.d.N., Als Folge der Repulsion<br />
441 Betreffs der synthesis intellectualis wohl hinsichtlich der transzendentalen Reflexion<br />
(vgl. hier § 20), bezüglich der synthesis speciosa eindeutig hinsichtlich des<br />
»transzendentalen Inhaltes« in der Anschauung.<br />
442 M. E. ist dieser Absicht unabhängig von der Gelungenheit dieses Versuches<br />
systematische Bedeutung einzuräumen
— 502 —<br />
logischen Normierung des inneren Sinnes mittels Gegensätze ist, und<br />
einmal als intellektuelle, rein begriffliche Voraussetzung (der analytischen<br />
Worterklärung von »Beharrlichkeit« aus dem Gegensatz zu<br />
»Veränderlichkeit«), die in der grammatikalisch als Satzgegenstand<br />
bestimmten Stelle des transzendentalen Objektes = X im Urteil 443 zwischen<br />
dem mehrfach fraglichen Substrat des Begriffes vom Beharrlichen in der<br />
Apprehension der Erscheinung (das den Begriff des Veränderlichen nur<br />
als Bedingung analytisch voraussetzt) und der Idee des Beweglichen als<br />
metaphysischer Anfangsgrund analogisch (selbst ohne logische, aber mit<br />
geometrischer Definition des Veränderlichen) zu vermitteln vorgibt.<br />
Doch wird von selbst deutlich, daß die »allgemeine Bedingung«, die im<br />
Schematismuskapitel zuerst in der »formalen Bedingung«, und diese<br />
wiederum im »reinen Begriff a priori« enthalten sein soll, nicht den vollen<br />
Umfang dieser Überlegung zu tragen imstande ist — die »formale<br />
Bedingung« ist erst als transzendentale Zeitbedingung der Anschauung<br />
eigens einzuführen; in der Formulierung, daß die »allgemeine Bedingung«,<br />
die im Schematismuskapitel in der »formalen Bedingung«, und diese<br />
wiederum im reinen Begriff enthalten sein soll, ist aber erstens die<br />
»formale Bedingung« als transzendentale Zeitbedingung der Zeitordnung,<br />
wie wir anhand der Bestimmung des inneren Sinnes zur Sukzessivität<br />
mittels fortlaufender Prädikatisierung gesehen haben, schon längst mit der<br />
Bedingung der logischer Kontinuität zusammengefallen, und zweitens die<br />
analytische Zeitordnung im reinen Verstandesbegriff (Beharrlichkeit und<br />
Veränderlichkeit bzw. Ursache und Wirkung) mit eben der bloßen<br />
Prädikatisierungshandlung verwechselbar geworden, welche auch der<br />
transzendentalen Zeitbedingung erst die logische Ordnung gibt. —<br />
Die Abwägung beider Strategien der Interpretation (die aus dem Kapitel<br />
»Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe« aus B 181/A 142<br />
und die aus dem Schematismusabschnitt in § 24) wird zeigen, daß es sich<br />
bei diesen Strategien nicht um einander ausschließende Alternativen<br />
handelt, wie es zuerst nach der Feststellung der Differenzen erschienen ist.<br />
Es scheint, daß die Untersuchung der Funktion der Einbildungskraft in<br />
Schema und Schematismus zu folgenden alternativen Formulierungen<br />
443 »Bei allem Wechsel beharret die Substanz [...].« (K.r.V., B 224/A 182) bzw. »Alle<br />
Veränderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und<br />
Wirkung« (B 232/A 189)
— 503 —<br />
führt, die in der Interpretation der gedoppelten Ausgangslage bei Kant<br />
einen Schritt weitergehen, indem sie jeweils eine Entscheidung benötigen,<br />
die aus der Abwägung der Argumente Kants allein nicht begründet<br />
werden kann. Erstens: In Gestalt einer formalen Bedingung auch schon die<br />
allgemeine Bedingung zu enthalten (z.B. als Ursache-Wirkung), zeichnet<br />
den reinen Begriff (synthesis intellectualis) gegenüber der logischen Regel<br />
der Sukzessivität des inneren Sinnes zur Kategorie aus. Hier droht<br />
allerdings die transzendentale Zeitbedingung, die Zeitform des inneren<br />
Sinnes und die Zeitform der Verstandeshandlung anhand der logischen<br />
Regel der Sukzessivität zusammenzufallen. Zweitens: Die allgemeine<br />
Bedingung der Reflexion auf objektive Realität zu enthalten (die logische<br />
Definition der Sukzessivität), macht die Kategorien (synthesis speciosa als<br />
transzendentales Produkt der Einbildungskraft) sowohl gegenüber der<br />
bloß logischen Funktion der Verstandeshandlung (Ursache und Wirkung)<br />
wie gegenüber der Funktion der empirischen und der reinen<br />
Einbildungskraft aus. Dann wäre die Kategorie nur mit der<br />
transzendentalen Zeitbedingung in Gestalt der logischen Definition der<br />
Sukzessivität zu geben. Zur allgemeinen Bedingung der objektiven Realität<br />
gehört aber sowohl Anschauung und auch die ganze allgemeine<br />
Bedingung der konstitutiven Kategorien (compositio) wie die intellektuelle<br />
Relationsform des nexus. Diese bisher noch unbekannte Transformation<br />
von Washeit und Modalität (Quidditas) zur Relation soll von kontingenten<br />
Aussagen entscheiden können, ob sie sich auf zufällig oder gesetzmäßig<br />
erscheinendes empirisches Geschehen beziehen lassen.<br />
Die zum reinen Begriff transzendental hinzukommende formale<br />
Zeitbedingung (in der zweiten dynamischen Kategorie schon in der<br />
logischen Regel des sukzessiv Veränderlichen ausgedrückt) ist<br />
wesentliches Bestandstück der Kategorie, ebenso wie die Zeitordnung des<br />
reinen (analytischen) Verstandesbegriffes im synthetischen Grundsatz von<br />
Ursache und Wirkung. Die Richtigkeit dieser Interpretation erweist sich<br />
einerseits darin, daß Kant die »reine Kategorie« nicht allerorts als reinen<br />
Verstandesbegriff behandelt; allerdings bloß um zu betonen, daß es sich<br />
dann nicht um die Synthesis des in einer Anschauung gegebenen<br />
Mannigfaltigen, sondern um die analytisch verfahrende<br />
synthesis intellectualis nur insofern reiner Begriffe im Urteil handelt.<br />
Schließlich stellt andererseits Kant sowohl für die Substanz- wie für die<br />
Kausalitätskategorie als »reine« Kategorie einen Begriff<br />
ohne jede Zeitbedingung vor: Eine dieserart »reine« Kategorie wurde wie
— 504 —<br />
auch die analytische Zeitordnung des reinen Verstandesbegriffes insofern<br />
zurecht für die Kausalitätskategorie als für sich allein als nicht ausreichend<br />
erachtet.<br />
c) Zeitreihe und Zeitordnung als Zeitbedingungen der Kategorie<br />
Die hier seit § 20 verfolgte Analyse ist in ihren wichtigsten Entscheidungen<br />
im Zuge der Begriffsbestimmung folgendermaßen kurz zu rekapitulieren:<br />
1. Reiner Verstandesbegriff (analytisch: Ursache-Wirkung) (*) enthält die<br />
Zeitordnung auch dann, wenn keine Zeit verlaufen ist (keine Zeitreihe<br />
entstanden ist). [synthetischer Grundsatz] 444<br />
(*) Kategorie und Verstandesbegriff relativ ungetrennt<br />
Reiner Verstandesbegriff (analytisch: reine Mannigfaltigkeit des Begriffes)<br />
(*) benötigt transzendentale Zeitbedingung. [Schematismuskapitel a] 445<br />
(*) Kategorie und Verstandesbegriff relativ ungetrennt<br />
2. synthesis intellectualis und synthesis speciosa beide in transzendentaler<br />
Verwendung. Auf nonkonformistischer Weise (bezüglich § 16)<br />
argumentiert Kant für einen Kategorienbegriff aus der synthesis speciosa,<br />
der vom reinen Verstandesbegriff anhand der Funktion der<br />
transzendentalen Einbildungskraft in der ursprünglich-synthetischen<br />
Einheit der Apperzeption unterscheidbar sein soll (*)<br />
[Schematismusabschnitt in § 24] 446<br />
(*) reine Kategorie und reiner Verstandesbegriff relativ ungetrennt<br />
Die reinen Verstandesbegriffe nach der Ordnung der Kategorien<br />
vorgestellt [Schematismuskapitel b, vgl. hier anschließend § 25 d],<br />
Kategorien: Titel einer Formel (der synthetische Grundsatz als Schema),<br />
den reinen Verstandesbegriffen beiseite gesetzt [Analogien]. Kategorien<br />
sind vom reinen Verstandesbegriff geschieden (*)<br />
444 »Der Begriff aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit mit sich führt,<br />
kann nur ein reiner Verstandesbegriff sein, der nicht in der Wahrnehmung liegt, und<br />
das ist hier der Begriff des Verhältnisses von Ursache und Wirkung.« (B 234/A 189)<br />
445 »Der Verstandesbegriff enthält reine synthetische Mannigfaltigkeit überhaupt.«<br />
(B 177/A 138)<br />
446 B 150 f.
— 505 —<br />
(*) reine Kategorie (ohne jede Zeitbedingung) vom reinen<br />
Verstandesbegriff wie von der Kategorie verschieden (disparat: läßt sich<br />
als Gegensatz ausdrücken).<br />
Die anhand der Veränderung der Bedeutung des Ausdrucks »reine«<br />
Kategorie zu verzeichnende Veränderung des Verhältnisses von Kategorie<br />
und Verstandesbegriff setzt die Spaltung der Deduktion in zwei<br />
ursprünglich-synthetische Einheiten der Apperzeption fort; 447 diese<br />
Spaltung geht letztlich auf die logische Differenz der<br />
Distributionseigenschaften vom Begriff des Raumes (als Begriff der<br />
Anschauung) und vom Begriff des Gegenstandes zurück.<br />
❆<br />
Zwar ist die bloße Zeitreihe, die der Regel der Beharrlichkeit in den<br />
Erscheinungen zugrunde liegt, als transzendentale Zeitbedingung ohne<br />
weiteres zu verstehen. Da aber Kant im Schematismuskapitel der<br />
Zeitbedingung der dynamischen Kategorie insgesamt die Zeitordnung, die<br />
Zeitreihe aber allein dem kategorialen Quantum zuordnet, 448 verstehe ich<br />
unter der »Regel der Zeitbedingung« 449 schließlich gleich die strengere,<br />
logische Regel des Veränderlichen (obwohl der Beharrlichkeit die Zeitreihe<br />
des Quantums genügt). Der logische Inhalt der transzendentalen<br />
Zeitbedingung wird also mit der logischen Regel des sukzessiv<br />
Veränderlichen (Verknüpfung des Prädikats mit ihrem Gegenteil)<br />
identifiziert (damit wird der Begriff auf die Kategorie der Kausalität —<br />
bzw. den reinen Verstandesbegriff von Ursache und Wirkung —<br />
eingeschränkt). Der reine Verstandesbegriff (analytisch: reine<br />
Mannigfaltigkeit des Begriffes; hier: Ursache und Wirkung) wird von der<br />
Kategorie dadurch unterschieden, daß die Kategorie den reinen<br />
Verstandesbegriff und die transzendentale Zeitbedingung enthält (vgl.<br />
»der reine Begriff a priori enthält außer der Funktion des Verstandes in der<br />
Kategorie noch eine formale Bedingung«). Ab da ist die reine Kategorie<br />
(ohne Zeitbedingung) grammatikalisch [der Substanz,<br />
Schematismuskapitel] oder formalontologisch [der Kompossibilität,<br />
447 Die Rede ist von jener Spaltung der Argumentation Kantens zur ursprünglichsynthetischen<br />
Einheit der Apperzeption zwischen Einheit der Anschauung und<br />
Einheit der Verbindung im Denken, die am deutlichsten zwischen Text und Fußnote<br />
in § 17 zum Ausdruck kommt (B 136 f.)<br />
448 B 184/A 145<br />
449 l. c.
— 506 —<br />
Amphibolie] von der »ganzen« Kategorie wie vom reinen<br />
Verstandesbegriff zu unterscheiden.<br />
Die Identifikation der reinen Kategorie mit dem reinen Verstandesbegriff,<br />
obgleich zunächst nicht ausdrücklich von Kant ausgeschlossen, ist seit den<br />
Definitionen der reinen Kategorie unmöglich geworden. Der reine<br />
Verstandesbegriff bleibt der, der die analytische Zeitbedingung (in der<br />
Kausalitätskategorie die Zeitordnung gegenüber der Zeitreihe) schon<br />
logisch enthält, bevor noch der Wechsel aussagenlogisch widerspruchsfrei<br />
anhand der modallogischen Definition der Sukzessivität als Zeitordnung<br />
dargestellt werden kann. Die Diskussion, ob der reine Verstandesbegriff<br />
selbst analytisch als reiner Begriff der Ursache oder auch der Beharrlichkeit<br />
(Wirkung oder Veränderlichkeit als analytisches Gegenteil bereits<br />
enthaltend) schon eine gerichtete Zeitordnung beinhalte, ist soweit<br />
bekannt. Daß die Ursache die Kausalität besitzt, nicht die Wirkung, sollte<br />
einer solchen Behauptung unwiderruflich recht geben. Andererseits bleibt<br />
doch auch in Stellung, daß das Etwas, das Ursache genannt zu werden<br />
verdient, schon auch notwendigerweise die Wirkung mit zu bedenken hat.<br />
In der allgemeinen Regel der Wahrnehmung kann nur das Ursache<br />
genannt werden, dessen Wirkung existiert. Die Frage lautet: Ist Etwas mit<br />
Kausalität, aber ohne Wirkung, schon eine Ursache? Die Antwort kann nur<br />
nein lauten. Folglich ist die einzige »transzendentale Zeitbedingung«, die<br />
allein aus dem reinen (analytischen) Verstandesbegriff der Ursache<br />
erschlossen werden kann, die des »Zugleichseins«, worin Ursache und<br />
Wirkung in dem, was geschieht, gemeinsam existieren.<br />
Mit der Regel der Beharrlichkeit in der Apprehension der Erscheinungen,<br />
aber auch mit der modallogischen Regel des sukzessiv Veränderlichen<br />
wird ebenfalls keine Zeitrichtung bestimmt, wohl aber eine lineare<br />
Dimension der Zeit verzeichnet. Allerdings wird von der zweiten<br />
Zeitbedingung (als »unvollständige« logische Zeitordnung der<br />
Sukzessivität von mir gekennzeichnet) mit dem ersten Schritt eine<br />
Richtung determiniert — und zwar entweder regressiv oder progressiv.<br />
Gemeinsam mit der Kausalität eines Etwas, was ohne Wirkung (non-B)<br />
nicht Ursache (B) genannt werden kann, erhält die transzendentale<br />
Zeitbedingung (hier nun schon als bloß logisch normierte Zeitordnung der<br />
Sukzessivität) nunmehr eine bestimmte Zeitrichtung, welche die Richtung<br />
der Zeitreihe erklärt: Das Zukünftige des Kausalität besitzenden Etwas wie<br />
das Vergangene des die Wirkung aufnehmenden Etwas tritt im
— 507 —<br />
Zugleichsein von Ursache und Wirkung in die Gegenwart ein; und zwar<br />
gleichgültig, ob daraufhin die Ursache ihre Kausalität ganz oder nur für<br />
das die Wirkung aufnehmende Objekt verliert, oder ob die Kausalität<br />
weiter zur Aufrechterhaltung der Wirkung benötigt wird. Damit wird dem<br />
linearen Charakter der transzendentalen Zeitbedingung eine Richtung<br />
gegeben. Entlang der Reihe von Ursache und Wirkung in der Reihe der<br />
Erscheinungen wird nicht nur notwendigerweise eine Orientierung der<br />
Zeit sondern auch eine Orientierung im Raum mit der Bewegung der<br />
Kausalität von einem Objekt zum anderen nach dem mechanischen<br />
Vorbild des Stoßes gegeben. Ob diese Zeitrichtung ein reversibles oder<br />
irreversibles Ergebnis besitzt, kann von da aus aber nicht ausgemacht<br />
werden. — Diese synthetisch-progressive Vorgangsweise vermag für sich<br />
allein erst analytisch-regressiv im Rückblick jeweils eine spezifizierbare<br />
Gewißheit in dieser Frageart nach der Notwendigkeit von<br />
Determinationen des Kontingenten zu gewinnen, da kategoriale<br />
Erkenntnisse transzendental nur die Bedingungen der Möglichkeit von<br />
konkreten empirischen Erkenntnissen sein können. Für prognostische<br />
Aussagen dieserart hat man sich an die empirischen Einzelwissenschaften<br />
zu wenden.<br />
§ 26 Die vollständige Bestimmung der Einheit der Apperzeption<br />
Kant will sich nun nicht »bei einer trockenen und langweiligen<br />
Zergliederung dessen, was zu transzendentalen Schematen reiner<br />
Verstandesbegriffe überhaupt erfordert wird«, aufhalten und beginnt<br />
lieber damit, diese »nach der Ordnung der Kategorien, und in<br />
Verknüpfung mit diesen, darzustellen.« 450 Dennoch sind einige Hinweise<br />
darauf, welche Stationen eine solche Zergliederung zu durchlaufen hätte,<br />
zu erwarten. Allein schon die Ankündigung, nunmehr die reinen<br />
Verstandesbegriffe »nach der Ordnung der Kategorien und in<br />
Verknüpfung mit diesen darzustellen« gibt Anlass, über den Ursprung der<br />
Selbstständigkeit der Kategorien gegenüber den reinen<br />
Verstandesbegriffen und so über die Darstellung des Verhältnisses von<br />
synthesis intellectualis und synthesis speciosa wie in § 24 gegeben (inwieweit<br />
die ganze Kategorie selbst nur als transzendentales Produkt der<br />
Einbildungskraft besteht) weiter nachzudenken. Wie aber ist die aus dem<br />
Gesamtzusammenhang anhand des Konzepts der Beharrlichkeit<br />
450 K.r.V., B 181/A 142
— 508 —<br />
erschlossene und anhand der Kausalität von Kant selbst demonstrierte<br />
Intellektualität des Schemas, das die empirische Apprehension mit der<br />
transzendentalen Apprehension der Apperzeption zu vermitteln in der<br />
Lage sein soll, mit der zentralen Darstellung im Schematismuskapitel, der<br />
reine Verstandesbegriff enthalte die formale und allgemeine Bedingung,<br />
oder gar mit der fraglichen Gegendarstellung seit § 24, die Kategorien<br />
seien überhaupt nur in einer aktuellen ursprünglich-synthetischen Einheit<br />
der Apperzeption vollständig zu denken möglich, zu vereinbaren?<br />
Kant beginnt die Darstellung der reinen Verstandesbegriffe »nach der<br />
Ordnung der Kategorien« mit folgendem Unterscheidungskriterium von<br />
konstitutiver und von dynamischer Kategorie: »Das reine Bild aller Größen<br />
(quantorum) vor dem äußeren Sinne, ist der Raum; aller Gegenstände der<br />
Sinne aber überhaupt, die Zeit«. 451 Der Begriff vom Gegenstand ist also<br />
nicht mehr ein Begriff aller aktuell möglichen Prädikate eines Dinges,<br />
sondern schon ein Begriff deren Schemas der Zusammensetzung in der<br />
Zeit. Nun habe ich weiter oben schon ausführlich behandelt, daß sowohl<br />
die Zeit als formale Anschauungsform wie als die Form des inneren Sinnes<br />
nach der Bestimmung der logischen Regel der Sukzessivität sich formal<br />
nicht mehr von der Sukzessivität der rein intellektuellen<br />
Verstandeshandlung unterscheiden läßt. So ist eben die reine<br />
Verstandeshandlung von der gleichen abstrakten Zeitform wie der innere<br />
Sinn; und Kant sagt auch hier ausdrücklich, daß das Bild »aller<br />
Gegenstände der Sinne aber überhaupt, die Zeit« — und nicht der Raum<br />
— sei. So bleibt die Beziehung der kontradiktorischen Prädikate, die in der<br />
Zeit verknüpft werden sollen, auch hier auf ein Ding in der<br />
modalkategorialen Bestimmung des »Veränderlichen« vorausgesetzt, 452<br />
auch wenn wegen der Verwendung des Ausdrucks »Bild« eine<br />
Verbindung der Zeit mit dem Raume schon undeutlich implizite<br />
vorauszusetzen ist.<br />
Nach der Erklärung der Zeit als Form der Apprehension der Erscheinung<br />
gibt Kant eine Darstellung aller anderen Kategorien. Anschließend werden<br />
die Kategorien hinsichtlich ihrer spezifischen Zeitregel interpretiert; hier<br />
nun deren Zusammenfassung: »Man sieht nun aus all diesem, daß das<br />
Schema einer jeden Kategorie, als das der Größe, die Erzeugung<br />
451 B 182/A 142<br />
452 Refl. 4041, hier im zweiten Abschnitt, I., 2.
— 509 —<br />
(Synthesis) der Zeit selbst, in der sukzessiven Apprehension eines<br />
Gegenstandes, das Schema der Qualität die Synthesis der Empfindung<br />
(Wahrnehmung) mit der Vorstellung der Zeit, oder die Erfüllung der Zeit,<br />
das der Relation das Verhältnis der Wahrnehmungen unter einander zu<br />
aller Zeit (d.i. nach einer Regel der Zeitbestimmung ), endlich das Schema der<br />
Modalität und ihrer Kategorie, die Zeit selbst, als das Correlatum der<br />
Bestimmung eines Gegenstandes, ob und wie er zur Zeit gehöre, enthalte<br />
und vorstellig mache.« 453<br />
Die »Regel der Zeitbestimmung« bestimmt die »Zeitordnung«: »Die<br />
Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln,<br />
und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den<br />
Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller<br />
möglichen Gegenstände.« 454 Daraus und aus der vorangehenden<br />
Darstellung aus dem Schematismuskapitel ist zu entnehmen, daß eben nur<br />
die dynamische Kategorie, die die Relation des Verhältnisses der<br />
Wahrnehmungen unter einander zu aller Zeit bestimmt, ein<br />
transzendentales Schema zu einer Regel unbedingt benötigt. Der darin sich<br />
zwischen den Kategorien kenntlich machende Unterschied erklärt sich nun<br />
damit, daß in den konstitutiven Kategorien die Zeit als reine<br />
Anschauungsform die Stelle der Erscheinungen bestimmt, in den<br />
dynamischen Kategorien aber die Erscheinungen ihre Zeitstelle in der<br />
konstituierten empirischen Anschauung bestimmen.<br />
Bemerkenswerterweise sagt die kategorial-dynamische Definition der<br />
Relation in der Apprehension als das »Verhältnis der Wahrnehmungen zu<br />
aller Zeit« das Gleiche aus wie die Definition der Modalkategorie der<br />
Notwendigkeit: »Das Schema der Notwendigkeit ist das Dasein eines<br />
Gegenstandes zu aller Zeit.« 455 Nun sollen die dem reinen Verstandesbegriff<br />
gehorchenden Relationen zwischen den Wahrnehmungen unter der<br />
modalen Bedingung der Notwendigkeit (zu aller Zeit) die kategoriale<br />
Regel der wirklichen Verbindung der Objekte der Erscheinungen im<br />
Dasein geben.<br />
453 K.r.V., B 184/A 145<br />
454 l.c.<br />
455 B 184/A 145 Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit,<br />
das Schema der Möglichkeit die Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgend<br />
einer Zeit. Daß die Möglichkeit hier eine Definition erhält, die eher zum zweiten<br />
empirischen Postulat als Teilargument gehört, bzw. das zweite empirische Postulat<br />
wie eine Zusammenziehung der hier gegebenen Definitionen der Möglichkeit und<br />
der Wirklichkeit gelesen werden kann, darauf sei hier nur hingewiesen.
— 510 —<br />
Die Kausalitätskategorie soll die Regel derjenigen Verbindungen in der<br />
Anschauung ausdrücken, die mit, nicht in der Anschauung gegeben<br />
wird. 456 Die Relationen der Erscheinungen werden dann nicht selbst die<br />
der reinen Anschauungsform sein, sondern denjenigen realen Vorgängen,<br />
die den Erscheinungen zugrundeliegen, gemäß den reinen<br />
Verstandesbegriffen entsprechen müssen; doch aber müssen sie zugleich<br />
den Regeln der reinen Anschauung entsprechen können, um deren<br />
Möglichkeiten einzuschränken. 457 Diese analoge »transzendentale«<br />
Relation ist insofern auch für die subjektive Deduktion notwendig, weil<br />
nach Kants Auffassung »die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung<br />
in dem inneren Sinn« 458 zur »a priori notwendigen Einheit [...] alles<br />
Bewußtseins in einer ursprünglichen Apperzeption« 459 noch nicht zureicht.<br />
Dies wird einmal klar, besieht man sich die eben gegebenen Zitate im<br />
Zusammenhang: »Hieraus erhellet nun, daß der Schematismus des<br />
Verstandes durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auf<br />
nichts anderes, als die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung in<br />
dem inneren Sinne, und so indirekt auf die Einheit der Apperzeption, als<br />
Funktion, welche dem inneren Sinn (einer Rezeptivität) korrespondiert,<br />
hinauslaufe. Also sind die Schemate der reinen Verstandesbegriffe die<br />
wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte,<br />
mithin Bedeutung zu verschaffen, und die Kategorien sind daher am Ende<br />
von keinem anderen, als einem möglichen empirischen Gebrauche, indem<br />
sie bloß dazu dienen, durch Gründe einer a priori notwendigen Einheit<br />
(wegen der notwendigen Vereinigung alles Bewußtseins in einer<br />
ursprünglichen Apperzeption) Erscheinungen allgemeinen Regeln der<br />
Synthesis zu unterwerfen, und sie dadurch zur durchgängigen<br />
Verknüpfung in einer Erfahrung schicklich zu machen.« 460<br />
Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft des Mannigfaltigen<br />
der Anschauung ist eben für die Synthesis im inneren Sinne notwendig,<br />
aber nur indirekt (also nur vermittels des inneren Sinnes) notwendig für<br />
die synthetische Einheit der Apperzeption selbst. Diese noch fehlende<br />
Bedingung scheint aber nur im ersten Schritt der Erörterung eine bloß rein<br />
intellektuelle Bedingung zu sein: Neben dieser intellektuellen Bedingung,<br />
456 Also im ersten Schritt Koordination, nicht auch Subordination (Phänomenologie).<br />
457 Kd.U, § 12, Der Zweck schränkt die Zweckmäßigkeit der Mathematik ein.<br />
458 K.r.V., B 184/A 146<br />
459 B 185/A 146<br />
460 l. c., Hervorhebung vom Autor
— 511 —<br />
die im reinen Verstandesbegriff noch im Rahmen des Schemas einer reinen<br />
wie auch empirischen Einbildungskraft, einem Konstruktionsbegriff<br />
vergleichbar, enthalten sein soll, gehört also die transzendentale Synthesis<br />
des je gegebenen Mannigfaltigen zur Bedingung, die Allgemeinheit der<br />
Regel zur durchgängigen Verknüpfung in einer »ganzen« Erfahrung<br />
garantieren zu können. Diese transzendentale Funktion der<br />
Einbildungskraft bezieht sich offenbar vorzüglich auf ein Schema der<br />
Vereinbarung selbst nicht transzendentaler Schematen.<br />
Wir befinden sich also vergleichsweise auf einen Stand der<br />
Selbstinterpretation Kantens wie im § 20 der transzendentalen Deduktion.<br />
Nun ist klar und deutlich geworden, daß Kant erst mit dem Schematismus<br />
des Verstandes, daß soll also heißen, erst mit der transzendentalen<br />
Funktion der Einbildungskraft, die ursprünglich nur als a priori<br />
notwendig gedachte Einheit der Apperzeption als aktuell und empirisch<br />
(eben als synthetisches Urteil a priori) erreicht betrachtet haben muß: erst<br />
dann kann von der durchgängigen Verknüpfung der Erscheinungen in<br />
unserem aktuellen Bewußtsein zugleich als Verknüpfung der<br />
Erscheinungen in der Erfahrung gesprochen werden. Doch wird im<br />
gegebenen Zitat von Kant die allgemeine Bedingung zur durchgängigen<br />
Verknüpfung in einer Erfahrung, die erst die Einheit der Apperzeption<br />
notwendig macht, abermals allein vom Schema der reinen<br />
Verstandesbegriffe verlangt. Die transzendentale Synthesis findet durch<br />
die Einbildungskraft statt und erzeugt die Einheit der Mannigfaltigkeit der<br />
Anschauung demnach nach der allgemeinen Bedingung im reinen<br />
Verstandesbegriff, wodurch die Anschauung in der Erfahrung erst die<br />
Möglichkeit einer objektiven Bedeutung erhält. Die allgemeine Bedingung<br />
des reinen Verstandesbegriffes ist aber nicht die allgemeine Regel der<br />
(transzendentalen) Zeitbedingung der Synthesis als Verknüpfung in der<br />
Anschauungsform selbst, die erst die notwendige Einheit der<br />
durchgängigen Verknüpfung in einer Erfahrung möglich macht, sondern<br />
ist die Zeitordnung im reinen Begriff a priori: 461 Deutlich ist es hier die<br />
Kategorie, die als Exponent des reinen Verstandesbegriffes, der das<br />
allgemeine Prinzip (hier die allgemeine Bedingung als das reine Schema<br />
461 Vgl. eben K.r.V., B 178 f./A 139 f.: Reine Begriffe a priori enthalten, außer der<br />
Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der<br />
Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori, welche die allgemeine<br />
Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand<br />
angewandt werden kann.
— 512 —<br />
der Zeitordnung im reinen Verstandesbegriff) gegenüber der allgemeinen<br />
Bedingung (hier die allgemeine Regel der transzendentalen<br />
Zeitbedingung) enthält, und erst zusammen die durchgängige<br />
Verknüpfung in der Zeit ermöglicht. — Dieses »Zusammen« soll nun<br />
durch den transzendentalen Schematismus hergestellt werden und macht<br />
das synthetische Urteil a priori in den dynamischen Kategorien aus<br />
(Grundsätze der Analogien der Erfahrung).<br />
Der transzendentale Schematismus hätte demnach die Funktion zu<br />
erfüllen, den Exponenten (die transzendentale Zeitbedingung in Gestalt<br />
der logischen Regel des sukzessive Veränderlichen) des allgemeinen<br />
Prinzips (des reinen Verstandesbegriffes) in das entsprechende Verhältnis<br />
zur aptitudo der formalen Bedingung der Anschauungsform zu bringen.<br />
Dazu wäre aber zuerst unserer empirischen Organisation der Sinnlichkeit<br />
mit der formalen Bedingung zu identifizieren (aptitudo ). 462 Weder die<br />
analytisch im reinen Verstandesbegriff enthaltene Zeitordnung (die<br />
allgemeine Bedingung) noch die logische Regel des sukzessiv<br />
Veränderlichen (als formale Zeitbedingung im reinen Begriff a priori zu<br />
verstehen) konnte für sich als kategorial vollständige Zeitordnung<br />
verstanden werden. Wie meine Untersuchungen hier weiter oben und vor<br />
allem bereits im ersten Teil des zweiten Abschnitt gezeigt haben, reicht<br />
anscheinend die allgemeine Bedingung der formalen Bedingung als Regel<br />
der bloßen Anschauungsform zwar aus, um der Zeitreihe mit der<br />
Beharrlichkeit eine kategoriale Regel zu geben, 463 aber selbst die<br />
modallogische Bestimmung der Zeitreihenfolge zur Zeitordnung des<br />
sukzessiv Veränderlichen reicht für sich allein nicht aus, die<br />
Kausalitätskategorie befriedigend darzustellen oder in der damit<br />
vorausgesetzten Beziehung der Erscheinungen auf ein Ding (oder<br />
Gegenstand) schon selbst eine Deduktion des wirklichen Gegenstandes<br />
erblicken zu können: Demgemäß bleibt die Kategorie nur der Titel einer<br />
heterogenen Zeitordnung aus analytischer und transzendentaler<br />
Zeitbedingung. 464<br />
462 Solches legt die konsequente (und m. E. zu weit gehende) Behandlung der<br />
Sinnlichkeit als unsere (gattungsspezifisch menschliche) Anschauungsform bei K.<br />
Cramer nahe. Jedoch reicht zur Identifi-zierung die formale Anschauung aus.<br />
463 Vgl. auch die Darstellung in § 26. wo von Kant die Kategorie der Größe als Beweis<br />
der Kategorie der Beharrlichkeit angeführt wird (B 162).<br />
464 »Wir werden also durch diese Grundsätze die Erscheinungen nur nach einer<br />
Analogie, mit der logischen und allgemeinen Einheit der Begriffe,<br />
zusammenzusetzen berechtigt werden, und daher uns in dem Grundsatze selbst<br />
zwar der Kategorie bedienen, in der Ausführung aber (der Anwendung auf
— 513 —<br />
Die Unvollständigkeit der Kategorie auch nach dem vollständigen<br />
transzendentalen Beweis, der allein in der Zusammenfügung der<br />
Bedingungen des Vergleichs von Erscheinungsreihe und Vorstellungsreihe<br />
liegen kann, verlangt demnach von der Einbildungskraft einerseits den<br />
Fortgang zu metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft,<br />
andererseits über alle Anschauung hinaus intellektuell die Vorstellung von<br />
Totalität und deren Einschränkung zum Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand über alle Erfahrung hinaus als Ideal der reinen Vernunft.<br />
Beides kann je für sich über die Auffassung hinausgehend, das<br />
transzendentale Schema sei selbst schon allein als das Produkt der<br />
transzendentalen Einbildungskraft zu verstehen, ebenfalls als Produkt<br />
einer Funktion der Einbildungskraft verstanden werden. — Die letztere<br />
Auffassung ist als Vorläufer der transzendentalen Funktion der synthesis<br />
intellectualis anzusehen, sodaß derart die Antinomie zwischen den beiden<br />
Fassungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption<br />
zwischen Verstand und Anschauung (§ 17 zwischen Text und Fußnoten)<br />
im rein spekulativ-theoretischen Untersuchungsgang fortgesetzt wird.<br />
Schließlich ist noch das praktische Moment der Handlung im<br />
Schematismus als eigene Perspektive der Untersuchung in Stellung zu<br />
halten, auch wenn diesbezüglich fraglich bleibt, inwiefern die<br />
transzendentale Funktion der Einbildungskraft in diesem Rahmen<br />
konstituierend werden könnte. — Das jeweilige letzte konkrete<br />
Wahrheitskriterium liegt eben nicht selbst in der Einbildungskraft, gleich<br />
in welcher Funktion diese vorstellig gemacht wird und ist auch nicht<br />
Angelegenheit der Erörterung der transzendentalen Bedingungen der<br />
Möglichkeit der Erfahrung im Sinne von Erfahrung machen und<br />
Erfahrung anstellen können.<br />
❆<br />
Die vorzüglich von englischer Seite der Kantinterpretation in Stellung<br />
gebrachte Vorstellung, das Erfahrungsganze sei allein Angelegenheit der<br />
Erscheinungen) das Schema derselben, als den Schlüssel ihres Gebrauchs, an dessen<br />
Stelle, oder jener vielmehr, als restringierende Bedingung, unter den Namen einer<br />
Formel des ersteren, zur Seite setzen.« (B 224/A 181) Der Gebrauch des Ausdruckes<br />
»Namen« kennzeichnet die Kategorie schon als bloßen Titel des Schemas des<br />
Verstandesbegriffes; das Schema heißt nunmehr »Formel«. Von hier aus erscheint<br />
der reine Verstandesbegriff als bloßer Begriff der logischen Funktion der reinen<br />
Verstandeshandlung ohne jede weitere Zeitbedingung und die Kategorie bereits<br />
immer bloß als Titel des Schemas, das nur mit der transzendentalen Zeitbedingung<br />
gegeben werden könnte.
— 514 —<br />
Intersubjektivität der Forschergemeinschaft (oder schlicht und einfach des<br />
auch von Kant häufig in Anspruch genommenen »common sense«) muß<br />
als kritische Erweiterung unbedingt willkommen sein; zumal es auch den<br />
ursprünglichen Intentionen Kants durchaus gut entspricht, die<br />
Erweiterung des Subjektes in Hinblick auf den Gattungsbegriff zu<br />
bedenken. 465 Allerdings ist die damit verbundene Beschränkung der<br />
Argumentation in deduktiver Absicht weder den methodischen Absichten<br />
Kants hinsichtlich des transzendentalen Beweises gemäß noch auch in<br />
sachlicher Hinsicht sinnvoll: Mit dem Hinweis, daß uns das mögliche<br />
Erfahrungsganze individuell doch kaum zugänglich sei, auf das<br />
Erfahrungsganze der Gattung zu hoffen, bleibt doch nur eine Verfehlung<br />
der eigentlichen Schwierigkeit, das mögliche Erfahrungsganze jenseits von<br />
bloßen Bestimmungen des Genus abstrakt zu umreißen. 466 — Und zwar in<br />
einem doppelten Sinne: Erstens erlaubt auch das Ausweichmanöver auf<br />
das Erfahrungsganze des Gattungswesens des Menschen keineswegs die<br />
Auflösung der Schwierigkeit, das Erfahrungsganze auch nur der<br />
Möglichkeit nach konkret zu bestimmen; man sieht sich auch dann sofort<br />
vor der nämlichen Schwierigkeit wie in der vom Subjektiven ausgehenden<br />
Deduktion der Kategorien. Zweitens aber ist diese Schwierigkeit nur<br />
transzendental aufzulösen und vermag auch nicht etwa auf der Ebene des<br />
Duisburger Nachlasses bewältigt zu werden, woher der Begriff einer<br />
Totalität des Erfahrungsganzen stammt, und eben die Totalität des<br />
Erfahrungsganzen erst aus der »Intellection« des transzendentalen<br />
465 Insbesondere Peter Frederic Strawson, The Bounds of Sense, London 1966; p. 122 f.;<br />
deutsch: Die Grenzen des Sinns, Königstein 1992, p. 102 f.. Das Argument beruht<br />
allerdings auf aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen Kants wie: A 110: Es<br />
gibt nur eine Erfahrung; verschiedene Erfahrungen sind nur Wahrnehmungen in<br />
einer allgemeinen Erfahrung. Damit ist zwar die Unterscheidung zwischen<br />
Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil weiters problematisierbar wie schon<br />
traditionellerweise die Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen<br />
Prädikate, was eben zur Problematisierung von Wahrnehmungsurteile führt, da<br />
diese zum Teil sehr wohl Komponenten der Erfahrung voraussetzen, wie hier zum<br />
Anlaß der Kritik genommen, aber, und das ist hier entscheident, weder daraus zu<br />
folgern ist, daß z. B. die Wahrnehmung, daß ein geworfener Stein eine<br />
Fensterscheibe zertrümmert, kein Erfahrungsurteil im Sinne generalisierbarer<br />
Aussagen beinhalten soll, noch daß Erfahrungsurteile keinerlei<br />
Wahrnehmungsurteile beinhalten, was aus der These Strawsons gefolgert werden<br />
müßte.<br />
466 Vgl. Peter Rohs, Wahrnehmungsurteile und Erfahrungsurteile, in: Kant in der<br />
Diskussion der Moderne, Hrsg. von Gerhard Schönrich und Yasushi Kato,<br />
Frankfurt/Main, 2 1997 (Suhrkamp, stw 1223), p. 166-189. So glaubt Rohs, daß die<br />
Unterscheidung in Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile wegen ihrer<br />
Doppeldeutigkeit immanent einerseits Kants transzendentalphilosophischen Ansatz<br />
und andererseits Strawsons sprachphilosophischen Ansatz zu vereinbaren erlaubt.
— 515 —<br />
Subjekts gewonnen wird. Das entscheidende Mißverständnis der<br />
Auffassung, insbesondere die dynamischen Kategorien seien allein<br />
Angelegenheit der intersubjektiven Erfahrungsgemeinschaft, hängt von<br />
der Interpretation des »Möglichen« in der Formulierung des »möglichen<br />
Erfahrungsganzen« ab. — Ist es das Meiste, was ich über ein System der<br />
Erfahrung sagen will, dann hat diese englische Tradition seit Strawson<br />
insofern mit einem zweifellos recht: ein solches System ist nicht<br />
äquipollent mit der geforderten Einheit des Selbstbewußtseins. Ist es aber<br />
das Mindeste, was ich über ein System der Erfahrung sagen will, so ist es<br />
gerade so viel wie die Bedingung zur Einheit eines aktuell möglichen<br />
Selbstbewußtseins überhaupt. Soll das Erfahrungsganze nicht zur<br />
Mystifikation werden, die im anonymen Gattungswesen passiert, sondern<br />
Angelegenheit individuellen Urteilens bleiben, so ist unabhängig von der<br />
von Kant beabsichtigten Bedeutungen des Erfahrungsganzen im<br />
Duisburger Nachlaß immer eine Interpretation desselben zu finden,<br />
welche in der Tat eine Fassung der Einheit des Selbstbewußtseins (der<br />
transzendentalen Apperzeption) ausmacht, ansonsten das kollektive<br />
Gattungswesen urteilt, ohne das je ein konkretes Individuum über<br />
Erfahrung zu urteilen imstande sein müßte. — Daß diese Schwierigkeit<br />
überhaupt zu einer solchen werden konnte liegt nun im Mißverständnis<br />
des Unterschiedes zwischen konkretisierbarer Erkenntnis als solcher und<br />
der Bedingung zur Möglichkeit derselben: So wie in Nachfolge der<br />
Argumentation Strawsons gedacht wird, wird das mögliche<br />
Erfahrungsganze als System eines einzelwissenschaftlichen<br />
Aussagesystems verstanden. Genau das aber ist nicht die Bedeutung des<br />
Ausdrucks »mögliches Erfahrungsganzes« in transzendentalanalytischer<br />
Hinsicht: Vielmehr ist hier die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung<br />
überhaupt der Untersuchungsgegenstand; und diese transzendentale<br />
Bedingung der Möglichkeit überhaupt ist nur subjektiv und individuell zu<br />
denken möglich.<br />
Zwar ist richtig, daß viele entscheidende Entdeckungen oder Erfindungen<br />
zu ihrer Zeit durchwegs nicht allgemein in ihrer Tragweite erkannt<br />
worden sind sodaß insofern auch von dieser historisch-soziologischen<br />
Seite mit Recht behauptet werden konnte, daß der individuelle<br />
Erfahrungsbereich auch durchschnittlich (kollektiv) nicht zureicht, um den<br />
Bereich der möglichen Erfahrung des Gattungswesens nur einigermaßen<br />
konkret einzuschätzen, doch wenden sich solche soziologisch-historischen<br />
Beipiele letztlich gerade gegen jene Auffassung, die in der Perspektive der
— 516 —<br />
Argumente Strawsons steht, insofern solche Entdeckungen doch immer<br />
von Individuuen gemacht worden sind. Selbst der daraufhin noch<br />
mögliche Einwand, daß die Entdecker bzw. Erfinder selbst über die<br />
wissenschaftliche und gesellschaftliche Tragweite ihrer Leistung nicht<br />
durchwegs Bescheid gewußt haben müssen, ändert nichts an der Tatsache,<br />
daß Entdeckungen und Erfindungen immer individuell gemacht werden.<br />
Auch wenn solche Leistungen im »teamwork« zustande gekommen sind,<br />
so bleiben doch die Einzelleistungen wie die Erkenntnis ihrer<br />
Zusammensetzbarkeit jeweils Leistungen von Individuen. Schließlich und<br />
endlich macht jedes Individuum Erfahrungen; und die transzendentale<br />
Deduktion hat zu allererst die Aufgabe zu zeigen, wie aus Erfahrung<br />
Erkenntnis wird, und nicht, wie daraus die mögliche Totalität<br />
systematischer Erkenntnis wird, die man auch soziologisch zu einem<br />
System wissenschaftlicher Erkenntnis zusammenfassen kann, das freilich<br />
den Umfang der Kenntnisse eine Individuums durchwegs übersteigen<br />
wird. Der Vorwurf von dieser Seite krankt also schon daran, daß das<br />
Erfahrungsganze als zu erwägender Gegenstand des<br />
Verstandesgebrauches zu unterscheiden ist von der systematischen<br />
Zusammenfassung der daraus entspringenen Erkenntnissen, die erst nach<br />
Vernunftideen geschehen kann: »Der Verstand mag ein Vermögen der<br />
Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft<br />
das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht<br />
also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand,<br />
sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen<br />
desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit<br />
heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande<br />
geleistet werden kann.« 467<br />
Aber auch das Streben nach Vernunfteinheit muß schon im Individuellen<br />
fundiert sein, und kann nicht einfach durch die Perspektive der<br />
gesellschaftlichen Reproduktion und Produktion substituiert werden: Daß<br />
die Analyse der historischen Bedingungen unserer Vernunft von Kant<br />
nicht gebührend gewürdigt wird, will ich gerne zugeben, aber nicht, daß<br />
das transzendentale Subjekt durch einen Begriff des Gattungswesens, das<br />
bei Strawson wiederum erst empirisch-phänomenologisch zu<br />
charakterisieren ist, umstandslos ersetzt werden kann. Eine solche<br />
Operation der Ersetzung wäre nur dann möglich, wenn die<br />
467 K.r.V., B 359/A 302
— 517 —<br />
Gattungsbestimmung des Menschen nicht die eines animale rationabile,<br />
sondern gleich die eines animale rationale sein könnte. Gerade diese<br />
Möglichkeit hat Kant aber nachhaltig bis zuletzt ausgeschlossen.<br />
§ 27 Zum rein logischen Inhalt der Zeitbedingungen und der Kategorien<br />
a) Die Dialektik der »reinen« Kategorie ohne jede Zeitbedingung<br />
Es bleibt nunmehr übrig, diese Darstellung von der Stellung der<br />
analytischen und der transzendentalen Zeitbedingung zum reinen<br />
Verstandesbegriff mit der Analyse des Begriffs vom einzelnen Gegenstand<br />
(Ideal der reinen Vernunft) und des Begriffs vom Objekt (qualitative<br />
Verwendung der Kategorie der Größe) ins Verhältnis zu setzen. Es ist<br />
schon früher aufgefallen, daß die kritische Betrachtung des § 12, was nun,<br />
außer der Titel aller wahren Merkmale mit rückführbaren wahren Folgen<br />
zu sein, das eigentliche Merkmal des Begriffs vom Objekt sein soll, eine<br />
Fragestellung in der Tradition des die ganze Vorstellung eines Objektes<br />
repräsentierenden Teilbegriffes ist. Die Exposition der Einheit des Begriffes<br />
vom Objekt in § 12 ist hingegen als qualitative Einheit von Merkmalen in<br />
der Tradition des conceptus singularis zu sehen. Ähnliches gilt auch für<br />
die wesenslogische Interpretation des Ideals der reinen Vernunft<br />
(Allgemeinheit) gegenüber dem durchbestimmten Ding (Allheit). — In der<br />
Gegenüberstellung der verschiedenen Untersuchungsabschnitte ist weiters<br />
aufgefallen, daß die starke Interpretation des § 12 hinsichtlich eines<br />
Merkmales des Begriffs vom Objekt selbst, das er gegenüber der Menge<br />
seiner wahren Merkmale noch besitzen sollte, ohne selbst nochmals<br />
Prädikat sein zu können (die Negation des Prinzips des Enthaltenseins),<br />
völlig mit der Definition der reinen Kategorie der Substanz am Ende des<br />
Schematismuskapitel übereinstimmt. Mit dieser Rückführung auf die<br />
Negation des Prinzips des Enthaltenseins wird kein Kriterium für einen<br />
Teilbegriff, der das ganze Objekt zu repräsentieren hat, gefunden.<br />
Der Begriff vom einzelnen Gegenstand in seinen als bekannt<br />
vorausgesetzten Beziehungen zur quantitativen Kategorie im qualitativen<br />
Gebrauch erscheint hingegen vielleicht als Konkurrent der bisherigen<br />
grammatikalischen Definition des logischen Inhalts der reinen Kategorie,<br />
zumal die Kriterien der Durchbestimmung der Idee zum Begriff<br />
wesenslogisch näher darstellbar sind. Der Begriff vom einzelnen<br />
Gegenstand wird im Ideal der reinen Vernunft als nach der Kategorie der
— 518 —<br />
Allheit und der logischen Funktion der Allgemeinheit durchgängig<br />
bestimmt vorgestellt (kategoriales und logisches Quantum). Eben diese<br />
Synthesis in subjektiver und in objektiver Deduktionsrichtung vorzustellen<br />
bleibt im Ideal der reinen Vernunft nur ein von der bloßen Idee<br />
durchgängig bestimmter Begriff — und ist als solcher kein Verstandessondern<br />
ein Vernunftbegriff. Den Begriff vom einzelnen Gegenstand in<br />
Konkurrenz zur Definition der grammatikalisch bestimmten reinen<br />
Kategorie zu setzen, macht so systematisch wenig Sinn, weil sie einander<br />
ausschließende, demnach entgegengesetzte Kriterien besitzen: Die<br />
grammatikalische Definition der reinen Kategorie schließt das Prinzip des<br />
Enthaltenseins selbst aus, indem verlangt wird, daß der Begriff vom Objekt<br />
kein Merkmal enthält, welches weiters prädiziert werden kann, während<br />
im Ideal der reinen Vernunft alle nicht-wesentlichen Prädikate<br />
(extraessentiale Attribute) ausgeschlossen werden, weil keine Prädikate<br />
zugelassen werden, welche aus anderen Prädikaten abgleitet worden sind.<br />
Der Begriff von einem einzelnen Gegenstand ist demnach weder mit dem<br />
Begriff vom Objekt gemäß § 12 (transzendentales Ideal als qualitativ<br />
gebrauchte Kategorie des Quantums) noch mit der reinen Kategorie der<br />
Substanz als grammatikalische Bestimmung derselben in<br />
Übereinstimmung zu bringen.<br />
Es zeigt sich, daß der reine Verstandesbegriff in der ganzen Untersuchung<br />
(transzendentale Deduktion, Oberste Grundsätze, Schematismuskapitel,<br />
synthetische Grundsätze) immer schon als reiner Verstandesbegriff der<br />
oder in der Kategorie zu verstehen ist: Im Vernunftbegriff ist im präzisen<br />
Sinn von einem transzendentalen Begriff der Erfahrung eines Subjekts zu<br />
reden aber gar nicht möglich, da die logische Regel des sukzessiv<br />
Veränderlichen (die Verknüpfung entgegengesetzter Prädikate als<br />
Verstandesbestimmung) auf das Ding der Allheit angewendet unter der<br />
einfachen linearen Zeitreihe ohne dem reinen Verstandesbegriffes von<br />
Ursache und Wirkung nicht zur einer eindeutig gerichteten Zeitrichtung,<br />
sondern nur zu einer Oszillation entgegengesetzter Prädikate der<br />
notwendigen Qualitäten eines Dinges führen würde. Und zwar deshalb,<br />
da erstens das erste logische Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges von den notwendig möglichen Prädikaten eines Dinges verlangt,<br />
Qualitäten des Dinges zu bezeichen, die von entgegengesetzen Prädikaten<br />
ausgedrückt werden und zweitens die logische Definition der<br />
Sukzessivität selbst nicht die Kausalität ausdrückt, sondern nur die<br />
»formale« Bedingung der Formulierung des Kausalitätsprinzipes ist. Die
— 519 —<br />
grammatikalische Substanz jedoch ist die prädikatslogische Voraussetzung<br />
der aussagenlogischen Definition der Sukzessivität, sofern diese die<br />
Beziehung der Prädikate auf ein Ding voraussetzt; letztere ist aber selbst<br />
nicht die Definition der Inhärenz oder der Kausalität.<br />
Der Begriff vom einzelnen Gegenstand nun hat keinerlei Verbindung zu<br />
einer Zeitordnung, die mit den formalen Anschauungsbedingungen<br />
übereinstimmt, da unter einer Zeitordnung stehend Inhalte begrifflich<br />
immer analytisch (regressiv) oder synthetisch (progressiv) darstellbar sein<br />
müssen und so bereits eine Zeitrichtung jeweils auszeichnen, was, wie<br />
gezeigt, weder der Begriff vom einzelnen Gegenstand noch die<br />
Bedingungen der rein formalen Anschauung des aktuell Gegenwärtigen<br />
jeweils für sich zu leisten vermag. So ist der Begriff vom einzelnen<br />
Gegenstand womöglich in qualitativer Hinsicht zur Sinnlichkeit und<br />
gegenüber der transzendentalen Zeitbedingung in der Kategorie des<br />
reinen Verstandesbegriffes gar nicht in Beziehung zu setzen — und zwar<br />
auch nicht mittels der Depotenzierung in § 12 zur Hypothese anhand des<br />
Kriteriums der Rückführbarkeit. Hingegen ist die Regel des Beharrlichen<br />
in der Erscheinung selbst keine logische Regel, erlaubt aber die<br />
grammatikalische Definition der Substanz, die Regel der Apprehension,<br />
und die metaphysische Definition mittels Repulsion wie anhand der<br />
Beweglichkeit der Materie, was doch das allgemeinste Wesensmerkmal<br />
eines einzelnen Gegenstandes als physisches Objekt der sinnlichen<br />
Erfahrung ausdrückt, analogisch in einem Begriff äquivok zusammen zu<br />
denken. Damit ist zwar auch implizite die Erfahrungsbedingung<br />
(Beharrlichkeit als Regel der Apprehension) gegeben worden, aber doch<br />
nur für jeden beliebigen Gegenstand als Objekt der Erfahrung, was allein<br />
nicht zureicht, um einen einzelnen Gegenstand im wesenslogischen Sinne<br />
eines bestimmten spezifischen Gegenstandes in der Erfahrung zu<br />
bestimmen. 468<br />
Das Veränderliche besitzt wiederum in der modalen Kategorie eine<br />
logische Definition des Wechsels: die Verknüpfung entgegengesetzter<br />
Prädikate eines Dinges in der Zeit. Diese Argumentation erweist sich<br />
hinsichtlich der Verwendung als logische Bestimmung der<br />
transzendentalen Zeitbedingung gegenüber der Wesenslogik im Begriff<br />
468 Vgl. hiezu Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische<br />
Darstellung, Frankfurt a.M., 1976, Suhrkamp stw 45, insbesondere die 23. und 24.<br />
Vorlesung
— 520 —<br />
vom einzelnen Gegenstand (als das Ideal der reinen Vernunft) für die<br />
Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung also als die<br />
geeignetere. — Allerdings ist hier zu berücksichtigen, daß Kants<br />
modallogische Definition der Sukzessivität zwischen Zufall und zeitlicher<br />
Abfolge ungenügend bleibt. Wie schon schließlich auch von Kant deutlich<br />
genug gemacht, ist nicht der logische Widerspruch zwischen nicht<br />
zugleich möglichen Bestimmungen einer Washeit die Bedingung für die<br />
zeitliche Abfolge, die womöglich kausal interpretiert werden kann,<br />
sondern vielmehr liegt der Sachverhalt genau umgekehrt: Die kausale<br />
Determination ist die Voraussetzung des real möglichen Zufalls, indem<br />
nur dasjenige als realmöglich zufällig bestimmt werden kann, dessen<br />
Änderung nichts an der bereits als kausal determiniert betrachteten<br />
Abfolge zu ändern vermag. Insofern scheint die klassische modallogische<br />
Definition der Sukzessivität bei Kant nicht zur formalen Bedingung der<br />
Kausalität geeignet zu sein, da es sich bei dieser vorkritischen Fassung um<br />
einen klassischen Fall des Zirkelschlusses handelt, solange die Frage nach<br />
der Determination eines Geschehens mit der Frage nach dem Prinzip der<br />
Kausalität vermengt wird. Allerdings wurde dem von mir schon immer<br />
Rechnung getragen, indem mit Konrad Cramer diese Argumentationsfigur<br />
auf die Performation des Prädikatisierens zurückgeführt worden ist. 469 Das<br />
bedeutet jedoch, daß es sich eigentlich nicht um eine modallogische<br />
Definition im engeren ontologischen Sinne handelt. — Um so eher hat zu<br />
gelten: Alle Gründe sprechen gegen den Begriff vom einzelnen<br />
Gegenstand als Kanditat, den logischen Inhalt der reinen Kategorie<br />
auszumachen. Vielmehr ist der Begriff von einem einzelnen Gegenstand<br />
eben die unabweisliche Vernunftdialektik der reinen (grammatikalischen)<br />
Substanzkategorie; dessen Kriterien sind als allgemeinste heuristische<br />
Prinzipien im Sinne des problematischen Idealismus zu verstehen, welcher<br />
synthetisch-metaphysisch von der Existenz eines geistigen Wesens und<br />
nicht von der (selbst subjektiven) Realität des Erfahrungsganzen ausgeht.<br />
b) Der rein logische Inhalt der Zeitbedingung und der Kategorie<br />
Die Kategorie des Beharrlichen als Inhärenz ist ursprünglich gegenüber<br />
der Kategorie der Kausalität wegen der Verschiedenheit der Definition der<br />
transzendentalen Zeitbedingung modalkategorial unterbestimmt — die<br />
469 Es können »beliebige Unterschiede von Zuständen eines und desselben Dinges zu<br />
verschiedenen Zeiten in der Form der kontradiktorischen Entgegensetzung von<br />
Prädikaten dargestellt werden«. (CRAMER 1985, p. 173). Hier zweiter Abschnitt, 3.
— 521 —<br />
Zeitbedingung der Beharrlichkeit beruht als kategoriale auf Regeln,<br />
welcher allein die Zeitreihe der wechselnden Erscheinungen in der<br />
Apprehension vorausgesetzt sind. Diese aber hat Kant allein der Kategorie<br />
der Quantität zugeordnet. Die analytische Beziehung von »Beharrlichkeit«<br />
und «Veränderlichkeit« wäre demnach der logische Inhalt des reinen<br />
Verstandesbegriffes, und die Kategorie der Titel der Regel der<br />
Beharrlichkeit in der Apprehension der Erscheinungen; die<br />
transzendentale Zeitbedingung aber die bloße Zeitreihe der Kategorie der<br />
Größe. Die reine Kategorie der Substanz ohne jede Zeitbedingung ist dann<br />
die grammatikalisch mögliche Bestimmung des Satzgegenstandes als<br />
Satzsubjekt in einem Satz, in welchem der Satzgegenstand nunmehr im<br />
Grenzfall einfach prädikatisierender Sätze als der selbst inhaltslose Begriff<br />
vom Objekt von der Stelle des prädikatisierten Satzsubjektes ausgedrückt<br />
wird. Die Vorstellung der Inhärenz wird also entweder erst in den<br />
M. A. d. N. eine dynamische Erklärung finden können oder muß<br />
sprachanalytisch vom syntaktischen Kriterium eines einfachen S – P -<br />
Urteiles ersetzt werden. Dergleichen Vorstellungen von Akzidenz und<br />
Subsistenz können auch auf die mit Heidegger sogennannten<br />
daseinsanalytischen Aspekte der metaphysischen Abschnitte der<br />
Substanzkategorie zurückgeführt werden und gehört demnach im keinen<br />
der genannten Vorstellungsweisen zum Argumentationsbereich des<br />
synthetischen Grundsatzes einer »dynamischen Kategorie« in<br />
transzendentalanalytisch objektiver Intentionsrichtung. Diese<br />
Umständlichkeit der Ausdrucksweise verdankt sich der Eigentümlichkeit,<br />
daß sowohl Urteile in theoretischer Absicht wie Urteile in moralischer<br />
Absicht Erkenntnisurteile sind, wovon ästhetische Urteile als<br />
konstituierende Akte des Vorziehens oder Verwerfens vor jedem logischen<br />
Vergleich gleichermaßen zu unterscheiden sind. — Die reine Kategorie der<br />
Substanz aber hat an Stelle von Wesensbegriffen oder Teilbegriffen, welche<br />
die ganze Vorstellung eines bestimmten Objekts auszudrücken vermögend<br />
sein sollen, diese grammatikalische Position des singulären Objektbegriffes<br />
ohne jedes weitere mögliche Prädikat zum rein logischen Inhalt.<br />
Die modalkategoriale Bestimmung des »Veränderlichen« bestimmt<br />
hingegen die Zeitreihe zumindest in einer Hinsicht logisch: ob die<br />
Verknüpfung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate eines Dinges<br />
schon die kategoriale Zeitordnung der Kausalität zu bestimmen vermag,<br />
ist zwar offensichtlich zu bezweifeln, jedenfalls bestimmt die logische<br />
Regel der Sukzessivität der Performation des prädikativen Aussagens das
— 522 —<br />
Veränderliche als von der transzendentalen Ästhetik vorausgesetzten<br />
Zeitreihe des Nacheinanderseins in Übereinstimmung sowohl mit dem<br />
bloßen Wechsel von (objektiven) Erscheinungen wie auch mit dem<br />
Wechsel von (subjektiven) Vorstellungen. — Hiebei behält für diesen<br />
Moment der Betrachtung das vermeintlich Objektive der Reihe der<br />
Erscheinungen noch das objektiv Subjektive der Perspektive der<br />
gegebenen Stellung des Subjekts gegenüber den Objekten der Erscheinung.<br />
— Nicht aber enthält die transzendentale Zeitbedingung der Kategorie mit<br />
der logischen Definition der Sukzessivität selbst den analytischen<br />
Gegensatz von »Ursache« und »Wirkung«: 470 Sofern dieser analytische<br />
Gegensatz bloßer Begriffe zwar eine analytische Zeitordnung enthält, aber<br />
daraus der gegebenen (insofern transzendentalen zu nennenden)<br />
Zeitreihenfolge des bloßen Wechsels sowohl ohne der logischen Definition<br />
der transzendentalen Zeitbedingung noch mit derselben nicht<br />
notwendigerweise die Richtung vorzuschreiben imstand ist, ist dieser<br />
analytische Gegensatz zu Recht als nichts anderes als der logische Inhalt<br />
des reinen Verstandesbegriffes anzusehen — Die reine Kategorie nach der<br />
letztlich jeweils geltenden Definition der Reinheit verbietet hingegen gleich<br />
jede Zeitbedingung (sei es nun analytisch oder transzendental):<br />
grammatikalisch als nicht weiter zu prädikatisierender Begriff in der<br />
reinen Substanzkategorie; ontologisch als Kompossibilität,woraus die<br />
vorkritische modallogische Definition des Zugleichseins entstammt, in der<br />
reinen Kausalitätskategorie. Neben den metaphysischen Anfangsgründen<br />
der Ursache als dynamische Kraft der Materie zur Raumerfüllung und den<br />
Impuls als mechanische Energieeinheit, der dem bewegten Körper als<br />
eigentlicher allgemeiner Begriff des Erfahrungsgegenstandes erst instand<br />
setzt, diesen mechanisch mit Kausalität begabt zu denken (im<br />
synthetischen Grundsatz der ersten Kritik zur Demonstration angeführt),<br />
hat die reine Kategorie der Kausalität die Definition des Daseins als<br />
Kompossibilitätsprinzip (die Vielheit im Dasein) zum Inhalt. Diese<br />
Einschränkung der Totalität auf eine mögliche Welt führt zu einem<br />
eindeutig metaphysischen Inhalt und ist unabhängig von einer konkreten<br />
Erfahrung in einem Grundurteil, worin die metaphysischen<br />
Anfangsgründe ihre systematische Stellung ohne transzendentale<br />
Deduktion erweisen müssen. Der reine metaphysische Inhalt der<br />
Kompossibilität (der also ebenfalls kein metaphyischer Anfangsgrund im<br />
obgenannten naturwissenschaftlichen Sinn der M.A.d.N. sein kann) ist der<br />
470 Vgl. den zweiten Abschnitt, I., 2 und 3.
— 523 —<br />
nicht-rein logische Inhalt der reinen Kategorie der Kausalität, da die<br />
Kompossibilität oder Kompatibilität etwas mehr voraussetzt als nur<br />
logische Widerspruchsfreiheit. Insofern besitzt die reine Kategorie der<br />
Kausalität auch keine reine Vernunftdialektik, die zu einer heuristischen<br />
Methode führen könnte wie der Begriff vom einzelnen Gegenstand, weil<br />
sie bereits die abermalige Übersteigerung des ersten Kriteriums eines<br />
wesensnotwendigen Prädikats darstellt: nämlich selbst erstes synthetisches<br />
Prädikat a priori gegenüber der bloß anschaulichen und phoronomischen<br />
Ausgedehntheit der res extensa zu sein.<br />
c) Die Grundoperationen zur logischen Bestimmung der<br />
transzendentalen Zeitbedingung: Verknüpfen und Ersetzen<br />
Die allgemeine Regel der formalen Bedingung der dynamischen Kategorie<br />
(also die logische Definition der transzendentalen Zeitbedingung) muß<br />
nach dem Gang meiner Untersuchungen entlang der Formulierungen<br />
Kants im Schematismuskapitel die Grundlage der logischen Operation des<br />
»Verknüpfens« 471 aus dem modalkategorialen Argument sein: 472 Die<br />
Kategorie enthält zuerst als formale, weil logisch definierte Bedingung die<br />
transzendentale Zeitbedingung (hier also schon als eine erste — kategorial<br />
unvollständige — Zeitordnung gegenüber der Zeitreihe) und unabhängig<br />
davon die analytische Zeitbedingung des reinen Verstandesbegriffes<br />
gemäß des impliziten Zeitverhältnisses von Ursache und Wirkung. Die<br />
logische Bestimmung der Verknüpfung in der modalen Kategorie ist<br />
unzweifelhaft trotz der erfolgten Rückführung auf die Performation im<br />
kontinuierlichen Prädikatisieren nur eine Teildefinition der<br />
transzendentalen Zeitordnung, die aber offensichtlich allein zureicht, die<br />
Kategorie der Kausalität auf Sinnlichkeit und Erfahrung anzuwenden,<br />
während metaphysisch noch der mit der modallogischen Definition<br />
vorauszusetzende Bezug von Vorstellungen bzw. Prädikate auf ein Ding<br />
zu problematisieren war. — Nun ist es naheliegend, im Gegenzug nach der<br />
Beziehung der Operation des »Ersetzens« zur transzendentalen<br />
Zeitbedingung der Substanzkategorie zu fragen, um eventuell der<br />
471 Refl. 4041: »Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist. Veränderlich:<br />
das in Verknüpfung mit seinem Gegenteil möglich ist. Bei aller Veränderung sind: 1.<br />
oppositae determinationes, quatenus eidem competunt. 2. sucessio earundem. Die<br />
Möglichkeit der Mutation ist nicht aus der bloßen Contingenz zu erkennen. Denn<br />
weil es möglich ist, daß anstatt eines Prädikats ein anderes sei, so ist daraus noch<br />
nicht zu erkennen, daß das Subjekt die opposita nach einander habe.«<br />
472 Zuvor schon im zweiten Abschnitt, I., 2 auch für das Konzept der Kausalität als<br />
logisches Gesetz der Verknüpfung in der Zeit. ausführlich dargestellt.
— 524 —<br />
Zeitreihe des bloßen Wechsels (die transzendentale Zeitbedingung der<br />
Substanzkategorie) eine eigene Quelle ihrer Logizität geben zu können.<br />
Aus Gründen der Vollständigkeit der Untersuchung soll dieser<br />
Denkmöglichkeit weiter nachgegangen werden.<br />
I.<br />
Die Stellenordnung der zugleichseienden Teile sind zuvor von Leibniz mit<br />
der Stellung der Monade zum Ganzen 473 verbunden worden. Leibniz<br />
beschreibt diese Stellenordnung auch damit, daß kein Element das andere<br />
ersetzen kann, weil die Stelle in der Ordnung sowohl im Raum wie in der<br />
Zeit seinem individuellen Wesenszustand entspreche. Kant distanziert sich<br />
von der wesenslogischen Identifikation der Stellenordnung der<br />
Gegenstände im Raum mit dem Argument, daß jeder Gegenstand jeweils<br />
für sich erst eine Orientierung im Raume mit sich bringt, stellt aber in der<br />
Kategorie des Commerciums eben eine solche Stellenordnung mit Hilfe<br />
der Wechselwirkung der Zustände der Gegenstände mittelbar wieder her.<br />
Doch behält Kant hier unabhängig von der dynamischen Interpretation der<br />
eingeschränkten Totalität als Horizont der Wechselwirkung aber von<br />
vornherein eine unmittelbare Beziehung zwischen der Gestalt der<br />
Gegenstände und deren ursprüngliche Orientierung im Raum bei.<br />
Die Bestimmung der Kategorie der Substanz beginnt in der K. r. V. nun<br />
nicht mit der Setzung eines metaphysischen Ursprungs, sondern mit dem<br />
Nachweis der Beharrlichkeit in den Erscheinungen anhand der<br />
transzendentalen Zeitbedingung des reinen Verstandesbegriffes aufgrund<br />
der Regel der Gleichgültigkeit der Reihenfolge der Apprehension der<br />
Erscheinungen — und das geschieht allein unter der Voraussetzung des<br />
bloßen Wechsels der Erscheinungen in der Zeitreihe. Daß hier die<br />
Zeitbedingung der Kategorie der Substanz schon nach der Zeitreihe und<br />
nicht erst nach der Zeitordnung gebildet werden kann, legt übrigens, wie<br />
schon angemerkt, auch die Darstellung der Substanzkategorie in § 26 der<br />
Deduktion nahe, welche auf der Kategorie der Größe aufruht. Allerdings<br />
darf angenommen werden, daß die einfache Unterscheidung in eine<br />
bestimmte und in eine unbestimmte Ordnung in den Apprehensionen als<br />
Interpretamente von Bewegung bzw. Ruhe, die Kant im synthetischen<br />
473 Karl Vogel, Kant und die Paradoxien der Vielheit, Meisenheim/Glan 1975, p. 171 f..<br />
Vgl. auch Friedrich Kaulbach, Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant,<br />
Köln 1960, p. 85.
— 525 —<br />
Grundsatz getroffen hat, 474 ausgebaut werden kann: Die Elemente der<br />
Wahrnehmung eines Hauses mögen zwar in beliebiger Reihenfolge<br />
apprehendiert werden, müssen aber auch zueinander eine Stellenordnung<br />
einhalten. 475 Eine solche Überlegung ist aber unabhängig von der<br />
Unterscheidung in bestimmter und unbestimmter Zeitreihe der<br />
Apprehensionen zu behalten, und wird von Kant zum Teil als<br />
synthesis speciosa in der empirischen Funktion der Einbildungskraft, zum<br />
Teil als geometrische Konstruktion der reinen Einbildungskraft in reiner<br />
Anschauung behandelt, und hat sich auf objektiv gültige Verhältnisse in<br />
der empirisch-sinnlichen Anschauung überhaupt als Teil der Erfahrung zu<br />
beziehen und nicht auf das Problem der Logizität der Anschauungsform<br />
überhaupt. — Die phoronomische Auffassung der Substanz kann in ihrem<br />
Zusammenhang die logische Operation des »Ersetzen« nicht diskutieren,<br />
da von der ausgedehnten Materie selbst abstrahiert wird, die Phoronomie<br />
vermag aber die Stellenordnung ihrer Elemente und Objekte alternativ zu<br />
diskutieren. Allerdings stehen die strukturellen Möglichkeiten der<br />
Phoronomie selbst zueinander nicht durchwegs in einem logischen<br />
Gegensatz. In den M.A.d.N. erreicht Kant vermutlich erst in der<br />
Phänomenologie den Überblick über die komplementäre Ersetzbarkeit<br />
erfüllter und dynamischer Raumbegriffe im disjunktiven Urteil. 476<br />
Geht man von der Auffassung der vorkritischen modallogischen<br />
Überlegungen aus, soll das »Ersetzen« mit dem Gegenteil bei Zufälligem<br />
immer möglich sein; in der fraglichen Erweiterung der Regel der<br />
Beharrlichkeit in den Apprehensionen zu einer Stellenordnung der<br />
Elemente der Wahrnehmungen eines Hauses mag nun jedes Element für<br />
sich zufällig sein, für diese Apprehension des gegebenen Haus aber sind<br />
die Relationen der Elemente im Raum zueinander nicht beliebig<br />
veränderbar: Die Reihenfolge der subjektiven Apprehensionen ist<br />
willkürlich, nicht die Stellenordnung der Elemente im Raum zueinander;<br />
was also ersetzt werden kann ist die Richtung der Apprehensionen und<br />
nicht die zum Thema gemachte Stellenordnung — und zwar eben im Falle<br />
der Apprehension von Anschauung gerade auch dann, wenn diese<br />
474 K. r. V., B 237 f./A 192 f.<br />
475 Dazu sind die Sätze der (euklidischen) Geometrie noch nicht notwendig; allerdings<br />
muß ein Bewußtsein von der Orientierung im Raume möglich sein.<br />
476 M.A.d.N., Allgemeine Anmerkungen zur Phänomenologie: alternatives,<br />
disjunktives, distributives Urteil, A 148 f.
— 526 —<br />
Stellenordnung weder wesenslogisch noch durch dynamische<br />
Veränderung des betrachteten Objekts begründbar ist.<br />
II.<br />
Eine mögliche Verbindung der Zeitbedingung und der Operation des<br />
»Ersetzens« kann aber auch von rein modaler Seite bedacht werden. Zwar<br />
geschieht die Bestimmung der Modalkategorie selbst logisch: die<br />
Bedingung (der Umstand) der Ersetzbarkeit der Begriffe wird vom<br />
logischen Satz vom Widerspruch bestimmt. Die logische Bestimmung des<br />
»Ersetzens« durch den Satz vom Widerspruch ist aber die kategoriale<br />
Definition der Zufälligkeit: das Prinzip der durchgängigen Bestimmung<br />
eines Dinges ist demnach zufällig zu nennen, weil von allen Prädikaten<br />
nur eines von beiden möglichen Gegenteilen im Prädikat dem Ding<br />
zukommen kann. Die Zufälligkeit ist in der klassisch vorkritischen<br />
Fassung ein Attribut des Satzsubjektes: »Zufällig ist, dessen Gegenteil an<br />
seiner Stelle möglich ist«. Dasjenige, was zufällig ist, dem ist das Gegenteil<br />
an seiner Stelle möglich. Das nicht benannte Satzsubjekt ist also dieses<br />
etwas, was hier als zufällig bezeichnet wird. Das ebenfalls nicht genannte<br />
Verbum der Handlung des »Ersetzens«, dessen notwendiger Umstand der<br />
kontradiktorische Gegensatz der möglichen Alternativen ist, sagt also nur<br />
dann die Bedingung dieses etwas aus, sofern in der Erfahrung etwas<br />
bereits als zufällig aufgrund eines möglichen Experiments bezeichnet<br />
werden soll, dessen Ausgang nicht nur aus sogenannten<br />
Erfahrungsgründen sondern auch aus Gründen einer Theorie feststeht.<br />
Das Ersetzen kann eben nicht einfach als Vorläufer einer Variablenstelle<br />
betrachtet werden, weil die Elemente der Menge aller in einer Variablen<br />
eines logischen Satzes einsetzbaren Objekte oder Namen nicht in einem<br />
kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehen und den Grund ihrer<br />
logischen Kontinuität von wo anders her beziehen. Vielmehr steht das<br />
»Ersetzen« mit dem »Verknüpfen« in dem Zusammenhang, daß jene real<br />
mögliche Qualität (Quidditas), die als mögliche Alternative zum<br />
tatsächlich gegebenen Umstand vorgestellt worden ist, nur dann wirklich<br />
ersetzbar im Sinne der Zufälligkeit ist, wenn die »Ersetzung« in Folge an<br />
der »Verknüpfung« nichts ändert. Die modallogische Definition des<br />
»Verknüpfens« bestimmt also rückwirkend die modallogische Definition<br />
des »Ersetzens«, d. i. die Definition des »Zufalls«. — Es handelt sich bei<br />
dieser von Kant erst später entdeckten Beziehung von »Ersetzen« und<br />
»Verknüpfen« offensichtlich um ein syntaktisches Kriterium nach dem
— 527 —<br />
Vorbild der Leibnizianischen analytischen Urteilstheorie (1686). — Die<br />
Operation des »Ersetzens« unterscheidet weiters selbst nicht zwischen<br />
Prädikat eines Dinges und einem Ding selbst. Hinsichtlich der Frage, ob<br />
damit die Modalität des Satzsubjektes oder der Aussage (dem Prädikats<br />
eines kategorischen Urteils) bestimmt werden soll, ist die modalkategoriale<br />
Aussage völlig unbestimmt. Demgegenüber bleibt die Regel der reinen<br />
Kategorie der Substanz nach Kant ohne jede weitere Zeitbedingung der<br />
Beharrlichkeit bei der grammatikalischen Bestimmung des Satzsubjekts<br />
stehen. 477 Die reine Kategorie der Substanz ohne Zeitbedingung führt aber<br />
auf die qualitative Verwendung der Kategorie des Quantums zurück, und<br />
von da her wird immer schon die grammatikalische Stelle des Satzsubjekts<br />
mit dem bloßen Begriff vom Objekt interpretiert.<br />
Insofern ist die reine Kategorie der Substanz ohne Zeitbedingung (also<br />
bloß ohne der Zeitreihenfolge des nicht-logisch definierten Wechsels) in<br />
der Tat aussagekräftiger als die vorkritische modalkategoriale Aussage<br />
über die Zufälligkeit anhand der Operation des Ersetzens bei Kant selbst,<br />
zieht man nicht die Überlegung des »syntaktischen Kriteriums« in Betracht<br />
oder geht gleich zur Aussage Kants in der ersten Kritik über, daß die<br />
Entgegensetzung von Prädikate ein und desselben Objektes in der<br />
Zeitfolge zweier Zeitpunkte nicht die Zufälligkeit des Zustandes des<br />
Objektes im zweiten Zeitpunkt zur Folge hat. Diese Äußerung Kants ist<br />
aber eher eine bloße Feststellung des Ergebnisses, aber nicht selbst eine<br />
vollständige Darstellung.<br />
III.<br />
Wie steht die logische Operation des »Ersetzens« nun mit dem reinen<br />
Verstandesbegriff der Kausalität in Verbindung? Der reine<br />
Verstandesbegriff der Kausalkategorie besteht, so wurde gesagt, in einem<br />
kontradiktorischen Gegensatz zweier Begriffe: »Ursache« und »Wirkung«.<br />
Dieser Gegensatz hat zur Folge, daß, gleich welchen der beiden Begriffe<br />
ich denke, ich den anderen analytisch aus dem gegebenen Begriff ableiten<br />
kann. Die rein analytische Formulierung des Kausalsatzes als reiner<br />
Verstandesbegriff wird neuerdings dem Vorwurf der Tautologie<br />
ausgesetzt: Daß der Begriff der Ursache analytisch den Begriff der<br />
Wirkung, und der Begriff der Wirkung analytisch den Begriff der Ursache<br />
477 K. r. V., B 186 f./A 147: ein Etwas, das als Subjekt (ohne Prädikat von etwas anderen<br />
zusein) gedacht werden kann.
— 528 —<br />
enthält, soll der Nachweis einer Tautologie sein. Das kann ich an Ort und<br />
Stelle nicht vollständig ausführen, deshalb dazu nur noch ein<br />
abschließender Gedanke: Wenn ich sage, der analytische Satz »Ein Kreis ist<br />
rund« sei eine Tautologie, und nach diesem Vorbild müßten alle<br />
analytischen Sätze eine Tautologie sein, so kann ich dieses Vorbild einer<br />
Tautologie nicht auf den analytischen Kausalsatz anwenden, da im<br />
Unterschied dazu die Rundheit für sich nicht unbedingt analytisch den<br />
Begriff des Kreises enthält, sondern eben nur dann, wenn der Begriff der<br />
Rundheit aus dem des Kreises herausgehoben worden ist. Im analytisch<br />
betrachteten Kausalsatz hingegen ist symmetrisch aus beiden Begriffen<br />
jeweils der Gegenbegriff heraushebbar; so gesehen handelt es sich im<br />
analytisch betrachteten Kausalsatz um das Verhältnis zweier Tautologien,<br />
dem selbst nachzuweisen, es sei wiederum eine einfache Tautologie, oder<br />
es sei keine Tautologie, ohne weiteres nicht möglich ist.<br />
Darauf kann formal der modalkategoriale Grundsatz des Zufälligen<br />
ebenso angewendet werden (weil es meine willkürliche Entscheidung ist,<br />
ob ich etwas als Wirkung — regressiv — oder als Ursache — progressiv —<br />
bedenken möchte), 478 wie die modalkategoriale Bestimmung der<br />
Notwendigkeit der Verknüpfung kontradiktorisch entgegengesetzter<br />
Prädikate in der Zeit. Die formale Bedingung (die transzendentale<br />
Zeitbedingung: zuerst aber eben nicht die mittels der Sukzessivität als<br />
logisch bestimmte Zeitordnung der Prädikatisierung Darstellung<br />
derselben, sondern als bloßer Wechsel des Gegebenen) ist also notwendig,<br />
um nicht in die Verlegenheit zu kommen, die Reihenfolge von »Ursache«<br />
und »Wirkung« für zufällig zu erklären, und zwar in völliger<br />
Abhängigkeit davon, ob ich mich für die progressive oder für die<br />
regressive Methode entscheide. Damit dieser Entscheidung eine<br />
Bedeutung unterlegt werden kann, ist eben formal die logische<br />
Bestimmbarkeit der transzendentalen Zeitbedingung notwendig<br />
vorausgesetzt, inhaltlich aber der empirisch gegebene Wechsel. Ohne<br />
transzendentale Zeitbedingung müßte trotz der Darstellung der Abfolge<br />
gemäß der logischen Definition der Sukzessivität der analytisch<br />
gewonnene logische Inhalt des reinen Verstandesbegriffs (der Ursache<br />
oder der Wirkung) demnach formal wechselseitig ersetzbar sein, ohne am<br />
Begriff etwas zu ändern. Die transzendentale Zeitbedingung ist objektiv<br />
die unbedingte Voraussetzung zu einem Erfahrungbegriff, die logische<br />
478 Vgl. die Antithesis der dritten Antinomie
— 529 —<br />
Darstellung der Sukzessivität ist subjektiv die bedingende Voraussetzung<br />
für den Begriff der Erfahrung.<br />
Der reine Verstandesbegriff der Substanzkategorie hingegen besteht im<br />
Gegensatz von »Beharrlichkeit« und »Veränderlichkeit«, für welche<br />
Begriffe die logisch gleiche analytische Beziehung besteht, wie für<br />
»Ursache« und »Wirkung«. Nun kann von Zufälligkeit der Beharrlichkeit<br />
und des Wechsel bzw. der Veränderlichkeit ebenso die Rede sein, wie es<br />
uns freisteht, im Vergleich von Beharrlichem und Veränderlichem<br />
zwischen den Positionen der Betrachtung zu wechseln, wie wir eine als<br />
Ursache identifizierte Erscheinung in einer Erscheinungsreihe in einer<br />
anderen Erscheinungsreihe als Wirkung zu identifizieren imstand sind.<br />
Auch hier ermöglicht erst die transzendentale Apperzeption mit der<br />
Freiheit des Vergleichens anhand eines Kriteriums der Signifikanz oder<br />
der Indifferenz der Reihenfolge der Erscheinungen die einfache Regel des<br />
Beharrlichen in der Apprehension derselben. Diese Formel der<br />
Zeitbedingung der Zeitreihe kann nun anhand des diskutierten Beispieles<br />
der Apprehension eines Hauses in Richtung geometrischer Konstruktion<br />
oder empirischer synthesis speciosa erweitert werden, womit aber nicht mit<br />
gleicher Deutlichkeit wie im Falle der Kausalitätskategorie eine<br />
modalkategoriale Aussage möglich ist: sicherlich können aber innerhalb<br />
der Stellenordnung der Elemente einer geometrischen Figur zueinander<br />
die Elemente nicht beliebig durch ihre Gegenteile ersetzt werden, da nur<br />
die Richtung der willkürlichen Apprehension in der Regel des<br />
Beharrlichen ersetzt werden kann und nicht die Stellenordnung der<br />
apprehendierten Vorstellungen in der Erscheinung zueinander. Mit der<br />
transzendentalen Zeitbedingung in der Substanzkategorie kann aber<br />
weder selbst Zufälligkeit der Substanz nachgewiesen werden, noch eine<br />
sonstige eigene modallogische Bestimmung, was die Notwendigkeit der<br />
Einheit des der Erscheinung objektiv zugrunde liegenden Substrates selbst<br />
betrifft. Was abermals deutlich geworden ist, ist, daß die transzendentale<br />
Zeitbedingung (der Wechsel der Erscheinungen als Zeitreihe aufgefaßt) im<br />
Falle des reinen Verstandesbegriffes der Substanzkategorie nicht die<br />
Zeitrichtung und nicht die ganze Zeitordnung zu bestimmen fähig ist, aber<br />
widerspruchsfrei zur Zeitordnung und deren logischen Regel<br />
weiterbestimmt werden kann. —
— 530 —<br />
§ 28 Der synthetische Grundsatz ist die Zusammensetzung von<br />
transzendentaler Zeitbedingung und Verstandesbegriff 479<br />
Es bleibt nach den Erörterungen des logischen Inhalts der Zeitbedingung<br />
und des Verstandesbegriffes deren Zusammensetzung im synthetischen<br />
Grundsatz nachzuvollziehen. Dabei ist zu beachten, daß sich die von<br />
Konrad Cramer herausgestellte Empirizität des Satzsubjektes im<br />
synthetischen Urteil a priori aus der strikten Trennung von Metaphysik<br />
und immer nur empirisch sich zeigenden Zeitlichkeit ergibt und nicht aus<br />
der Verwendung selbst empirischer Begriffe. Vielmehr zeigt sich ein<br />
besonderer Status der im Satzsubjekt der synthetischen Grundsätze<br />
eingesetzten Begriffe auf Grund der im Rahmen des transzendentalen<br />
Subjekts sicher abschließbaren Phänomenologie des Empirischen<br />
überhaupt, deren Abschließbarkeit und Vollständigkeit anders als in einer<br />
rein empirisch verfahrenden Phänomenologie, die bloß zu affirmativer<br />
Allgemeinheit gelangen kann, durch die Bezugnahme auf die<br />
transzendentalen Bedingungen der Analyse garantiert werden kann. Man<br />
kann durchaus darauf bestehen, deshalb diese Begriffen des Satzsubjektes<br />
im Vergleich zu empirischen Begriffen als »reine« Begriffe zu<br />
bezeichnen. 480 Jedoch verträgt sich diese Bezeichnung in der Tat nicht mit<br />
der klaren und deutlichen Unterscheidung von Metaphysik und<br />
empirischer Erfahrung, die Kant auch nach der ersten Kritik nicht<br />
aufgegeben hat, diese vielmehr gerade zu der wesentlichen systematischen<br />
Entscheidung in der Sittenlehre geworden ist, die eine philosophische<br />
Behandlung der Ethik überhaupt erst möglich gemacht hat, die frei von<br />
materialer Wertethik und Theologie bleiben konnte. Darüberhinaus könnte<br />
man auch Anstoß daran nehmen, daß die Bezugnahme auf die<br />
Vollständigkeit einer transzendentalen Phänomenologie der Erfahrung<br />
erst nach der Vollendung der transzendentalen Untersuchung der<br />
Erfahrung möglich wird. Insofern ist der terminologischen Entscheidung<br />
von Konrad Cramer bei Berücksichtigung des besonderen Status der<br />
Einsetzungen in das Satzsubjekt als instantialisierte Begriffe einer<br />
»transzendentalen Psychologie« zuzustimmen.<br />
479 Die Grundlage dieser Ausführungen ist und bleibt die auführliche Analyse der<br />
Prädikabilie der synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien von<br />
CRAMER 1985. Vgl. hier den zweiten Abschnitt. I. Die Zeitbedingung der Wahrheit<br />
480 Vgl. hier insbesondere § 10, Die Ontologia der Transzendentalphilosophie als<br />
Rekonstruktion des reinen Begriffs des Gegenstandes aus der Struktur der<br />
konstitutiven Kategorie.
— 531 —<br />
Die synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien lauten<br />
bekanntlich:<br />
»Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz, und das<br />
Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch<br />
vermindert« 481<br />
»Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der<br />
Ursache und Wirkung.« 482<br />
Der Grundsatz der ersten Analogie beinhaltet eine Aussage über das<br />
Quantum, die aus den bisherigen Erörterungen des Beharrlichen in den<br />
Erscheinungen nicht ableitbar erscheint, dennoch keine bloße<br />
metaphysische Ergänzung ist, die dem transzendentalen Gehalt der ersten<br />
Analogie fremd bleibt. Wie schon des Öfteren darauf aufmerksam gemacht<br />
worden ist, daß die Grundlage der Substanzkategorie auch dem Verlauf<br />
der Untersuchung der transzendentalen Zeitbedingung nach nicht<br />
notwendigerweise mit einer einfachen Substanz zu tun hat (also auch ein<br />
bloßes Aggregat sein kann), und allein auf die Zeitreihe der konstitutiven<br />
Kategorie (insbesondere den Axiomen der Anschauung) beruht, kann die<br />
Erwähnung des Quantums durchaus nicht als willkürliche Ergänzung<br />
angesehen werden. Allerdings verlangt die Bezugnahme auf die Natur<br />
weitere Überlegungen, die auch im erläuternden Text des gegebenen<br />
Beweises nicht wirklich enthalten sind. Ohne sich hier weiter vertiefen zu<br />
wollen, sei zumindest soviel dazu gesagt: Sofern unsere sinnlichen<br />
Wahrnehmungen Gegenstand einer naturphilosophischen Untersuchung<br />
sein können müssen, ist auch das Quantum unserer sinnlichen<br />
Wahrnehmung Bestandteil der Natur. Obgleich bei einer näheren Analyse<br />
die Subjektivität unseres relativen Standpunktes im Raum wie die<br />
Subjektivität der Variation der Empfindlichkeit der Sinnesorgane,<br />
schließlich die Subjektivität unserer schweifenden Aufmerksamkeit zu<br />
berücksichtigen ist, zeigt sich gerade in dieser Beifügung, daß die<br />
transzendentale Analyse der Bedingungen der Erfahrung gewissermaßen<br />
von selbst im Rahmen der rationalen Physiologie auf physikalische<br />
Vorbedingungen stößt, die metaphysische Annahmen über die Natur<br />
notwendig macht, seien diese hinsichtlich der Spezifikationen unserer<br />
481 K.r.V., B 224/A 182<br />
482 B 232/A 189
— 532 —<br />
empirischen Sinnlichkeit auch welche sie immer sein sollten. Für eine rein<br />
metaphysische Ausage über die Konstanz des Quantums in der Natur<br />
wäre hingegen zu zeigen, daß diese Aussage eine notwendige Bedingung<br />
für die Möglichkeit einer mathematisch vorgehenden Naturwissenschaft<br />
ist, um als Grundsatz einer rationalen Metaphysik zu gelten. Inwiefern die<br />
Aussage über die Konstanz des Quantums in der Natur eine<br />
metaphysische Aussage ist oder beinhaltet, braucht in diesem<br />
Zusammenhang aber nicht entschieden zu werden. Streicht man aus dem<br />
Grundsatz der ersten Analogie nun diese »metaphysische« Aussage über<br />
das Quantum, lautet der erste synthetische Grundsatz wie folgt: »Bei allem<br />
Wechsel der Erscheinung beharret die Substanz.« womit die<br />
Strukturgleichheit zum synthetischen Grundsatz der zweiten Analogie<br />
hergestellt worden wäre.<br />
Man hat also festzuhalten, daß<br />
(1) als Satzsubjekt des synthetischen Grundsatzes der ersten Analogie der<br />
Begriff des »Wechsels«, als Satzsubjekt des synthetischen Grundsatzes der<br />
zweiten Analogie der Begriff der »Veränderung«;<br />
(2) als Satzgegenstand des Grundsatzes der ersten Analogie der Begriff der<br />
»Substanz« (und des »Quantums«), als Satzgegenstand des Grundsatzes<br />
der zweiten Analogie der Satzteil »Verknüpfung der Ursache und<br />
Wirkung« fungiert.<br />
Ich habe vor zu zeigen, daß die Ausdrucke in den Satzsubjekten die<br />
transzendentale Zeitbedingung, die Ausdrucke in den Satzgegenständen<br />
den Inhalt der reinen Verstandesbegriffe, welche in den Kategorien<br />
enthalten sind, repräsentieren. Für den Fall der Satzsubjekte mag eine<br />
solche Behauptung nach den vorhergehenden Untersuchungen als trivial<br />
erscheinen, da doch der Übergang vom »Wechsel« zur »Veränderung«<br />
offensichtlich der (von mir hinsichtlich der Zuordnung der<br />
Zeitbedingungen zu konstitutiven und dynamischen Kategorien<br />
modifizierten) Unterscheidung der transzendentalen Zeitbedingung in<br />
Zeitreihe und Zeitordnung aus dem Schematismuskapitel folgt. Es bleiben<br />
aber noch einige terminologische Schwierigkeiten im Fall der<br />
Satzgegenstände zur völligen Klarheit zu bringen übrig, was noch<br />
geschehen soll, bevor der Untersuchungsgang zum Abschluß gebracht<br />
werden kann. Dieser Abschluß besteht in der nochmaligen Überlegung der<br />
Gültigkeit dieser Grundsätze, was allerdings die Diskussion der
— 533 —<br />
Kategorien der Modalität einschließt. — Zuvor aber noch das, was für<br />
diesen Abschnitt der Untersuchung noch zu tun bleibt.<br />
Es fällt vor dem Hintergrund der Untersuchung, so wie ich sie geführt<br />
habe, besonders auf, daß im Satzgegenstand des Grundsatzes der zweiten<br />
Analogie bereits der Inhalt des reinen Verstandesbegriffes der<br />
Kausalitätskategorie genannt wird, während im Grundsatz der ersten<br />
Analogie nur der Titel der Kategorie, eben der Substanzbegriff, als<br />
Satzgegenstand fungiert. Setze ich nun an Stelle des Titels den Inhalt des<br />
reinen Verstandesbegriffs: Beharrlichkeit und Wechsel, so stehe ich rein<br />
terminologisch gesprochen, zunächst vor dem Problem, ob nun schon für<br />
den Inhalt des reinen Verstandesbegriffes die aufgrund der modalogischen<br />
Bestimmbarkeit der transzendentalen Zeitbedingungen zur Sukzesssivität<br />
getroffene Unterscheidung in »Wechsel« und »Veränderung« verbindlich<br />
ist. Offenbar nicht, da diese Unterscheidung anhand der transzendentalen<br />
Zeitbedingung getroffen worden ist, und nicht für die Zeitordnung, die im<br />
reinen Verstandesbegriff der Kategorie immer schon analytisch<br />
mitgegeben wird. Wie schon unter der Hand eingeführt, kann also der<br />
logische Inhalt des reinen Verstandesbegriffes der Substanzkategorie<br />
sowohl mit dem Gegensatz von Beharrlichkeit und Wechsel wie mit dem<br />
Gegensatz von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit ohne jede<br />
Verschiebung der Bedeutung ausgedrückt werden. Dabei ist im Falle der<br />
Ersetzbarkeit von Wechsel und Veränderlichkeit im reinen<br />
Verstandesbegriff des Grundsatzes der ersten Analogie noch nebenbei<br />
deutlich geworden, daß in der ersten Analogie der Begriff des Wechsels in<br />
ein und demselben Satz sowohl als Begriff der Bestimmung der<br />
transzendentalen Zeitbedingung wie als Begriff des reinen<br />
Verstandesbegriffes vorkommen kann, also zugleich einmal als nichtreiner<br />
Begriff der Bestimmung der transzendentalen Zeitbedingung und<br />
einmal als reiner analytischer Begriff des Verstandesbegriffes der<br />
Kategorie fungiert. — Dem nicht genug, ergibt sich im Falle der<br />
Verwendung des Begriffes der Veränderlichkeit (an Stelle des Wechsels)<br />
als analytischer Teil des reinen Verstandesbegriffs der Substanzkategorie<br />
aber eine Komplizierung in Verbindung mit dem Grundsatz der zweiten<br />
Analogie, da dann der Begriff der Bestimmung der transzendentalen<br />
Zeitbedingung des Grundsatzes der zweiten Analogie, eben die<br />
Veränderlichkeit als nicht-reiner Begriff, als Bestandstück des logischen<br />
Inhalts des Satzgegenstandes, also des reinen Verstandesbegriffes der<br />
Substanzkategorie vorkommt. Es scheint derart, als wäre mit der
— 534 —<br />
Substitution des Begriffes des Wechsels durch den Begriff der<br />
Veränderlichkeit im Satzgegenstand des Grundsatzes der ersten Analogie<br />
letztlich nichts gewonnen: die Konfusion der doppeldeutigen Verwendung<br />
der Begriffe vom »Wechsel« und von der »Veränderung«, die ich auf der<br />
einen Seite intern vermeide, kommt von der anderen Seite extern wieder<br />
zum Vorschein.<br />
Näher besehen, bedeutet die Ersetzung des Wechsels durch die<br />
Veränderlichkeit im Satzgegenstand des Grundsatzes der Analogie der<br />
Substanz nichts anderes, als daß eine Kontinuitätsbedingung ausdrücklich<br />
gemacht worden ist, die schon von der transzendentalen Ästhetik<br />
vorausgesetzt worden ist. Der Begriff der Sukzessivität im Begriff des<br />
Satzsubjektes des Grundsatzes der zweiten Analogie beinhaltet aber<br />
sowohl den Wechsel wie die Kontinuität; und zwar als kontinuierlichen<br />
Wechsel, ohne allein deshalb schon explizit auf ein Ding zurückkommen<br />
zu müssen: das ist erst dann notwendig, wenn das, was wechselt, als<br />
Prädikat bestimmt worden ist. Insofern ist ein Übergang vom Wechsel zur<br />
Veränderlichkeit im reinen Verstandesbegriff der Substanzkategorie nur<br />
dadurch zu motivieren, als daß mittels des vorauszusetzenden Dinges<br />
gegenüber der bloßen transzendentalen Zeitbedingung bereits eine<br />
Änderung des semantischen Zusamenhanges gegeben ist, die einen<br />
solchen Austausch gegenüber der transzendentalen Zeitbedingung der<br />
ersten Analogie nicht nur möglich macht, sondern auch sinnvoll<br />
erscheinen läßt: Die transzendentale Zeitbedingung der Substanzkategorie<br />
setzt nur vermutlich die Kontinuitätshypothese der transzendentalen<br />
Ästehtik voraus. Im reinen Verstandesbegriff der Substanzkategorie ist die<br />
Kontinuitätshypothese zumindest auf Grund des Bezuges auf ein Ding<br />
überhaupt unzweifelhaft vorauszusetzen, sodaß die Ersetzung des bloßen<br />
Wechsels durch die Veränderlichkeit sinnvoll ist. — Die<br />
Kontinuitätsbedingung ist nun auch der Kausalitätskategorie<br />
vorausgesetzt, gleich aus welchem Grund diese Bedingung vorausgesetzt<br />
werden kann: ob transzendentalästhetisch aus der bloßen Sinnlichkeit oder<br />
aus der modallogischen Definition der Sukzessivität, oder ob aus der<br />
metaphysischen Vorausetzung eines Dinges der Prädikate — ohne<br />
Kontinuitätsbedingung kann die Kausalitätskategorie als Kategorie der<br />
Erfahrung nicht konstituiert werden. Abgesehen davon, daß die<br />
modallogische Definition der Sukzessivität schon ein Ding der<br />
Prädikatisierung implizit vorausetzt, macht demnach die folgenlose<br />
Vertauschbarkeit von Wechsel und Veränderlichkeit im reinen
— 535 —<br />
Verstandesbegriff der Substanzkategorie die Kontinuitätsbedingung im<br />
Kantschen Argumentationsgang auch explizite deutlich: das Ding der<br />
Prädikate wird umwegig über dem Beharrlichen der Erscheinungen als<br />
Kontinuitätsbedingung in Stellung gebracht, ohne selbst sinnliche<br />
Prädikate (empirische Begriffe) verwenden zu müssen. Nochmals: Die<br />
modallogische Definition der Veränderlichkeit als Sukzession im<br />
Satzsubjekt des Grundsatzes der zweiten Analogie hat ihren Bezug auf ein<br />
Ding allein metaphysisch auf Grund dessen, daß Prädikate sich auf ein<br />
Ding beziehen (die reine Kategorie der Substanz — grammatikalisch). Die<br />
Vertauschbarkeit von Wechsel und Veränderlichkeit im Satzgegenstand<br />
des Grundsatzes der ersten Analogie vermag das auch da notwendige<br />
Kontinuitätskriterium aber nicht aus der metaphysischen Grundlegung<br />
der Beziehung von Prädikaten auf ein Ding zu beziehen, sondern allein<br />
aus der vorausgesetzten Sinnlichkeit oder aus den formalen Eigenschaften<br />
der transzendentalem Ästhetik, deshalb steht die Veränderlichkeit auch im<br />
Satzsubjekt des Grundsatzes der zweiten Analogie.<br />
Wie inzwischen bekannt sein sollte, besteht der haltbare Kern der<br />
modallogischen Bestimmung der Sukzessivität in der Performation der<br />
Prädikatisierung, in welcher erstlich Unterscheidbarkeit und<br />
kontradiktorischer Gegensatz formal zusammenfallen. Die sich daraus<br />
ergebende logische Kontinuitätshypothese setzt die Beziehung von<br />
Prädikaten auf ein und das selbe Ding bereits voraus und unterscheidet<br />
sich grundlegend von einer Kontinuitätshypothese, die auf Grund der<br />
Sinnlichkeit überhaupt oder auf Grund formaler Eigenschaften einer<br />
transzendentalen Ästhetik gefunden werden kann. Letztere ist im<br />
Verhältnis von Satzsubjekt zum Satzgegenstand im Grundsatz der ersten<br />
Analogie (der Substanzkategorie) die Grundlage der im Satzgegenstand<br />
(dem reinen Verstandesbegriff der Substanzkategorie) möglichen<br />
Ersetzung des Wechsels durch die Veränderlichkeit. Ersteres, also die<br />
vorausgesetzte Beziehung eines Prädikates auf ein Ding, ist schon die<br />
Bedingung der logischen Regel der im Satzsubjekt des Grundsatzes der<br />
zweiten Analogie ausgedrückten transzendentalen Zeitbedingung der<br />
Kausalitätskategorie. Diese metaphysische Voraussetzung wird nun eben<br />
vom Grundsatz der Substanzkategorie transzendental insofern teilweise<br />
gerechtfertigt, als daß der Substanzbegriff auf den Begriff eines bloßen<br />
Aggregates vermindert wird, sodaß die erste dynamische Kategorie<br />
(obwohl selbst als Kategorie gar nicht dynamisch konfiguriert) die Form<br />
der transzendentalen Zeitbedingung der zweiten dynamischen Kategorie
— 536 —<br />
in deren Grundsatz zu garantieren vermag. Erst diese Verklammerung von<br />
Satzssubjekt und Satzgegenstand des Grundsatzes der ersten Analogie mit<br />
der transzendentalen Zeitbedingung im Grundsatz der zweiten Analogie,<br />
also deren Satzsubjekt, gibt die Möglichkeit der Anwendung des reinen<br />
Verstandesbegriffes von Ursache und Wirkung. — Also mitnichten<br />
Eigenschaften der Sinnlichkeit oder gar formale Eigenschaften der<br />
tranzendentalen Ästhetik erlauben die Anwendung des<br />
Kausalitätsprinzipes, sondern erst die selbst logische Normierung des<br />
Veränderlichen zur Sukzessivität. Hierin kommt die bereits von Descartes<br />
in seiner analytischen Geometrie artikulierten Diskretheit von Prädikaten<br />
gegenüber der jeweils möglichen Kontinuität des Prädikatisierten zum<br />
Ausdruck. 483 Dieser Schwierigkeit kann allerdings auch mit Kant von<br />
Seiten der Begriffsbestimmung des Veränderlichen abgeholfen werden:<br />
Man erinnere sich an die Unterscheidung des Begriffs vom Veränderlichen<br />
als sensitivum, also allein als Eigenschaft des Sinnlichen, und als<br />
Prädikabilie als Teil der kategorialen Bestimmung: 484 Zur Bestimmung des<br />
Veränderlichen als sensitivum Refl. 4306: »Der Schluß von der<br />
Veränderlichkeit auf die Zufälligkeit ist metabasis eis allo genos, denn ich<br />
schließe von einem sensitivum aufs intellectuale.« Und Refl. 5266: »Es gibt<br />
keinen Übergang von den principiis der Erscheinung zu den Begriffen der<br />
Vernunft, also auch nicht von der Veränderung auf die Zufälligkeit.«<br />
Zur kategorialen Bestimmung des Veränderlichen im ersten Entwurf zur<br />
Preischrift über die Fortschritte in der Metaphysik: »Noch gehören zu den<br />
Kategorien, als ursprüngliche Verstandesbegriffen, auch die Prädikabilien,<br />
als aus jener ihrer Zusammensetzung entspringende, und also abgeleitete,<br />
entweder reine Verstandes- oder sinnlich bedingte Begriffe a priori, von<br />
denen die ersteren das Dasein als Größe vorgestellt, d.i. die Dauer, oder<br />
die Veränderung, als Dasein mit entgegengesetzten Bestimmungen, von<br />
den anderen der Begriff der Bewegung, als Veränderung des Ortes im<br />
Raume, Beispiele abgeben, die gleichfalls vollständig aufgezählt, und in<br />
einer Tafel systematisch vorgestellt werden können.« 485<br />
Die Ersetzung des Wechsels im Grundsatz der ersten Analogie scheint also<br />
durchaus auf eine Weise möglich, welche alle Schwierigkeiten aufzulösen<br />
483 Gottlob Frege, Was ist eine Funktion?, Festschrift f. Ludwig Boltzmann, 1904, in:<br />
Funktion, Begriff, Bedeutung, Hrsg. von Günther Patzig, Götting 4 1975, p. 81 ff.<br />
484 Vgl. hiezu den zweiten Abschnitt, I., 2. Die modallogische Erörterung<br />
485 AA. XX, p. 272
— 537 —<br />
erlaubt. Es ist demnach sogar sinnvoll möglich, den Begriff des Wechsels<br />
im Satzsubjekt mit dem Begriff des Veränderlichen zu ersetzen, wenn<br />
dieser als Begriff vom sensitivum verstanden wird, da der bloße Wechsel<br />
die Kontinuität der Sinnlichkeit nicht von selbst analytisch mit sich führt,<br />
und insofern diese Ersetzung dem bloßen Wechsel nicht widersprechen<br />
muß. Allerdings ergibt sich daraus die nun schon bekannte weitere<br />
Schwierigkeit: Zwar besitzt dann der Begriff des Veränderlichen im<br />
Satzsubjekt des Grundsatzes der zweiten Analogie folgerichtig den Status<br />
einer Prädikabilie, aber auch der Begriff des Veränderlichen im<br />
Satzgegenstand des Grundsatzes der ersten Analogie müßte demnach als<br />
Prädikabilie verstanden werden, was schlechterdings unmöglich ist. Daran<br />
änderts sich auch nichts, wird die Parallelstelle aus dem § 10 der ersten<br />
Kritik herangezogen: »Man kann aber diese Absicht ziemlich erreichen,<br />
wenn man die Ontologischen Lehrbücher zur Hand nimmt,und z.B. der<br />
Kategorie der Kausalität die Prädikabilien der Kraft, der Handlung, des<br />
Leidens; der der Gemeinschaft, die der Gegenwart, des Widerstandes; den<br />
Prädikamenten der Modalität die des Entstehens, Vergehens, der<br />
Veränderung usw. unterordnet.« 486 Die Auflösung dieser Schwierigkeit ist<br />
dann offensichtlich nicht länger trivial. — Ich habe vorhin im zweiten<br />
Abschnitt der vorliegenden Arbeit der Darstellung aus der Preisschrift<br />
deshalb den Vorzug gegeben, weil diese der Performation des<br />
Prädikatisierens eines kontinuierlichen zeitlichen Vorgangs besser<br />
entsprochen hat. Die Diskontinuierlichkeit des Prädikatisierens im<br />
Vergleich zur Kontinuierlichkeit der Sinnlichkeit kam in dieser Darstellung<br />
besser zum Ausdruck. Nunmehr ist zu sehen, daß gerade die<br />
Voraussetzung, unter welcher die Überlegung, das Veränderliche im<br />
Gegensatz zum kontinuierlichen sensitivum als Sukzessivität im Grundsatz<br />
der Kausalitätskategorie zur Prädikabilie zu bestimmen, zum Grund der<br />
hier offenkundig gewordenen Schwierigkeit geworden ist. Die<br />
Bestimmung des Veränderlichen zur Prädikabilie ist ein modallogisches<br />
Verfahren: In der modallogischen Untersuchung ist das Veränderliche das<br />
Prädikament und das sensitivum selbst die Prädikabilie, welche mit dem<br />
Begriff der Veränderlichkeit erst prädikatisiert wird. Die Prädikatisierung<br />
des sensitivums mit Veränderlichkeit entspricht einer Instantialisierung im<br />
Rahmen einer transzendentalen Phänomenologie der sinnlichen<br />
Wahrnehmung, womit die Prädikatisierung der einzelnen<br />
Wahrnehmungen überhaupt erst vom bloßen Wechsel der Erscheinungen<br />
486 K.r.V., A 82/B 108
— 538 —<br />
unterscheidbar wird: ohne der Voraussetzung der Kontinuität des<br />
sensitivums, dem mit der Prädikatisierung erster Stufe die Kontinuität<br />
ausdrücklich zugesprochen wird (nur unter der Voraussetzung der<br />
transzendentalen Ästhetik ein analytisches Urteil), könnte die sprachliche<br />
Performation der Prädikatisierung der einzelnen Wahrnehmungen<br />
innerhalb der Anschauung nicht vom bloßen Wechsel der Erscheinungen<br />
unterschieden werden. Im ersten Schritt ist das Veränderliche demnach ein<br />
Prädikament und das sensitivum die Prädikabilie, für die Prädikatisierung<br />
des Veränderlichen im Rahmen der weiteren empirisch-sprachlichen<br />
Performation ist das Veränderliche die Prädikabilie.<br />
Damit erhält der verschiedene Gebrauch des begrifflichen Ausdrucks der<br />
transzendentalen Zeitbedingung hinsichtlich der ursprünglichen<br />
Unterscheidbarkeit von Wechsel und Veränderlichkeit aufgrund der<br />
verschiedenen Beziehbarkeit (respektive Nicht-Beziehbarkeit) auf ein Ding<br />
einen epistemologischen Grund: Im Satzsubjekt des Grundsatzes der<br />
zweiten Analogie ist das Veränderliche zweifellos die Prädikabilie des<br />
reinen Verstandesbegriffes im Satzgegenstand; im Satzgegenstand des<br />
Grundsatzes der ersten Analogie wäre das Veränderliche nur als<br />
Prädikament des sensitivums zu verstehen möglich, um<br />
transzendentalästhetisch dem Wechsel, der selbst keinen Bezug auf ein<br />
Objekt notwendig macht, vorzustellen: ein solcher Bezug auf ein Ding ist<br />
erst im reinen Verstandesbegriff der Substanzkategorie herzustellen. —<br />
Diese Unterscheidung von Satzsubjekt und Satzgegenstand hat schon die<br />
folgenlose Ersetzbarkeit von Wechsel und Veränderlichkeit im reinen<br />
Verstandesbegriff des Satzgegenstandes des Grundsatzes der ersten<br />
Analogie kenntlich gemacht, weil eben gleiches im Satzsubjekt des<br />
Grundsatzes der ersten Analogie nicht möglich ist, ohne<br />
transzendentalästhetische Bedingungen der reinen Sinnlichkeit<br />
heranzuziehen. — Die Schwierigkeit, der man sich im Grundsatz der<br />
ersten Analogie gegenübergesehen hat, war eben die, sowohl in der<br />
transzendentalen Zeitbedingung (im Satzsubjekt ausgedrückt), wie im<br />
reinen Verstandesbegriff (im interpretierten Satzgegenstand ausgedrückt)<br />
den Wechsel allein nach seiner Stellung im Grundsatz interpretieren zu<br />
müssen. Gemäß der Defizienz der Zeitreihe gegenüber der Zeitordnung ist<br />
der Wechsel vom Satzsubjekt zum Satzgegenstand des Grundsatzes der<br />
ersten Analogie selbst ohne jede Kontinuitätsbedingung; diese muß erst<br />
von der transzendentalen Ästhetik nachgetragen werden. Der Begriff des<br />
Wechsels als Inhalt des reinen Verstandesbegriffes (als analytischer
— 539 —<br />
Gegenbegriff des Beharrlichen) im Satzgegenstand der ersten Analogie<br />
beinhaltet zunächst für sich sowenig wie die Zeitbedingung im Satzsubjekt<br />
irgendwelche Kontinuitätsbedingungen. Demnach wäre für den<br />
Grundsatz der ersten Analogie ohne Bezugnahme einerseits auf<br />
transzendentalästhetische Bedingungen der reinen Sinnlichkeit und<br />
andererseits ohne Bezugnahme auf logische Bedingungen der<br />
Prädikatisierung (daß Prädikate sich auf ein Ding beziehen lassen müssen)<br />
das Satzsubjekt hinsichtlich des Gebrauchs des Begriffes vom Wechsel das<br />
analytische Gegenteil des Satzgegenstandes.<br />
❆<br />
Die synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien (obgleich hier<br />
noch gar nicht vollständig behandelt: es fehlt die Erörterung des<br />
Commerciums) sind noch hinsichtlich der Gültigkeit der damit<br />
rechtfertigbaren empirischen Aussagen zu untersuchen. Ich verfahre hier<br />
nach der Einteilung, die Kant in § 9 gemäß der Einteilung der logischen<br />
Tafel gegeben hat. Hier sind systematisch zwei Möglichkeiten ersichtlich:<br />
1.1. Das Satzsubjekt gilt qua transzententale Zeitbedingung (inklusive aller<br />
möglichen, vorhin erörterten Umformungen) apodiktisch.<br />
1.2. Der Satzgegenstand gilt qua reinen Verstandesbegriff apodiktisch.<br />
Diese Version müßte nicht nur zu immerwährend gültigen Erkenntnissen<br />
führen, sondern noch jede emprisch-vereinzelte Erkenntnis, die darunter<br />
fällt, als nicht revidierbare Erkenntnis behaupten müssen. Insofern könnte<br />
von einem Wissenschaftsfortschritt nur in einem sehr eingeschränkten<br />
Sinne die Rede sein. Der historische Fortschritt der Wissenschaften, der<br />
bereits verläßlich angenommene Postulate derselben auschließen hat<br />
müssen, hat diese Auffassung zwingend widerlegt. — Die zweite<br />
Möglichkeit entspricht auch besser der Argumentationsstruktur, die der<br />
Kantschen Überlegung angemessen werden kann:<br />
2.1. Das Satzsubjekt gilt qua transzendentale Zeitbedingung assertorisch.<br />
2.1. Der Satzgegenstand gilt qua reinen Verstandesbegriff apodiktisch.<br />
Das führt dann nicht zu Schwierigkeiten, wenn unter einem reinen<br />
Verstandesbegriff wirklich nur die reinen Verstandesbegriffe der<br />
Kategorien des Verstandesgebrauches in der Erfahrung verstanden wird.
— 540 —<br />
§ 29 Die dritte Bedeutung von »reiner Kategorie« als Zeitinbegriff:<br />
Modalität<br />
In der Behandlung des Schematismus insbesondere in den synthetischen<br />
Grundsätzen der dynamischen Kategorien ist das transzendentale Subjekt<br />
immer schon in eine Haltung fixiert, welche einerseits das Problem der<br />
Kompossibilität der möglichen Prädikate im Rahmen des<br />
Kategorienproblems für die kontinuierliche Darstellbarkeit im Raum und<br />
in der Zeit in Stellung hält, aber andererseits den Gegenstand nach der<br />
Zeitordnung, und nicht nach der einfachen und für uns ursprünglichen<br />
Zeitreihe gemachter Anschauung zusammensetzt. Es reicht die<br />
intellektuelle Spontaneität in der transzendentalen Reflexion demnach hier<br />
zwar aus, diesen Gegenstand der Prädikate mit der Idee der Substanz qua<br />
Inhärenz ohne kontinuierliche Anschauung in Zusammenhang zu bringen,<br />
um jedoch die Identität und Einheitlichkeit desselben zu prüfen, sind dann<br />
die über die Anschauung hinausgehend gedachten Folgen doch wieder<br />
nur anhand der gegebenen kontinuierlichen Anschauung (also anhand der<br />
Zeitreihenfolge) als Zeitordnung festzustellen. 487 Die gegebene Darstellung<br />
scheint nun auszureichen, das Konzept der Unterscheidung der Synthesis<br />
nach compositio und nexus schwach zu erfüllen.<br />
Doch bleibt zuerst die Schwierigkeit, was nun die »Reinheit« eines Begriffs<br />
oder eines Urteils bedeuten könne, wenn schon Begriffe in metaphysischer<br />
Funktion auf Grund von Vorentscheidungen, die auf dem Boden rationaler<br />
Metaphysik (rationale Psychologie, Physiologie, Physik) im Rahmen der<br />
Untersuchung der Möglichkeit einer Vorstellungsimmanenz<br />
(konstruierbare vollständige Phänomenologie) gefallen sind, als a priori<br />
geltend eingeführt worden sind, mit der Schwierigkeit der Bestimmung<br />
der modalen Kategorie verbunden, da deren »reine« Kategorie nach den<br />
obigen Überlegungen mit der reinen Kategorie der Kausalität<br />
(Kompossibilität) zusammenfällt, 488 doch aber einen eigenen Anspruch auf<br />
»Reinheit« erheben kann:<br />
1. Die »reine« Kategorie drückt dann als »Zeitinbegriff« in den Analogien<br />
der Erfahrung intellektuell erst das »Correlat der modalen Reflexion« aus,<br />
um zur wirklichen Vollständigkeit der ursprünglich-synthetischen Einheit<br />
487 K.r.V., § 12, die Rückführbarkeit der Folgen beweist die Einheit des Begriffes.<br />
488 Die noch ausständige Behandlung des reinen Verstandesbegriff der Kategorie des<br />
Commerciums und deren Zusammenhang mit den modalen Kategorien wird im<br />
fünften Abschnitt und im Anschluß im vierten Abschnitt, II an geeigneterer Stelle<br />
nachgereicht.
— 541 —<br />
der Apperzeption in der Aussage (im Urteil) zuzureichen. Das aber ist<br />
wiederum nur im Verein aller Kategorien, also auch erst nach dem Beweis<br />
der objektiven Geltung der Kategorie der Kausalität und nach der<br />
Wechselwirkung des Commerciums (also schon nach allen Zeitmodi)<br />
analytisch im Rahmen eines Konzeptes der Gegenwart (Anwesen)<br />
möglich. Während die Kategorie der Kausalität noch die Aufgabe hat,<br />
gemäß den Regeln der Anschauung die Wahrnehmungen in den<br />
Erscheinungen nach einer Regel zu verknüpfen, deren Grund selbst<br />
unanschaulich bleibt, hat die Kategorie der Modalität allein die Aufgabe,<br />
Aussagen nach ihrer Gültigkeit zu beurteilen. Die Modalitätskategorie ist<br />
somit nicht mehr Angelegenheit der Einbildungskraft und insofern »rein«<br />
zu nennen.<br />
2. Die modale Bestimmung einer Aussage ist demnach die eigentliche<br />
Leistung der Kategorien. Weshalb sollte dieser Gebrauch rein genannt<br />
werden? Der erste Versuch einer Antwort hat gelautet: Weil sie sich auf ein<br />
Verhältnis bezieht, das nicht in der Anschauung gegeben werden kann.<br />
Auf gleiche Weise wurde schon von der Kausalitätskategorie behauptet,<br />
sie sei insofern rein, weil »die Ursache nicht angeschaut werden kann«,<br />
doch bezieht sich die Regel in der Kausalitätskategorie definitionsgemäß<br />
auf Verhältnisse zwischen Erscheinungen, die freilich nur als solche nicht<br />
Regeln der reinen Anschauung selbst sind, weil in den Erscheinungen erst<br />
die Eigenschaften bestimmt werden müssen, die Ursache bzw. Wirkung<br />
von etwas sind. Die modale Kategorie bezieht sich aber definitionsgemäß<br />
nun schon immer auf Aussagen über Begriffsverhältnisse oder über<br />
Aussagenverhältnisse. Das Correlat der modalen Reflexion ist derart eben<br />
nicht selbst ein Substrat der Substanzkategorie oder eine mögliche<br />
Kausalität zwischen Merkmal und Folge, sondern erstens bereits<br />
transzendental auf die Ganzheit des Daseins zu beziehen. Diese Ganzheit<br />
des Daseins ist aber zweitens auf die ganze mögliche Erfahrung eines<br />
Gegenstandes (X) zu beschränken, die allerdings eben nur diesem Urteil<br />
zugrunde liegt. Einschränkung des Daseins auf das Urteilen [a],<br />
Einschränkung der Ganzheit möglicher Erfahrung auf das X des zu<br />
betrachtenden Urteils [b], Einteilung der möglichen Erfahrung vom X auf<br />
das zu betrachtende Urteil [c] sind demnach die notwendigen<br />
Operationen, um die entsprechenden Bedingungen als solche explizite<br />
darzustellen.<br />
Aus der Kompilation der Vorlesungen zur Logik von Kant durch Jäsche ist<br />
in der Anmerkung zum § 30 die Eigentümlichkeit modaler Urteile zu
— 542 —<br />
ersehen: »Dieses Moment der Modalität zeigt also nur die Art und Weise<br />
an, wie im Urtheile etwas behauptet oder verneint wird: ob man über die<br />
Wahrheit oder Unwahrheit eines Urtheils nichts ausmacht, wie in dem<br />
problematischen Urtheile: die Seele des Menschen mag unsterblich sein [a];<br />
oder ob man darüber etwas bestimmt, wie in dem assertorischen Urtheile:<br />
die menschliche Seele ist unsterblich [b]; oder endlich, ob man die<br />
Wahrheit eines Urteiles sogar mit der Dignität der Nothwendigkeit<br />
ausdrückt, wie in dem apodiktischen Urtheile: die Seele des Menschen<br />
muß unsterblich sein [c]. Diese Bestimmung der bloß möglichen oder<br />
wirklichen oder nothwendigen Wahrheit betrifft also nur das Urtheil<br />
selbst, keineswegs die Sache, worüber geurteilt wird«. 489<br />
Apodiktische Urteile, die ihre Aussage mit Notwendigkeit behaupten,<br />
bleiben also auf den Geltungsbereich der transzendentalen synthetischen<br />
Grundsätze der Kategorien beschränkt. Ob darüber hinaus die Aussage<br />
aufgrund extensionaler oder intensionaler Begriffsverhältnisse als wahr<br />
oder als falsch behauptet werden kann, ist hier für Kant also nicht mehr<br />
die allein entscheidende Frage, sondern inwiefern die verstandesgemäße<br />
Verknüpfung empirischer Begriffe — wenn auch erst in einem beliebig<br />
wiederholbaren Experiment, das ihrerseits die Konstanz der Natur<br />
metaphysisch voraussetzt — ihre Notwendigkeit in der Erfahrung<br />
(assertorisch) und in der Theorie (problematisch) gleichermaßen<br />
demonstrieren kann. Dazu setzt Kant aber nunmehr das Kategoriengerüst<br />
voraus, und nur mehr dieses kann im strengen Sinne apodiktisch<br />
behauptet werden, sodaß der Obersatz der empirischen Postulate nicht<br />
mehr problemtisch wie in jeder empirischen Einzelwissenschaft, sondern<br />
selbst schon apodiktisch gelten können muß. Daß das Mögliche in der<br />
Erfahrung den Bedingungen der Kategorien gehorcht (eine apodiktische<br />
Aussage), garantiert für jedes wirklich assertorische (empirisch und<br />
logisch wahre) Urteil die Nachvollziehbarkeit der Richtigkeit: 490<br />
»Erfahrung ist schon ein System der Wahrnehmungen und enthält ein<br />
Princip der Möglichkeit der Erfahrung die nur Eine seyn kan. Denn<br />
Erfahrungen zu machen ist ein hysteron proteron der Erkenntnis des<br />
489 AA IX, p. 109<br />
490 Zur Erinnerung. Die emepirischen Postulate lauten: »1. Was mit den formalen<br />
Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach)<br />
übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen (der<br />
Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem<br />
Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist (existiert)<br />
notwendig.« K. r. V., B 265 f./A 218)
— 543 —<br />
Verstandes welche an die Stelle der Warnehmungen Observation und<br />
Experiment zuvor das Princip der Möglichkeit der Erfahrung gegeben<br />
haben muß.« 491<br />
Der Bereich der Möglichkeit der Erfahrung ist also für jede<br />
Naturwissenschaft jeweils durch Experimente und Beobachtungen genau<br />
abzustecken, um die Formulierung der Aussage in ein bestimmbares<br />
Verhältnis zum möglichen Erfahrungsganzen eines Gegebenen zu bringen.<br />
Die erkenntnistheoretischen Bedingungen eines solchen Verfahrens zur<br />
Begründung einer Bejahung oder Verneinung einer empirisch-konkreten<br />
Aussage für alle Fälle empirischer Erfahrung aus sinnlich-anschaulichen<br />
Erscheinungen anzugeben soll nun die Leistung des Kategoriengerüstes<br />
sein, die ihren Abschluß in der modalen Kategorie besitzt.<br />
3. Daß die Kausalitätskategorie (die ohne Zeitbedingung nur die Vielheit<br />
und Einheit des Daseins ausdrückt) selbst rein genannt wird, kann dann<br />
ihren Grund nicht nur darin finden, weil die Verknüpfung in der<br />
Kausalitätskategorie selbst intellektuell ist und nicht in der Anschauung<br />
selbst gegeben wird, sondern nur mehr, weil diese selbst wieder den bloß<br />
analytischen Grund besitzt, daß ohne dem transzendentalen Prinzip der<br />
Kausalität nicht nur Erkenntnis, sondern eben ein sicherer Begriff aus der<br />
Erfahrung überhaupt unmöglich wäre. Die hier bedeutete Art<br />
transzendentaler analytischer Begründung ist nun eine ganz andere, als<br />
die im Argument der rein rationalen Metaphysik der metaphysischen<br />
Anfangsgründe der Naturwissenschaften: Nunmehr wird die<br />
Kausalitätskategorie analytisch gleich dem ganzen Vermögen, mit<br />
objektiver Gültigkeit über Realität urteilen zu können, insgesamt<br />
vorausgesetzt — die Kompossibilität der Dinge ist mit der Kompatibilität<br />
der Vermögen zu ergänzen, die zur modalen Bestimmung der Kenntnisse<br />
in der Kategorie nötig sind. Deshalb spricht Kant auch immer nur von<br />
einer synthetischen Metaphysik, die in Transzendentalphilosophie zu<br />
verwandeln sei, obwohl in den M.A.d.N. doch nur analytisch vorgegangen<br />
wird. Auch insofern ist die Kritik Konrad Cramers zu Recht erfolgt, der<br />
eine solche Verwendung der »Reinheit« allein auf Grund der<br />
Transzendentalität nicht für zulässig hält, obgleich die Kausalität selbst<br />
nicht anschaulich genannt werden kann. Cramers Kritik bezieht sich<br />
darauf, daß, ungeachtet der zweiseitigen Transzendentalität der Kausalität<br />
491 BENEDIKT 1977, Phil. Emp., Theorie, p. 392: AA XXII, p. 446 f.
— 544 —<br />
(in subjektiver wie in objektiver Deduktionsrichtung) und ungeachtet der<br />
trivialen Unanschaulichkeit der Kausalität, wegen des Umstandes, daß das<br />
Satzsubjekt im synthetischen Grundsatz (Alle Veränderung hat eine<br />
Ursache) nicht rein genannt werden kann (wenn auch einer logischen<br />
Definition fähig), der synthetische Grundsatz der Kausalität nur ein nichtreines<br />
synthetisches Urteil a priori heißen kann. Diese Überlegung hat<br />
einiges für sich, zumal auch gesagt werden kann, daß die Erweiterung<br />
zum Commercium zum Zusammengefügtsein mehrerer ungleichartiger<br />
Naturen eine metaphysische Überlegung ist, die nicht völlig dem engen<br />
Begriff von sinnlich kontinuierlicher Erfahrung, welcher in der<br />
transzendentalen Analytik der ersten Kritik vorausgesetzt wird, entspricht,<br />
auch wenn das Konzept des Gegenwärtigen weiterhin als Grundlage einer<br />
solchen Erweiterung in Stellung bleiben muß (vgl. die Bemerkungen zur<br />
Einbildungskraft im Anschluß). So wird auch mit der Erweiterung des<br />
alternativ subjektiven oder objektiven Gebrauchs des Begriffes<br />
»transzendental« zu »intelligibel« in der praktischen Bemächtigung des<br />
analytischen Verfahrens der Gebrauch des Begriffes »Reinheit« nicht allein<br />
im Sinne als Reinheit von empirischer Sinnlichkeit der Wahrnehmungen<br />
verstanden werden können (in weiterer Folge der Untersuchung der<br />
Seelenvermögen wird der Terminus »rein« auch die Reinheit von<br />
pathologischen Begierden bedeuten müssen). Je nach dem kann demnach<br />
offensichtlich beiden Fassungen des Gebrauchs des Terminus »Reinheit«<br />
als in sich folgerichtig zugestimmt werden, ohne deshalb einen<br />
unauflösbaren Widerspruch nach sich zu ziehen, ist man sich nur über die<br />
Vorausetzungen des Gebrauchs im Klaren.<br />
Keinesfalls aber vermag eine Aussage, die ein empirisch-konkretes<br />
Naturgesetz formuliert, als wirklich apodiktisches Urteil, sondern muß<br />
immer nur als Anspruch auf Allgemeinheit erhebend verstanden werden;<br />
apodiktische Urteile bleiben nur den selbst singulär bleibenden abstrakten<br />
Aussagen über die Kategorien vorbehalten: Apodiktisch ist die<br />
Behauptung im ersten empirischen Postulat, worin das Mögliche der<br />
Erfahrung überhaupt (das Kontingente überhaupt) den Kategorien der<br />
Erfahrung unterstellt wird. Das zweite empirische Postulat ist genau<br />
besehen eigentlich elliptisch und überfüllt zugleich formuliert: Ein<br />
assertorisches Urteil (mit materialer Bedingung: sinnlicher Empfindung<br />
zusammenhängend) ist nicht ohne dem ersten Postulat als Wirklichkeit<br />
aussagend zu nennen, und somit kein unabhängiger Untersatz, weil<br />
gemeinsam mit dem ersten Postulat ein überfüllter Satz, ohne ihn ein
— 545 —<br />
elliptischer Satz, der zur Bestimmung der Wirklichkeit allein mittels<br />
Sinnlichkeit transzendentalphilosophisch nicht zureichend ist. Das dritte<br />
Postulat sagt nach näherer Analyse nichts anderes aus als das erste<br />
Postulat; mit einer einzigen Ausnahme: die sinnliche Assertion als Reales<br />
(hier auf unbefriedigende Weise als Wirkliches gekennzeichnet) weist den<br />
Aussagegehalt des ersten empirischen Postulates nicht unbestimmt wie die<br />
allgemeine Aussage desselben auf den ganzen Bereich empirischmöglicher<br />
Aussagen an, sondern hebt eine ausgezeichnete empirische<br />
Aussage anhand der darin enthaltenen Beziehung auf eine sinnliche<br />
Beziehung aus der Menge aller empirisch-möglicher Aussagen heraus. Da<br />
die konstitutive Kategorie anhand der Antizipation die Intensität einer<br />
Empfindung bereits beinhaltet, wird ansonsten vom dritten empirischen<br />
Postulat nicht mehr ausgesagt als vom ersten Postulat, außer eben die<br />
Aktualität einer bestimmten sinnlichen Empfindung, worüber ausgesagt<br />
wird, bzw. welche in der jeweiligen empirischen Aussage als<br />
Bedeutungselement enthalten ist. Der modale Unterschied zwischen<br />
erstem und dritten empirischen Postulat beschränkt sich demnach darauf,<br />
daß ersteres allgemein über Allgemeines, letzteres allgemein über<br />
besonderes aussagt. Gemeint war von Kant aber vermutlich etwas ganz<br />
anderes: Nämlich im Schlußsatz den Zusammenhang zwischen den<br />
transzendentalen und realmöglichen Sätzen (dem ganzen Denken), die als<br />
erstes empirisches Postulat gelten könnten, durch Verknüpfung der Sphäre<br />
der ganzen Sinnlichkeit anhand der empirischen Assertation im Untersatz<br />
auch die Geltung des Schlußsatzes im Zusammenhang mit der ganzen<br />
Erfahrung zu behaupten (drittes empirisches Postulat).<br />
Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten hingegen kann bezüglich der<br />
Kontingenz nicht ohne vorhergehende Abstraktion, die auf das<br />
Allgemeine geht, das als Prinzip in Vernunftschlüssen dienen kann,<br />
angewendet werden. Wie schon Aristoteles deutlich gemacht hat: von<br />
Allgemeinen allgemein aussagen betrifft streng genommen das<br />
Notwendige und das Unmögliche, aber nicht das Mögliche. 492 Das ist<br />
zwischen folgenden Zitaten Kants durchaus nachzuvollziehen: Die<br />
Gegenüberstellung von »Alles ist notwendig, schlechthin oder bedingt.« 493<br />
492 Aristoteles Definition des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten lautet bekanntlich:<br />
»Handelt es sich um das, was ist, und um das, was gewesen ist, so ist es notwendig,<br />
daß entweder dei Bejahung oder die Verneinung wahr oder falsch sei,;und bei dem,<br />
was vom Allgemeinen allgemein [ausgesagt wird], daß das eine immer wahr, das<br />
andere falsch ist.« (Hermeneia, 9, 18a28-31)<br />
493 Rfl. 5196, AA XVIII, p. 115, etwa 1776-78
— 546 —<br />
und »Alles, was geschieht, ist hypothetisch notwendig.« 494 macht anhand<br />
des Begriffes vom Geschehen (also der die Kontingenz auszeichnenden<br />
Zeitlichkeit) eben den nämlichen Unterschied aus, den Aristoteles im<br />
herangezogenen Zitat hinsichtlich des Satzes vom ausgeschlossenen<br />
Dritten allein mit dem Ausschluß der Aussagen über die Kontingenz<br />
gekennzeichnet hat. Die Kategorien sind demnach Formulierungsregeln<br />
für Aussagen, deren Notwendigkeit auch durch Verhältnisse in der Zeit<br />
bedingt sind, und somit erst erklären, weshalb auch Aristoteles den Satz<br />
vom ausgeschlossenen Dritten nicht nur solche Fälle gelten hat lassen, wo<br />
vom Allgemeinen allgemein im Sinne das bloße Sein betreffend ausgesagt<br />
wird: »Daher ist der Satz: nichts geschieht durch ein blindes Ungefähr, (in<br />
mundo non datur casus,) ein Naturgesetz a priori; imgleichen, keine<br />
Notwendigkeit in der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin<br />
verständliche Notwendigkeit (non datur fatum). Beide sind Gesetze, durch<br />
welche das Spiel der Veränderungen einer Natur der Dinge (als<br />
Erscheinungen) unterworfen wird, oder, welches einerlei ist, der Einheit<br />
des Verstandes, in welchem sie allein zu einer Erfahrung, als der<br />
synthetischen Einheit der Erscheinung, gehören könnte. Diese beiden<br />
Grundsätze gehören zu den dynamischen. Der erstere ist eigentlich eine<br />
Folge des Grundsatzes von der Kausalität (unter den Analogien der<br />
Erfahrung). Der zweite gehört zu den Grundsätzen der Modalität, welche<br />
zu den Kausalbestimmungen noch den Begriff der Notwendigkeit, die aber<br />
unter einer Regel des Verstandes steht, hinzutut. Das Prinzip der<br />
Kontinuität verbot in der Reihe der Erscheinungen (Veränderungen) allen<br />
Absprung (in mundo non datur saltus), aber auch in dem Inbegriffe aller<br />
empirischen Anschauungen im Raume alle Lücke oder Kluft zwischen<br />
zwei Erscheinungen (non datur hiatus); denn so kann man den Satz<br />
ausdrücken: daß in der Erfahrung nichts hinein kommen kann, was<br />
einvacuum bewiese, oder auch nur als einen Teil der empirischen<br />
Synthesis zuließe. [...] Diese vier Sätze (in mundo non datur hiatus, non<br />
datur saltus, non datur casus, non datur fatum) könnten wir leicht, so wie<br />
alle Grundsätze transzendentalen Ursprungs, nach ihrer Ordnung, gemäß<br />
der Ordnung der Kategorien vorstellig machen, und jedem seine Stelle<br />
beweisen [...]. Sie vereinigen sich aber alle lediglich dahin, um in der<br />
empirischen Synthesis nichts zuzulassen, was dem Verstande und dem<br />
kontinuierlichen Zusammenhange aller Erscheinungen , d. i. der Einheit<br />
seiner Begriffe, Abruch oder Eintrag tun könnte. Denn er ist es allein,<br />
494 K.r.V., Widerlegung des Idealismus, B 280/A 228
— 547 —<br />
worin die Einheit der Erfahrung, in der alle Wahrnehmungen ihre Stelle<br />
haben müssen, möglich wird.<br />
Ob das Feld der Möglichkeit größer sei, als das Feld, was alles Wirkliche<br />
enthält, dieses aber wiederum größer, als die Menge desjenigen, was<br />
notwendig ist, das sind artige Fragen, und zwar von synthetischer<br />
Auflösung, die aber auch nur der Gerichtsbarkeit der Vernunft anheim<br />
fallen [...].« 495<br />
Nur weil nicht mehr der Horizont des kontinuierlich Gegenwärtigen<br />
(Anwesen) das alleinige Fundament der Reflexion ausmacht, kann aber<br />
nicht die Weise der Abwesenheit, ob anderswo, vergangen, möglich<br />
zukünftig, gewünscht oder befürchtet, in die Indifferenz angeblicher<br />
Ununterscheidbarkeit verstoßen werden, oder wie in den Kantschen<br />
Antinomien im Falle des Regressus dennoch alleine der Kontinuität der<br />
sinnlichen Erfahrungsbedingung unterstellt werden. Dort wird man<br />
einsehen müssen, daß der Regressus der Zeit nach zwar in der<br />
Rekonstruktion immer der nämlichen Kontinuitätsbedingung der<br />
Erfahrung bedarf, selbst aber einer logischen Kontinuitätsbedingung<br />
bedürftig ist, die nicht länger wie in der Kausalitätskategorie in der<br />
Konsequenz mit der Kontinuitätsbedingung der Sinnlichkeit<br />
zusammenfallen kann.<br />
❆<br />
Die antinomische Struktur der transzendentalanalytisch und synthetischmetaphysisch<br />
geführten Argumentation der transzendentalen Deduktion<br />
der reinen Verstandesbegriffe zwischen Verstand und Anschauung, die —<br />
so wie ich behaupte — das Schematismuskapitel wie die synthetischen<br />
Grundsätze umfaßt, zeichnet sich in dieser Aporie der Bestimmung, was<br />
die »Reinheit« der Kategorie zu bedeuten vermöchte, bis zuletzt durch. Die<br />
bloße »Reinheit« der Kategorie im hier als das »Correlat der modalen<br />
Reflexion« in einem bloß logisch bezeichneten Sinne vermag allerdings<br />
ohne den anderen Kategorien nicht den Grund des Überganges von der<br />
subjektiven zur objektiven Deduktionsrichtung anzugeben, hat aber selbst<br />
vor jeder Erörterung der Dialektik der bloßen Vernunft weder dasjenige<br />
zum Substrat, was transzendentallogisch im Ideal der reinen Vernunft dem<br />
Begriff vom einzelnen Gegenstand oder in der kategorialquantitativen<br />
495 B 280 f./A 228 f. (Hervorhebung von mir)
— 548 —<br />
Bestimmung prädikativ dem Ding, nicht einmal, was der bereits<br />
vorkritischen modalkategorialen Bestimmung des Veränderlichen zur<br />
Sukzessivität als zur Verknüpfung Tauglichem zum Substrat<br />
vorausgesetzt worden ist, sondern transzendentalanalytisch gleich das<br />
Dasein subjektiv als Vernunftraum aller Vermögen — und letztlich nicht<br />
nur der Erkenntnisvermögen 496 — zum Gegenstand.<br />
Mit dem subjektiven Ursprung der selbst verstandesgemäßen Totalität der<br />
Vernunftbegriffe werde ich mich im fünften und sechstem Abschnittes<br />
näher beschäftigen. Im anschließenden vierten Abschnitt soll auch zum<br />
Zusammenhang der Kategorie des Quantums mit der modalen Kategorie<br />
das Notwendige gesagt werden.<br />
496 Michael Benedikt behandelt deshalb komplementär das Problem der Vollständigkeit<br />
der »absoluten Einheit« der Erfahrung (Zum Primat theoretischer Vollständigkeit):<br />
»Die Zielvorstellung unserer denkbaren Erkenntnisbedingungen in ihrer<br />
erfahrungsmäßigen Verwirklichung auf Vollständigkeit hin besteht nämlich nicht in<br />
Form eines Rahmens oder „Fachwerk(s)“, in welches „das Empirische, was die<br />
Naturforschung liefern mag, nach Principien gestellt werden und so die Physik auf<br />
den Werth eines Systems Anspruch machen kann“ (Kant, O. p., AA XXI, p. 169).<br />
Diese Erkenntnisbedingung eines „framework“(P. F. Strawson, in: Individuals,<br />
London 1959, S. 24 ff., oder: Bounds of Sense, London 1966, S. 15 ff.) „analytisch“<br />
(O. p., AA XXI, p. 539) dem „Experiment“ und dessen Dialektik von Widerlegung<br />
und Bewährung entgegenzustellen, ist es also nicht, was Kant nennt: eine<br />
„Erfahrung anzustellen“(O. p., p. 478).«. (cit. op. p. 369). — Es zeigt sich, daß der<br />
Erfahrungsbegriff nach dem Verhältnis von Befindlichkeit (Gefühl) und Vernunft<br />
weiter auszulegen ist, als der Übergang von Verstand zur Vernunft im Rahmen der<br />
Kritik der theoretischen Vernunft allein vorzustellen vermag.