analytik und die dialektik der substanz
analytik und die dialektik der substanz analytik und die dialektik der substanz
Zweiter Abschnitt METAPHYSIK ALS AUSGANGSPUNKT UND GRENZE DER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE: ANALYTIK UND DIE DIALEKTIK DER SUBSTANZ
- Seite 2 und 3: -— 80 —
- Seite 4 und 5: -— 82 — der bewußten Seele aus
- Seite 6 und 7: -— 84 — transzendentalidealisti
- Seite 8 und 9: -— 86 — 2. Die ontotheologische
- Seite 10 und 11: -— 88 — Satz behauptet Leibniz:
- Seite 12 und 13: -— 90 — bezieht sich unter der
- Seite 14 und 15: -— 92 — Nochmals ist die Frage
- Seite 16 und 17: -— 94 — existiturire der Mögli
- Seite 18 und 19: -— 96 — Stellung als Attribut d
- Seite 20 und 21: -— 98 — bedeuten können als di
- Seite 22 und 23: -— 100 — Attribut als notwendig
- Seite 24 und 25: -— 102 — Das grammatikalische A
- Seite 26 und 27: -— 104 — Bedeutung der Aussage
- Seite 28 und 29: -— 106 — Das »Zugleichsein« i
- Seite 30 und 31: -— 108 — auch der verlaufenden
- Seite 32 und 33: -— 110 — desselben sein Gegente
- Seite 34 und 35: -— 112 — competunt. 2. sucessio
- Seite 36 und 37: -— 114 — monadologisch als blo
- Seite 38 und 39: -— 116 — mögliche Prädikate e
- Seite 40 und 41: -— 118 — Widerspruch als die Re
- Seite 42 und 43: -— 120 — (im Rahmen des Komposs
- Seite 44 und 45: -— 122 — Der behandelte Gegensa
- Seite 46 und 47: -— 124 — Zeitreihe der Vorstell
- Seite 48 und 49: -— 126 — für die Vollständigk
- Seite 50 und 51: -— 128 — Fall mehr oder weniger
Zweiter Abschnitt<br />
METAPHYSIK ALS AUSGANGSPUNKT UND GRENZE<br />
DER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE:<br />
ANALYTIK UND DIE DIALEKTIK DER SUBSTANZ
-— 80 —
-— 81 —<br />
I. PRINCIPIUM CONTRADICTIONIS UND<br />
ZUGLEICHSEIN:<br />
DIE LOGISCHEN UND DIE METAPHYSISCHEN<br />
BEDINGUNGEN DER WAHRHEIT<br />
1) Principium contradictionis <strong>und</strong> Zugleichsein als<br />
Bestimmungsstücke des Horizontes <strong>der</strong> Wahrheit<br />
Ich möchte <strong>die</strong> Idee von <strong>der</strong> Totalität nochmals anhand eines Seitenstückes<br />
zur Monadologie hinsichtlich <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Vorstellung einer mit<br />
Strebung begabten Seinsweise <strong>der</strong> Möglichkeit ergebenden<br />
Gesichtspunktes darstellen. In verschiedener Hinsicht hat Leibniz in den<br />
Generales Inquistitiones ausgehend von Aristoteles <strong>die</strong> Möglichkeit<br />
untersucht; das bemerkenswerteste Ergebnis für <strong>die</strong> Logik ist <strong>die</strong><br />
Unterscheidung <strong>der</strong> Modalität von Begriffen <strong>und</strong> von Aussagen. 1 Hier soll<br />
<strong>die</strong> Möglichkeit des Zugleichseins einerseits vom existierenden Conatus,<br />
an<strong>der</strong>erseits von einer hypostasierten Strebung nicht verwirklichter<br />
Möglichkeiten im schöpferischen (gottähnlichen) Verstand unterschieden<br />
werden. Im Rahmen <strong>der</strong> sogenannten »24 Sätze« zeigt sich, daß <strong>der</strong> Satz<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch ohne dem Begriff <strong>der</strong> Folge nicht zureichend mit <strong>der</strong><br />
Kompossibilität des Zugleichseienden in Verbindung gebracht werden<br />
kann. Überhaupt wird eine Zeitorientierung über das Zugleichsein <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> andauernden Gegenwart hinausreichend entwickelt, <strong>die</strong> Kant erst<br />
später in den Antinomien <strong>der</strong> kosmologischen Ideen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Auflösung<br />
anspricht.<br />
Zu <strong>die</strong>ser Einteilung <strong>der</strong> Horizonte des Möglichen kommt im<br />
Paralogismus eine weiterere Art von Horizonten hinzu: Die Subreption <strong>der</strong><br />
Bestimmungen des Daseins zu Bestimmungen <strong>der</strong> Substanz insbeson<strong>der</strong>e<br />
in <strong>der</strong> ersten Fassung des zweiten Paralogismus bringt <strong>die</strong> bewußte Seele<br />
in Zusammenhang mit dem Konzept des Conatus als Strebung einer<br />
Substanz. Die Wi<strong>der</strong>legung des Paralogismus reicht nicht zu, <strong>die</strong> Strebung<br />
1 G. W. Leibniz, Generales inquisitiones de analysi notionum et veritatum, 1686,<br />
ertmals veröffentlicht von L. Couturat, Paris 1903, p. 356-399 Allgemeine<br />
Untersuchungen über <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong> Begriffe <strong>und</strong> Wahrheiten. Hrsg, von Franz<br />
Schupp, Hamburg 1982 (Meiners Phil. Bibl. 338), im Kommentar von Schupp p. 227 f.:<br />
Und zwar anhand <strong>der</strong> Schwierigkeit im Begriffskalkül, wo »möglich« gleich mit<br />
»wahr« gilt, ohne notwendigerweise »existierend« bedeuten zu müssen, während im<br />
Aussagenkalkül gilt: möglich=wahr=existierend
-— 82 —<br />
<strong>der</strong> bewußten Seele auszuschalten, doch soll <strong>die</strong>se Strebung unterschieden<br />
sein vom Conatus <strong>der</strong> pathologischen Begierden. Zwischen <strong>der</strong><br />
intelligiblen Ursächlichkeit <strong>der</strong> Strebung <strong>der</strong> bewußten Seele in <strong>der</strong><br />
rationalen Psychologie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ursächlichkeit des Conatus <strong>der</strong><br />
pathologischen Begierden gibt erst <strong>die</strong> transzendentale Freiheit des<br />
transzendentalen Subjektes dem Willen eine Schar von Horizonten des<br />
Möglichen zur weiteren Bestimmung (Vgl. den Interpretationsspielraum<br />
des »Reiches <strong>der</strong> Zwecke« zwischen dem Menschen als »Zweck an sich«<br />
<strong>und</strong> einem von technisch-praktischen Zwecken bis zu rein praktischen<br />
Zwecken aufgestuften System <strong>der</strong> Zwecke).<br />
Die Bestimmung <strong>der</strong> Substanz zur Materie <strong>der</strong> Erfahrungsobjekte kehrt<br />
dann wie<strong>der</strong> zum Horizont des Zugleichseins zurück (Anwesen),<br />
allerdings wird in <strong>der</strong> durchlaufenden Gegenwart eines series rerum<br />
betrachtet <strong>der</strong> Horizont <strong>der</strong> Gegenwart einerseits in Richtung des<br />
Regressus erweitert wie auch schon zu metaphysische Anfangsgründe <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften als komparative Allgemeinbegriffe in <strong>die</strong> endgültige<br />
Form gebracht, indem <strong>die</strong>se als aus <strong>der</strong> fiktivien Position des Endes <strong>der</strong><br />
Zeit vergangen gesetzten Zeit gerechtfertigt gesetzt werden. Hier<br />
unterscheidet Kant ganz deutliche transzendentale Deduktion <strong>und</strong><br />
metaphysische Deduktion. Nach einem Versuch zur Idealität des<br />
Zugleichseins als reine Anschauungsform wende ich mich <strong>der</strong><br />
f<strong>und</strong>amentalontologischen Untersuchung <strong>der</strong> Temporalität des<br />
Daseinshorizontes zu, <strong>der</strong>en Öffnung zu den Formen <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong><br />
Geschichte Heidegger mit <strong>der</strong> bloß subjektivistischen Zeitigung<br />
verabsäumt, <strong>und</strong> so nur zu einem unzureichenden Wahrheitsbegriff<br />
gelangt. Die Horizontbestimmung des Möglichen wird auch bei Heidegger<br />
fortgesetzt, wenn auch in <strong>der</strong> Form einer transzendentalsubjektivistischen<br />
Umstülpung des Idealismus <strong>der</strong> reinen Intelligibilität des »ich denke« zu<br />
einer Art von F<strong>und</strong>amentalontologie des Daseins: Das Anwesen wird<br />
gegenüber dem für sich selbst als mögliche Anschauungsform je nur<br />
punktuell <strong>und</strong> nur Schritt für Schritt als Kontinuität bestimmbaren<br />
Zugleichsein schließlich zur Ankündigung des angeblich<br />
geschichtsmächtigen »Seyns« überhöht. Der Anwendungskreis des Satzes<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch bleibt zwischen Seinshermeneutik <strong>und</strong> Urteilslehre<br />
unterbestimmt, was von <strong>der</strong> Verbindung des principium contradictionis<br />
sowohl zur Kompossibilität des Zugleichseins wie mit den Folgen im<br />
jeweils Zukünftigen, wie Leibniz, <strong>und</strong> in Dialektik <strong>der</strong> Vernunftbegriffe
-— 83 —<br />
auch Kant vorstellig machen, nicht behauptet werden kann (Vgl. hier <strong>die</strong><br />
übernächsten Kapitel).<br />
Der Ausschnitt aus dem Seitenstück zur Monadologie (24 Sätze) gerät<br />
einmal im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Theodizee zur analytischen<br />
Herausstellung <strong>der</strong> Vernünftigkeit als praktische Vernunft (das Maximum<br />
ist nicht immer das Bestmögliche), ein an<strong>der</strong>mal im Zusammenhang mit<br />
<strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Existenz nach dem Kompatibilitätsprinzip aus den<br />
Generales Inquisitiones zum naturphilosophisch den Schöpfergott beinahe<br />
zum Demiurgen depotenzierenden Selektionsprozess <strong>der</strong> Möglichkeiten.<br />
Allerdings bleibt von Ideen vor ihrer Verwirklichung als Vorstellungen<br />
des Verstandes nur als Strebungen in Form des Conatus zu denken übrig.<br />
Im schöpferischen Verstand hingegen wird gemäß den notwendigen<br />
Wahrheiten, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Verstand wegen <strong>der</strong> Regelmäßigkeit (wahlweise<br />
wegen <strong>der</strong>en Maximierungseigenschaften) aus <strong>der</strong> Indifferenz des<br />
Unvordenklichen heraushebt, <strong>die</strong> Vernunft praktisch; doch aber noch nicht<br />
im Sinne des entwickelten Kants, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Sittlichkeit das Ideal <strong>der</strong> reinen<br />
praktischen Vernunft gesehen hat — Insofern läge hier mit Leibniz <strong>die</strong><br />
ontotheologische F<strong>und</strong>ierung einer praktischen Willensphilosophie vor,<br />
<strong>die</strong> Kant wie Hegel als transzendentale Freiheit unabhängig von<br />
Folgebetrachtung o<strong>der</strong> Maximenbetrachtung ihren Überlegungen zu<br />
Gr<strong>und</strong>e legen.<br />
Nach dem Ausblick auf <strong>die</strong> Horizonte <strong>der</strong> Naturphilosophie ausgehend<br />
vom Drang nach Verwirklichung (existiturire) <strong>und</strong> <strong>der</strong> progressiv ersten<br />
bzw. regressiv letzten Ursache <strong>der</strong> Verwirklichung (existificans), <strong>die</strong> ihren<br />
Ausgang unabhängig vom Horizont des Regressus o<strong>der</strong> des Zugleichseins<br />
besitzen (<strong>die</strong>se aber nicht völlig unabhängig von jenen), beginnen <strong>die</strong><br />
Untersuchungen <strong>der</strong> transzendentalen Analytik <strong>der</strong> Verstandesbegriffe<br />
<strong>und</strong> synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze als Situierung eines neuen <strong>und</strong> eigenen<br />
Horizontes <strong>der</strong> Erfahrung an den sinnlich gegebenen Gegenständen, <strong>die</strong><br />
ihre Kontinuität mit <strong>der</strong> Sinnlichkeit »transzendentalpsychologisch«<br />
bereits mitbringen.<br />
Die Untersuchung <strong>der</strong> transzendentalen Analytik <strong>der</strong> ersten Kritik schließt<br />
an <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong> logischen Voraussetzungen <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Ästhetik insofern an, als daß <strong>die</strong>se nunmehr nach Teilung, Einschränkung<br />
<strong>und</strong> Einteilung mit dem Obersten Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> analytischen Urteile<br />
beginnt. Schließlich beginnt in <strong>die</strong>sem Abschnitt <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong><br />
formalen Dimensionen <strong>der</strong> dynamischen Kategorien, <strong>die</strong> komplementär<br />
zum (synthetisch-)metaphysischen Kompossibiltätsgr<strong>und</strong>satz Leibnizens
-— 84 —<br />
transzendentalidealistisch <strong>und</strong> transzendentalanalytisch erfolgt, während<br />
<strong>die</strong> Bedingungen des principium contradictionis in <strong>der</strong> modallogischen<br />
Überlegung nunmehr <strong>die</strong> Setzung von Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Folgen<br />
vorausgesetzt hat, wonach a posteriori o<strong>der</strong> in Kenntnis des Naturgesetzes<br />
Sätze, <strong>die</strong> über Dinge o<strong>der</strong> Umstände Entscheidbares aussagen, dann<br />
einan<strong>der</strong> logisch wi<strong>der</strong>sprechen (nicht in <strong>der</strong> Natur), wenn <strong>die</strong> Folgen<br />
verschieden wären, wenn den wahren Sätzen kontradiktorisch<br />
entgegengesetzte Sätze mit an<strong>der</strong>en Dingen <strong>und</strong> Umständen als<br />
Satzaussage wahr wären, als sie sind. — Daß <strong>die</strong>se Verbindung zwischen<br />
principium contradictionis, Kompossibilität im Zugleichsein <strong>und</strong><br />
Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Folgen überhaupt besteht, muß ihrerseits den Satz<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch zu Gr<strong>und</strong>e liegen haben (manche nennen das eine<br />
rationale metaphysische Begründung). Die Untersuchung Kants, <strong>die</strong><br />
anhand <strong>der</strong> von <strong>der</strong> sinnlichen Wahrnehmung ausgehenden Erfahrung in<br />
<strong>der</strong> ersten Kritik (primäre Intentionalität) stattfindet, benötigt also (von<br />
woher auch immer) einen logischen Leitfaden, dessen systematische<br />
Rechtfertigung seinerseits ohne transzendentalphilosophischen Ansatz<br />
nicht möglich ist. Es ist festzuhalten, daß Kant systematisch versucht, <strong>die</strong><br />
rationale Metaphysik Leibnizens mit dem transzendentalsubjektivistischen<br />
Argument des frühen Descartes einerseits zu kritisieren <strong>und</strong> zu<br />
präzisieren, an<strong>der</strong>erseits das fehlende durchgehende ontologische<br />
Argument in <strong>der</strong> Architektonik des Entwurfes Leibnizens<br />
transzendentalsubjektivistisch im intelligiblen Subjekt zu ref<strong>und</strong>ieren,<br />
ohne den transzendentalanalytischen Ansatz, <strong>der</strong> zum transzendentalen<br />
Subjekt führt, selbst völlig zu transzendentieren: das hieße, das Subjekt<br />
völlig von <strong>der</strong> Totalität trennen zu können. Spinozistisch mag <strong>die</strong>se<br />
Unterscheidung von allgemein-abstrakt inhaltlich gefaßter<br />
Wi<strong>der</strong>spruchsbedingung <strong>und</strong> Unterschied (Gegensatz dazu: disparat) auch<br />
eine Frage <strong>der</strong> Infinitesimalität <strong>der</strong> inhaltlichen Dimension sein, welche<br />
erst den mittelbaren Durchblick auf <strong>die</strong> eigentliche (sek<strong>und</strong>äre) Substanz<br />
<strong>der</strong> forma als Akzidenz erlaubt, 2 für Leibniz hätte man den aus <strong>der</strong> Sicht<br />
<strong>der</strong> praktischen Vernunft Kants zu kurz gegriffenen Freiheitsbegriff <strong>der</strong> im<br />
Umrissen bereits naturphilosophisch zwischen Physis, Bios <strong>und</strong><br />
Gesellschaft verorteten beseelten Monade allererst von <strong>der</strong> prästabilierten<br />
Harmonie zu befreien, um zum transzendentalen Freiheitsbegriff des<br />
deutschen Idealismus (<strong>und</strong> hierin gehört Kant in <strong>die</strong>ser Frage<br />
2 Vgl. Avicienna <strong>und</strong> Thomas von Aquin in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Unterscheidung von<br />
Akzidenz <strong>und</strong> Unterschied im Rahmen <strong>der</strong> Interpretation nach forma <strong>und</strong> materia.
-— 85 —<br />
unausweichlich), also letztlich zum Freiheitsbegriff Schellings zwischen<br />
gut <strong>und</strong> böse zu gelangen. 3<br />
Allerdings muß Kant nicht nur Metaphysische Anfangsgründe <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften akzeptieren, son<strong>der</strong>n benötigt noch eine rationale<br />
Physiologie zur Rechtfertigung des in seiner Leiblichkeit <strong>und</strong> sinnlichen<br />
Organisation empirischen Subjekts; erst dessen gesetzte Gleichrangigkeit<br />
mit Fragen <strong>der</strong> Soziologie <strong>und</strong> Geschichte umfaßt <strong>die</strong> von Kant<br />
eingeschlagenen Grenzpflöcke <strong>der</strong> Vernunft zwischen <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong><br />
Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft, <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten einerseits <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> transzendentaler Kritik aller Seelenvermögen an<strong>der</strong>erseits. In <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong>idee umfaßt <strong>die</strong>s bereits <strong>die</strong> psychologische Idee mit <strong>der</strong> Differenz<br />
von personaler <strong>und</strong> formaler Identität zwischen erster <strong>und</strong> zweiter<br />
Fassung <strong>der</strong> Paralogismen, was freilich <strong>die</strong> Idee von einer reinen <strong>und</strong><br />
einfachen Substanz nicht nur für den Seelenbegriff vor dem Gerichtshof<br />
<strong>der</strong> Vernunft ein erstes Mal zwischen Dasein <strong>und</strong> Subjekt in Frage stellt.<br />
Ich werde versuchen zu zeigen, daß Kant sowohl in <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Analytik des Verstandesgebrauches (reine Verstandesbegriffe <strong>und</strong><br />
synthetische Gr<strong>und</strong>sätze a priori) wie in <strong>der</strong> Ideenlehre (transzendentale<br />
Analytik <strong>der</strong> reinen Dialektik <strong>der</strong> reinen Vernunft) auf <strong>die</strong><br />
Voraussetzungen <strong>der</strong> Leibnizianischen Metaphysik (wie teilweise auch auf<br />
<strong>die</strong> Philosophie von Christian Wolff) nicht völlig verzichten konnte. M. a.<br />
W., Kant vermag Leibniz, auch dort wo Leibniz für Kant relevant ist, nicht<br />
vollständig zu transformieren, weil Leibniz schließlich selbst das<br />
Bestmögliche als Leitidee <strong>der</strong> Entscheidungsgründe Gottes in <strong>der</strong><br />
Schöpfungsgeschichte <strong>der</strong> Theozidee <strong>der</strong> Gefährdung durch den bloßen<br />
Ästhetizismus <strong>der</strong> prästabilierten Harmonie aussetzt, <strong>und</strong> so den Schritt<br />
zur Willensphilosophie in seinem transzendentalphilosophischen Ansatz<br />
<strong>der</strong> Zusammenfügung <strong>der</strong> verschiedenen Naturen im Inneren wie im<br />
Äußeren <strong>der</strong> beseelten Monade gerade nicht machen kann. Für Leibniz<br />
kann letztenendes we<strong>der</strong> <strong>die</strong> Zentralmonade noch <strong>die</strong> beseelte Monade zur<br />
transzendentalen Freiheit gelangen — eben eine Folge <strong>der</strong> prästabilisierten<br />
Harmonie als oberste Leitidee.<br />
3 Von Kants Schrift »Von <strong>der</strong> Religion in den Grenzen <strong>der</strong> Vernunft« zu Schellings<br />
transzendentaler Freiheitschrift.
-— 86 —<br />
2. Die ontotheologische Lösung des Problems bei Leibniz.<br />
O<strong>der</strong>:<br />
Der Gr<strong>und</strong>, warum eher das existiert, als etwas an<strong>der</strong>es<br />
a) Die Beziehung zur Transzendentalphilosophie<br />
Zum exponierten Konzept <strong>der</strong> verschiedenen Horizonte <strong>der</strong> Wahrheit<br />
gehört offenbar immer eine formal mehr o<strong>der</strong> weniger darstellbare<br />
Zeitbedingung, welche den Horizont <strong>der</strong> inhaltlichen Bestimmbarkeit vor<br />
je<strong>der</strong> Kausalität o<strong>der</strong> inhaltlichen Begründung einer Regel o<strong>der</strong> einens<br />
Gesetzes erst festlegt. In den sogenannten »Vier<strong>und</strong>zwanzig Sätzen« 4 stellt<br />
Leibniz einen Versuch vor, zwischen <strong>der</strong> Idee des aristotelischen ersten<br />
unbewegten Bewegers <strong>und</strong> <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> creatio ex nihilo zu vermitteln. Im<br />
Vergleich mit den Untersuchungen in <strong>der</strong> Theozidee wird <strong>die</strong> Gottheit als<br />
Demiurg gegenüber dem Unvordenklichen auf eine Weise in Stellung<br />
gebracht, <strong>die</strong> erstens ebenfalls nicht von einer creatio ex nihilo zu sprechen<br />
erlaubt, zweitens aber dennoch entgegen Plato <strong>und</strong> Aristoteles einen<br />
Anfang <strong>der</strong> Schöpfung denken läßt. Drittens bleibt Gott in <strong>die</strong>sem Entwurf<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Schöpfung erste Ursache, nach Bayle aber nicht<br />
hinsichtlich seiner eigenen Existenz. In den »Vier<strong>und</strong>zwanzig Sätzen«, <strong>die</strong><br />
als Seitenstück <strong>der</strong> Monadologie-Schrift gelten, <strong>die</strong> vermutlich noch später<br />
als <strong>die</strong>se abgefaßt worden ist, wird meiner Auffassung nach eben <strong>die</strong>se<br />
Differenz als Differenz von »existificans« als seinsvermitteln<strong>der</strong><br />
Schöpfergott o<strong>der</strong> bloß als Demiurg (erste Ursache) <strong>und</strong> »existiturire«<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Strebung bloßer Möglichkeiten (Ideen) behandelt, <strong>die</strong> für<br />
sich noch nicht an Realität <strong>und</strong> verwirklichter Existenz geb<strong>und</strong>en sind,<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> selbst vom göttlichen Verstand unabhängige Gr<strong>und</strong>lagen vor dem<br />
»existiturire« besitzen. Im Zuge <strong>der</strong> Darstellungen <strong>der</strong> Prinzipien, <strong>die</strong> erst<br />
aus dem Unvordenklichen herauszuhebenden notwendigen Wahrheiten<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten überhaupt im göttlichen Verstand zur Verwirklichung<br />
im Sinne <strong>der</strong> »Schöpfung« als Anfang von Raum <strong>und</strong> Zeit geführt haben<br />
sollen, findet Leibniz ab dem siebten Satz <strong>die</strong> Bestimmung des letzten<br />
Abschnitts des Werdens zur Schöpfung, <strong>die</strong> zugleich <strong>der</strong>en<br />
charakteristische Zeitlichkeit selbst als series rerum ist, jedoch von Leibniz<br />
komplementär mit <strong>der</strong> Bedingung des Zugleichsein verb<strong>und</strong>en wird.<br />
Anhand <strong>der</strong> Aussagen zur Kompossibilität in den Generales Inquisitiones<br />
4 Gerhardt, Bd. VII, Kap. VIII, p. 289 ff.. Dr. Wolfgang W. Priglinger hat mir<br />
fre<strong>und</strong>licherweise seine Übersetzung zur Verfügung gestellt.
-— 87 —<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Berücksichtigung <strong>der</strong> weiteren Sätze bis zum elften Satz werde ich<br />
zeigen, daß <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch auf zweifache Weise indirekt mit<br />
<strong>der</strong> Bedingung des Zugleichseins, wie Leibniz sie im siebten Satz einführt,<br />
<strong>und</strong> in den anschließenden Sätzen weiterentwickelt, verb<strong>und</strong>en ist. Das<br />
fehlende Zwischenglied ist aber we<strong>der</strong> causa finalis noch causa efficiens;<br />
also we<strong>der</strong> teleologisch verstandene Kausalität aus dem Begriff noch<br />
einfach mit <strong>der</strong> Kausalitätskategorie aus <strong>der</strong> Analytik des<br />
Verstandesgebrauches in <strong>der</strong> Erfahrung darstellbar. Vielmehr wird <strong>der</strong><br />
Folgebegriff, in engerem, wenngleich auch sich logisch voneinan<strong>der</strong><br />
abesetzenden Verhältnis mit einer allgemeineren Idee von Ursache <strong>und</strong><br />
Wirkung verb<strong>und</strong>en sein, <strong>der</strong> im Gesetzesbegriff doch über <strong>die</strong><br />
theoretische <strong>und</strong> praktische Bewältigung <strong>der</strong> Welt zwischen monde <strong>und</strong><br />
l’universe hinausgehend den Anspruch an ein den Erkenntnisgründen<br />
vorgängiges F<strong>und</strong>ament im transzendentalanalytischen Verfahren<br />
beansprucht. In <strong>die</strong>sem Abschnitt soll unter an<strong>der</strong>em gezeigt werden,<br />
inwieweit Kant <strong>die</strong>ser modallogischen Vorgabe gerecht wird. Jetzt aber<br />
soll unter dem absoluten Standpunkt nicht <strong>die</strong> primäre Intentionalität auf<br />
einen äußeren Gegenstand (ohne metrische Bedingungen) verstanden<br />
werden, son<strong>der</strong>n eine rationale Untersuchung <strong>der</strong> metaphysischen<br />
Gr<strong>und</strong>legung des Satzes vom Wi<strong>der</strong>spruch versucht werden, da das<br />
Bündel <strong>der</strong> Übergänge von <strong>der</strong> rationalen Metaphysik zur<br />
transzendentalanalytischen Untersuchung am nämlichen Punkt — dem<br />
obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile: also dem principium<br />
contradictionis — ins Zentrum <strong>der</strong> theoretischen Aufmerksamkeit rückt.<br />
b) Existificans <strong>und</strong> Existiturire<br />
Setzt man am Gr<strong>und</strong>gedanken des ersten Abschnittes fort, so hat sich<br />
unabhängig von den Aufgängen <strong>der</strong> Kontinua von Raum <strong>und</strong> Zeit in <strong>der</strong><br />
Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Totalisierung ihrer Darstellungs- <strong>und</strong><br />
Beschreibungsfunktionen, aber eben auch als Themenkreis relativ<br />
unabhängig von <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> transzendentalen Freiheit, zwei<br />
freilich äquipollente Sphären des Geltungsbereiches von realer <strong>und</strong> idealer<br />
Möglichkeit herausgestellt, <strong>der</strong>en Koordinierung gewissermaßen zum<br />
notwendigen Merkmal möglicher Existenz werden konnte. Auch in <strong>die</strong>ser<br />
Hinsicht ist es beson<strong>der</strong>s bemerkenswert, was Leibniz darlegt. Im siebten
-— 88 —<br />
Satz behauptet Leibniz: Alles Mögliche ist nicht zugleich möglich. 5 Dieser<br />
Satz scheint mir we<strong>der</strong> ein Gegenstand <strong>der</strong> transzendentalen Freiheit noch<br />
<strong>der</strong> göttlichen Willkür im Sinne <strong>der</strong> Theozidee zu sein <strong>und</strong> auch nicht ein<br />
rein moralisches Prinzip <strong>der</strong> praktischen Vernunft zur Bestimmung des<br />
freien Willens. Dieser Satz ist zuerst eine Wahrheit über <strong>die</strong> Möglichkeit<br />
innerhalb einer series rerum überhaupt.<br />
Er ist aber eine Bedingung <strong>der</strong> Verwirklichung wie an<strong>der</strong>e Wahrheiten, <strong>die</strong><br />
Notwendigkeiten (als Gegenteil negierter Möglichkeiten) für alle<br />
möglichen Welten sind. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang gewinnt <strong>der</strong> Begriff<br />
vom metaphysischen Vernunftgr<strong>und</strong> o<strong>der</strong> metaphysischer Notwendigkeit<br />
eine erweiterte Bedeutung: Damit meint Leibniz in <strong>der</strong> Theozidee zuerst<br />
mathematische <strong>und</strong> logische Wahrheiten <strong>und</strong> nicht das absolut<br />
notwendige Sein als erste Ursache wie in den 24 Sätzen. Leibniz vergleicht<br />
nun in <strong>der</strong> Theozidee <strong>die</strong> Gewissheit <strong>der</strong> logischen <strong>und</strong> mathematischen<br />
Wahrheiten mit <strong>der</strong> Gewissheit seiner philosophischen Begriffe, wie <strong>der</strong><br />
Satz vom zureichenden Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> dem Satz vom ununterscheidbaren<br />
Unterschied o<strong>der</strong> nunmehr auch <strong>der</strong> Satz »Alles Mögliche ist nicht<br />
gleichzeitig möglich«. Auf den Status <strong>die</strong>ser Vernunftideen gegenüber<br />
dem absolut notwendigen Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Existenz (<strong>der</strong> philosophisch<br />
allerdings eine Folge des ersten großen Vernunftprinzipes ist: des Satzes<br />
vom zureichenden Gr<strong>und</strong>) ist eigens hinzuweisen: <strong>die</strong>se würden eben<br />
wie<strong>der</strong>um ohne erste Existenz bedeutungslos bleiben. Aber nicht alle<br />
Notwendigkeiten sind in <strong>der</strong> Verwirklichung als Bedingung auf gleiche<br />
Weise <strong>und</strong> an <strong>der</strong> gleichen Stelle des Werdens beteiligt.<br />
Aus <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Existenz in den Generales Inquisitiones kann unter<br />
<strong>der</strong> Voraussetzung einer series rerum eine einfachere Definition des<br />
Zugleichseins abgeleitet werden. Die von Leibniz gegebene Definition<br />
lautet: »„Existierendes“ [könnte] definiert werden [....] als „das, was mit<br />
mehr Dingen kompatibel ist als irgendein an<strong>der</strong>es Ding, daß mit ihm<br />
inkompatibel ist“.« 6<br />
Die Kompatibilität schließt das Zugleichsein mit ein. Diese Definition setzt<br />
nun den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch mittelbar voraus: Zunächst wird <strong>die</strong><br />
Kompatibilität des existierenden Dinges mit <strong>der</strong> Kompatibilität eines zwar<br />
5 7. Satz: Aber daraus folgt nicht, daß alles Mögliche wirklich wird: das könnte<br />
vernünftigerweise nur folgen, wenn alles Mögliche zugleich möglich wäre<br />
(=miteinan<strong>der</strong> zur gleichen Zeit wirklich sein könne),<br />
Verum hinc non sequitur omnia possibilia existere: sequeretur sane si omnia<br />
possibilia essent compossibilia.<br />
6 In den Generales inquisitiones, Zeile 170-74, in Meiner Phil. Bibl. Bd. 338. p. 14/15
-— 89 —<br />
möglichen, aber nicht existierenden Dinges verglichen, das mit dem ersten<br />
inkompatibel ist. Erst <strong>die</strong> vergleichende Analyse <strong>der</strong> Kompatibilität als<br />
solche führt auf den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch. Es stellt sich nun <strong>die</strong> Frage, ob<br />
<strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein vom Satz des Wi<strong>der</strong>spruches abhängt o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Satz vom Wi<strong>der</strong>spruches vom Satz des Zugleichseins. Um sagen zu<br />
können, »Alles Mögliche drängt zur Verwirklichung« (existiturire), 7 muß<br />
<strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein innerhalb einer series rerum unter <strong>der</strong> Form <strong>der</strong><br />
bloßen Möglichkeit vor ihrer Verwirklichung außer Kraft gesetzt werden.<br />
Allerdings heißt das nicht, daß für <strong>die</strong> Erörterung metaphysischer<br />
Prinzipien <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch seine Geltung verloren hätte:<br />
Vielmehr <strong>die</strong>nt <strong>die</strong>ses logische Prinzip dazu, im Rahmen <strong>der</strong><br />
Untersuchung des Conatus, <strong>der</strong> ohne dem Satz vom zureichenden Gr<strong>und</strong><br />
in <strong>der</strong> Indifferenz des Satzes des ununterscheidbaren Unterschiedes zu<br />
verschwinden drohte, aus seiner Stellung in <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong><br />
Charakteristik <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>die</strong> Seinsweise des selbst schöpferischen<br />
Verstandes abzulesen. Ohne den Versuch einer brauchbaren Charakteristik<br />
ist <strong>der</strong> Existenzcharakter des Möglichen nicht selbstständig von <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit unterscheidbar <strong>und</strong> droht mit dem Möglichkeitscharakter <strong>der</strong><br />
gewordenen Wirklichkeit insofern zusammenzufallen, indem <strong>die</strong> Frage<br />
nach dem Gr<strong>und</strong>, warum eher das existiert als etwas an<strong>der</strong>es, sowohl<br />
innerhalb einer series rerum wie außerhalb in Betrachtung von Alternativen<br />
gestellt werden muß, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein selbst sowenig wie<br />
das principium contradictionis einen Gr<strong>und</strong> angeben kann, weshalb eher<br />
<strong>die</strong>se Welt <strong>und</strong> nicht eine an<strong>der</strong>e existiert.<br />
Wendet man nun den Satz des Zugleichseins auf den Satz »Alles Mögliche<br />
drängt zur Verwirklichung« (existiturire) an, so ist <strong>die</strong>ses »zugleich«<br />
trotzdem an Existenz notwendig geb<strong>und</strong>en, jedoch nicht distributiv<br />
geordnet <strong>und</strong> ohne Verhältnisse, in <strong>der</strong> Vielheit einen zeitlichen <strong>und</strong><br />
räumlichen Unterschied zu bestimmen. Um also <strong>die</strong> Deutlichkeit zu<br />
steigern, geht es nicht um <strong>die</strong> Steigerung <strong>der</strong> Kraft <strong>der</strong> ersten Ursache,<br />
son<strong>der</strong>n darum, daß nicht alles Mögliche zugleich möglich (d.h. eben in<br />
Folge, als Wirkliches nicht nur zugleich) sein kann. Diese<br />
Existenzbedingung gibt erst den Ansatzpunkt, den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch<br />
in <strong>der</strong> Erfahrung anzuwenden. Der Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch allerdings<br />
7 6. Satz: Daher kann man sagen „Alles Mögliche drängt zur Verwirklichung“, sowie<br />
es offenbar in einem notwendigen Sein in <strong>der</strong> Wirklichkeit begründet ist, ohne das es<br />
keinen Weg gäbe, auf dem das Mögliche zur Verwirklichung gelangen könne.<br />
Itaque dici potest Omne possibile Existiturire, prout scilicet f<strong>und</strong>atur in Ente<br />
necessario actu existente, sine quo nulla est via qua possibibile perveniret ad actum.
-— 90 —<br />
bezieht sich unter <strong>der</strong> Voraussetzung <strong>die</strong>ser Anwendungsbedingung —<br />
nun das Zugleichsein negierend — auf Existenz im Sinne einer Bedingung<br />
von Folge sein <strong>und</strong> Folgen haben, weil eben ursprünglich <strong>die</strong> Frage nach<br />
<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsfreiheit in Hinblick darauf, ob das Gegenteil des<br />
Seienden an Stelle desselben möglich sei (warum eher <strong>die</strong>ses als jenes), als<br />
Frage nach <strong>der</strong> Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Folgen gegenüber <strong>die</strong>ser Ersetzung zu<br />
stellen ist. Ist <strong>die</strong>se Ersetzung überhaupt ohne Wi<strong>der</strong>spruch in den Folgen<br />
möglich, dann gibt es keinen Gr<strong>und</strong>, nach dem gefragt werden könnte,<br />
warum eher <strong>die</strong>ses ist <strong>und</strong> nicht an<strong>der</strong>es. 8 Jedoch bedeutete <strong>die</strong><br />
verneinende Antwort auf <strong>die</strong> Frage, ob in <strong>der</strong> Folge ein Wi<strong>der</strong>spruch<br />
durch <strong>die</strong> Ersetzung von etwas durch sein Gegenteil auftritt, allein noch<br />
nicht <strong>die</strong> Behauptung <strong>der</strong> Notwendigkeit als Wirklichkeit ihres<br />
Zusammenseins im Zugleichsein in irgendeiner bestimmten Epoche <strong>die</strong>ser<br />
series rerum, sowenig ein reales Zusammensein im Zugleichsein (immer<br />
<strong>der</strong> Nachweis von Kompossibilität trotz realer Antagonismen: eine Folge<br />
<strong>der</strong> prästabilierten Harmonie als Leitidee) <strong>die</strong> Notwendigkeit desselben für<br />
ein bestimmtes Zugleichsein des series rerum zwingend nach sich zieht.<br />
Legt man <strong>der</strong> ontologischen Untersuchung des Satzes vom Wi<strong>der</strong>spruch<br />
<strong>die</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong>, warum eher etwas als nichts ist, zugr<strong>und</strong>e,<br />
dann gilt <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch nur, wenn etwas ist, das Folgen hat.<br />
Aber das Nichts kann keine Folgen haben, folglich ist auch nichts<br />
wi<strong>der</strong>sprüchlich, aber eben auch nicht wi<strong>der</strong>spruchsfrei, son<strong>der</strong>n eben<br />
indifferent. Der Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch setzt also logisch den Satz vom<br />
zureichenden Gr<strong>und</strong> voraus, hat aber erst in etwas, dessen Existenz Folgen<br />
hat, seine ontologische Bedingung. Dieses aber hat für uns <strong>die</strong><br />
Bedingungen des Satzes vom Zugleichsein im Sinne in einem series rerum<br />
sein an sich. Hingegen: Daß nicht alles Mögliche zugleich möglich sein<br />
könne, zeigt am Gebrauch des »möglich sein könnens« als negative<br />
Charakteristik von Wirklichkeit abermals, daß <strong>die</strong> im siebten Satz<br />
enthaltenen Prinzipien sowohl auf Alternativität möglicher Welten wie auf<br />
Alternativität in einer series rerum hin auszulegen sind. Damit wird aber<br />
nur nochmals deutlich, daß das Prinzip vom Wi<strong>der</strong>spruch nicht selbst <strong>die</strong><br />
zureichende Bedingung des Satzes vom Zugleichsein sein kann, da <strong>die</strong><br />
möglichen Welten einan<strong>der</strong> nicht selbst als Möglichkeiten, son<strong>der</strong>n erst als<br />
8 Vgl. <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong> Aussage Kants, daß das, was zusammen nicht wi<strong>der</strong>spruchsfrei<br />
möglich, nacheinan<strong>der</strong> möglich sein kann. Vgl. hier Zweiter Abschnitt, Logische <strong>und</strong><br />
metaphysische Bedingung <strong>der</strong> Wahrheit, Die Zeitbedingung <strong>der</strong> Wahrheit, Die<br />
modallogische Erörterung.
-— 91 —<br />
verschiedene Reihen <strong>der</strong> Erscheinungsgesetze verschiedener Welten in<br />
einer Welt ausschließen. Der Satz vom Zugleichsein legt also nur <strong>die</strong><br />
Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Frage, warum eher das als etwas<br />
an<strong>der</strong>es existiert, klar, entscheidet aber noch nicht <strong>die</strong> Frage für je eine<br />
mögliche Welt o<strong>der</strong> innerhalb einer möglichen Welt selbst. Insofern<br />
verlangt <strong>der</strong> siebte Satz im Satz vom Zugleichsein noch komplementär <strong>die</strong><br />
Bezugnahme auf <strong>die</strong> Unterscheidung in conatus (Strebung des<br />
Existierenden) <strong>und</strong> existiturire (Strebung des bloß Möglichen im<br />
schöpferischen Verstand nach Verwirklichung) zur Horizontbestimmung<br />
<strong>der</strong> Zeitlichkeit, bevor <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch seinen Horizont<br />
angewiesen bekommen kann.<br />
Im achten Satz wird das Zugleichsein in Hinblick auf <strong>die</strong> in den<br />
Bedingungen desselben weiterhin enthaltene Beziehung auf das<br />
Zukünftige zur Gegenwart bestimmt: Nicht nur in Bezug auf <strong>die</strong><br />
Gleichzeitigkeit <strong>der</strong> Verwirklichung son<strong>der</strong>n auch, weil <strong>der</strong> »gegenwärtige<br />
Zustand Zukünftiges mitbestimmt« (als Hinweis auf <strong>die</strong> zeitlich<br />
exponierte Einheit einer series rerum) hat <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein<br />
ontologische Geltung. 9 Oben konnte gezeigt werden, daß zur Bestimmung<br />
einer series rerum bereits sowohl <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein wie <strong>der</strong> Satz<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch benötigt wird — Leibnizens Darstellung macht hier<br />
nochmals deutlich, daß <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein wie <strong>der</strong> Satz vom<br />
Wi<strong>der</strong>spruch erst im Rahmen <strong>der</strong> jeweils immer nur einen möglichen Welt<br />
auftreten, <strong>und</strong> nur deshalb zusammen gelten.<br />
Im neunten Satz wird nun <strong>die</strong>jenige Bedingung genannt, <strong>die</strong> zugleich eine<br />
Vernunftwahrheit, wie eine Form <strong>der</strong> Möglichkeit(en) selbst ist. Die Reihe<br />
<strong>der</strong> Tatsachen soll so beschaffen sein, daß »möglichst viele (Dinge)<br />
existieren o<strong>der</strong> also eine möglichst große Reihe von Tatsachen aller<br />
möglichen Dinge«. 10<br />
9 8. Satz: Aber weil manches mit an<strong>der</strong>em unvereinbar ist, folgt, daß gewisse<br />
Möglichkeiten nicht zur Verwirklichung gelangen, <strong>und</strong> es ist also manches Mögliche<br />
mit an<strong>der</strong>en (mit an<strong>der</strong>em Möglichen) unvereinbar — nicht nur in Bezug auf <strong>die</strong><br />
Gleichzeitigkeit (=auf ihre gleichzeitige Verwirklichung), son<strong>der</strong>n generell, weil<br />
durch den gegenwärtigen Zustand (sc. <strong>der</strong> Dinge) Zukünftiges mitbestimmt wird.<br />
Sed quia alia aliis incompatibilia sunt, sequuitur quaedam possibilia non pervenire<br />
ad existendum, suntque alia aliis incompatibilia, non tantum respectu ejusdem<br />
temporis, sed et in universum, quia in praesentibus futura involvuntur.<br />
10 9. Satz: Jedenfalls folgt aus dem Wettstreit aller möglichen (sc. Dinge), <strong>die</strong> zur<br />
Verwirklichung drängen, wenigstens das, daß eine solche Reihe von Tatsachen<br />
existiert, <strong>die</strong> so beschaffen ist, daß möglichst viele (Dinge) existieren o<strong>der</strong> also eine<br />
möglichst große Reihe von Tatsachen aller möglichen Dinge. {Series rerum, <strong>die</strong> Reihe<br />
<strong>der</strong> Tatsachen ist im weiteren Gebrauch mit dem Begriff m<strong>und</strong>us (Welt)
-— 92 —<br />
Nochmals ist <strong>die</strong> Frage zu stellen, ob nun in einer möglichen Welt mehrere<br />
Reihen von Tatsachen zugleich möglich sind, o<strong>der</strong> ob möglichst viele<br />
Welten existieren sollen; m. a. W. ob eine eigentliche, universale<br />
Kompossibilität unabhängig von <strong>der</strong> einer schon näher bestimmten series<br />
rerum möglich ist. Wohl meint Leibniz nur das erstere, da er im zehnten<br />
Satz mit seiner Darstellung fortfährt, daß <strong>die</strong>se Reihe, welche dem Prinzip<br />
des Maximums an Verwirklichung folgt, das größte Fassungsvermögen<br />
erzeugt, allerdings ohne <strong>die</strong>ses Extremum des Fassungsvermögens durch<br />
<strong>die</strong> Beispiele aus Geometrie <strong>und</strong> Physik in seiner Charakteristik<br />
vollständig festgelegt zu haben. 11 Die Gerade ist nämlich unter den Linien<br />
das Minimum, also <strong>die</strong> kürzest mögliche Strecke nach <strong>der</strong> archimedischen<br />
Definition von Geraden (allerdings Euklid: Nach einer Art zu liegen, d.i.<br />
regelmäßig, was mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung Leibnizens in <strong>der</strong> Theodizee besser<br />
übereinstimmt). Der rechte Winkel ist das Mittere zwischen allen<br />
spitzwinkeligen <strong>und</strong> stumpfwinkeligen Winkeln <strong>und</strong> nicht das Maximum,<br />
da je<strong>der</strong> spitze Winkel komplementär als stumpfwinkeliger Winkel<br />
angeschaut werden kann, geht man von <strong>der</strong> Gerade als gestreckten Winkel<br />
aus. Nur <strong>der</strong> Kreis <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kugel sind wirklich Ausdruck des Prinzipes<br />
des größten Fassungsvermögens (wie <strong>der</strong> größten Regelmäßigkeit;<br />
allerdings höchst irrational). Insofern trifft sich gerade da <strong>die</strong> in § 189 des<br />
II. Teiles des Versuches <strong>der</strong> Theodizee genannte<br />
Hervorhebungswürdigkeit <strong>der</strong> Regelmäßigkeit mit dem Prinzip des<br />
größten Fassungsvermögens. 12 Nur dann ist <strong>der</strong> elfte Satz verständlich,<br />
wenn er auch <strong>die</strong>, gegenüber dem Prinzip des Maximums womöglich<br />
defizienten Formen des Prinzips, das Regelmäßige vorzuziehen, bereits<br />
gleichzusetzen. Vgl. Gerhardt VII. 302: De rerum originatione radicali (1697): „Nam<br />
non tantum in nullo singulorum, sed nec in toto aggregato serieque rerum inveniri<br />
potest sufficiens ratio existendi.“ (Denn nicht nur kann in keinem einzelnen, son<strong>der</strong>n<br />
ebensowenig im ganzen Zusammengesetzten <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Tatsachen ein<br />
zureichen<strong>der</strong> Existenzgr<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en werden). Ad series vgl. auch Grua, p. 526:<br />
„Eine Reihe ist eine mit gewissen Ordnungsregeln ausgestattete Vielheit.“}<br />
Interim ex conflictu omnium possibilium existentiam exigentium hoc saltem<br />
sequitur, ut Existat ea rerum series, per quam plurimum existit, seu series omnium<br />
possibilium maxima.<br />
11 10. Satz: Diese Reihe allein nämlich unterliegt <strong>der</strong> Bestimmung, wie von den Linien<br />
<strong>die</strong> Gerade, von den Winkeln <strong>der</strong> Rechte <strong>und</strong> von den geometrischen Figuren <strong>die</strong><br />
mit dem größten Fassungsvermögen, nämlich <strong>der</strong> Kreis <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kugel. <strong>und</strong> wie wir<br />
sehen, daß sich <strong>die</strong> Flüssigkeit von Natur aus in kugelförmigen Tropfen sammelt, so<br />
verwirklicht sich <strong>der</strong> Natur des Universums <strong>die</strong>jenige Reihe mit dem größten<br />
Fassungsvermögen.<br />
Haec etiam series sola est determinata, ut ex lineis recta, ex angulis rectus, ex figuris<br />
maxima capax, nempe circulus vel sphaera, ita in natura universi series maxime<br />
capax existit.<br />
12 Generales inquisitiones, Zeile 170-74, in Meiner Phil. Bibl. Bd. 338. p. 14/15:
-— 93 —<br />
mit beinhaltet: »Es verwirklicht sich also das Vollkommenste, da<br />
Vollkommenheit nichts an<strong>der</strong>es ist als <strong>die</strong> Fülle (Quantität) <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit (Realität)«. 13<br />
Bevor das nächste Prinzip <strong>der</strong> Formen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vielfalt als selbst Formen<br />
produzierendes in seiner Beziehung zur Vollkommenheit als Quantum<br />
behandelt werden soll, möchte ich noch darauf zurückkommen, daß das<br />
Prinzip, nach dem unter den möglichen Welten gerade jene mit den<br />
größten Fassungsvermögen ausgewählt werden soll, keinen moralischen<br />
Gr<strong>und</strong> von vorneherein für sich hat, son<strong>der</strong>n, wird es auch analytisch als<br />
ein oberstes Prinzip <strong>der</strong> phänomenologischen Darstellung <strong>der</strong><br />
Ideenentwicklung aufgefaßt, bloß dem Drängen, daß womöglich alle<br />
Möglichkeiten verwirklicht werden, so weit wie möglich nachgibt. Das<br />
Sein als absolut notwendige Existenz soll so auch als metaphysische blinde<br />
Notwendigkeit als Gr<strong>und</strong>, warum eher etwas existiert als nichts, weil es<br />
eine Folge <strong>der</strong> Vernunftwahrheit des großen Prinzips ist, schon ein<br />
höchstes Gut vorstellen, deshalb ist viel Seiendes auch gut, <strong>und</strong> weil viel<br />
Seiendes mit einer Zukunft, in <strong>der</strong> sich das Seiende größtmöglich vermehrt<br />
hat, besser ist, ist <strong>die</strong> Fülle <strong>der</strong> Wirklichkeit nicht nur das eines<br />
Zugleichseins in <strong>der</strong> Gegenwart innerhalb <strong>der</strong> series rerum, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />
Fülle in <strong>der</strong> ganzen Zeit <strong>der</strong>selben. So ist möglicherweise auch eine<br />
zeitweilige Vermin<strong>der</strong>ung des Quantums an Seienden dem Prinzip des<br />
neunten <strong>und</strong> zehnten Satzes nicht unbedingt wi<strong>der</strong>sprechend, wenn in <strong>der</strong><br />
Zukunft deshalb ein sonst nicht erreichbares Maximum möglich wird. Dies<br />
aber nur unter <strong>der</strong> Bedingung, daß <strong>die</strong> Vermin<strong>der</strong>ung nicht so<br />
einschneidend verläuft, daß in <strong>der</strong> Summe durch <strong>die</strong> Zeit das gesamte<br />
Quantum an Seienden trotz <strong>der</strong> in Aussicht gestellten Vermin<strong>der</strong>ung <strong>die</strong><br />
daraus erwartete Steigerung <strong>die</strong> Summe <strong>der</strong> Seienden durch alle Zeiten bei<br />
Annahme einer gleichmäßigen Steigerung übertreffen wird.<br />
Das Prinzip des siebten Satzes, daß alles Mögliche nicht zugleich möglich<br />
sein könne, schränkt <strong>die</strong> Denkmöglichkeit des Alles in Folge auf<br />
Verbindungsbegriffe wie auf <strong>die</strong> Unterscheidung in komplementär<br />
mögliche <strong>und</strong> überhaupt unmögliche Verbindungen im Sinne des Satzes<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch (in <strong>der</strong> Anwendung als formales Prinzip <strong>der</strong><br />
Kompossibilität) ein. Die Umfänge des Denkmöglichen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Totalität<br />
des Seienden (dann schon als Produkt <strong>der</strong> ersten Ursache (existificans) des<br />
13 11. Satz: Es verwirklicht sich also das Vollkommenste, da Vollkommenheit nichts<br />
an<strong>der</strong>es ist als <strong>die</strong> Fülle (Quantität) <strong>der</strong> Wirklichkeit (Realität).<br />
Existit ergo perfectissimum, cum nihil aliud sit quam quantitas realitatis.
-— 94 —<br />
existiturire <strong>der</strong> Möglichkeiten im Rahmen einer möglichen series rerum sind<br />
also darauf hin zu untersuchen, ob <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> deutlichen<br />
Möglichkeiten immer größer sein muß, als <strong>die</strong> Möglichkeiten an <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit. Für Gott schon, lautet <strong>die</strong> Antwort; wir schwanken zwischen<br />
zwei an<strong>der</strong>en Extreme: Entwe<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> Denkmöglichkeit(en)<br />
viel zu gering, um <strong>die</strong> Möglichkeit(en) an <strong>der</strong> Wirklichkeit innerhalb einer<br />
möglichen Welt im Wesen zu erfassen, o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Bedingungen möglicher<br />
Welten wi<strong>der</strong>stehen den Prinzipien bloßer Vernunftmöglichkeit. Ersteres<br />
beschränkt <strong>die</strong> Freiheit des Willens gegenüber dem Seienden, zweiteres<br />
beschränkt den Willen im Verstande.<br />
Zwischen <strong>die</strong>sen Extreme soll das Maximum <strong>der</strong> Fülle an Realität zustande<br />
kommen <strong>und</strong> dabei den Gottesbegriff womöglich so weit entwickeln, daß<br />
nicht <strong>die</strong> Gutheit des bloßen Seins gegenüber dem Nichtsein <strong>die</strong><br />
Vollkommenheit ausmacht. Allerdings kann <strong>die</strong> Nachgiebigkeit des<br />
göttlichen Verstandes gegenüber dem Drängen <strong>der</strong> Möglichkeiten auch als<br />
Güte verstanden werden, <strong>die</strong> sich darin ausdrückt, auch das<br />
Unregelmäßige zuzulassen. Leibniz versucht aus dem Prinzip <strong>der</strong><br />
Vielfältigung <strong>der</strong> Formen <strong>der</strong> Materie aus dem elften Satz ab dem<br />
vierzehnten Satz das Prinzip abzuleiten, daß <strong>die</strong> Vervielfältigungstendenz<br />
<strong>der</strong> Materie <strong>die</strong> Möglichkeit zur Harmonie, <strong>und</strong> so insgesamt auch das<br />
Regelmäßige beför<strong>der</strong>e. — Letztlich bleibt von da aus offen, ob Leibniz <strong>die</strong><br />
entscheidende Qualifizierung des göttlichen Verstandes zur Apperzeption<br />
anhand <strong>der</strong> Wahl des Bestmöglichen in <strong>der</strong> Theozidee hier als mit<br />
eingeschlossen vorstellen will, o<strong>der</strong> doch über <strong>die</strong> Identifikation von<br />
bonum <strong>und</strong> pulchrum im transzendentalen Ideal nicht hinausgeht.<br />
❆<br />
Kant behandelt nun ebenfalls eine Verknüpfung des principiums<br />
contradictionis mit einer Zeitbedingung, allerdings nicht ontotheologisch<br />
wie Leibniz in <strong>der</strong> behandelten Überlegung, son<strong>der</strong>n bereits unter <strong>der</strong><br />
Voraussetzung des erkennenden Subjekts mit dem Vermögen logisch zu<br />
urteilen, also im Stand <strong>der</strong> transzendentalen Freiheit.
-— 95 —<br />
3) Die wesenslogische Erörterung: Die Zeitbedingung im<br />
Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile ist synthetisch<br />
a) Die Charakteristik des analytischen <strong>und</strong> des synthetischen Urteils im<br />
Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile<br />
Kant behauptet im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile, daß <strong>der</strong> Satz<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch keinerlei Zeitbedingung voraussetzt. Um ein<br />
analytisches Urteil handele es sich genau dann, wenn das Prädikat ein<br />
notwendiges Merkmal des Subjekts ist, nicht aber, wenn man ein Prädikat<br />
eines Dinges zuerst vom Begriff desselben abson<strong>der</strong>t <strong>und</strong> dann sein<br />
Gegenteil mit <strong>die</strong>sem Prädikat verknüpft, denn dann gibt es keinen<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Subjekt <strong>und</strong> Prädikat son<strong>der</strong>n nur mit dem<br />
Prädikat <strong>und</strong> seinem synthetisch hinzugefügten Gegenteil, was <strong>die</strong><br />
Bedingung des Zugleichseins sehr wohl erfor<strong>der</strong>lich mache. 14<br />
»Sage ich, ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt, so muß <strong>die</strong><br />
Bedingung: zugleich, dabei stehen; denn <strong>der</strong> so zu einer Zeit ungelehrt ist,<br />
kann zu einer an<strong>der</strong>en gar wohl gelehrt sein. Sage ich aber, kein<br />
ungelehrter Mensch ist gelehrt, so ist <strong>der</strong> Satz analytisch, weil das<br />
Merkmal (<strong>der</strong> Ungelahrtheit) nunmehr den Begriff des Subjekts mit<br />
ausmacht, <strong>und</strong> alsdenn erhellet <strong>der</strong> verneinende Satz unmittelbar aus dem<br />
Satze des Wi<strong>der</strong>spruchs, ohne daß <strong>die</strong> Bedingung: zugleich, hinzu<br />
kommen darf.« 15<br />
Die Abson<strong>der</strong>ung eines Prädikates vom Begriff eines Dinges kann so nur<br />
mehr noch grammatikalisch mit dem Satzteil <strong>der</strong> ungelehrt ist im Satz: »Ein<br />
Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt« identifiziert werden. Im Satz:<br />
»Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt« ist das Attribut ungelehrt das<br />
Merkmal, was nunmehr den Begriff des Subjekts mit ausmacht. Es bleibt<br />
<strong>die</strong> Beobachtung, daß Kant in <strong>der</strong> Demonstration des Satzes vom<br />
Wi<strong>der</strong>spruch seine Beispiele von Sätzen, <strong>die</strong> nur mit <strong>der</strong> Bedingung des<br />
Zugleichseins gelten, <strong>und</strong> von Sätzen, <strong>die</strong> ohne <strong>die</strong>sselbe gelten, nur durch<br />
<strong>die</strong> Stellung <strong>der</strong> Merkmalsbegriffe im Satz unterscheidet. Während im<br />
ersten Beispiel das Merkmal <strong>der</strong> Ungelehrtheit nicht mit analytischer<br />
Notwendigkeit dem Satzsubjekt zugeschrieben werden kann, wird <strong>der</strong><br />
14 K.r.V., B 192. Dazu muß noch bemerkt werden, daß das synthetisch hinzugefügte<br />
Gegenteil eines Prädikates auch als Nachweis verstanden werden kann, daß das<br />
Gegenteil des Prädikates nicht notwendig nicht gilt. Vielmehr ist es dann möglich,<br />
daß entwe<strong>der</strong> ein Prädikat gilt o<strong>der</strong> sein Gegenteil.<br />
15 l.c.
-— 96 —<br />
Stellung als Attribut <strong>die</strong> Bedeutung eingeräumt, ein notwendiges Merkmal<br />
für <strong>die</strong> analytische Heraushebung eines Merkmalbegriffes aus dem<br />
Subjektbegriff zu bezeichnen. Solche Merkmale sollen dem Subjektbegriff<br />
notwendig sein o<strong>der</strong> ihn mit konstituieren. Damit wird aber womöglich<br />
zweierlei verlangt. Denn einen Subjektbegriff zu konstituieren kann im<br />
Zuge fortschreiten<strong>der</strong> Bestimmung des Individuellen bedeuten, Merkmale<br />
zur Konstitution aufzunehmen, <strong>die</strong> nicht notwendigerweise am<br />
Gegenstand zu finden sind, son<strong>der</strong>n ihm gerade nur zu einem<br />
ausgezeichneten Zeitpunkt zukommen. Im Zuge <strong>der</strong> fortschreitenden<br />
Bestimmung des Allgemeinen kann das Konstituieren eines<br />
Subjektbegriffes auch bedeuten, eine vorläufige Bestimmung<br />
vorzunehmen, <strong>die</strong> späterhin erst auf ihre notwendigen <strong>und</strong> ihre zufälligen<br />
Teile befragt werden kann. In beiden Fällen wird von <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
eines Merkmals des Subjektbegriffes auf eine Weise Gebrauch gemacht, <strong>die</strong><br />
anzeigt, daß sie noch etwas an<strong>der</strong>es bedeutet, als daß Merkmale nötig sind,<br />
um das Individuelle o<strong>der</strong> aber auch das Allgemeine im Subjektbegriff zu<br />
supponieren. — Es ist <strong>die</strong> Notwendigkeit im Sinne von Essentialität<br />
angezeigt, <strong>die</strong> we<strong>der</strong> das Individuelle als Idee <strong>der</strong> Bestimmbarkeit von<br />
Existenz noch das Allgemeine als Idee <strong>der</strong> Bestimmbarkeit nach Gesetzen<br />
ohne weitere Begründung als F<strong>und</strong>ament beanspruchen darf. Insofern<br />
aber auch vom Wesen des Individuellen <strong>und</strong> vom Wesen des Allgemeinen<br />
gesprochen werden mag, handelt es sich also in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit des analytischen Urteils eigentlich um <strong>die</strong> Frage nach dem<br />
logischen Wesen. 16<br />
Die wesenslogische Einteilung <strong>der</strong> Logik <strong>und</strong> Grammatik, <strong>die</strong> Kant in<br />
seiner Antwort auf <strong>die</strong> Angriffe Eberhards 17 gibt, beginnt mit einer<br />
Unterscheidung <strong>der</strong> Begriffsmerkmale: in solche, <strong>die</strong> unabtrennlich <strong>und</strong><br />
notwendig mit dem Wesen des darin gedachten Gegenstandes verb<strong>und</strong>en<br />
sind, <strong>und</strong> solchen, <strong>die</strong> unbeschadet des Begriffes abgetrennt werden<br />
können. Gemeinhin nannte man Aussagen mit den ersteren als Prädikat<br />
16 Willard Q. Quine, Gr<strong>und</strong>züge <strong>der</strong> Logik, Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 3 1969.<br />
Titel <strong>der</strong> Originalausgabe: Methods of Logik. Revised Edition 1964 by Holt, Rinehart<br />
and Wilson, New York, Chicago, San Francisco, Toronto. Quine bezweifelt in <strong>der</strong><br />
Einleitung wie Bolzano <strong>die</strong> Möglichkeit einer ursprünglichen Definition des<br />
analytischen Urteils. Das analytische Urteil bleibt Angelegenheit einer<br />
konventionalistisch vorgehenden Darstellung des Stoffes <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Wissenschaft. Alle echten Urteile seien synthetisch; allerdings niemals von einer<br />
Geltung a priori.<br />
17 Über eine Entdeckung, nach <strong>der</strong> alle neue Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft durch eine<br />
ältere entbehrlich gemacht werden soll, Königsberg 1790, BA 83
-— 97 —<br />
analytische Urteile, Aussagen mit den zweiteren als Prädikat synthetische<br />
Urteile:<br />
»Doch ist, um des Herrn Eberhards willen, hier nicht überflüssig<br />
anzumerken: daß ein Prädikat, welches durch einen Satz a priori einem<br />
Subjekte beigelegt wird, eben dadurch als dem letzteren notwendig<br />
angehörig (von den Begriffen desselben unabtrennlich) ausgesagt wird.<br />
Solche Prädikate werden auch zum Wesen (<strong>der</strong> inneren Möglichkeit des<br />
Begriffs) gehörige (ad essentiam pertinenta) Prädikate genannt,<br />
<strong>der</strong>gleichen folglich alle Sätze, <strong>die</strong> a priori gelten, enthalten müssen; <strong>die</strong><br />
übrigen, <strong>die</strong> nämlich vom Begriffe (unbeschadet desselben) abtrennlichen,<br />
heißen außerwesentliche Merkmale (extra essentialia). Die ersteren<br />
gehören nun zum Wesen entwe<strong>der</strong> als Bestandstücke desselben (ut<br />
constitutiva), o<strong>der</strong> als darin zureichend gegründete Folgen desselben (ut<br />
rationata). Die ersteren heißen wesentliche Stücke (essentialia), <strong>die</strong> also<br />
kein Prädikat enthalten, welches aus an<strong>der</strong>en in dem selben Begriffe<br />
enthaltenen abgeleitet werden könnte, <strong>und</strong> ihr Inbegriff macht das logische<br />
Wesen (essentia) aus; <strong>die</strong> zweiten werden Eigenschaften (attributa)<br />
genannt. Die außerordentlichen Merkmale sind entwe<strong>der</strong> innere (modi),<br />
o<strong>der</strong> Verhältnismerkmale (relationes), <strong>und</strong> können in Sätzen a priori nicht<br />
zu Prädikaten <strong>die</strong>nen, weil sie vom Begriffe des Subjektes abtrennlich <strong>und</strong><br />
also nicht notwendig mit ihm verb<strong>und</strong>en sind.« 18<br />
Unzweifelhaft trifft Kant hier im Schlußsatz eine Feststellung, <strong>die</strong> <strong>der</strong><br />
Bedeutung <strong>der</strong> attributiellen Stellung des Merkmalbegriffes im Obersten<br />
Gr<strong>und</strong>satz aller analytischer Urteile genau wi<strong>der</strong>spricht, denn dort sollte das<br />
Attribut <strong>die</strong> konstitutive Bedeutung des Merkmalbegriffes für den<br />
Subjektbegriff ausweisen. Die Darstellung in <strong>der</strong> Schrift gegen Eberhard<br />
hat nun einmal <strong>die</strong> äußerliche Schwierigkeit, daß Kant hier zweimal eine<br />
Aufzählung mit <strong>die</strong> ersteren beginnt, was eine gewisse Doppeldeutigkeit<br />
zur Folge hat. Für <strong>die</strong> erste Verwendung <strong>der</strong> Aufzählung ist klar: <strong>die</strong><br />
Prädikate a priori sind entwe<strong>der</strong> solche von Bestandstücke des Wesens<br />
(ut constitutiva) o<strong>der</strong> sind zureichend gegründete Folgen aus dem Wesen<br />
(ut rationata). In <strong>der</strong> zweite Aufzählung scheint es nur so, als wollte Kant<br />
nur das selbe mit an<strong>der</strong>en Worten wie<strong>der</strong>holen: Die ersten heißen<br />
wesentliche Stücke <strong>und</strong> sind essentialia, <strong>die</strong> zweiten werden Attribute<br />
genannt. Anfangs wird im dritten Satz des Zitats das Prädikat a priori den<br />
übrigen Merkmalen (extraessentialia) gegenübergestellt, <strong>die</strong> nichts an<strong>der</strong>es<br />
18 l.c.
-— 98 —<br />
bedeuten können als <strong>die</strong> Attribute im vierten Satz, zumal darauffolgend<br />
im fünften Satz gleich nochmals von außerordentlichen (Akad.:<br />
außerwesentlichen) Merkmalen <strong>die</strong> Rede ist.<br />
Allerdings benennt Kant im vierten Satz, wo er <strong>die</strong> zweite Aufzählung<br />
beginnt, das Satzsubjekt mit einem vom dritten Satz her bekannten<br />
Begriff: nur heißt es hier anstatt Bestandstücke nun wesentliche Stücke. Aber<br />
Kant gibt auch <strong>die</strong> entscheidende Definition dazu. Ich wie<strong>der</strong>hole <strong>die</strong><br />
Stelle: »Die ersteren heißen wesentliche Stücke (essentialia), <strong>die</strong> also kein<br />
Prädikat enthalten, welches aus an<strong>der</strong>en in demselben Begriffe enthaltenen<br />
abgeleitet werden könnte.« 19 Damit stellt sich <strong>die</strong> Frage, welche Folgen<br />
Kant im Sinn hatte, als er im dritten Satz <strong>die</strong> zureichend begründeten<br />
Folgen (ut rationata ) den notwendigen Merkmalen des Begriffes<br />
zugerechnet hat.<br />
Im ersten Satz schwankt <strong>die</strong> Auslegung, ob von einem Begriff o<strong>der</strong> von<br />
einer Mehrzahl von Begriffen auszugehen sei: Während Kant <strong>die</strong><br />
Notwendigkeit, mit <strong>der</strong> ein Prädikat a priori einem Subjekte beigelegt wird,<br />
im Klammerausdruck mit den Worten »von den Begriffen desselben<br />
unabtrennlich« weiter ausführt, wählt <strong>die</strong> Akademieausgabe <strong>die</strong> Einzahl<br />
(von dem Begriffe desselben). Der zweite Satz wird im Plural gehalten; es<br />
bleibt offen, ob Kant nun <strong>die</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> Prädikate a priori, <strong>die</strong> in den<br />
Sätzen a priori einem Subjekt beigelegt werden können, einem<br />
bestimmten Subjekt o<strong>der</strong> einer Mehrzahl von Subjekten zuspricht. In<br />
jedem Fall aber kann einem Subjekt mehrere Prädikate a priori beigelegt<br />
werden. Daß <strong>die</strong>se dann sich bereits im Begriff des Subjekts befinden, kann<br />
man aus <strong>der</strong> Erklärung des Wesens als <strong>die</strong> innere Möglichkeit des Begriffes<br />
folgern. 20 Der Begriff vom Subjekt enthält also mehrere Prädikate a priori,<br />
darf aber als Inbegriff o<strong>der</strong> logisches Wesen (essentia ) kein aus <strong>die</strong>sen<br />
Prädikaten abgeleitetes Prädikat enthalten. Kant stellt <strong>die</strong> zureichend<br />
gegründeten Folgen im dritten Satz zwar nun eindeutig so dar, daß sie<br />
nicht aus irgend einem <strong>der</strong> Prädikate a priori abgeleitet erscheinen, doch<br />
sagt er eben, daß auch <strong>die</strong> Folgen ut rationata Prädikate a priori<br />
ausmachen: »Die ersteren gehören nun zum Wesen entwe<strong>der</strong> als<br />
Bestandstücke desselben (ut constitutiva), o<strong>der</strong> als darin zureichend<br />
gegründete Folgen aus demselben (ut rationta).« 21 Die Folgen werden also<br />
nicht aus den Bestandstücken gezogen, son<strong>der</strong>n aus dem Wesen; sie<br />
19 l.c.<br />
20 Die Auswahl <strong>der</strong> Akademieausgabe unterstützt <strong>die</strong>se Auffassung.<br />
21 Über eine Entdeckung ..., BA 83
-— 99 —<br />
müssen allerdings in den Bestandstücken gegründet sein, um eine<br />
zureichende Schlußfolgerung zu sein. Sie können also zum logischen<br />
Wesen (essentia) gezählt werden, obgleich sie insofern weniger<br />
ursprünglich sind, als daß sie bereits Bestandstücke benötigen, um<br />
zureichend gegründet zu sein. Identifiziert man <strong>die</strong> Bestandstücke mit den<br />
Prädikaten a priori, so sind <strong>die</strong>se Folgen nicht aus <strong>die</strong>sen abgeleitet,<br />
son<strong>der</strong>n mit ihnen nur zureichend begründet. Kant hat somit einen<br />
Folgebegriff vor Augen, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> logischen Ableitung verschieden ist.<br />
Dieser Folgebegriff kann im synthetischen Urteil a priori <strong>der</strong> Geometrie<br />
gef<strong>und</strong>en werden, als daß etwa <strong>der</strong> Satz: »Zwei Katheten eines Dreiecks<br />
sind zusammen größer als <strong>die</strong> Hypotenuse« nicht aus dem einfachen<br />
philosophischen Begriff des Dreiecks stammt, son<strong>der</strong>n eine Folge <strong>der</strong><br />
Konstruktion des Dreiecks aus dem Begriff 22 , <strong>und</strong> so ein geometrischer <strong>und</strong><br />
kein philosophischer Satz ist. Für das geometrische synthetische Urteil a<br />
priori gehören <strong>die</strong> Folgen zweifelsfrei zu den essentialia, da sie nicht aus<br />
einem Prädikat a priori des Begriffes vom Dreieck abgeleitet worden sind.<br />
— Die hier schon in <strong>der</strong> Einleitung angeführte Anzweiflung <strong>der</strong> Dauer<br />
<strong>die</strong>ses Arguments hin<strong>der</strong>t nicht, ein tauglicheres Argument <strong>der</strong> Geometrie<br />
in Stellung zu bringen (d. i. <strong>die</strong> Symmetrie), welches dann als<br />
geometrisches Unterpfand für <strong>die</strong> transzendentalphilosophische<br />
Erörterung <strong>der</strong> Geometrie zur Rechtfertigung des synthetischen Urteil a<br />
priori in <strong>der</strong> reinen Anschauung <strong>die</strong>nen könnte.<br />
Daß Eberhard ausgerechnet das mit Außerwesentlichkeit identifizierte<br />
Attribut als grammatikalisches Merkmal eines synthetischen Urteiles a<br />
priori ausfindig macht, besitzt angesichts <strong>der</strong> Auffassung Kants im<br />
Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile eine gewisse Bedeutung. Kant<br />
hält hier aber zu recht nicht nur aus Gründen wesenslogischer<br />
Begriffsbestimmungen das Attribut für völlig ungeeignet, eine<br />
grammatikalische Begründung für ein synthetisches Urteil a priori<br />
aufbringen zu können:<br />
»Denn dadurch, daß es ein Attribut genannt wird, wird weiter nichts<br />
gesagt, als daß es, als notwendige Folge, vom Wesen abgeleitet werden<br />
könne: ob analytisch, nach dem Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch, o<strong>der</strong> synthetisch,<br />
nach irgend einem an<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>satze, das bleibt dabei gänzlich<br />
unbestimmt« 23 Dabei wird Eberhard noch <strong>die</strong> Freiheit eingeräumt, vom<br />
22 K.r.V., §2, aber auch B 744/A 716<br />
23 Über eine Entdeckung ..., BA 83
-— 100 —<br />
Attribut als notwendige Folge des Wesens zu reden <strong>und</strong> Kant verwendet<br />
in seinem Beispiel 24 selbst <strong>die</strong>se Redewendung. Das ist ihm möglich, da <strong>die</strong><br />
attributielle Stellung eines Merkmalbegriffes nicht nur gar nichts darüber<br />
aussagt, ob <strong>die</strong>ser dem Subjektbegriff analytisch gewonnen wurde o<strong>der</strong><br />
synthetisch hinzugefügt, son<strong>der</strong>n auch nicht ein Gr<strong>und</strong> zur Entscheidung<br />
sein kann, ob <strong>die</strong>ses Attribut eine notwendige Folge des Wesens ist: es ist<br />
immerhin möglich (nicht ausgeschlossen). Nur insofern kann im Obersten<br />
Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile <strong>die</strong> attributielle Stellung <strong>der</strong><br />
Ungelahrtheit kein Argument für <strong>die</strong> Konstitutivität <strong>die</strong>ses Merkmals für<br />
den Wesensbegriff des Menschen abgeben.<br />
Kant besitzt also kein logisches Argument für <strong>die</strong> Behauptung, daß <strong>der</strong><br />
Merkmalsbegriff an <strong>der</strong> Stelle des Attributs im untersuchten Satz ein das<br />
Wesen des im Subjektbegriff gedachten Gegenstandes konstituierendes<br />
Bestandstück sei. Allerdings wird <strong>die</strong> Definition des analytischen Urteils<br />
im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischer Urteile 25 durch <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong><br />
relevanten Aussagen in <strong>der</strong> Schrift gegen Eberhard erst verständlich.<br />
Genau das, was unter analytisch im logischen Sinne gemeinhin verstanden<br />
wird, nämlich <strong>die</strong> Ableitung von Begriffen aus Begriffe (von Aussagen aus<br />
Aussagen) macht für Kant nicht den obersten Gr<strong>und</strong>satz aus. Der oberste<br />
Gr<strong>und</strong>satz heißt deshalb analytisch, weil er hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Bestandsstücke ut constitutiva ein metaphysischer Gr<strong>und</strong>satz ist, insofern<br />
also in rein transzendentalanalytischer Hinsicht keine Bedingungen <strong>der</strong><br />
Möglichkeit einer Erkenntnis aus Erfahrung besitzt. 26<br />
b) Zum Modalitätsproblem in einer sprachphilosophisch zentrierten<br />
Logik<br />
Ich kann mich insofern mit <strong>der</strong> Darstellung <strong>die</strong>ser Stelle durch Rainer<br />
Stuhlmann-Laeisz nicht einverstanden erklären, da er das logische Wesen<br />
strikte <strong>und</strong> von vorne herein als reine logische Idee behandelt. So halte ich<br />
sein Zitat aus <strong>der</strong> Wiener Logik nicht für den geeigneten Beleg, meine<br />
Interpretation zu wi<strong>der</strong>legen: »[...] eßentiales, d. i. <strong>die</strong> im Begriffe nicht als<br />
24 l.c., <strong>die</strong> analytische Teilbarkeit des Körpers <strong>und</strong> <strong>die</strong> synthetische Beharrlichkeit <strong>der</strong><br />
Substanz<br />
25 K.r.V., B 192. Um ein analytisches Urteil handelt es sich dann, wenn das Prädikat ein<br />
notwendiges Merkmal des Subjekts aussagt, nicht, wenn man ein Prädikat eines<br />
Dinges vom Begriff desselben abson<strong>der</strong>t.<br />
26 Über eine Entdeckung..., BA 90
-— 101 —<br />
Folgen, son<strong>der</strong>n als Gr<strong>und</strong> liegen, <strong>die</strong>, <strong>die</strong> ad eßentiam ut rationata<br />
pertinent, sind attributa, <strong>die</strong>se müssen aus den eßentiellen abgeleitet<br />
werden.« 27<br />
In <strong>der</strong> Wiener Logik werden <strong>die</strong> Attribute offensichtlich so verwendet, wie<br />
im zweiten Beispiel im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile (Kein<br />
ungelehrter Mensch ist gelehrt). Ich interpretiere hingegen <strong>die</strong> Einteilung<br />
in »eßentiales« <strong>und</strong> »attributa« in <strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhard nicht<br />
dahingehend, daß <strong>die</strong> Ableitung <strong>der</strong> attributa aus einem grammatikalisch<br />
verwertbaren Gr<strong>und</strong> notwendigerweise wesentliche Prädikate ergeben,<br />
wie <strong>die</strong> abgeleiteten Prädikate, <strong>die</strong> ut rationata nach <strong>der</strong> Ableitung aus<br />
dem existierenden Wesen des Begriffes (ad essentiam) nur ihre<br />
Rechtfertigung erfahren können (rationata pertinent). Zwar ist erkenntlich<br />
(vor allem vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Obersten Gr<strong>und</strong>satzes aller<br />
analytischen Urteile), daß Kant <strong>die</strong> wesentliche Verwendung <strong>der</strong><br />
grammatikalisch als Formbegriff gewonnenen Begriff <strong>der</strong> »attributa« kennt<br />
<strong>und</strong> z. T. in abgekürzten Redeweise verwendet, aber auch, daß er doch<br />
dabei bleibt, was er in <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Wesenslogik in <strong>der</strong> Streitschrift<br />
gegen Eberhard letztlich zu den »attributa« sagt: daß sie eben auch<br />
außerwesentliche Merkmale seien können, <strong>die</strong> auch nicht durch ein »ut<br />
rationata« <strong>der</strong> als Prinzipien genommenen »eßentiellen« Prädikate<br />
gerechtfertigt werden könnten. Entgegen <strong>der</strong> Auffassung von Stuhlmann-<br />
Laeisz in <strong>die</strong>ser Frage behaupte ich, daß Kant in seiner Darstellung <strong>der</strong><br />
Wesenslogik in <strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhard selbst nicht nur einen<br />
Beweis <strong>der</strong> reinen Logik vor Augen gehabt hat, son<strong>der</strong>n eben in seiner<br />
ablesbaren Abweichung ein Kalkül skizziert hat, welches <strong>die</strong> wesentlichen<br />
Prädikate zu vermehren imstand sein soll <strong>und</strong> als solches als das Urbild<br />
eines synthetischen Urteils apriori zu verzeichnen wäre. 28 Stuhlmann-<br />
Laeisz hält hingegen Kant in <strong>der</strong> Wiener Logik noch nicht für fähig, bereits<br />
eine Direktion zur transzendentalen Logik <strong>der</strong> ersten Kritik zu besitzen.<br />
27 Wiener Logik, AA XXIV, p. 838. Diese Darstellung erreicht hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Unterscheidung in Ableitung <strong>und</strong> Begründung nicht das Niveau <strong>der</strong> Darstellung in<br />
<strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhardt.<br />
28 Selbst in <strong>der</strong> Fassung des diskutierten Gedankengangs aus <strong>der</strong> Logik Busolt, <strong>die</strong><br />
einer Interpretation <strong>der</strong> Wesenslogik auf das synthetische Urteil a priori hin zu<br />
wi<strong>der</strong>sprechen scheint (<strong>und</strong> das in einer Logik mit mehr recht, da in <strong>der</strong> rein logischformalen<br />
Betrachtung <strong>die</strong> Erörterung des synthetischen Urteils a priori nicht am<br />
Platze wäre), steht hinter <strong>der</strong> beanspruchten »Ursprünglichkeit« <strong>der</strong> reinen Logik<br />
eine Frage, <strong>die</strong> nicht allein eine <strong>der</strong> formalen (analytischen) Logik sein kann. Das<br />
Zitat lautet: »Das logische Wesen ist complexus omnium conceptum primitiuorium.<br />
Primitiue Merkmahle sind essentialia«(AA XXIV, p. 643)
-— 102 —<br />
Das grammatikalische Argument, daß ein Merkmal als Attribut<br />
ausgedrückt werden kann, vermag nichts darüber zu unterscheiden, ob<br />
das damit verb<strong>und</strong>ene Urteil ein analytisch o<strong>der</strong> ein synthetisches Urteil a<br />
priori sei. Dies sagt Kant in <strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhard, <strong>und</strong> das zeigt<br />
Kant im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile anhand <strong>der</strong><br />
Verwendung des gleichen inhaltlichen Beispiels (<strong>die</strong> Ungelahrtheit des<br />
Menschen) sowohl zur Demonstration für Sätze mit möglicher<br />
Zeitbedingung (ein synthetisches Urteil: Ein unglehrter Mensch ist nicht<br />
zugleich gelehrt) wie für <strong>die</strong> Demonstration von Sätzen über<br />
klassenlogischen Verhältnissen, <strong>die</strong> notwendigerweise keine<br />
Zeitbedingungen grammatikalisch zulassen (ein analytisches Urteil: Kein<br />
ungelahrter Mensch ist gelehrt).<br />
Was <strong>die</strong> Konsequenzen aus den Überlegungen des Obersten Gr<strong>und</strong>satzes<br />
aller analytischer Urteile angeht, gibt es aber eine Annäherung <strong>der</strong><br />
Standpunkte: Obwohl <strong>die</strong> Demonstration <strong>der</strong> Überlegungen Kants im<br />
Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile nicht als geglückt bezeichnet<br />
werden kann, geht doch hervor, was seine Absicht war, darzustellen: Ein<br />
analytisches Urteil ist eines, daß ohne Zeitbedingung, d.h. ohne Beziehung<br />
auf ein an<strong>der</strong>es Dasein (o<strong>der</strong> auch ohne reine Anschauung!) möglich ist.<br />
Gerade <strong>die</strong> wesenslogisch unverständlich bleibende Verwendung des<br />
gleichen Begriffes <strong>der</strong> Ungelahrtheit in beiden Beispielssätzen kann nur<br />
bedeuten, daß Kant gar nicht in den Sinn gekommen ist, den obersten<br />
analytischen Gr<strong>und</strong>satz etwa wesenslogisch zu begründen, obwohl er<br />
<strong>der</strong>gleichen Argumente anführt. Vielmehr ist es für <strong>die</strong> formale Logik<br />
selbst als gleichgültig anzusehen, ob <strong>die</strong> Ungelahrtheit nun ein<br />
wesenskonstituierendes Merkmal ist o<strong>der</strong> nicht. Ich werde versuchen zu<br />
zeigen, daß Kant hier <strong>die</strong> Wesensfrage auf <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Logik beschränkt<br />
hat. Kant wi<strong>der</strong>spricht mit seiner Behandlung <strong>der</strong> Zeitbedingung des<br />
principiums contradictionis nicht so sehr Aristoteles, als daß er eine<br />
Unterscheidung interpretiert, <strong>die</strong> Aristoteles in einem an<strong>der</strong>en<br />
Zusammenhang selbst getroffen hat. Die verschiedenen Formulierungen<br />
von Aristoteles scheinen zu zeigen, daß in <strong>der</strong> Logik auf <strong>die</strong> Bedingung<br />
des Zugleichseins zur Formulierung des principium contradictionis unter<br />
bestimmten Umständen verzichtet werden kann:<br />
(1) »Dasselbe kann demselben unter demselben Gesichtspunkt nicht<br />
zugleich zukommen <strong>und</strong> nicht zukommen.«<br />
(2) »Gutsein sei A, nicht gut sein sei B ..., jedem wird dann entwe<strong>der</strong> A<br />
o<strong>der</strong> B zukommen <strong>und</strong> keinem <strong>die</strong> beiden.«
-— 103 —<br />
(3) »Es ist unmöglich daß sich wi<strong>der</strong>sprechende (Aussagen) zugleich wahr<br />
seien.«<br />
(4) »Es ist unmöglich, zugleich mit Wahrheit zu behaupten <strong>und</strong> zu<br />
verneinen.« 29<br />
Bochenskys Kommentar unterscheidet <strong>die</strong> ersten beiden Sätze von den<br />
folgenden dahingehend, daß sie in Objektsprache, <strong>die</strong> beiden letzten in<br />
Metasprache abgefaßt sind. Hier interessiert aber, daß das zweite Zitat von<br />
vornherein ohne <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins auskommt <strong>und</strong> das<br />
dritte Zitat, ganz wie Kant im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen<br />
Urteile zeigt, auf <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins verzichten kann, denn<br />
anstatt zu sagen: »Es ist unmöglich, daß sich wi<strong>der</strong>sprechende (Aussagen)<br />
zugleich wahr seien«, ist es ebenso möglich zu sagen, es sei unmöglich,<br />
eine Aussage mit Wahrheit sowohl zu behaupten wie zu verneinen, o<strong>der</strong><br />
kürzer, daß es unmöglich sei, daß von zwei sich wi<strong>der</strong>sprechenden<br />
Aussagen beide wahr sind. 30 Denn <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins ist mit<br />
<strong>der</strong> behaupteten Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit zweier Sätze we<strong>der</strong> implizite<br />
vorausgesetzt, noch eine notwendige synthetische Bedingung, werden <strong>die</strong><br />
Aussagen nicht schon als empirische Aussagen (Objektsprache) behandelt.<br />
Es war für Aristoteles sinnvoller, <strong>die</strong>se Bedingung als außerlogische<br />
Bedingung hervorzuheben, weshalb er das Zugleichsein hinzugefügt hat.<br />
Aristoteles formuliert das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in <strong>der</strong><br />
Hermeneia objektsprachlich mit, metasprachlich aber ohne jede<br />
Zeitbedingung: »Handelt es sich um das, was ist, <strong>und</strong> um das, was<br />
gewesen ist, so ist es notwendig, daß entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong> Bejahung o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Verneinung wahr o<strong>der</strong> falsch sei, <strong>und</strong> bei dem, was vom Allgemeinen<br />
allgemein [ausgesagt wird], daß eine immer wahr, das an<strong>der</strong>e [falsch]<br />
ist.« 31<br />
Kant behandelt nun <strong>die</strong> Zeitbedingung, <strong>die</strong> dem »zugleich« vorausgesetzt<br />
ist, ebenfalls als außerlogische Bedingung, <strong>und</strong> schließt im analytischen<br />
Gr<strong>und</strong>satz deshalb <strong>die</strong> Zeitbedingung aus <strong>der</strong> Formulierung aus. Die<br />
29 I. M. Bochensky, Formale Logik, Freiburg 1956: 12.19 (Met.VII 31005B 19 f.), 12.20<br />
(An.Pr. A 46, 51b 36-40), 12. 21(Met.VII 6, 1011b 16), 12. 22 (AaO. 20 f.)<br />
30 K.r.V., B 119 f..Vgl. auch Top. B 7, 113a25f.: „Es ist unmöglich, daß Konträre zugleich<br />
dem gleichen zukommen.“ Das Zugleichsein wäre demnach nicht mit<br />
Notwendigkeit für den kontradiktorischen Gegensatz hinzuzufügen, da das<br />
Zugleichsein aus dem Gegenteil von Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit für Aussagen über<br />
Wirkliches eine analytische Folge ist. Das gilt allerdings auch für parallele Prozesse:<br />
Gegenwart.<br />
31 Hermeneia, 9, 18a28-31
-— 104 —<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Aussage än<strong>der</strong>t sich mit <strong>der</strong> Wegnahme des »zugleich«<br />
nicht. 32 Insofern hat <strong>die</strong> bloß logische Reflexion ihre Zeitbedingung im<br />
Rücken, aber nicht zum Thema. So ist es logisch auch gleichgültig, ob ich<br />
das principium contradictionis mit o<strong>der</strong> ohne Zeitbedingung formuliere: Daß<br />
ein Mensch zu einer Zeit ungelehrt, zu einer an<strong>der</strong>en gelehrt sein kann, ist<br />
auch für das analytische Urteil »Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt« nicht<br />
falsch, es gibt bloß grammatikalisch keine Gelegenheit <strong>und</strong> keine<br />
Notwendigkeit, in <strong>die</strong>sem Satz <strong>die</strong> Zeitbedingung auszudrücken. Diese<br />
Möglichkeit besteht hingegen im ersten Satz: »Ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt<br />
ist, ist nicht gelehrt«, aber eben nur als Möglichkeit, nicht als<br />
Notwendigkeit, wie Kant glauben zu machen scheint. Die Hinzufügung<br />
<strong>der</strong> Bedingung des Zugleichseins ergibt sich erst, wenn <strong>die</strong> Aussage<br />
objektsprachlich zu verstehen ist, also erst dann, wenn <strong>die</strong> Objekte <strong>der</strong><br />
Aussage eine Zeitbedingung überhaupt erst mit sich bringen.<br />
Die einzige Information, <strong>die</strong> beide Sätze hergeben ist <strong>die</strong>, daß das ,nicht<br />
gelehrt‘ das gleiche bedeutet wie ,ungelehrt‘, also <strong>die</strong> Identität von »X ist<br />
nicht Y« <strong>und</strong> »X ist Nicht-Y« behauptet wird. Das ist aber offensichtlich<br />
eine Identsetzung, <strong>und</strong> nicht eine echte Aussage: ersteres behauptet <strong>die</strong><br />
Nichtgeltung eines Prädikats Y von X, zweiteres behauptet, daß alle<br />
Merkmale, <strong>die</strong> nicht X zukommen, einem fiktiven Gegenstand Y<br />
zukommen, <strong>und</strong> das sind sicherlich zwei völlig verschiedene<br />
Behauptungen. Beide Sätze setzen <strong>die</strong>se Festsetzung als<br />
sprachnormierende Feststellung voraus <strong>und</strong> sprechen sie nur mit <strong>und</strong><br />
ohne Zeitbedingung verneinend aus, doch aber bedeuten sie nicht das<br />
selbe. Der Satz: »Ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt« besagt<br />
soviel wie, es kann von X nicht sowohl Nicht-Y wie auch Y behauptet<br />
werden, hingegen drückt <strong>der</strong> Satz: »Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt«<br />
genau genommen aus, daß »X als Nicht-Y ist nicht Y«. Ersterer betrifft das<br />
principium contradictionis, zweiterer ist identitätslogisch ausgedrückt.<br />
An<strong>der</strong>s wie das ,kein‘ verhin<strong>der</strong>t nun im ersten Beispielsatz das<br />
eingefor<strong>der</strong>te ,zugleich‘ <strong>die</strong> Tautologie, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> konventionalistischen<br />
Festsetzung <strong>der</strong> Identät bei<strong>der</strong> Ausagen (X ist Nicht-Y, X ist nicht Y) droht:<br />
Während das ,kein‘ <strong>die</strong> semantische Normierung <strong>der</strong> Prädikate<br />
klassenlogisch ausdrückt <strong>und</strong> so keinerlei eigene Zeitbedingung besitzen<br />
32 Vgl. <strong>die</strong> »überfüllte Vorstellung« Bolzanos, in: Wissenschaftslehre. Versuch einer<br />
ausführlichen <strong>und</strong> größtenteils neuen Darstellung <strong>der</strong> Logik mit steter Rücksicht auf<br />
<strong>der</strong>en bisherigen Bearbeiter, Sulzbach 1837, § 69.
-— 105 —<br />
kann, erweitert <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Zeitbedingung <strong>die</strong><br />
Wahrheitskriterien auf <strong>die</strong> Erfahrung. Mit o<strong>der</strong> ohne <strong>die</strong>se Zeitbedingung<br />
ist <strong>der</strong> erste Beispielsatz ebenso immer wahr, wenn man <strong>die</strong><br />
Gleichbedeutung von ,ungelehrt‘ <strong>und</strong> ,nicht gelehrt‘ schon einmal<br />
voraussetzt, wie <strong>der</strong> zweite Beispielsatz, wie schon vorhin ausgeführt.<br />
Aber erst nach <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Zeitbedingung überhaupt kann im<br />
Gegenzug <strong>die</strong> Frage nach dem Zugleichsein gestellt werden: Das<br />
»Zugleichsein« setzt <strong>die</strong> Zeitbedingung als Verfließen <strong>der</strong> Zeit wie als<br />
Sukzessivität voraus; <strong>die</strong> Negation <strong>die</strong>ser Zeitbedingung ist dann als<br />
Limitation im scholastischen Grenzwertproblem <strong>die</strong> Bedingung des<br />
Zugleichseins. Die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Zeitbedingung im obersten<br />
Gr<strong>und</strong>satz des analytischen Urteils, als klassenlogische Aussage begriffen,<br />
kann nicht auf ähnliche Weise als bloße Negation <strong>der</strong> Zeitbedingung<br />
verstanden werden, es sei denn als — in einem bei Kant unüblichen Sinn<br />
aufgefaßte — transzendentale Negation, welche zumindest das intelligible<br />
Subjekt von <strong>der</strong> Aufhebung des Daseins ausnimmt.<br />
<br />
Es gibt aber neben den Bedingungen noch <strong>die</strong> Folgen des »Zugleichseins«<br />
zu bedenken, nämlich indem das »Zugleichsein« als Bedingung zur<br />
Teilung eines Kontinuums fungiert: Es ist offensichtlich, daß <strong>die</strong> Frage<br />
nach dem »Zugleichsein« nicht ohne dem Aspekt <strong>der</strong> Gegenwart<br />
behandelt werden kann. Die Gegenwart hat <strong>die</strong> Dauer im Verfließen <strong>der</strong><br />
Zeit zum Inhalt, sie setzt einerseits Substanz <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits <strong>die</strong><br />
Kontinuität <strong>der</strong> Phänomene voraus. Insofern <strong>die</strong> Gegenwart zur<br />
Feststellung <strong>der</strong>en objektiven Realität im Bewußtsein das »Zugleichsein«<br />
benötigt, ist doch auch <strong>die</strong> Kontinuität <strong>der</strong> verfließenden Zeit in <strong>der</strong><br />
subjektiven (inneren) Sinnlichkeit für <strong>die</strong> Konstitution des Horizontes <strong>der</strong><br />
Gegenwart notwendig — <strong>die</strong> Gegenwart aber umgreift den bloß<br />
intellektuellen Punkt <strong>der</strong> Teilung (»Jetzt«) im Moment des feststellenden<br />
Urteils als Teilung des Kontinuums in ein Vorangehendes <strong>und</strong> in ein<br />
Nachfolgendes. Die Dauer <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gegenwart ist <strong>die</strong> Voraussetzung, daß<br />
ein Kontinuum (<strong>die</strong> verfließende Zeit) geteilt werden kann. Daraus ist<br />
zunächst we<strong>der</strong> <strong>die</strong> Kausalität noch <strong>der</strong> bloße Wechsel mit <strong>der</strong><br />
Sukzessivität <strong>der</strong> Zeit bestimmt, son<strong>der</strong>n bloß <strong>die</strong> Teilung des Kontinuums<br />
in zwei Hälften, <strong>die</strong> bei <strong>der</strong> weiteren Voraussetzung <strong>der</strong> Unendlichkeit des<br />
Kontinuums bloß zu zwei entgegengesetzten Richtungen werden (vgl. <strong>die</strong><br />
Orientierung im Raum).
-— 106 —<br />
Das »Zugleichsein« ist also nur unter <strong>der</strong> Voraussetzung des Verfließen<br />
<strong>der</strong> Zeit, <strong>der</strong> transzendentalanalytischen Fassung desselben als Kontinuität<br />
des inneren Sinnes <strong>und</strong> <strong>der</strong> weiters <strong>die</strong> Dauer voraussetzende Gegenwart<br />
weiter bestimmbar (woraus in Folge <strong>die</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Idee von <strong>der</strong><br />
Substanz entspringt), führt aber selbst we<strong>der</strong> zur Bestimmung <strong>der</strong> Zeit zur<br />
Sukzessivität o<strong>der</strong> zur Kausalität. Der Erklärungsversuch des<br />
»Zugleichseins« zur »objektiven Realität« setzt in <strong>der</strong> Kategorie des<br />
Commerciums allerdings nicht nur <strong>die</strong> Gegenwart <strong>und</strong> <strong>die</strong> Substanz als<br />
Bedingung <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Teilung, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sukzessivität<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Kausalität <strong>der</strong> Zeit nach <strong>der</strong> Teilung, son<strong>der</strong>n noch <strong>die</strong><br />
Mannigfaltigkeit des Raumes voraus. Das »Zugleichsein« bleibt als bloße<br />
Negation <strong>der</strong> Zeitbedingung selbst ohne räumliche Eigenschaften son<strong>der</strong>n<br />
setzt zur Bestimmung seiner »objektiven Realität« <strong>die</strong> Realität des Raumes<br />
auch schon unabhängig von dessen Anschauungsform (<strong>und</strong> so<br />
unabhängig vom Problem <strong>der</strong> Teilung des Kontinuums)<br />
transzendentalsubjektivistisch mit <strong>der</strong> Intentionalität je<strong>der</strong> Art von<br />
Aufmerksamkeit voraus. Die Kriterien <strong>der</strong> objektiven Gültigkeit eines<br />
Urteils, <strong>die</strong> nach Kant selbst für <strong>die</strong> Geometrie auf objektive Realität<br />
beruhen, sind auch für das Zugleichsein allein mit <strong>der</strong> subjektiven<br />
Deduktion noch nicht gegeben.<br />
Es handelt sich hier bei <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Zeitbedingung aber<br />
wohlgemerkt nicht um eine psychologische For<strong>der</strong>ung an <strong>die</strong><br />
Phänomenologie des Subjekts, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zeitlichkeit des Urteilsaktes zur<br />
Begründung <strong>der</strong> Logik thematisierte <strong>und</strong> dabei etwa auf ein ideales<br />
Zugleichsein <strong>der</strong> Evidenz stößt. Obgleich also schon mit <strong>der</strong> Gegenwart<br />
<strong>die</strong> Individualität eines Standpunktes im Raum <strong>und</strong> somit auch <strong>die</strong><br />
Subjektivität angesprochen worden sind, wird ersichtlich, daß <strong>die</strong>ser<br />
Themenkreis in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> »objektiven Realität« des<br />
»Zugleichseins« nicht zur Lösung <strong>der</strong> Aufgabenstellung son<strong>der</strong>n bloß zur<br />
Exponation herangezogen wird, wenn auch <strong>die</strong> Subjektivität <strong>und</strong><br />
Individualität als Moment <strong>der</strong> Gegenwart in Stellung zu halten sind.
-— 107 —<br />
4) Die modallogische Erörterung: Zur Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />
Kategorien von den metaphysischen Anfangsgründen <strong>der</strong><br />
Substanz <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ursache<br />
Im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile ersetzt Kant <strong>die</strong><br />
Bedingung des Zugleichseins durch <strong>die</strong> Wesenslogik, indem <strong>die</strong> logische<br />
Subsumtion das Denken dazu führt, zuerst <strong>die</strong> qualitative Einheit eines<br />
obersten Begriffes zu denken. 33 Die Pointe Kants liegt also darin, daß er <strong>der</strong><br />
ersten Formulierung 34 <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins zugemutet hat, <strong>der</strong><br />
zweiten 35 aber nicht; ohne aber <strong>die</strong> außergrammatikalischen Gründe dafür<br />
befriedigend darstellen zu können.<br />
Daraus erhellt sich auch, daß Kant mit <strong>der</strong> Unterscheidung in<br />
hypothetische Urteile <strong>und</strong> kategorische Urteile im § 19 vermeint, <strong>die</strong><br />
ersteren <strong>der</strong> bloß subjektiven (synthetischen), <strong>die</strong> zweiteren aber <strong>der</strong><br />
objektiven (analytischen) Einheit des Bewußtseins zuordnen zu können.<br />
Die Zeitlichkeit des hypothetischen Urteils wird aber im synthetischen<br />
Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalität selbst in <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> Zeit verlegt: »das<br />
Verhältnis bleibt, wenn gleich keine Zeit verlaufen ist«. 36 Damit wird <strong>der</strong><br />
Prius des kategorischen Urteils betreffs <strong>der</strong> Apodiktizität, <strong>der</strong> noch im § 19<br />
ersichtlich war, auf das hypothetische Urteil übertragen. Jedoch würde<br />
man irren, glaubte man, Kant würde einfach annehmen, daß im Falle des<br />
Zugleichseins von Ursache <strong>und</strong> Wirkung keine Zeit verlaufen sei, denn es<br />
wird eine beschleunigte Bewegung o<strong>der</strong> <strong>die</strong> erzeugte Wärme immer <strong>die</strong><br />
Wirkung einer andauernden Ursache sein. Die beson<strong>der</strong>e Schwierigkeit<br />
liegt hier in <strong>der</strong> Frage, wie klein <strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> andauernden Ursache<br />
gedacht werden kann, um eine Wirkung zu erzielen, <strong>und</strong> unterscheidet<br />
sich vom Problem <strong>der</strong> Sollizitation im Stoß, <strong>die</strong> Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />
33 K.r.V., §12, zur qualitativen Einheit des Begriffes: „So ist das Kriterium <strong>der</strong><br />
Möglichkeit eines Begriffes (nicht des Objekt desselben) <strong>die</strong> Definition, in <strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Einheit des Begriffes, <strong>die</strong> Wahrheit alles dessen, was aus ihm abgeleitet werden<br />
mag, endlich <strong>die</strong> Vollständigkeit dessen, was aus ihm gezogen worden, zur<br />
Herstellung des ganzen Begriffs das Erfor<strong>der</strong>liche desselben ausmacht.“ (B 115)<br />
34 Ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt.<br />
35 Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt.<br />
36 »Hier äußert sich aber noch eine Bedenklichkeit, <strong>die</strong> gehoben werden muß. Der Satz<br />
<strong>der</strong> Kausalverknüpfung unter den Erscheinungen ist in unserer Formel auf <strong>die</strong><br />
Reihenfolge eingeschränkt, da es sich doch bei dem Gebrauch desselben findet, daß<br />
er auch auf ihre Begleitung passe, <strong>und</strong> Ursache <strong>und</strong> Wirkung zugleich sein<br />
könne.«(B 247)<br />
»Hier muß man wohl bemerken, daß es auf <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> Zeit, <strong>und</strong> nicht den<br />
Ablauf <strong>der</strong>selben angesehen sei; das Verhältnis bleibt, wenn gleich keine Zeit<br />
verlaufen ist.“«(B 248)
-— 108 —<br />
auch <strong>der</strong> verlaufenden Zeit nach trennt <strong>und</strong> vor <strong>der</strong> Bewegungsän<strong>der</strong>ung<br />
des gestoßenen Körpers noch den Moment <strong>der</strong> Wirkung des anlaufenden<br />
Körpers auf <strong>die</strong> Elastizität des gestoßenen Körper untersucht.<br />
Es ist also festzuhalten, daß zwar in <strong>der</strong> Kategorie eine Zeitordnung<br />
aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Beziehung von Ursache <strong>und</strong> Wirkung im reinen<br />
Verstandesbegriff gedacht wird <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Begriff selbst jedenfalls<br />
unzeitlich ist, doch aber in <strong>der</strong> Anwendung inhaltlich immer auf <strong>die</strong><br />
verlaufende Zeit bezogen bleibt. Darin unterscheidet sich <strong>die</strong> Kategorie<br />
von <strong>der</strong> bloß logischen Definition des Begriffes, daß alles, was in einem<br />
Begriff wi<strong>der</strong>spruchsfrei gedacht werden kann, denkmöglich ist, aber<br />
doch, da ihm ein Gr<strong>und</strong> we<strong>der</strong> a priori noch a posteriori gegeben werden<br />
kann, auch falsch o<strong>der</strong> zumindest gr<strong>und</strong>los sein kann. 37 Die Kategorie gibt<br />
hingegen <strong>die</strong> Bedingung, um von <strong>der</strong> bloßen Denkmöglichkeit zur<br />
Realmöglichkeit überzugehen. Daß <strong>der</strong> Satz: »Was nicht zugleich möglich<br />
ist, ist nacheinan<strong>der</strong> möglich« nach dem Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller<br />
analytischen Urteile ein synthetischer Satz ist 38 , ist nach <strong>der</strong> Vorüberlegung<br />
zum synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Kausalität dahingehend<br />
zu verstehen, daß <strong>die</strong> Möglichkeit in <strong>die</strong>sem Satz bereits als<br />
Realmöglichkeit betrachtet wird.<br />
❆<br />
Konrad Cramer 39 hat den entscheidenden Beitrag zur Erhellung des<br />
son<strong>der</strong>baren Umstandes geleistet, daß Kant <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
damit verknüpft, daß <strong>die</strong> Bestimmungen des Daseins, <strong>die</strong> nur<br />
nacheinan<strong>der</strong> an ein <strong>und</strong> demselben gelten können, kontradiktorisch<br />
entgegengesetzt sein sollen. Dies stellt Kant beson<strong>der</strong>s deutlich in <strong>der</strong><br />
Reflexion Refl. 5805 dar, was hinsichtlich <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong><br />
Zeitbedingung im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile mit zu<br />
bedenken ist: »Verän<strong>der</strong>ung ist <strong>die</strong> Verknüpfung kontradiktorisch<br />
einan<strong>der</strong> entgegengesetzter Bestimmungen in dem Dasein eines Dinges<br />
(<strong>die</strong> doch dem Begriffe des Dinges nicht wi<strong>der</strong>sprechen, son<strong>der</strong>n nur<br />
praedicatum praedicato, nicht subjecto oppositum). Was macht das<br />
möglich, was nach dem bloßen Begriff eines Dinges unmöglich ist? Die<br />
Zeit (determinationes oppositae können einan<strong>der</strong> bloß succe<strong>die</strong>ren.) Also<br />
37 B 190<br />
38 B 191<br />
39 Konrad CRAMER, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem <strong>der</strong><br />
Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, C. Winter Universitätsverlag,<br />
Heidelberg 1985
-— 109 —<br />
ist <strong>die</strong> Zeit nicht zu den Begriffen <strong>der</strong> Dinge an sich gehörig, son<strong>der</strong>n zu<br />
<strong>der</strong> Art, wie wir sie sie anschauen.« 40<br />
Kant erklärt den kontradiktorischen Gegensatz also damit, daß sich hier<br />
<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch nur zwischen den Prädikaten eines Dinges, nicht<br />
zwischen Prädikat <strong>und</strong> Subjektbegriff herstellt. 41 Zwar begründet Kant im<br />
synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalität <strong>die</strong> Möglichkeit eines Begriffes<br />
nicht mehr allein auf <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsfreiheit, son<strong>der</strong>n bereitet den<br />
Übergang von <strong>der</strong> bloßen Denkmöglichkeit zur Realmöglichkeit vor,<br />
jedoch hat er zuvor, sofern <strong>der</strong> Begriff nicht dem Dasein nach durchgängig<br />
determiniert ist (ein bloßes, aber doch transzendentales Ideal), <strong>die</strong> logische<br />
Zufälligkeit <strong>der</strong> Prädikatsverhältnisse eines Dinges wie <strong>die</strong> logische<br />
Zufälligkeit des an sich unbestimmten Dinges, schließlich noch <strong>die</strong><br />
logische Zufälligkeit von Existenz von etwas behauptet. 42 Offenbar ist hier<br />
vom Ding noch nicht im kategorialen Sinn <strong>die</strong> Rede. — Zufälligkeit ist aber<br />
selbst eine modale Kategorie <strong>und</strong> wird von Kant im folgenden Satz <strong>der</strong><br />
Anmerkung zur Thesis <strong>der</strong> vierten Antinomie am deutlichsten formuliert:<br />
»Zufällig, im reinen Sinne <strong>der</strong> Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches<br />
Gegenteil möglich ist.« 43<br />
Wenn Prädikatsverhältnisse eines Dinges ebenso wie das Ding logisch<br />
zufällig genannt werden müssen, verliert <strong>die</strong> behauptete Regel: Das, was<br />
nicht zugleich möglich, aber nacheinan<strong>der</strong> möglich ist, steht mit Notwendigkeit in<br />
einem kontradiktorischen Gegensatz zueinan<strong>der</strong>, ihre Kraft, eine nähere<br />
Bestimmung zu begründen. — Kant setzt im obigen Zitat fort: »[...] Was<br />
verän<strong>der</strong>t wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer an<strong>der</strong>en<br />
Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist <strong>die</strong>ses nicht das<br />
kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfor<strong>der</strong>t wird,<br />
daß in <strong>der</strong>selben Zeit, da <strong>der</strong> vorige Zustand war, an <strong>der</strong> selben Stelle<br />
40 Hervorhebungen von K.Cramer. Vgl. auch K.r.V.: »Verän<strong>der</strong>ung ist Verbindung<br />
kontradiktorisch einan<strong>der</strong> entgegengesetzten Bestimmungen im Dasein ein <strong>und</strong><br />
desselben Dinges.« (B 291), auch B 232, B 233, A 206 f./B 252 <strong>und</strong> A 459/B 487 f.. Daß<br />
<strong>die</strong>se Auffassung schon in <strong>der</strong> vorkritischen Zeit von Kant vertreten wurde, belegen<br />
<strong>die</strong> Refl. 3768, 3771, 3838, 4041, 4060, 4486, 5266.<br />
41 Vgl. auch K. r. V.,B 192<br />
42 CRAMER 1985: p. 168, Refl. 5796: »Alles Verän<strong>der</strong>liche ist durch seinen Begriff in<br />
Ansehung <strong>der</strong> praedicatorum oppositorum unbestimmt, also logisch zufällig.« Vgl.<br />
auch Refl. 3838: »Das Gegenteil eines Prädikats zu einer an<strong>der</strong>en Zeit beweiset, daß<br />
das Subjekt an <strong>und</strong> vor sich selbst in Ansehung <strong>der</strong>selben unbestimmt sei.« Dazu<br />
ergänzend Refl. 5794: »Alle Verän<strong>der</strong>lichkeit beweiset <strong>die</strong> Zufälligkeit des Dinges<br />
nach bloßen Begriffen des Verstandes, weil durch den Begriff es nicht dem Dasein<br />
nach, mithin durchgängig determiniert ist.«<br />
43 K. r. V., A 456/B 486 f.. Kant zitiert damit <strong>die</strong> Definition des Kontingenten <strong>der</strong><br />
Leibniz-Wolffschen Ontologie, vgl. CRAMER 1985, p. 39.
-— 110 —<br />
desselben sein Gegenteil hätte sein können, welches aus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
gar nicht geschlossen werden kann. [...] Also beweist <strong>die</strong> Sukzession<br />
entgegengesetzter Bestimmungen, d.i. <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung, keineswegs <strong>die</strong><br />
Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes.« 44<br />
Im ersten Abschnitt des Zitates fügt Kant <strong>die</strong> Bedingung eines bestimmten<br />
Zeitpunktes zum principium contradictionis hinzu, sodaß <strong>die</strong> Vorstellung,<br />
aufeinan<strong>der</strong>folgende Zustände eines Dinges (Arten, zu existieren) könnten<br />
sich in einem kontradiktorischen Gegensatz ausdrücken lassen, nach <strong>der</strong><br />
Erklärung am Anfang des Obersten Gr<strong>und</strong>satzes aller analytischer Urteile<br />
völlig unmöglich wird. 45 Im zweiten Abschnitt des Zitates wird <strong>die</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ung bereits als Sukzession <strong>der</strong> entgegengesetzten Bestimmungen<br />
angeführt, ohne anzugeben, in welchem Sinn <strong>die</strong> Entgegensetzung<br />
verstanden werden soll. Es wird <strong>die</strong> Behauptung <strong>der</strong> notwendigen<br />
Zufälligkeit des vorhergehenden Zustandes in Bezug auf den<br />
nachfolgenden Zustandes hinsichtlich ein <strong>und</strong> desselben Dinges wi<strong>der</strong>legt<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong>se Entgegensetzung zwischen den vorhergehenden <strong>und</strong> dem<br />
nachfolgenden Zustand behauptet. Allein mit <strong>die</strong>ser letzten Behauptung<br />
könnte nur rein intellektuell aus dem Gegenteil geschlossen<br />
(„epagogisch“) dann auch schon <strong>die</strong> Folgerung gezogen werden, daß <strong>die</strong><br />
Sukzession keineswegs von <strong>der</strong> Zufälligkeit nach Begriffen des reinen<br />
Verstandes sei. Das schränkt <strong>die</strong> Unbestimmtheit <strong>der</strong> logischen<br />
Zufälligkeit ein <strong>und</strong> folgt <strong>der</strong> Unterscheidung in Denkmöglichkeit <strong>und</strong><br />
Realmöglichkeit, aber doch nur aufgr<strong>und</strong> des völlig unverstandenen<br />
Begriffes <strong>der</strong> Entgegensetzung. 46 Die einfache Feststellung, <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Entgegensetzung sei eben <strong>der</strong> durch <strong>die</strong> empirische Erfahrung gegebene<br />
allgemeine Begriff <strong>der</strong> Kraft, einmal als Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bewegung<br />
(Verän<strong>der</strong>ung) <strong>und</strong> einmal als Gr<strong>und</strong> des Wi<strong>der</strong>standes, mag in den<br />
M.A.d.N. zulässig sein, kann hier aber nicht befriedigen. 47 Was Kant<br />
44 l. c.<br />
45 B 192/A 153<br />
46 Kant scheint <strong>die</strong>s nicht im jeden Fall als Hin<strong>der</strong>nisgr<strong>und</strong> anzusehen, um<br />
Schlußfolgerungen zu erlauben: »In <strong>der</strong> Philosophie <strong>und</strong> namentlich in <strong>der</strong><br />
Metaphysik kann man oft sehr viel von einem Gegenstande deutlich <strong>und</strong> mit<br />
Gewißheit erkennen, auch sichere Folgerungen daraus ableiten, ehe man <strong>die</strong><br />
Definition desselben besitzt, auch selbst denn, wenn man es gar nicht unternimmt,<br />
sie zu geben.« (Nat.Theol. A 80)<br />
47 In den M. A. d. N. setzt sich <strong>die</strong>se Spaltung fort, besitzt aber eine überraschende<br />
Pointe. In <strong>der</strong> Zweiten Anmerkung <strong>der</strong> ersten Erklärung zur Phoronomie schreibt<br />
Kant: »Schließlich merke ich noch an: daß, da <strong>die</strong> Beweglichkeit eines Gegenstandes<br />
im Raum a priori <strong>und</strong> ohne Belehrung durch <strong>die</strong> Erfahrung nicht erkannt werden<br />
kann, sie von mir eben darum in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> r. V. auch nicht unter <strong>die</strong> reinen
-— 111 —<br />
behauptet, ohne dafür einen hinreichend deutlichen Gr<strong>und</strong> angeben zu<br />
können, ist: »Außer <strong>der</strong> Zufälligkeitgehört noch etwas mehr zur<br />
Verän<strong>der</strong>lichkeit. Die Sukzession <strong>der</strong> Zustände ist Verän<strong>der</strong>ung.« 48<br />
Es geht um den Gr<strong>und</strong>, weshalb Zufälligkeit allein nicht ausreicht, um <strong>die</strong><br />
Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit zu erfüllen. Zwar soll nach wie vor gelten,<br />
daß nur jene Prädikate kontradiktorisch entgegengesetzt sind, welche zu<br />
einem bestimmten Zeitpunkt am selben Substrat zugleich nicht sein<br />
konnten, doch ist damit für das allgemeinere Verhältnis des Prädikats, das<br />
vergeht, <strong>und</strong> jenem, das anhebt, auch gar nichts Näheres bestimmt<br />
worden: we<strong>der</strong> ob <strong>die</strong>se Abfolge <strong>der</strong> Prädikate einen kontradiktorischen<br />
Gegensatz, einen noch nicht näher spezifizierbaren empirischen Gegensatz<br />
o<strong>der</strong> gar keinen Gegensatz beinhaltet. Vielmehr scheint von hier aus alles<br />
möglich. — Wohl soll <strong>der</strong> reine Verstandesbegriff als Kategorie gegenüber<br />
<strong>der</strong> bloßen logischen Funktion bereits eine konstitutive Einschränkung des<br />
nach dem principium contradictionis schon eingeschränkten Denkmöglichen<br />
sein, doch kann er <strong>die</strong>s anscheinend bislang nur dann leisten, wenn <strong>die</strong><br />
Gültigkeit <strong>der</strong> Verstandesbegriffe als Kategorie allein auf den<br />
Metaphysischen Anfangsgründen von Substanz <strong>und</strong> Kausalität beruht.<br />
Was aber bleibt dann vom reinen Verstandesbegriff als das Schema <strong>der</strong><br />
Darstellung nach einem Prinzip a priori? Mit Rücksicht auf <strong>die</strong><br />
Schwierigkeit, was Entgegensetzung <strong>und</strong> Opposition für sich bedeuten<br />
können, soll noch eine Möglichkeit vorgeschlagen werden, um <strong>die</strong> Weisen,<br />
eine Entgegensetzung zu beschreiben, zu präzisieren:<br />
»Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist. Verän<strong>der</strong>lich:<br />
das in Verknüpfung mit seinem Gegenteil möglich ist. Bei aller<br />
Verän<strong>der</strong>ung sind: 1. oppositae determinationes, quatenus eidem<br />
Verstandesbegriffe gezählt werden konnte, <strong>und</strong> daß <strong>die</strong>ser Begriff als empirisch nur<br />
in einer Naturwissenschaft als angewandter Metaphysik, welche sich mit einem<br />
durch Erfahrung gegebenen Begriffe, obwohl nach Prinzipien a priori; beschäftigt,<br />
Platz finden könne.« (A 4)<br />
In <strong>der</strong> Anmerkung zur vierten Erklärung ist nun zu lesen: »Zur Konstruktion <strong>der</strong><br />
Begriffe wird erfo<strong>der</strong>t: daß <strong>die</strong> Bedingung ihrer Darstellung nicht von <strong>der</strong> Erfahrung<br />
entlehnt sei, also auch nicht gewisse Kräfte voraussetze, <strong>der</strong>en Existenz nur von <strong>der</strong><br />
Erfahrung abgeleitet werden kann, o<strong>der</strong> überhaupt, daß <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />
Konstruktion nicht selbst ein Begriff sein müsse, <strong>der</strong> gar nicht a priori in <strong>der</strong><br />
Anschauung gegeben werden kann, wie z.B. <strong>der</strong> von Ursache <strong>und</strong> Wirkung,<br />
Handlung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand etc.«(A 14). Die Prinzipien a priori zur Darstellung<br />
demonstriert Kant im Begriff einer zusammengesetzten Bewegung. Hier stehen den<br />
reinen Prinzipien a priori nach dem Vorbild <strong>der</strong> Geometrie <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong><br />
Natur (<strong>die</strong> metaphysischen Anfangsgründe: Ursache <strong>und</strong> Wirkung, Handlung <strong>und</strong><br />
Wi<strong>der</strong>stand; zuvor <strong>die</strong> Beweglichkeit selbst) entgegen.<br />
48 Refl. 4816
-— 112 —<br />
competunt. 2. sucessio ear<strong>und</strong>em. Die Möglichkeit <strong>der</strong> Mutation ist nicht<br />
aus <strong>der</strong> bloßen Contingenz zu erkennen. Denn weil es möglich ist, daß<br />
anstatt eines Prädikats ein an<strong>der</strong>es sei, so ist daraus noch nicht zu<br />
erkennen, daß das Subjekt <strong>die</strong> opposita nach einan<strong>der</strong> habe.« 49 Diese<br />
Reflexion ist zunächst deshalb von Interesse, weil hier <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />
Entgegensetzung (»Gegenteil«) einmal in <strong>der</strong> Definition des Zufalls <strong>und</strong><br />
einmal in <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung auf eine Weise gebraucht wird,<br />
daß <strong>die</strong>se Definitionen zunächst beide ohne Zeitbedingung auf <strong>die</strong><br />
Unterscheidung in bloße Prädikatsverhältnisse <strong>und</strong> in Verhältnisse von<br />
Subjekt-<strong>und</strong> Prädikatsbegriffe bezogen bleiben.<br />
Der Satz: »Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist«<br />
behauptet keinerlei Zeitbedingungen son<strong>der</strong>n nur, daß es kein Mittleres<br />
gibt: entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong>s ist o<strong>der</strong> sein Gegenteil. Derart wird gerade nicht <strong>die</strong><br />
Bedingung des Zugleichseins eingefor<strong>der</strong>t, wohl aber <strong>die</strong> Angabe eines<br />
bestimmten Zeitpunktes o<strong>der</strong> einer bestimmten Dauer ohne Verän<strong>der</strong>ung.<br />
Vor allem ist hier <strong>die</strong> Verknüpfung mit dem Gegenteil ausgeschlossen,<br />
son<strong>der</strong>n nur eine Ersetzung möglich. Dieser Satz ist indifferent gegenüber<br />
<strong>der</strong> Alternative, daß das, was zufällig ist, entwe<strong>der</strong> ein Ding o<strong>der</strong> ein<br />
Prädikat <strong>die</strong>ses Dinges ist. So kann unter <strong>die</strong>sem Satz unmittelbar zu<br />
verstehen sein, daß an <strong>der</strong> Stelle eines bestimmten Dinges auch nichts<br />
möglich ist, daß also das Nichtsein des Dinges möglich sei. Das<br />
Existenzprädikat bezieht sich dann nicht transzendental auf an<strong>der</strong>e<br />
Prädikate son<strong>der</strong>n ontologisch auf das Dasein des im Satzsubjekt<br />
gedachten Gegenstandes <strong>der</strong> Erscheinung.<br />
Der zweite Satz: »Verän<strong>der</strong>lich (ist), das in Verknüpfung mit seinem<br />
Gegenteil möglich ist« sagt für sich keine Zeitbedingung aus, impliziert<br />
aber eine solche durch das Satzsubjekt. — Der zweite Satz kann nur so zu<br />
verstehen sein, daß das, was das Verän<strong>der</strong>liche genannt wird, <strong>die</strong><br />
Zustände eines Dinges sind <strong>und</strong> <strong>der</strong>art bereits Verän<strong>der</strong>ung als Wechsel<br />
von Zuständen eines Dinges aufzufassen ist. 50 Das Ding wird nur mittelbar<br />
vorausgesetzt, sodaß <strong>der</strong> Ausdruck verän<strong>der</strong>lich immer schon eine<br />
Eigenschaft bestimmter Prädikate <strong>die</strong>ses Dinges bedeuten muß, da auch<br />
nicht alle Prädikate wechseln. Die Verknüpfung in <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
49 Refl. 4041<br />
50 Vgl. aber K. r. V., B 230 f.: »Da <strong>die</strong>ser Wechsel also nur <strong>die</strong> Bestimmungen trifft, <strong>die</strong><br />
aufhören o<strong>der</strong> auch anheben können, so können wir, in einem etwas paradoxen<br />
Ausdruck, sagen: nur das Beharrliche (<strong>die</strong> Substanz) wird verän<strong>der</strong>t, das<br />
Wandelbare erleidet keine Verän<strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n einen Wechsel, da einige<br />
Bestimmungen aufhören, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e vergehen.«
-— 113 —<br />
geschieht also zwischen Prädikate des selben Dinges, aber nicht durch <strong>die</strong><br />
Verknüpfung aller möglichen Prädikate o<strong>der</strong> <strong>der</strong> notwendigen<br />
Verknüpfung von Prädikaten <strong>und</strong> dem Subjektbegriff. Zusätzlich wäre<br />
noch zu bestimmen, daß <strong>die</strong> Behauptung aller möglichen Prädikate<br />
überhaupt unmöglich ist. 51<br />
Nun behauptet Kant, daß aus <strong>der</strong> Contingenz nicht <strong>die</strong> Mutation erkannt<br />
werden kann; <strong>die</strong> Definition des Zufälligen aus dem Gegensatz nicht aus<br />
<strong>der</strong> Definition des Verän<strong>der</strong>lichen aus dem Gegensatz gefolgert werden<br />
kann. Der Satz: »Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist«<br />
sagt nämlich mehr aus als <strong>die</strong> Definition des Zufälligen aus <strong>der</strong><br />
Anmerkung zur Antithesis <strong>der</strong> vierten Antinomie: »Zufällig, im reinen<br />
Sinne <strong>der</strong> Kategorie, ist das, dessen kontradiktorischer Gegensatz möglich<br />
ist« 52 . Nach <strong>die</strong>ser Definition könnte auch <strong>die</strong> Definition des<br />
Verän<strong>der</strong>lichen <strong>die</strong> Definition des Zufälligen erfüllen, da dann auch <strong>die</strong><br />
Verknüpfung mit einem kontradiktorischen Gegensatz möglich ist. 53 Beide<br />
Definitionen sagen mehr aus als <strong>die</strong> Definition des logisch Möglichen:<br />
logische Möglichkeit muß nur dem principium contradictionis genüge tun.<br />
Logische Zufälligkeit hingegen reflektiert <strong>die</strong> logische Möglichkeit: das<br />
(kontradiktorische) Gegenteil ist an <strong>und</strong> für sich logisch möglich. Aber erst<br />
mit <strong>der</strong> Gegenüberstellung von Ersetzen <strong>und</strong> Verknüpfen wird dem<br />
eigenen Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit eine systematische<br />
Stelle gegeben, <strong>die</strong> von <strong>der</strong> bloß logischen Zufälligkeit unterscheidbar ist<br />
— <strong>und</strong> zwar noch vor <strong>der</strong> Kantschen Selbstkritik an <strong>der</strong> Definition des<br />
Zufalls anhand <strong>der</strong> Ersetzung aus <strong>der</strong> Antinomie <strong>der</strong> kosmologischen Idee.<br />
Diese Kritik ersetzt das Kompossibilitätsprinzip in <strong>der</strong> Kantschen<br />
Definition des Zufalls, das bei Kant auf das Zugleichsein eingeschränkt ist,<br />
mit dem Kriterium <strong>der</strong> Indifferenz <strong>der</strong> Ersetzung in Hinblick auf <strong>die</strong><br />
Folgen. Dann erfolgt <strong>die</strong> Ableitung offenbar aus dem transzendentalen<br />
Kausalitätsprinzip, während hier zuvor mit dem »vorkritischen« Kant<br />
noch aus dem Leibnizianischen Kompossibilitätsprinzip abgeleitet wurde.<br />
Zwar impliziert <strong>die</strong> Definition des Verän<strong>der</strong>lichen im Gegensatz zum<br />
Wechsel eine kontinuierliche Zeitbedingung (das Beharrliche) relativ<br />
unabhängig von <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Sinnlichkeit, während <strong>die</strong> Definition<br />
des Zufalls anhand <strong>der</strong> Ersetzung we<strong>der</strong> den Wechsel von <strong>der</strong> Idee zur<br />
Realmöglichkeit noch <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung — auch nicht<br />
51 K. r. V., A 573 f./B 601 f.: »(...) so finden wir doch bei näherer Untersuchung, daß<br />
<strong>die</strong>se Idee, als Urbegriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, (...)«<br />
52 A 456/B 486 f.<br />
53 „das in Verknüpfung mit seinen Gegenteil möglich ist“, Refl. 4041
-— 114 —<br />
monadologisch als bloßer Wechsel <strong>der</strong> Zustände eines Dinges —<br />
beinhaltet. Daß aber auch <strong>die</strong> Verknüpfung ohne <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>lichkeit keine Zeitbedingung besitzt, geht aus einem Brief an<br />
Tieftrunk hervor: »Der Begriff des Zusammengesetzten überhaupt ist<br />
keine beson<strong>der</strong>e Kategorie, son<strong>der</strong>n in allen Kategorien (als synthetische<br />
Einheit <strong>der</strong> Apperzeption) enthalten. Das Zusammengesetzte nämlich<br />
kann, als ein solches, nicht angeschaut werden; son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Begriff o<strong>der</strong><br />
das Bewußtsein des Zusammengesetzens (einer Funktion <strong>die</strong> allen<br />
Kategorien als synthetische Einheit <strong>der</strong> Apperzeption zum Gr<strong>und</strong>e liegt)<br />
muß vorhergehen (...).« 54<br />
Hingegen bestimmt <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung auch als ein Begriff des sensitivums 55<br />
allein das Zusammensetzen keinesfalls selbst schon zur kategorialen<br />
Verknüpfung, son<strong>der</strong>n gibt (an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> Definition des Zufälligen)<br />
allererst <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> Kontinuität. Der eigentliche Fortschritt in <strong>der</strong><br />
Unterscheidung des Zufälligen vom Verän<strong>der</strong>lichen liegt nur unter <strong>die</strong>ser<br />
Voraussetzung <strong>der</strong> kontinuierlichen Zeit in <strong>der</strong> Unterscheidung <strong>der</strong> zur<br />
Darstellung des Ersetzens <strong>und</strong> des Verknüpfens erfor<strong>der</strong>lichen logischen<br />
Operationen, <strong>die</strong> für sich selbst eben nur logische Operationen ohne<br />
kategoriale Bedeutungskonstitution sind. Erst wird <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung vom<br />
logischen Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Formbestimmung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung aus als<br />
Prädikabilie verstanden, ist es auch gelungen, <strong>der</strong> Kategorie zwischen<br />
bloßer Denkmöglichkeit <strong>und</strong> Realmöglichkeit anhand <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
des Zufälligen vom Verän<strong>der</strong>lichen gegenüber den metaphysischen<br />
Anfangsgründen einen eigenen Gehalt nachzuweisen, 56 das beantwortet<br />
aber nicht <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Entgegensetzung <strong>der</strong> sukzessiven<br />
Zustände eines Dinges überhaupt. Von den beiden unten gegebenen<br />
54 vom 11.12.1797, AA XII, p. 222. So denkt übrigens auch Bolzano in <strong>der</strong><br />
Elementarlehre.<br />
55 CRAMER 1985, p. 43 ff.; Refl. 4306: »Der Schluß von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit auf <strong>die</strong><br />
Zufälligkeit ist metabasis eis allo genos, denn ich schließe von einem sensitivum aufs<br />
intellectuale.« Refl. 5266: »Es gibt keinen Übergang von den principiis <strong>der</strong><br />
Erscheinung zu den Begriffen <strong>der</strong> Vernunft, also auch nicht von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
auf <strong>die</strong> Zufälligkeit.« Vgl. auch K.r.V., A 41/B 58 das transzendental-ästhetische<br />
Argument.<br />
56 Die behauptete Kategorialität <strong>der</strong> Verknüpfung in <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung ist aber nur<br />
formal anhand <strong>der</strong> Reflexion des logischen Unterschiedes in den Modalkategorien<br />
von zufällig <strong>und</strong> möglich von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit des sensitivums unterscheidbar.<br />
K. r. V., §§ 9-10: Der Gegensatz Möglichkeit - Unmöglichkeit entspricht in den Tafeln<br />
<strong>der</strong> problematischen, <strong>der</strong> Gegensatz Notwendigkeit - Zufälligkeit <strong>der</strong> apodiktischen<br />
Modalität eines Urteils. Die gegebene logische Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung scheint<br />
aber nur dem Gegensatz Dasein - Nichtsein (assertorische Urteilsmodalität) zu<br />
entsprechen; sie handelt vielmehr von verschiedenen Arten zu existieren.
-— 115 —<br />
Einteilungen Kants, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung als Prädikabilie bezeichnen, ist<br />
<strong>die</strong> aus <strong>der</strong> Preisschrift <strong>die</strong> insgesamt befriedigen<strong>der</strong>e, allerdings wird da<br />
<strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung allein unter dem hier erörterten Gesichtspunkt<br />
betrachtet, also als Wechsel von non-B zu B. Solange <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ung nicht auf <strong>die</strong>se Definition eingeschränkt wird, gibt es gute<br />
Gründe, <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung als einen Begriff eines sensitivum zu betrachten,<br />
<strong>und</strong> ihn den reinen Verstandesbegriffen transzendentalästhetisch<br />
gegenüberzustellen.<br />
5) Die aussagenlogische Erörterung: Der zureichende Gr<strong>und</strong><br />
ist einmal logisch <strong>und</strong> einmal in <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung f<strong>und</strong>iert<br />
a) Der zureichende Gr<strong>und</strong> liegt in <strong>der</strong> Beziehung des Prädikats zum<br />
Ding<br />
Beachte das Prädikat einer Substanz als Wirkung <strong>der</strong> Substanz in Kantens<br />
analytischer Metaphysik <strong>und</strong> <strong>die</strong> nicht-logische Interpretation des<br />
zureichenden Gr<strong>und</strong>es bei Leibniz als Gr<strong>und</strong>, ein Prädikat einem äußeren<br />
Gegenstand zuzusprechen. Vgl. aber das Schreiben von Leibniz an den<br />
Grafen von Hessen Rheinfels vom 14. Juli 1686: »Es ist immer nötig, daß es<br />
für den Nexus <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> eines Urteils eine Gr<strong>und</strong>lage gibt, <strong>die</strong> sich in<br />
den Begriffen <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> finden lassen muß (Benedikt: also zunächst nicht<br />
in <strong>der</strong> Symploke <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Wesen). Und das ist eben mein großes Prinzip,<br />
von dem ich meine, daß alle Philosophen es zugeben müssen, wovon auch<br />
das gewöhnliche Axiom, daß nichts ohne einen Gr<strong>und</strong> geschieht, <strong>der</strong><br />
immer zurückgeführt werden kann <strong>und</strong> wovon <strong>die</strong> Tatsache (...), warum<br />
nämlich <strong>die</strong> Sache viel eher so als an<strong>der</strong>s verlaufen ist, nur einer <strong>der</strong><br />
Folgesätze bleibt« (Gerhardt, II, p. 62). 57<br />
Sind A <strong>und</strong> B Prädikate eines bleibenden Dinges E, so können <strong>der</strong>en<br />
Merkmale allein aus <strong>die</strong>ser Bestimmung sowohl zugleich wie auch<br />
nacheinan<strong>der</strong> gelten. Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, <strong>die</strong>se als kontradiktorisch<br />
entgegengesetzt zu behaupten, gleich ob sie zugleich o<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong><br />
gelten; sie sind bloß verschieden. Nun behandelt Kant in <strong>der</strong><br />
Untersuchung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung als Sukzession zuerst nicht beliebig<br />
57 dazu: Michael Benedikt, Anthropodizee, Turia <strong>und</strong> Kant, Wien 1995, S. 50
-— 116 —<br />
mögliche Prädikate eines Dinges, <strong>die</strong> wechseln o<strong>der</strong> andauern, son<strong>der</strong>n<br />
eben Zustände (Arten zu existieren) eines Dinges. Derart ist <strong>der</strong> Begriff<br />
vom Prädikat schon eingeschränkt worden auf eine ganz bestimmte Art<br />
von Begriffskomplexion, <strong>die</strong> imstande sein muß, einen Zustand eines<br />
Dinges zu beschreiben. Allerdings schließt Kant nirgends aus, daß mehrere<br />
Zustände eines Dinges nötig sind, um eine bestimmte Art eines Dinges zu<br />
existieren ausmachen können. Aber auch wenn man annimmt, daß jedes<br />
Ding zugleich nur einen Zustand besitzen kann, wird nicht so ohne<br />
weiteres dargelegt werden können, weshalb <strong>die</strong> verschiedenen<br />
aufeinan<strong>der</strong> folgenden Zustände alle kontradiktorisch entgegengesetzt zu<br />
sein haben. 58<br />
(1) So kann zu einem Zeitpunkt <strong>der</strong> Zustand A gelten <strong>und</strong> zu einem<br />
späteren Zeitpunkt ebenfalls, ohne das <strong>die</strong>ser Zustand zwischen den<br />
Zeitpunkten angedauert hätte.<br />
(2) Nun kann einmal A gelten <strong>und</strong> später B.<br />
(3) Betrachtet man hingegen <strong>die</strong> Aussagen »E ist A <strong>und</strong> nicht B« <strong>und</strong> » E ist<br />
B <strong>und</strong> nicht A«, stehen <strong>die</strong>se im kontradiktorischen Gegensatz, gleich ob A<br />
bzw. B als beliebiges Prädikat o<strong>der</strong> als Prädikat eines Zustandes aufgefaßt<br />
wird.<br />
(4) Schließlich ist noch <strong>die</strong> Kombination zu bedenken, daß zuerst A <strong>und</strong><br />
dann A <strong>und</strong> B zugleich gilt. Dann kann zwar behauptet werden, daß <strong>die</strong><br />
Zustände, <strong>die</strong> früher <strong>und</strong> später sind, verschieden sind, aber nur wegen<br />
des Nichtseins von B im früheren Zustand.<br />
Der Unterschied, <strong>der</strong> vom Wechsel <strong>der</strong> Zustände logisch bestimmt werden<br />
kann, ist also nicht <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bedeutung des Wechsels von A zu B, son<strong>der</strong>n<br />
das vorhergehende Nichtsein des hinzutretenden B wie schon im zweiten<br />
Satz. Das gibt den Ansatzpunkt, <strong>der</strong> Behauptung, aufeinan<strong>der</strong>folgende<br />
Zustände seien kontradiktorisch entgegengesetzt, eine formale Gr<strong>und</strong>lage<br />
zu verschaffen. Zwar sind <strong>die</strong> beiden möglichen Aussagen im vierten<br />
Punkt »E ist A <strong>und</strong> nicht B« <strong>und</strong> »E ist A <strong>und</strong> B« für sich nicht<br />
entgegengesetzt <strong>und</strong> nur verschieden, betrachtet man aber nur das<br />
Prädikat B in den beiden Sätzen, so läßt sich eine Aussage über <strong>die</strong><br />
Geltung des Prädikates treffen, <strong>die</strong> Punkt drei <strong>und</strong> vier betreffen, aber von<br />
ihnen unabhängig ist: nämlich ob es wahr ist o<strong>der</strong> nicht, daß B zutrifft.<br />
Dergestalt kann ich den kontradiktorischen Gegensatz zwischen zwei<br />
Aussagen finden, wovon <strong>die</strong> eine <strong>die</strong> Geltung (Existenz) von B behauptet<br />
58 K. r. V., A 456/B 486 f., vgl. Anmk.25
-— 117 —<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> an<strong>der</strong>e leugnet. Konrad Cramer folgert daraus, daß »beliebige<br />
Unterschiede von Zuständen eines <strong>und</strong> desselben Dings zu verschiedenen<br />
Zeiten in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> kontradiktorischen Entgegensetzung von<br />
Prädikaten dargestellt werden können.« 59 Nun handelt es sich in jedem<br />
Fall um den kontradiktorischen Gegensatz von Aussagen. K. Cramer<br />
scheint nicht übersehen, daß <strong>die</strong> vorgeschlagene Formulierungsweise <strong>der</strong><br />
Form »E ist x <strong>und</strong> E ist y « eben nur Verhältnisse zwischen Prädikate<br />
aussagt <strong>und</strong> E völlig unbestimmt läßt. 60 Das ist auch für <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />
Bedingung des Zugleichseins im Kapitel des Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller<br />
analytischer Urteile entscheidend, denn dort ist <strong>die</strong>se als Zeitbedingung<br />
für Kant im synthetischen Satz unabdingbar. Aber wird auch <strong>die</strong><br />
Existenzbehauptung bzw. Leugnung von B alleine betrachtet, bleibt doch<br />
das B, gleich ob geleugnet o<strong>der</strong> behauptet, mit <strong>der</strong> letzten Formulierung<br />
auf A bezogen. 61. Damit ist aber ein eminenter Stellungswechsel<br />
angesprochen: In den vorangegangenen Formulierungsweisen hat das<br />
Ding nur von außerhalb <strong>der</strong> Aussage (Es gibt ein E) eine Stelle im Satz<br />
zugewiesen bekommen; nunmehr scheint es, als könne A <strong>die</strong> Position von<br />
E einnehmen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß, wie Kant sich an<strong>der</strong>swo<br />
ausdrückt, <strong>die</strong>ser Schein immer wie<strong>der</strong> aufs Neue kritisiert werden muß,<br />
gerade weil er unvermeidlich ist. An<strong>der</strong>nfalls sei <strong>die</strong>se Quelle des Scheins<br />
auszuschließen, da E einmal mit A <strong>und</strong> einmal mit B beschrieben wird.<br />
Aber dann mußte doch <strong>die</strong> Position des Dinges eigens in einer<br />
theoretischen Reflexion <strong>und</strong> im Satzbau <strong>der</strong> Aussage festgehalten werden,<br />
was auch erst <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Scheines eines Dinges im Falle, daß A <strong>und</strong> B<br />
auch zugleich gelten können, ist. Der Ursprung des Scheines liegt aber<br />
nicht im gedachten Positionswechsel des Prädikatbegriffes zum<br />
Subjektbegriff, son<strong>der</strong>n schon in <strong>der</strong> theoretischen Reflexion auf ein Ding<br />
überhaupt im Rahmen bloßer Prädikatsverhältnisse. Der nicht-kategoriale<br />
Begriff vom Ding hat also gar nicht das principium contradictionis<br />
notwendig son<strong>der</strong>n ist dessen Voraussetzung. 62<br />
In <strong>der</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Substanz gibt Kant zwischen 1790 <strong>und</strong><br />
1795 dazu einen Kommentar ab, <strong>der</strong> <strong>die</strong> Sukzession mittels des Satzes vom<br />
59 CRAMER 1985, p. 173<br />
60 Vgl. Refl. 5796 <strong>und</strong> K.r.V.,A 456/B 486 f.<br />
61 Vgl. Refl. 6403, u.<br />
62 Das Prinzip <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines Dinges setzt das principium<br />
contradicionis erst zur Selektion <strong>der</strong> möglichen Prädikate voraus — das<br />
«vorkategoriale Ding« heißt in <strong>der</strong> Untersuchung des prototypon transcendentale in<br />
<strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Allheit »transzendentale Materie«.
-— 118 —<br />
Wi<strong>der</strong>spruch als <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Identität im logischen Satz über <strong>die</strong><br />
Beharrlichkeit vorstellt: »In je<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung beharrt <strong>die</strong> Substanz, weil<br />
<strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>die</strong> Sukzession <strong>der</strong> Bestimmung eines <strong>und</strong> desselben<br />
Dinges ist. Dies ist ein bloß logischer Satz nach <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Identität. Er<br />
sagt aber nicht, daß überhaupt <strong>die</strong> Substanz nicht entstehe o<strong>der</strong> vergehe,<br />
son<strong>der</strong>n nur während <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung bleibe.« 63 Hält man <strong>die</strong>se<br />
Erklärung für <strong>die</strong> zutreffende Feststellung, so folgt daraus zunächst nicht,<br />
daß Kant etwa nunmehr seine Absicht aufgeben hat müssen, weil <strong>die</strong><br />
Entgegensetzung von Ausssagen o<strong>der</strong> von Prädikaten (<strong>die</strong>s bleibt zunächst<br />
unbestimmt) über sukzessive Zustände eines Dinges ohne über eine <strong>der</strong><br />
logischen Zufälligkeit hinausgehende Bestimmung bleibt (im Gegenteil:<br />
<strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung wird zur Wirkung, <strong>die</strong> zur Erscheinung Substanz<br />
voraussetzt), son<strong>der</strong>n Kant schränkt bloß <strong>die</strong> Dauer des Dinges daraufhin<br />
ein, daß <strong>die</strong> Beharrlichkeit des Dinges — aber damit auch <strong>die</strong> Identität des<br />
Dinges — nur solange behauptet werden darf, solange <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
andauert. Dabei ist erstens zu beachten, daß <strong>die</strong> Sukzession nicht nur<br />
zwischen wechselnden Zuständen (als Arten zu existieren) stattfindet 64<br />
<strong>und</strong> zweitens, daß <strong>die</strong> wechselnden Merkmale gemeinsam mit einem<br />
bleibenden Merkmal betrachtet werden müssen, ansonsten den<br />
wechselnden Zuständen <strong>die</strong> Substanz nur nach dem Satz <strong>der</strong> logischen<br />
Identität gedacht, nicht aber als Beharrlichkeit in <strong>der</strong> Erfahrung gegeben<br />
werden kann. Bevor <strong>die</strong> wechselnden Prädikate aussagenlogisch<br />
kontradiktorisch entgegengesetzt werden, muß also zuvor <strong>die</strong> bleibende<br />
Eigenschaft mit <strong>der</strong> wechselnden Eigenschaft verknüpft werden können.<br />
Die Bestimmung des kontradiktorischen Gegenteils aufgr<strong>und</strong><br />
semantischer Oppositionen (wie etwa »heiß« - »kalt« o<strong>der</strong> »sterblich« -<br />
»unsterblich«), was für sich keine Beziehung <strong>der</strong> ausgesagten<br />
Eigenschaften auf ein <strong>und</strong> dasselbe Ding benötigt, führt allein für sich,<br />
selbst wenn sie systematisch möglich wäre, in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong><br />
Weiterbestimmung des Ding an sichs zu nichts: <strong>die</strong> oppositionelle<br />
Glie<strong>der</strong>ung aller möglichen Prädikate überhaupt ist keine Folge <strong>der</strong> jeweils<br />
einfachen Zuschreibungen auf irgendwelche Dinge, son<strong>der</strong>n erst <strong>die</strong> Folge<br />
des Kriteriums vom Prinzip <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines<br />
bestimmten Dinges. 65<br />
63 Refl. 6403, man darf das aber nicht als Wi<strong>der</strong>spruch zum Satz <strong>der</strong><br />
Unverän<strong>der</strong>lichkeit des Quantums <strong>der</strong> Materie denken.<br />
64 Falls <strong>der</strong> »Zustand« als »Art zu existieren« eine Auszeichnung gewisser Prädikate<br />
gegenüber an<strong>der</strong>en möglichen Prädikaten sein soll.<br />
65 K. r. V., B 599-601/A 571-573; vgl. hier auch im dritten Abschnitt, 2., a, §§ 9-10
-— 119 —<br />
Es wird also nicht bloß nach dem Gr<strong>und</strong> des Wechsels von<br />
Erscheinungsprädikaten gefragt, son<strong>der</strong>n zuerst wird nach dem Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Erscheinungsprädikate gefragt (<strong>der</strong> zureichende Gr<strong>und</strong>). Erst dann geht es<br />
um <strong>die</strong> Entgegensetzung <strong>der</strong> Geltungsbehauptung von B <strong>und</strong> non-B ( bzw.<br />
von A <strong>und</strong> non-A). Zunächst ergeben sich terminologische Probleme: Wie<br />
kann <strong>die</strong> Nichtexistenz eines Merkmals, was mit non-B wohl angezeigt<br />
werden soll, angemessen ausgedrückt werden? Kant scheint <strong>die</strong>ses<br />
Problem mit seiner Umformung in <strong>die</strong> Frage wechseln<strong>der</strong> Zustände eines<br />
Dinges zu umgehen, indem er <strong>die</strong> Zustände als Arten eines Dinges zu<br />
existieren vorstellt. Non-B drückt also nicht Nichtexistenz aus, son<strong>der</strong>n nur<br />
eine an<strong>der</strong>e, noch unbekannte Art zu existieren von ein <strong>und</strong> demselben<br />
Ding. Kant will mit dem Ausdruck Zustand , was als Art eines Dinges zu<br />
existieren bestimmt worden ist, <strong>die</strong> Verknüpfung des Subjektbegriffes mit<br />
seinem Prädikat garantieren, setzt damit aber nur <strong>die</strong> Verknüpfung des<br />
bleibenden Merkmals mit dem wechselnden voraus. Nun aber soll<br />
einerseits jedes Prädikat, also auch solche, <strong>die</strong> nicht einen Zustand<br />
bezeichnen, immer schon auf ein Ding beziehbar sein, an<strong>der</strong>erseits ist <strong>der</strong><br />
aktualisierende Gr<strong>und</strong>, weshalb <strong>die</strong>ses Prädikat zu <strong>der</strong> einen Zeit gilt, <strong>und</strong><br />
zu <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zeit nicht, nicht mehr wie in <strong>der</strong> Monade Leibnizens nur<br />
im Gr<strong>und</strong> des Dinges zu finden. 66 Deshalb erfahren <strong>die</strong><br />
Prädikatsverhältnisse auch im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen<br />
Urteile ihre Herabwürdigung zur bloßen Möglichkeit.<br />
Gleiches sollte wohl zunächst für Zustände eines Dinges nicht gelten: Hier<br />
wurde <strong>die</strong> Möglichkeit dahingehend eingeschränkt, daß das Mögliche in<br />
<strong>der</strong> sukzessiven Zeit mit seinem kontradiktorischen Gegenteil verknüpft<br />
werden kann. Daß <strong>die</strong>ses auch ohne <strong>der</strong> Bestimmung des Zustandes als<br />
Art eines Dinges zu existieren möglich ist, hat nicht zuletzt K. Cramer<br />
aufgezeigt. Allein weil mit Kant demonstriert worden ist, daß das<br />
Gegenteil sowohl in <strong>der</strong> Definition von Zufälligkeit wie in <strong>der</strong> Definition<br />
<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong> logischen Form nach als kontradiktorischer<br />
Gegensatz ausgedrückt werden kann, wird aber <strong>die</strong>se für <strong>die</strong><br />
Untersuchung <strong>der</strong> Kategorien überhaupt so wichtige reale<br />
Entgegensetzung nicht aus dem formal aufgestellten kontradiktorischen<br />
Gegensatz selbst erklärbar. — Die verschiedenen Definitionen des Zufalls<br />
66 Nova Dilucidatio, Prop. VI. Zugleichsein. Kant gestaltet hier <strong>die</strong> Leibnizsche Monade<br />
zum Atomismus um., <strong>die</strong> Strebung <strong>der</strong> abgeschlossenen Monade wird hier noch<br />
durch <strong>die</strong> göttliche Verstandes-tätigkeit, welche erst <strong>die</strong> isolierten Atome in<br />
Verbindung bringt, ersetzt.
-— 120 —<br />
(im Rahmen des Kompossibilitätsprinzips, im Rahmen des Prinzips <strong>der</strong><br />
Kausalität) vermögen transzendentalanalytisch nur höchst allgemein den<br />
transzendentallogisch nur ungefähr vorgestellten Gegensatz zu<br />
formulieren, wie ich glaube, zeigen zu können.<br />
Die Inkohärenz <strong>der</strong> Darstellungen, <strong>die</strong> zuerst <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung als<br />
Verknüpfung kontradiktorisch einan<strong>der</strong> entgegengesetzter Bestimmungen<br />
im Dasein ein <strong>und</strong> desselben Dinges bestimmt, dann <strong>die</strong> Entgegensetzung<br />
nur als eine rein logische behauptet, 67 schließlich aber <strong>die</strong> Entgegensetzung<br />
<strong>der</strong> Sukzessionen wie<strong>der</strong> als nicht logische Entgegensetzung zu denken<br />
aufgibt, 68 entspricht den weithin unaufgeklärten Verhältnissen von reinem<br />
Verstandesbegriff <strong>und</strong> Einbildungskraft im Schema <strong>der</strong> reinen<br />
Verstandesbegriffe. 69 Kant besitzt aber offensichtlich ein Bewußtsein über<br />
<strong>die</strong>se Problematik: »Wie nun überhaupt etwas verän<strong>der</strong>t werden könne,<br />
wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein<br />
entgegengesetzter im an<strong>der</strong>en folgen könne: davon haben wir a priori<br />
nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird <strong>die</strong> Kenntnis wirklicher Kräfte<br />
erfor<strong>der</strong>t, welche nur empirisch gegeben werden kann.« 70 Schon allein<br />
(wenn auch nicht nur) aus den Gründen <strong>der</strong> transzendentalen Ästhetik,<br />
hält Kant aber <strong>die</strong> Erörterung <strong>die</strong>ser Kräfte einer Behandlung nach<br />
Prinzipien a priori für fähig: »Aber <strong>die</strong> Form einer jeden Verän<strong>der</strong>ung, <strong>die</strong><br />
Bedingung, unter welcher sie, als Entstehen eines an<strong>der</strong>en Zustandes,<br />
allein vorgehen kann, (<strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong>selben, d. i. <strong>der</strong> Zustand, <strong>der</strong><br />
verän<strong>der</strong>t wird, mag sein, welcher er wolle), mithin <strong>die</strong> Sukzession <strong>der</strong><br />
67 »Man kann sich das Nichtsein <strong>der</strong> Materie leicht denken, aber <strong>die</strong> Alten folgerten<br />
daraus doch nicht ihre Zufälligkeit. Allein selbst <strong>der</strong> Wechsel des Seins <strong>und</strong> des<br />
Nichtseins eines gegebenen Zustandes eines Dinges, darin alle Verän<strong>der</strong>ung besteht<br />
,beweiset gar nicht <strong>die</strong> Zufälligkeit <strong>die</strong>ses Zustandes, gleichsam aus <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
seines Gegenteils. (...) Denn <strong>die</strong>ses Gegenteil ist hier nur logisch, nicht realiter dem<br />
an<strong>der</strong>en entgegengesetzt. Man müßte beweisen, daß anstatt <strong>der</strong> Bewegung im<br />
vorhergehenden Zeitpunkte, es möglich gewesen,daß <strong>der</strong> Körper damals geruhet<br />
hätte, um <strong>die</strong> Zufälligkeit seiner Bewegung zu beweisen, nicht daß er hernach ruhe;<br />
denn da können beide Gegenteile gar wohl miteinan<strong>der</strong> bestehen.« ( B 290)<br />
Hingegen in <strong>der</strong> Amphibolie <strong>der</strong> Verstandesbegriffe: »Wenn Realität nur durch den<br />
reinen Verstand vorgestellt wird (realitatis noumenon),so läßt sich zwischen den<br />
Realitäten kein Wi<strong>der</strong>streit denken. (...) Dagegen kann das Reale in <strong>der</strong> Erscheinung<br />
(realitas phaenomenon) unter einan<strong>der</strong> allerdings im Wi<strong>der</strong>streit sein, <strong>und</strong> vereint in<br />
demselben Subjekt, eines <strong>die</strong> Folge des an<strong>der</strong>en ganz o<strong>der</strong> zum Teil vernichten<br />
(...).«(B 320 f./A 264 f.)<br />
68 K.r.V., A 456/B 486 f.<br />
69 Vgl. hiezu im dritten Abschnitt <strong>die</strong> Behandlung des Duisburger Nachlasses, 3. Kap.,<br />
§§ 18-20<strong>und</strong> das vierte Kapitel.<br />
70 K. r.V., B 252/A 206
-— 121 —<br />
Zustände selbst (das Geschehene) kann doch nach dem Gesetze <strong>der</strong><br />
Kausalität <strong>und</strong> den Bedingungen <strong>der</strong> Zeit a priori erwogen werden.« 71<br />
b) Der zureichende Gr<strong>und</strong> liegt in <strong>der</strong> Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Folgen<br />
In <strong>der</strong> leibnizianisch-wolffschen Tradition wurden <strong>die</strong> kontingenten<br />
Prädikatsverhältnisse als logisch zufällige verstanden, 72 <strong>die</strong> modallogische<br />
Diskussion hat aber gezeigt, daß rein logisch definierten<br />
Prädikatsverhältnisse, welche <strong>die</strong> Sukzession beschreiben, unter <strong>der</strong><br />
Voraussetzung, sie beziehen sich erstens auf ein Ding <strong>und</strong> zweitens nur<br />
auf das Anheben <strong>und</strong> Vergehen von Eigenschaften desselben, nicht <strong>die</strong><br />
Definition des Zufalls erfüllen. 73 Den zwei Definitionen <strong>der</strong> verlaufenden<br />
Zeit: zuerst <strong>die</strong> <strong>der</strong> Dauer, <strong>der</strong> etwas Beharrliches vorausgesetzt ist <strong>und</strong><br />
dann <strong>die</strong> des Wechsels, dem das Anheben <strong>und</strong> Vergehen einer<br />
Bestimmung am Beharrlichen vorausgesetzt ist, gibt Kant also<br />
modallogische Definitionen anhand <strong>der</strong> Operationen von Ersetzen <strong>und</strong><br />
Verknüpfen im Satz vom modallogischen Zufall zur Seite, <strong>die</strong> einer<br />
transzendentalen Interpretation des Zufalls gegenüber invariant bleiben.<br />
Erst mit <strong>der</strong> kategorialen Definition des Zufalls in <strong>der</strong> vierten Antinomie<br />
wird <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> Deduktion des transzendentalen Prinzips <strong>der</strong> Kausalität<br />
geän<strong>der</strong>te Ausgangslage <strong>der</strong> Argumentation erkenntlich — Wie kann aber<br />
<strong>die</strong> schwierige modallogische Darstellung <strong>der</strong> Gesetzmäßigkeit des<br />
Wechsels als Sukzession aus <strong>der</strong> Thesis <strong>der</strong> vierten Antinomie verstanden<br />
werden? Ich betrachte nochmals <strong>die</strong> Kernaussage Kants: »[...] Was<br />
verän<strong>der</strong>t wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer an<strong>der</strong>en<br />
Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist <strong>die</strong>ses nicht das<br />
kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfor<strong>der</strong>t wird,<br />
daß in <strong>der</strong>selben Zeit, da <strong>der</strong> vorige Zustand war, an <strong>der</strong> selben Stelle<br />
desselben sein Gegenteil hätte sein können, welches aus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
gar nicht geschlossen werden kann. [...] Also beweist <strong>die</strong> Sukzession<br />
entgegengesetzter Bestimmungen, d.i. <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung, keineswegs <strong>die</strong><br />
Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes.« 74<br />
71 l. c.<br />
72 Refl. 3838, 5796, vgl. Anmk. 23<br />
73 Damit ist hier nicht <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> reinen Modalkategorie gemeint, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />
zusätzlichen Aus-führungen auf K.r.V., A 456/B 486 f. bzw. <strong>die</strong> ergänzend<br />
hinzugezogene Stelle aus <strong>der</strong> Refl. 4041 (Ersetzung durch das Gegenteil).<br />
74 K.r.V., A 456/B 486 f..
-— 122 —<br />
Der behandelte Gegensatz ist also nicht mehr logisch, son<strong>der</strong>n nur<br />
transzendentallogisch zu verstehen möglich: Die Folgen eines Zustandes<br />
eines Dinges sind als empirische gegeben, <strong>der</strong>en Gesetzmäßigkeit aber<br />
analytisch (da bereits als Folgen eingeführt) <strong>und</strong> so metaphysisch<br />
vorauszusetzen. Gerade das einfache analytische Enthaltensein kann aber<br />
nicht vom bloß komparativ Allgemeinen unterschieden werden. Kants<br />
Ansatz <strong>der</strong> modallogischen Reflexion geht nunmehr auf <strong>die</strong> allgemeine<br />
Bedingung <strong>der</strong> Erfahrung <strong>und</strong> nicht länger ausschließlich auf den Satz<br />
vom Wi<strong>der</strong>spruch zurück. Zufällig ist dann jene Ersetzung innerhalb <strong>der</strong><br />
Bedingungen im Antecedens, <strong>die</strong> nichts an <strong>der</strong> Folgenschar än<strong>der</strong>t. Das<br />
kehrt <strong>die</strong> Definition aus <strong>der</strong> Reflexion 4041 um: Die modalkategoriale<br />
Definition <strong>der</strong> Folge bestimmt nunmehr a posteriori <strong>die</strong> Anwendung des<br />
principium contradictionis auf <strong>die</strong> Definition des Zufalls. Das ist eine<br />
eminente Än<strong>der</strong>ung des Standpunktes gegenüber dem auf das<br />
Zugleichsein verkürzte Kompossibilitätsprinzip Kantens im Obersten<br />
Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile. Die augenscheinlichste Än<strong>der</strong>ung ist<br />
<strong>die</strong> Dynamisierung <strong>der</strong> verfließenden Zeit, indem den Erscheinungen<br />
Kräfte zugeordnet werden können, <strong>der</strong>en Gesetzmäßigkeit auf <strong>der</strong><br />
Darstellung <strong>der</strong> verfließenden Zeit als Sukzessivität <strong>der</strong> Folgen beruht.<br />
Immerhin ließe sich das Kompossibilitätsprinzip auch auf verschiedenen<br />
Scharen von Folgen im Rahmen <strong>der</strong> allgemein kollektiv einheitlich<br />
gedachten Sukzessivität, welche <strong>die</strong> verfließende Zeit anhand des<br />
Wechsels einteilt, nochmals anwenden.<br />
Dabei wird <strong>die</strong> Determination <strong>der</strong> Folgen auch bei Kant metaphysisch<br />
vorausgesetzt, allerdings werden transzendentalanalytisch <strong>die</strong><br />
Erscheinungen als Wahrnehmungen in <strong>der</strong> Erfahrung mit Ursache <strong>und</strong><br />
Wirkung verknüpft. Auf <strong>die</strong>sem Wege soll zunächst <strong>die</strong> Regel a priori<br />
überhaupt mit den Regeln <strong>der</strong> reproduktiven Einbildungskraft in <strong>der</strong><br />
sinnlichen Empirie verb<strong>und</strong>en werden. Kant hat jedoch nicht nur einen<br />
logischen <strong>und</strong> phänomenologischen (transzendentalästhetischen) Gr<strong>und</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n auch einen kategorialen Gr<strong>und</strong>, wenn er behauptet: »Außer <strong>der</strong><br />
Zufälligkeit gehört noch etwas mehr zur Verän<strong>der</strong>ung. Die Sukzession <strong>der</strong><br />
Zustände ist Verän<strong>der</strong>ung.« 75 Was noch fehlt zum Abschluß <strong>der</strong><br />
transzendentalen Untersuchung ist <strong>der</strong> Beweis des vorausgesetzen<br />
Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Kausalität, ohne welchem <strong>die</strong> Rede von »Zufälligkeit«<br />
nicht nur ohne jede Relativität son<strong>der</strong>n auch ohne jeden inhaltlichen<br />
Gr<strong>und</strong> wäre.<br />
75 Refl. 4816
-— 123 —<br />
6) Die transzendentallogische Erörterung:<br />
Vom Schema zwischen rationaler Psychologie <strong>und</strong> rationalen<br />
Physiologie zum architektonischen Abschluß <strong>der</strong> Vernunft<br />
überhaupt<br />
Kant selbst vermeint im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalitätskategorie<br />
an einer Stelle schon mit dem Nachweis <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Sukzession<br />
sowohl <strong>der</strong> Apprehensionen wie <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>die</strong> Kausalität<br />
gewissermaßen mittels Rückführung aufs Dasein bewiesen zu haben. Die<br />
Lösung, <strong>die</strong> Kant in <strong>der</strong> Zweiten Analogie vorschlägt, kann aber<br />
offensichtlich nicht befriedigen: »Wenn es nun ein notwendiges Gesetz<br />
unserer Sinnlichkeit, mithin eine formale Bedingung aller Wahrnehmung<br />
ist: daß <strong>die</strong> vorige Zeit <strong>die</strong> folgende notwendig bestimmt (indem ich zur<br />
folgenden nicht an<strong>der</strong>s gelangen kann, als durch <strong>die</strong> vorhergehende); so ist<br />
es auch ein unentbehrliches Gesetz <strong>der</strong> empirischen Vorstellung <strong>der</strong><br />
Zeitreihe, daß <strong>die</strong> Erscheinungen <strong>der</strong> vergangenen Zeit jedes Daseins in<br />
<strong>der</strong> folgenden bestimmen, <strong>und</strong> daß <strong>die</strong>se, als Begebenheiten, nicht<br />
stattfinden, als so fern jene ihnen ihr Dasein in <strong>der</strong> Zeit bestimmen, d.i.<br />
nach einer Regel festsetzen.« 76<br />
Dieser Auffassung kann ich mich so nicht anschließen. 77 Zwar kann ich zur<br />
folgenden nur durch <strong>die</strong> vorige Zeit kommen, <strong>und</strong> das gilt sowohl für <strong>die</strong><br />
76 K.r.V., B 244/A 199<br />
77 Aus einer sachlich ganz an<strong>der</strong>en Perspektive betrachtet, zeigt sich das gleiche<br />
Problem auch in <strong>der</strong> wissenschaftstheoretischen Diskussion zur Nationalökonomie:<br />
»Die kausalen Beziehungen in Begriffen funktionaler Interdependenz zu<br />
formulieren, ist genau das Ziel <strong>der</strong> fortgeschrittenen Wissenschaften, <strong>die</strong> über <strong>die</strong><br />
unpräzisen Begriffe Ursache <strong>und</strong> Wirkung hinausgegangen sind.« (T. W. Hutchison,<br />
The Significance and Basis Postulates of Economic Theory, London 1938, p. 71).<br />
An<strong>der</strong>erseits meint Mario Bunge, daß »mit <strong>der</strong> Aufdeckung von<br />
Wechselbeziehungen <strong>die</strong> Probleme <strong>der</strong> Determination nicht immer erschöpfend<br />
behandelt sein müssen, es sei denn, eine extreme Symmetrie stünde auf dem Spiel«,<br />
<strong>und</strong> daß z. B. »<strong>die</strong> übliche Interpretation <strong>der</strong> Quantenmechanik Ursache <strong>und</strong><br />
Wirkung nicht aufhebt, sonden eher den starren kausalen Nexus zwischen ihnen (<strong>die</strong><br />
sogenannte »Quanten-Indeterminiertheit) [als] eine Konsequenz <strong>der</strong> dem mo<strong>der</strong>nen<br />
Positivismus innewohnenden idealistischen Hypothese« vorstellt. Es wird<br />
hinzugefügt, daß »eine kausale Interpretation einer mathematischen Form [...] nicht<br />
zu den mathematischen Symbolen gehört, son<strong>der</strong>n zu einem System von<br />
Beziehungen, das <strong>die</strong> Zeichen mit den betreffenden physikalischen, chemischen,<br />
biologischen [...] wirklichen Größen verbindet. Manchmal wird eine solche<br />
Interpretation nicht explizite gemacht, son<strong>der</strong>n als erwiesen vorausgesetzt.« (Mario<br />
Bunge, Cambridge, 1959; p. 14, 76-77, 164). (aus <strong>der</strong> Einleitung von Maurice Dobbs,<br />
Wert- <strong>und</strong> Verteilungstheorien seit Adam Smith. Eine nationalökonomische<br />
Dogmengeschichte, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1977, engl. Originalausg. Cambridge<br />
Univ. Press, London 1973, p. 15)
-— 124 —<br />
Zeitreihe <strong>der</strong> Vorstellungen als Produkte reiner Einbildungskraft wie für<br />
<strong>die</strong> Reihe <strong>der</strong> Apprehensionen wie für <strong>die</strong> Zeitreihe <strong>der</strong> Erscheinungen, 78<br />
allein kann aus <strong>die</strong>ser Gesetzmäßigkeit eben noch nicht auf gleiche Weise<br />
auf Kausalität geschlossen werden, wie das Beharrliche aus <strong>der</strong><br />
Anwendung <strong>der</strong> Regeln <strong>der</strong> Gleichgültigkeit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Signifikanz <strong>der</strong><br />
Reihenfolge <strong>der</strong> vorgenommenen Apprehension a posteriori <strong>und</strong> dennoch<br />
mit Notwendigkeit a priori entspringt. Ich setze hier <strong>die</strong> Auflösung einer<br />
Komplikation voraus, <strong>die</strong> Kant zwischen A <strong>und</strong> B nicht ausreichend<br />
thematisiert hat: nämlich, daß <strong>die</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>die</strong>se<br />
zu Vorstellungen macht, was nicht ohne produktive Einbildungskraft<br />
geschehen kann. Abgesehen, daß damit <strong>die</strong> Reflexion auf den subjektiven<br />
Standpunkt im Raume noch ausgespart bleibt, ist also <strong>die</strong> Frage, wie Kant<br />
etwa <strong>die</strong> Unterscheidung in »<strong>die</strong> subjektive Folge <strong>der</strong> Apprehension« von<br />
»<strong>der</strong> objektiven Folge <strong>der</strong> Erscheinungen« (B 238/A 193) verstanden haben<br />
will. Wie sollen Erscheinungen im Bewußtsein statthaben ohne<br />
Apprehension? Weshalb beschränkt Kant an <strong>die</strong>ser Stelle <strong>die</strong><br />
Apprehension auf <strong>die</strong> subjektive Folge? Kant findet in <strong>die</strong>ser Frage nur<br />
stellenweise zu einer akzeptabel interpretierbaren Formulierung; so in <strong>der</strong><br />
schon einmal herangezogenen Stelle: »Man siehet bald, daß, weil<br />
Übereinstimmung <strong>der</strong> Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist, hier nur<br />
nach den formalen Bedingungen <strong>der</strong> empirischen Wahrheit gefragt<br />
werden kann, <strong>und</strong> Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den<br />
Vorstellungen <strong>der</strong> Apprehension, nur dadurch als das davon<br />
unterschiedene Objekt <strong>der</strong>selben könne vorgestellt werden, wenn sie unter<br />
einer Regel steht, welche sie von je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Apprehension<br />
unterscheidet.« 79<br />
Hier kann <strong>die</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinung schon als eine Reihe von bereits vom<br />
Verstandesbegriff determinierten Apprehensionen vorgestellt werden. Ich<br />
gehe in <strong>die</strong>ser Frage davon aus, daß erstens unter <strong>der</strong> »subjektiven Folge<br />
<strong>der</strong> Apprehension« <strong>die</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Erscheinungen zu verstehen ist,<br />
was eben <strong>die</strong> einzige Art ist, wie uns Erscheinungen gegeben werden<br />
78 K.r.V., B 240/A 195: »Wenn wir also erfahren, daß etwas geschiehet, so setzen wir<br />
dabei je<strong>der</strong>zeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, woraus es nach einer Regel<br />
folgt. Denn ohne <strong>die</strong>ses würde ich nicht von dem Objekte sagen, daß es folge, weil<br />
<strong>die</strong> bloße Folge in meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in<br />
Beziehung auf ein vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im Objekte berechtiget.«<br />
Ich vermag demgegenüber freilich <strong>die</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ausdrucksweise in<br />
B 244/A 199 im Sinne <strong>der</strong> Intellection <strong>der</strong> Kausalität Kants verstehen, vermag allein<br />
daraus aber kein weiteres Argument für <strong>der</strong>en Objektivität zu ersehen.<br />
79 K. r. V., B 236/A 192
-— 125 —<br />
können, davon unterschieden Kant mit dem Ausdruck <strong>der</strong> subjektiven<br />
Apprehension hier aber auch nur <strong>die</strong> bloße Bewußtmachung <strong>der</strong><br />
Assoziativität unserer Vorstellungen im Fluß <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>der</strong><br />
empirischen Apperzeption meinen könnte. Zweitens ist <strong>die</strong> »objektive<br />
Folge <strong>der</strong> Erscheinungen« dann schon als unter <strong>der</strong> reproduktiven Regel<br />
<strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Vorstellungen stehend zu denken, <strong>die</strong> zugleich als Produkte<br />
<strong>der</strong> Einbildungskraft unter den Verstandesbegriffen stehen können (in<br />
Nachfolge <strong>der</strong> bloßen Rekognition <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Reproduktion in A), <strong>die</strong><br />
allein Objekte <strong>und</strong> Kausalität zu denken erlauben. Das empirische<br />
Mannigfaltige wird also mittels Schematen <strong>der</strong> Verstandesbegriffe in eine<br />
Reihenfolge gebracht, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Vergleichung <strong>der</strong> Reihen <strong>der</strong><br />
reproduktiven Vorstellungen des Gegebenen (den apprehen<strong>die</strong>rten<br />
Erscheinungen) <strong>die</strong>jenige auszeichnet, welche mit <strong>der</strong> Regel des<br />
Verstandesbegriffes übereinstimmt — eben jene Regel, welche <strong>die</strong><br />
Apprehension (als <strong>die</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Erscheinungen beinhaltend) von<br />
an<strong>der</strong>en Apprehensionen (also an<strong>der</strong>en reproduzierten Reihen von<br />
Erscheinungen o<strong>der</strong> auch bloß assoziativen Vorstellungen) unterscheidet. 80<br />
Dem gegenüber scheint <strong>die</strong> modalogische Diskussion zweifellos ein<br />
bestimmteres Ergebnis aufweisen zu können: Die Möglichkeit wird nicht<br />
mehr allein als bloße Denkmöglichkeit durch das principium contradictionis<br />
definiert, son<strong>der</strong>n bereits einmal zum Zufall <strong>und</strong> einmal zur Verän<strong>der</strong>ung<br />
eingeschränkt. Nun könnte man sich ab <strong>der</strong> Feststellung, daß <strong>die</strong><br />
aussagenlogische Verknüpfung <strong>der</strong> Sukzession <strong>der</strong> Prädikate durch das<br />
kontradiktorische Gegenteil (ungeachtet <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong>en<br />
Entgegensetzung) nicht zufällig sei, damit begnügen, daraus analytisch zu<br />
schließen: Wenn nämlich <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung nicht das Zufällige ist, dann, so<br />
<strong>der</strong> analytische Schluß aus dem modalkategorialen Gegensatz von<br />
Notwendigkeit <strong>und</strong> Zufälligkeit, muß sie notwendig sein. Damit wäre man<br />
je<strong>der</strong> weiteren Untersuchung enthoben, ginge es allein um <strong>die</strong><br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> leibnizianisch-wolffschen Tradition <strong>der</strong><br />
rationalen Metaphysik, welche noch alles Kontingente als zufällig <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit eines Ideenreiches gegenübergestellt hat. Jedoch bleibt <strong>die</strong><br />
Natur <strong>der</strong> Entgegensetzung um so eher im Trüben, als daß es sich hier<br />
nicht um den Gegensatz von Existenz <strong>und</strong> Nichtexistenz handelt, son<strong>der</strong>n<br />
um den Gegensatz von Arten zu existieren. 81 Kant läuft hier in Gefahr, den<br />
Begriff <strong>der</strong> Kausalität aus dem Dasein ableiten zu wollen, obgleich er das<br />
80 Vgl. aber : G. Prauss, Erscheinung bei Kant, Berlin1971.<br />
81 K. r. V., B 602 f./A 574 f.
-— 126 —<br />
für <strong>die</strong> Vollständigkeit des Begriffes <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines<br />
Dinges untersagt: Mit dem Dasein ist zwar <strong>die</strong> durchgängige Bestimmung<br />
eines Dinges gegeben, aber nicht <strong>die</strong> durchgängige Bestimmung seines<br />
Begriffes. 82<br />
Die Notwendigkeit, eigens nach dem Gr<strong>und</strong> des Wechsels zu fragen, kann<br />
aber auch nicht zu <strong>der</strong> gleichen Definition <strong>der</strong> Relation von Ursache <strong>und</strong><br />
Dependenz führen wie im Satz »Je<strong>der</strong> Zufall hat eine Ursache«. 83 Zunächst<br />
entspricht <strong>die</strong> Verwendung des Begriffes vom Zufall nicht <strong>der</strong> oben<br />
verwendeten Definition, son<strong>der</strong>n in <strong>die</strong>sem Satz ist gerade vom Zufall <strong>der</strong><br />
Sukzession <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>die</strong> Rede: »Daß gleichwohl <strong>der</strong> Satz: alles<br />
Zufällige müsse eine Ursache haben, doch je<strong>der</strong>mann aus bloßen Begriffen<br />
klar einleuchte, ist nicht zu leugnen; aber alsdann ist <strong>der</strong> Begriff des<br />
Zufälligen schon so gefaßt, daß er nicht <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Modalität (als<br />
etwas, dessen Nichtsein sich denken läßt), son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> <strong>der</strong> Relation (als<br />
etwas, das nur als Folge von einem an<strong>der</strong>en existieren kann) enthält, <strong>und</strong><br />
da ist es freilich ein identischer Satz: was nur als Folge existieren kann, hat<br />
seine Ursache.« 84 Kant spricht damit den metaphysischen Gr<strong>und</strong>satz aus,<br />
daß alles, was in Wirklichkeit existiert (also alles Kontingente), eine<br />
Ursache hat. Diesen einmal vorausgesetzt, muß auch das zufällig<br />
Existierende immer schon analytisch eine Ursache besitzen. Derart verliert<br />
aber das Prinzip <strong>der</strong> Kausalität jede diskriminierende Kraft, was eben auch<br />
allen Versuchen, <strong>die</strong> Kausalität allein aus <strong>der</strong> logischen Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Sukzessivität (sowohl <strong>der</strong> Apprehensionen wie <strong>der</strong> Erscheinungen)<br />
abzuleiten, eigentümlich ist. Die Einschränkung <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong><br />
verlaufenden Zeit auf <strong>die</strong> Sukzession <strong>der</strong> Prädikate (<strong>und</strong> nicht auf den<br />
bloßen Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen) in <strong>der</strong> Form des kontradiktorischen<br />
Gegensatzes sollte aber zu einer strengeren Definition <strong>der</strong> Kausalität<br />
82 Metaphysik Pölitz, „Durch <strong>die</strong> Wirklichkeit wird dem Subjecte nichts mehr gegeben<br />
als durch <strong>die</strong> Möglichkeit; <strong>die</strong> Möglichkeit mit allen Prädikaten wird nur absolut<br />
gesetzt. (...) Alles, was existiert, ist zwar durchgängig bestimmt, allein bey <strong>der</strong><br />
Existenz wird das Ding mit allen seinen Prädikaten gesetzt, also durchgängig<br />
bestimmt. Die Existenz ist aber nicht <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung;<br />
denn <strong>die</strong>se kann ich nicht erkennen, <strong>und</strong> es gehört dazu Allwissenheit.“ (p. 40)<br />
83 K.r.V.: „Daher es auch niemals gelungen ist, aus bloßen reinen Verstandesbegriffen<br />
einen synthetischen Satz zu beweisen, z.B. den Satz: alles Zufällig-Existierende hat<br />
eine Ursache. Man konnte niemals weiter kommen, als zu beweisen, daß, ohne <strong>die</strong>se<br />
Beziehung, wir <strong>die</strong> Existenz des Zufälligen gar nicht begreifen, d.i. a priori durch<br />
den Verstand <strong>die</strong> Existenz eines solchen Dinges nicht erkennen könnten; woraus<br />
aber nicht folgt, daß eben <strong>die</strong>selbe auch <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Sachen<br />
selbst sei.“ (B 289)<br />
84 B 289 f.
-— 127 —<br />
führen können. Worin besteht <strong>die</strong> erwartete größere Strenge <strong>der</strong><br />
Definition? Allgemein gesagt, zweifellos darin, ein Kriterium angeben zu<br />
können, was Ursache von welcher Wirkung ist; etwas, was von dem Satz<br />
»Je<strong>der</strong> Zufall hat eine Ursache« jedenfalls nicht erwartet werden kann.<br />
Kant hält erst <strong>die</strong> logische Eigenschaft <strong>der</strong> Zeit, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Feststellung<br />
des bloßen Wechsels hinausgeht, also daß <strong>die</strong> Entgegensetzung in <strong>der</strong><br />
Definition des Verän<strong>der</strong>lichen als kontradiktorischer Gegensatz von non-B<br />
<strong>und</strong> B ausgedrückt werden kann, formal für ausreichend f<strong>und</strong>iert, um <strong>die</strong><br />
Frage nach einer äqivalenten Verbindung zur Relation von (unbekannter)<br />
Ursache <strong>und</strong> (bekannter) Dependenz, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinungen<br />
identifiziert werden können, überhaupt stellen zu können. Kant markiert<br />
zwischen dem logischen Zufall, dem nichts determiniert ist, <strong>und</strong> dem<br />
empirischen Zufall, <strong>der</strong> sich von vollständiger Determination nicht<br />
unterscheiden läßt, da je<strong>der</strong> Zufall eine Ursache hat, eine Grenze. Diesen<br />
von Kant vorgezeichneten Weg aus <strong>der</strong> wolffschen Scholastik heraus noch<br />
einen Schritt weiter zu verfolgen, sollte also eine lohnende Aufgabe sein.<br />
Die Wirkung einer Ursache (ein analytischer Satz) muß nicht nur in<br />
Hinblick auf <strong>die</strong> logische Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung als Gegensatz <strong>der</strong><br />
Ursache verstanden werden. Jedoch: Unabhängig vom Ablauf <strong>der</strong> Zeit<br />
bleibt <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> Begriffe von Ursache <strong>und</strong> Dependenz gewahrt:<br />
Die Wirkung ist das Abhängige <strong>und</strong> setzt so <strong>die</strong> Ursache voraus; <strong>die</strong><br />
Ursache aber existiert unabhängig von <strong>der</strong> Wirkung, wenngleich für sich<br />
nicht allein als Ursache. Also: Nicht nur insofern <strong>der</strong> Verstandesbegriff <strong>der</strong><br />
Kausalitätskategorie analytisch eine eigene Zeitbedingung mit <strong>der</strong><br />
Zeitordnung ausdrückt, läßt sich <strong>die</strong>se selbst mit <strong>der</strong> kontradiktorischen<br />
Entgegensetzung von non-B <strong>und</strong> B (B eben als Ausdruck <strong>der</strong> Wirkung)<br />
beschreiben. Dann aber entspricht <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> Zeitordnung im<br />
reinen Verstandesbegriff 85 formal <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
als modallogische Regel <strong>und</strong> so auch als Weiterbestimmung des Wechsels<br />
<strong>der</strong> bloßen Zeitreihenfolge zur Sukzession. Nun stellt schon <strong>der</strong><br />
vorkritische Kant fest, daß es keine Steigerung von Notwendigkeit geben<br />
kann:<br />
»Wenn wir <strong>die</strong> hypothetische, insbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> moralische Notwendigkeit<br />
von <strong>der</strong> unbedingten unterscheiden, dann geht es hier nicht um <strong>die</strong> Kraft<br />
<strong>und</strong> Wirksamkeit <strong>der</strong> Notwendigkeit, ob nämlich eine Sache in dem einen<br />
85 K.r.V., B 248: „Das Verhältnis bleibt, wenn gleich keine Zeit verlaufen ist.“
-— 128 —<br />
Fall mehr o<strong>der</strong> weniger notwendig sei als in an<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n es wird<br />
nach dem <strong>die</strong> Notwendigkeit bewirkenden Gr<strong>und</strong> gefragt, nämlich woher<br />
<strong>die</strong> Sache notwendig sei.« 86<br />
Die Unbedingtheit <strong>der</strong> Zeitordnung des reinen Verstandesbegriffes <strong>der</strong><br />
Kausalitätskategorie ist völlig unabhängig von <strong>der</strong> Unbedingtheit <strong>der</strong><br />
sukzessiven Zeitreihe, den Wechsel als Anheben <strong>und</strong> Vergehen einer<br />
Eigenschaft in einem kontradiktorischen Gegensatz auszudrücken. Die<br />
selbst wie<strong>der</strong> nur formale Gleichheit bei<strong>der</strong> gegenüber dem logischen<br />
Gegensatz erhöht nicht <strong>der</strong>en Notwendigkeit, son<strong>der</strong>n vertieft im<br />
Gegensatz bloß das Verständnis, woher <strong>die</strong> Sache notwendig ist. Nämlich<br />
einerseits aus <strong>der</strong> Eigenschaft mancher Begriffe, eine Zeitbedingung bei<br />
sich zu führen, wie <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Dauer, <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Ursache. An<strong>der</strong>erseits erweist sich <strong>die</strong> Notwendigkeit, im Gang <strong>der</strong><br />
transzendentalen Untersuchung <strong>der</strong> verlaufenden Zeit anhand des<br />
Begriffes <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung mehrere Definitionen geben zu müssen, sodaß<br />
zwar <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> Sukzessivität als kontradiktorischer Gegensatz von<br />
non-B <strong>und</strong> B unbedingt gilt, aber nicht, daß es dabei um <strong>die</strong> Festlegung auf<br />
eine einzige empirische Interpretation <strong>der</strong> verlaufenden Zeit handelt:<br />
— <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung nur als Sukzessivität <strong>der</strong> sinnlichen Erscheinungen<br />
— <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Größe als Extension o<strong>der</strong> als Intensität<br />
— <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung des Ortes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Lage als Bewegung<br />
Festzuhalten ist, daß damit nicht notwendigerweise alle möglichen<br />
Bedeutungen von empirischer Zufälligkeit erfaßt sind. 87 Aber von den<br />
gemeinsam notwendigen Definitionen <strong>der</strong> verlaufenden Zeit sind alle zur<br />
logischen Darstellung des Wechsel geeignet, <strong>und</strong> besitzen <strong>die</strong> gleiche<br />
formale Eigenschaft <strong>der</strong> kontradiktorischen Entgegensetzung von non-B<br />
<strong>und</strong> B wie <strong>der</strong> reine Verstandesbegriff. Der bloß formalen Eigenschaft des<br />
kontradiktorischen Gegensatzes von non-B <strong>und</strong> B in den Definitionen <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ung soll <strong>die</strong> Art <strong>der</strong> Entgegensetzung vermittels <strong>der</strong> Zeitordnung<br />
im reinen Verstandesbegriff in <strong>der</strong> Kausalkategorie jeweils bestimmt<br />
86 Nova dilucidatio, hrsg.v. Weischedel, Bd.I, p. 451 (Hervorhebung vom Autor)<br />
87 »Erstlich ist <strong>die</strong> Zufälligkeit des Zustandes nicht mit <strong>der</strong> Zufälligkeit <strong>der</strong> Sache zu<br />
vermengen. Die Sache bleibt.<br />
Zweitens <strong>die</strong> Zufälligkeit des Zustandes nicht mit <strong>der</strong> Zufälligkeit des Zustandes.<br />
Drittens ist <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit ein Beweis einer sinnlichen Zufälligkeit des<br />
Zustandes.« (Refl. 4308, aus den frühen 70er Jahren). Vgl. hiezu Cramer 1985, Kap.<br />
2.5
-— 129 —<br />
werden können. Jedoch kann analytisch vielleicht allein aus dem Begriff<br />
<strong>der</strong> Ursache eine mögliche Verän<strong>der</strong>ung, hingegen aus dem bloßen<br />
Wechsel nicht <strong>die</strong> Ursache erschlossen werden, wie Kant allem Anschein<br />
nach doch auch den Versuch unternimmt. Zuvor muß <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong><br />
Kausalität selbst noch synthetisch bewiesen werden, bevor er <strong>die</strong><br />
Entgegensetzung in <strong>der</strong> logischen Definition des Wechsels (also <strong>die</strong><br />
Sukzessivität des Wechsels) überhaupt alls kausale Relation interpretieren<br />
kann. Der reinen Kausalität <strong>der</strong> Ursache muß eine objektive Realität<br />
entsprechen. 88 Der Dialektik <strong>der</strong> von sich selbst verunreinigten Vernunft<br />
liegt es nun nahe, <strong>die</strong> reine Kausalität <strong>der</strong> Ursache als ontologisches<br />
F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong> Kraft auszugeben; vielleicht auch deshalb, weil <strong>die</strong> Kraft<br />
nicht selbst zu den Erscheinungen gehört. 89 Denn von irgendeiner<br />
Anschauung <strong>der</strong> Kraft selbst kann auch dann nicht <strong>die</strong> Rede sein, wenn<br />
von ihr <strong>der</strong> äußere Sinn affiziert wird; außerdem wäre eine solche, weil als<br />
Folge <strong>der</strong> Kraft nur sinnliche Empfindung in Frage kommt, unmöglich<br />
reine Anschauung. Das synthetische Urteil a priori, welches <strong>die</strong> Ursache<br />
mit <strong>der</strong> Dependenz synthetisch mittels dem Begriff <strong>der</strong> Kraft zu<br />
verknüpfen hat, kann nun nicht deshalb rein genannt werden, weil eine<br />
reine Anschauung zugr<strong>und</strong>e liegt wie im geometrischen Urteil, son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr, weil <strong>die</strong>ser Relation selbst keine Anschauung in <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />
gegeben werden kann <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kraft als intensive Größe einer Wirkung nur<br />
subjektive Empfindung bleibt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se nur in <strong>der</strong> Bewegung im Raume<br />
als Folge objektiv darstellbar wird. Zur Darstellung <strong>der</strong> intensiven<br />
Eigenschaften <strong>der</strong> Materie ist gemäß <strong>der</strong> Antizipationskategorie <strong>die</strong><br />
Bewegung im Raume vorausgesetzt. D.h. zwar, <strong>die</strong> Bewegung ist <strong>die</strong><br />
Voraussetzung zur Beschreibung des Raumes, aber ihr ist wie<strong>der</strong>um<br />
einerseits Materie als Substrat des Beweglichen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits bereits<br />
<strong>die</strong> Geometrie vorausgesetzt, um <strong>die</strong> Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Darstellung<br />
88 CRAMER 1985, p. 246. Hier wird <strong>die</strong> Kausalität als konkrete Eigenschaft eines<br />
Objektes, <strong>die</strong> in einer beson<strong>der</strong>en Wahrnehmung enthalten ist, dem Prinzip <strong>der</strong><br />
Ursache gegenübergestellt. Vgl. Chr. Wolff, Ontologia, § 884<br />
89 Vgl. demgegenüber aber R. Heinrich, Kants Erfahrungsraum., , wo er <strong>die</strong> Kausalität<br />
von <strong>der</strong> Wirkung ausgehend als Inhalt eines Gr<strong>und</strong>urteiles vorstellt: »In dem<br />
„Versuch den Begriff <strong>der</strong> negativen Größen in <strong>der</strong> Weltweisheit einzuführen“ (1763),<br />
beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> allgemeinen Schlußanmerkung, behandelt Kant <strong>die</strong> Kausalität<br />
(Realgr<strong>und</strong>) als einen unauflöslichen Begriff.« (p. 50) Heinrich bezieht sich auf<br />
folgende Stelle: »[...] findet sich, daß <strong>die</strong> Beziehung eines Realgr<strong>und</strong>es auf etwas, das<br />
dadurch gesetzt o<strong>der</strong> aufgehoben wird, gar nicht durch ein Urteil son<strong>der</strong>n bloß<br />
durch einen Begriff könne ausgedrückt werden, den man wohl durch Auflösung zu<br />
einfacheren Begriffen von Realgründen bringen kann, so doch, daß zuletzt alle<br />
unsere Erkenntnisse von <strong>die</strong>ser Beziehung sich in einfachen <strong>und</strong> unauflöslichen<br />
Bgriffen <strong>der</strong> Realgründe endiget [...]« (Neg. Größ. A 71)
-— 130 —<br />
festlegen zu können. Die Diskussion von Raum, Zeit <strong>und</strong> Materie setzt hier<br />
<strong>die</strong> Geometrie voraus. Erst nach dem Abschluß <strong>die</strong>ser phoronomischen<br />
Diskussion kann <strong>die</strong> Kraft (in den M. A. d. N. als Dynamik) qualitativ wie<br />
quantitativ diskutiert werden.<br />
Derart gewinnt <strong>die</strong> logische Definition <strong>der</strong> Sukzessivität analog zur<br />
Geometrie für <strong>die</strong> Darstellbarkeit des Raumes <strong>die</strong> Bedeutung,<br />
Voraussetzung zur objektiven Darstellbarkeit <strong>der</strong> Kausalitätskategorie zu<br />
sein. Nicht mehr soll bloß gelten: wenn Kausalität, dann Verän<strong>der</strong>ung; <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> so eben nicht mehr zwingende Umkehrung: wenn Verän<strong>der</strong>ung, dann<br />
Kausalität; son<strong>der</strong>n: Kausalität ist nur dann als objektiver Begriff möglich,<br />
wenn <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung eine logische Definition besitzt. 90 Da nun alle<br />
möglichen Arten von Verän<strong>der</strong>ung <strong>die</strong> logische Definition <strong>der</strong><br />
Sukzessivität zu erfüllen vermögen, ist für eine jede <strong>die</strong>ser Verän<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Ursache möglich. Jedoch: Die Zeitordnung des reinen<br />
Verstandesbegriffes, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> wechselseitigen analytischen Beziehung<br />
zwischen <strong>der</strong> Ursache <strong>und</strong> <strong>der</strong> Dependenz gleich in beiden Zeitrichtungen<br />
ausgedrückt werden kann, 91 sagt selbst über <strong>die</strong> Zeitreihenfolge nichts aus;<br />
weiters können Ursache <strong>und</strong> Wirkung sowohl zugleich wie auch<br />
nacheinan<strong>der</strong> existieren. Kant geht an an<strong>der</strong>er Stelle so weit, <strong>der</strong> reinen<br />
Kategorie sogar <strong>die</strong> Orientierung ihrer Zeitordnung abzusprechen, was<br />
wohl gleichbedeutend damit ist, <strong>die</strong> Zeitordnung selbst aufzuheben:<br />
»Vom Begriffe <strong>der</strong> Ursache würde ich (wenn ich <strong>die</strong> Zeit weglasse, in <strong>der</strong><br />
etwas auf etwas an<strong>der</strong>es nach einer Regel folgt,) in <strong>der</strong> reinen Kategorie<br />
nichts weiter finden, als daß es so etwas sei, woraus sich auf das Dasein<br />
eines an<strong>der</strong>en schließen läßt, <strong>und</strong> es würde dadurch (...) Ursache <strong>und</strong><br />
Wirkung gar nicht voneinan<strong>der</strong> unterschieden werden können.« 92<br />
Erst <strong>der</strong> kontradiktorische Gegensatz von non-B <strong>und</strong> B, also u. U. auch <strong>die</strong><br />
Identifizierung <strong>der</strong> Ursache als etwas (non-B), das erst dann Ursache<br />
90 CRAMER 1985, p. 205. Nach dem Ergebnis <strong>der</strong> nochmaligen Analyse <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
als Prädikabilie <strong>der</strong> Modalität des Daseins, daß aus <strong>der</strong> reinen Mannigfaltigkeit ohne<br />
empirische Mindestbedingung dem Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung kein »logischer« (wie<br />
K. Cramer sich ausdrückt) Inhalt gegeben werden könne, geht auch er auf <strong>die</strong><br />
logische Regel <strong>der</strong> Sukzessivität zurück, <strong>die</strong> allerding ebenfalls schon ein Substrat<br />
<strong>der</strong> gegebenen empirischen Mannigfaltigkeit voraussetzt. Er verweist dabei auf J.<br />
Vuillemin, Physique et Métaphysique Kantiennes, Paris 1955, p. 21.<br />
91 Die Ursache hat <strong>die</strong> Dependenz als analytisches Prädikat, weil eine Folge zu haben<br />
zum Begriff <strong>der</strong> Ursache gehört; gleiches gilt umgekehrt für <strong>die</strong> Dependenz. Vgl.<br />
CRAMER 1985, p. 55<br />
92 K.r.V., A 243/B 301
-— 131 —<br />
genannt werden kann (B), wenn bereits <strong>die</strong> Wirkung existiert, drückt also<br />
<strong>die</strong> Zeitordnung <strong>der</strong> Kategorie logisch aus. Es scheint, als könne es eine<br />
reine Kategorie (d. i. ohne Zeitbedingung) <strong>der</strong> Kausalität gar nicht geben.<br />
Hingegen sollte mit <strong>der</strong> Definition des Wechsels zur Sukzession <strong>die</strong><br />
verlaufende empirische Zeit erst logisch bestimmbar gemacht werden. 93<br />
Die Zeitreihenfolge hat ihre Regel, <strong>der</strong> aber, wie gezeigt, nicht analytisch<br />
<strong>die</strong> Zeitordnung <strong>der</strong> Kausalitätskategorie präzi<strong>die</strong>rt werden kann. Das<br />
synthetische Urteil a priori als synthetischer Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kategorie muß<br />
nun <strong>die</strong> Zeitreihenfolge mit <strong>der</strong> Zeitordnung notwendig verknüpfen<br />
können. Der einzige Gr<strong>und</strong>, <strong>der</strong> nicht neuerlich erst in <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />
Erfahrung als metaphysischer Anfangsgr<strong>und</strong> gesucht werden muß, ist, daß<br />
ohne <strong>der</strong> Kausalitätskategorie, also daß <strong>die</strong> Ursache für <strong>die</strong> Dependenz<br />
Kausalität hat, nicht aber <strong>die</strong> Dependenz für <strong>die</strong> Ursache, gar kein Objekt<br />
<strong>der</strong> Erfahrung gedacht werden könnte. Somit wird auch schon eine<br />
eindeutig orientierbare Zeitordnung ausgedrückt, wenn auch allein damit<br />
noch keine konkrete Regel einer Zeitreihenfolge über <strong>die</strong> logische Regel<br />
<strong>der</strong> sukzessiven Verän<strong>der</strong>ung hinaus gegeben ist.<br />
Um aus den gegebenen Erscheinungen auf Gegenstände <strong>der</strong> Erfahrung zu<br />
schließen, ist nicht allein <strong>die</strong> Substanzkategorie, son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong><br />
Kausalitätskategorie vorausgesetzt. Und zwar nicht deshalb, weil <strong>der</strong><br />
gegebene Gegenstand <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> unserer sinnlichen Empfindungen ist,<br />
son<strong>der</strong>n weil ohne Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Verknüpfung <strong>der</strong> Erscheinungen<br />
über <strong>die</strong> bloße Zeitreihenfolge hinaus gar keine Erfahrung möglich ist, <strong>die</strong><br />
schlechterdings eine Erkenntnis genannt werden könnte, <strong>und</strong> auf an<strong>der</strong>e<br />
Situationen heuristisch gezielt übertragbar wäre. 94 Die Formulierung von<br />
Gesetzmäßigkeiten bedarf bloß <strong>der</strong> Regelmäßigkeit in den Erscheinungen,<br />
aber <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Regelmäßigkeit in den Erscheinungen kann nur kausal<br />
gedacht werden. Nicht wird behauptet, daß <strong>der</strong> Erfahrung dann keine<br />
Regeln a priori gegeben wären <strong>und</strong> immer a posteriori verfahren werden<br />
müßte (immerhin bliebe <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Sukzessivität aller Erscheinungen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong>en Apprehension in Geltung), son<strong>der</strong>n daß schlechterdings <strong>die</strong><br />
bloß raphsodisch zusammenfassende Erfahrung als gr<strong>und</strong>los eigentlich<br />
keine Erkenntnis genannt werden könnte. Es sollte aber <strong>die</strong> Gewißheit,<br />
Erfahrungen bereits gemacht zu haben, auch wenn <strong>die</strong>se selbst nicht in ein<br />
vollständiges wissenschaftliches System nach Prinzipien gebracht worden<br />
93 K.r.V., §24, B 155<br />
94 Also eine gegenüber <strong>der</strong> Intersubjektivität <strong>der</strong> Allgemeingültigkeit selbständige<br />
Feststellung.
-— 132 —<br />
sind, doch ausreichen können, <strong>der</strong> Erfahrung vorausgesetzte Prinzipien<br />
des Vergleichens <strong>und</strong> des Verknüpfens anzunehmen. Nach Newton dürfe<br />
kein Zweifel an <strong>der</strong> Möglichkeit von Naturerkenntnis mehr gelten, <strong>der</strong>en<br />
subjektive Bedingungen in <strong>der</strong> Mathematik <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Physik Kant<br />
offenzulegen sich anstellt.<br />
Das synthetische Urteil a priori, das, so meine Umformulierung <strong>der</strong><br />
Problemstellung, <strong>die</strong> Zeitreihe des Wechsels mit <strong>der</strong> Zeitordnung des<br />
reinen Begriffs von Ursache <strong>und</strong> Dependenz a priori mittels <strong>der</strong> logischen<br />
Bestimmung des Wechsels zur Sukzessivität zu verknüpfen hat, erhält<br />
seine Notwendigkeit nicht allein aus <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> modallogischen<br />
Verhältnisse vom Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> vom Begriff <strong>der</strong> Ursache,<br />
also nicht nur aus <strong>der</strong> Verschiebbarkeit des Begriffs <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung,<br />
einmal als Begriff eines sensitivums <strong>und</strong> einmal als Prädikabilie <strong>der</strong><br />
Ursache aufgefaßt werden zu können, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>se Analyse ergibt selbst<br />
nichts als eine <strong>der</strong> selbst zwar notwendigen Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit,<br />
den Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen mit dem Satz von <strong>der</strong> Ursache <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Dependenz überhaupt verbinden zu können. Die Notwendigkeit<br />
entspringt vielmehr einem architektonischen Argument, da <strong>die</strong> Annahme<br />
des Gegenteils nicht nur den Prinzipien a priori <strong>der</strong> Erkenntnis, son<strong>der</strong>n<br />
gleich <strong>der</strong> Möglichkeit je<strong>der</strong> zusammenhängenden Erfahrung<br />
wi<strong>der</strong>sprechen würde: »Der Beweis zeigt nämlich nicht, daß <strong>der</strong> gegebene<br />
Begriff (z. B. von dem, was geschieht) geradezu auf einen an<strong>der</strong>en Begriff<br />
(den einer Ursache) führe; denn <strong>der</strong>gleichen Übergang wäre ein Sprung,<br />
<strong>der</strong> sich gar nicht verantworten ließe; son<strong>der</strong>n er zeigt, daß <strong>die</strong> Erfahrung<br />
selbst, mithin das Objekt <strong>der</strong> Erfahrung, ohne eine solche Verknüpfung<br />
unmöglich wäre.« 95 Damit hat Kant einen vollständig<br />
transzendentalsubjektivistischen Standpunkt eingenommen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
transzendentale Analyse kraft idealer Identitätsetzung von Erfahrung <strong>und</strong><br />
Erkenntnis im Verstandesurteil abgeschlossen.<br />
In <strong>der</strong> Vorrede zur zweiten Auflage <strong>der</strong> K.r.V. gibt Kant ein cartesianisch<br />
anmutendes Argument, mit dem er sein Vertrauen in seine<br />
Transzendentalphilosophie begründet: »Nicht Eigendünkel, son<strong>der</strong>n bloß<br />
<strong>die</strong> Evidenz, welche das Experiment <strong>der</strong> Gleichheit des Resultats im<br />
Ausgange von den mindesten Elementen bis zum Ganzen <strong>der</strong> reinen<br />
Vernunft <strong>und</strong> im Rückgange vom Ganzen (denn auch <strong>die</strong>ses ist für sich<br />
durch <strong>die</strong> Endabsicht <strong>der</strong>selben im Praktischen gegeben) zu jedem Teile<br />
95 K.r.V.,B 811/A 783
-— 133 —<br />
bewirkt, indem <strong>der</strong> Versuch, auch nur den kleinsten Teil abzuän<strong>der</strong>n,<br />
sofort Wi<strong>der</strong>sprüche, nicht bloß des Systems, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Menschenvernunft herbeiführt, berechtigt mich zu <strong>die</strong>sem Vertrauen.« 96<br />
Die Notwendigkeit des synthetischen Urteils a priori in den dynamischen<br />
Kategorien insgesamt wird architektonisch also von sehr verschiedenen<br />
Stellen gefor<strong>der</strong>t: Zu oberst ein praktischer Gr<strong>und</strong>, weil es uns zuträglich<br />
ist, dann ein Vernunftgr<strong>und</strong>, weil ansonsten keine systematische<br />
Erkenntnis möglich wäre, schließlich ein naturphilosophischer <strong>und</strong><br />
ontologischer Gr<strong>und</strong>, ohne dem nicht nur Naturwissenschaft, son<strong>der</strong>n<br />
zuletzt auch <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> objektiven Realität unseres Daseins nicht<br />
möglich wäre. 97 Keinesfalls ist aber mit <strong>die</strong>sem transzendentalen Prinzip<br />
<strong>der</strong> Erkenntnis anschauen<strong>der</strong> Intelligenzen garantiert, daß empirisch auch<br />
immer Ursachen gef<strong>und</strong>en werden:<br />
»Der Begriff <strong>der</strong> Ursache enthält eine Regel, nach <strong>der</strong> ein Zustand ein<br />
an<strong>der</strong>er notwendiger Weise folgt; aber <strong>die</strong> Erfahrung kann uns nur zeigen,<br />
daß oft, <strong>und</strong>, wenn es hochkommt, gemeiniglich auf einen Zustand <strong>der</strong><br />
Dinge ein an<strong>der</strong>er folge, <strong>und</strong> kann also we<strong>der</strong> strenge Allgemeinheit, noch<br />
Notwendigkeit verschaffen etc.. Daher scheinen Verstandesbegriffe viel<br />
mehr Bedeutung <strong>und</strong> Inhalt zu haben, als daß <strong>der</strong> bloße<br />
Erfahrungsgebrauch ihre ganze Bestimmung erschöpfte [...].« 98<br />
Kant meint offenbar aber nicht nur, daß dann, wenn Erkenntnisse möglich<br />
sind, <strong>die</strong>se nur nach <strong>der</strong> Kausalitätskategorie möglich sind, son<strong>der</strong>n<br />
96 B XXXVIII<br />
97 Vgl. hiezu <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus, beson<strong>der</strong>s aber <strong>die</strong> Paralogismen:<br />
»Nehmen wir nun unsere obigen Sätze, wie sie auch für alle denkenden Wesen<br />
gültig, in <strong>der</strong> rationalen Psychologie als System genommen werden müssen, in<br />
synthetischem Zusammenhange, <strong>und</strong> gehen, von <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Relation, mit<br />
dem Satze: alle denkenden Wesen sind, als solche, Substanzen, rückwärts <strong>die</strong> Reihe<br />
<strong>der</strong>selben, bis sich <strong>der</strong> Zirkel schließt, durch, so stoßen wir zuletzt auf <strong>die</strong> Existenz<br />
<strong>der</strong>selben [...]. Hieraus folgt aber,daß <strong>der</strong> Idealism in eben demselben rationalistische<br />
System unvermeidlich sei, wenigstens <strong>der</strong> problematische, <strong>und</strong>, wenn das Dasein<br />
äußerer Dinge zu Bestimmung seines eigenen in <strong>der</strong> Zeit gar nicht erfor<strong>der</strong>lich ist,<br />
jenes auch nur ganz umsonst angenommen werde, ohne jemals einen Beweis davon<br />
angeben zu können. Befolgen wir dagegen das analytische Verfahren, da das Ich<br />
denke, als ein Satz, <strong>der</strong> schon ein Dasein in sich schließt, als gegeben, mithin <strong>die</strong><br />
Modalität, zum Gr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> zerglie<strong>der</strong>n ihn, um seinen Inhalt, ob <strong>und</strong> wie<br />
nämlich <strong>die</strong>ses Ich im Raum o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit bloß dadurch sein Dasein bestimmt, zu<br />
erkennen, so würden <strong>die</strong> Sätze <strong>der</strong> rationalen Seelenlehre nicht vom Begriffe eines<br />
denkenden Wesens überhaupt, son<strong>der</strong>n von einer Wirklichkeit überhaupt anfangen,<br />
<strong>und</strong> aus <strong>der</strong> Art, wie <strong>die</strong>se gedacht wird, nachdem alles, was dabei empirisch ist,<br />
abgeson<strong>der</strong>t worden, das was einem denkenden Wesen überhaupt zukommt<br />
gefolgert werden [...].« (K.r.V., B 416 ff.)<br />
98 Prolegomena, A 106
-— 134 —<br />
vielmehr, daß auch dann, wenn noch keine Ursachen für einen Wechsel in<br />
den Erscheinungen gef<strong>und</strong>en werden konnte, weitere Nachforschung<br />
niemals zu <strong>der</strong> Überzeugung kommen könnte, <strong>die</strong>ser Wechsel hätte ohne<br />
Ursache stattgef<strong>und</strong>en. Es soll also gegenüber <strong>der</strong> Anschauung nicht nur<br />
abstrakt <strong>die</strong> Wirkung aus <strong>der</strong> Ursache behauptet werden können, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>die</strong> Kausalkategorie soll <strong>die</strong> Ursache mit ihrer Wirkung empirisch in <strong>der</strong><br />
Anschauung auffinden lassen, was erst <strong>die</strong> Verknüpfung einer bestimmten<br />
Ursache mit einer bestimmten Wirkung in <strong>der</strong> Zeit erlaubt. Das aber ist <strong>die</strong><br />
Bedingung <strong>der</strong> Demonstrierbarkeit des reinen Verstandesbegriffes in <strong>der</strong><br />
anschauenden Erfahrung. Diese Demonstrierbarkeit beruht hier aber<br />
ausschließlich auf <strong>die</strong> Kontinuität <strong>der</strong> äußeren Sinnlichkeit im inneren<br />
Sinn, was Erweiterungsmöglichkeiten in Hinblick auf den<br />
wissenschaftstheoretischen Status mo<strong>der</strong>ner mathematischer<br />
naturwissenschaftlicher Theorien erwarten läßt.<br />
7) Conclusio<br />
Ich habe es für am geeignetsten gef<strong>und</strong>en, Realität zunächst als Ergebnis<br />
bloßer Anerkenntnis eines So-seins (also zuerst nicht als normative Frage)<br />
anzusehen, während ich den deutschen Ausdruck »Wirklichkeit« für <strong>die</strong><br />
Bedeutung »objektiver« Realität reserviert habe, weil damit <strong>die</strong> Kausalität<br />
als feststellbar gedacht wird, welche eben <strong>die</strong> Selbstständigkeit des Realen<br />
gegenüber <strong>der</strong> bloßen subjektiv bleibenden Evidenz des Realen<br />
auszudrücken vermag. Dazu ist durchaus nochmals <strong>die</strong> Schwierigkeit zu<br />
bedenken, daß wir heute (an<strong>der</strong>s als Kant es gedacht hat) auch<br />
naturwissenschaftliche Theorien als solche akzeptieren, <strong>die</strong> keineswegs<br />
alle kausalen Wechselwirkungen theoretisch darzustellen imstande sind.<br />
— Das transzendentale Prinzip <strong>der</strong> Kausalität, welche in den<br />
Erscheinungen noch dasjenige zu identifizieren hat, was Ursache <strong>und</strong> was<br />
Wirkung ist (Schematismusproblem <strong>der</strong> K. r. V.), ist also in formaler <strong>und</strong><br />
methodischer Hinsicht nicht <strong>die</strong> allein entscheidende Voraussetzung (<strong>der</strong><br />
zureichende Gr<strong>und</strong>) zur naturwissenschaftlichen Theoriebildung, son<strong>der</strong>n<br />
wird abermals (wie schon zuvor <strong>der</strong> Satz vom zureichenden Gr<strong>und</strong> in <strong>der</strong><br />
bloß rationalen Metaphysik) von mir nur als Ideal eines allgemeinen<br />
Prinzips gebraucht, daß <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Mathesis gegenüberzustellen ist.<br />
Als logisches Prinzip scheint <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch nach obigen<br />
Erörterungen keine Zeitbedingung zu benötigen, doch wird <strong>der</strong>
-— 135 —<br />
wesenslogische Gr<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Metaphysik transzendentallogisch<br />
zum Rechtfertigungsprinzip <strong>der</strong> begrifflichen Synthesis umgestaltet. Die<br />
eigentlich transzendentale Untersuchung geschieht durch eine<br />
Doppelstrategie: Einerseits wird mit <strong>der</strong> Darlegung <strong>der</strong><br />
Aufeinan<strong>der</strong>bezogenheit von Reproduktion <strong>und</strong> Produktion in <strong>der</strong><br />
transzendentalen Apprehension <strong>die</strong> Interpretation des einen Abschnittes<br />
des Schematismus <strong>der</strong> reinen Verstandesbegriffe vorgelegt 99 (was zur<br />
Erscheinung <strong>der</strong> Beharrlichkeit gegenüber dem rein intellektuellen<br />
Begriffes des Dinges in <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik führt). An<strong>der</strong>erseits<br />
werden <strong>die</strong> Modalbegriffe <strong>der</strong> Leibnizianisch-Wolffschen Schule<br />
dahingehend kritisch analysiert, inwieweit sie — anstatt metaphysische<br />
Bedingungen <strong>der</strong> Wahrheit — transzendentale Bedingungen <strong>der</strong><br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung sein können, was zum Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong><br />
Kausalität gegenüber dem allgemeinen epistemologischen Gr<strong>und</strong>satz vom<br />
zureichenden Gr<strong>und</strong> führt: Nunmehr wird <strong>der</strong> Begriff vom Zufall nicht<br />
mehr durch den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch son<strong>der</strong>n durch <strong>die</strong> kausale<br />
Beziehung in den aneinan<strong>der</strong>liegenden Zeitteilen kategorial interpretiert:<br />
Zufällig sind jene Dinge (Prädikate) <strong>der</strong>en Wegnahme nichts an den<br />
Folgen än<strong>der</strong>t. Die logische Funktion des Verstandes aber ist zwar nicht<br />
<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Zeit (<strong>und</strong> vom Raum), jedoch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> je<strong>der</strong> Einteilung.<br />
Dazu wäre noch zu bemerken, daß <strong>die</strong>s Kant nur für <strong>die</strong> kontinuierlich<br />
verlaufende Zeit vollständig behandelt hat, nicht für <strong>die</strong> Teilung <strong>der</strong> Zeit<br />
in Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft. Die Behandlung des Regressus<br />
<strong>und</strong> des Progressus in den Antinomien zeigt deutlich, daß <strong>die</strong>se<br />
Zeitvorstellungen im Rahmen <strong>der</strong> kosmologischen Idee nicht als formale<br />
Zeitbedingung verstanden werden, wie es <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>legung von<br />
Bedingungen historischer Erfahrung erfor<strong>der</strong>n würde, son<strong>der</strong>n als<br />
Erfahrungsbedingungen auf <strong>die</strong> jeweilige Mitte von Regressus <strong>und</strong><br />
Progressus bezogen bleibt.<br />
Wahrheit aber benötigt <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins, da <strong>die</strong> objektive<br />
Realität als Commercium <strong>die</strong> von den Objekten <strong>der</strong> Erfahrung verursachte<br />
sinnliche Empfindung <strong>der</strong> objektiven Erkenntnis analytisch voraussetzt.<br />
Jedoch ist das nicht schlicht adequationstheoretisch zu verstehen, da auch<br />
99 K.r.V., B 236: »Man siehet bald, daß, weil Übereinstimmung <strong>der</strong> Erkenntnis mit dem<br />
Objekt Wahrheit ist, hier nur nach den formalen Bedingungen <strong>der</strong> empirischen<br />
Wahrheit gefragt werden kann, <strong>und</strong> Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den<br />
Vorstellungen <strong>der</strong> Apprehension, nur dadurch als das davon unterschiedene Objekt<br />
<strong>der</strong>selben könne vorgestellt werden, wenn sie unter einer Regel steht, welche sie von<br />
je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Apprehension unterscheidet.«
-— 136 —<br />
<strong>der</strong> Zusammenhang aller Kategorien 100 gefor<strong>der</strong>t wird. Es wird noch vor<br />
<strong>der</strong> systematischen Einteilung <strong>der</strong> Erkenntnisse zu einer Wissenschaft nach<br />
Prinzipien ein kohärenztheoretisches Kriterium <strong>der</strong> Wahrheit gefor<strong>der</strong>t.<br />
Obgleich man nun <strong>der</strong> Teile <strong>der</strong> Konzepte in <strong>der</strong> Reflexion gewärtig sein<br />
<strong>und</strong> sich im Zusammenhang <strong>der</strong> Theorie zu orientieren fähig sein muß<br />
(vgl. ursprünglich <strong>die</strong> transzendentale Reflexion), kann dann hier im Zuge<br />
<strong>der</strong> Einschränkung <strong>der</strong> Reflexion auf sich selbst von Zugleichsein o<strong>der</strong><br />
Gegenwart im Sinne objektiver Realität nicht mehr <strong>die</strong> Rede sein. Das<br />
Reale <strong>der</strong> Apperzeption aber ist das Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart. 101 — Der<br />
perennierende Augenblick ist als Augenblick eher als Idee <strong>der</strong> Ewigkeit in <strong>der</strong><br />
Vorstellung des Raumes <strong>und</strong> bloß als Sinnbild des Gefühls <strong>der</strong><br />
Allgegenwart zu denken <strong>und</strong> von da her meiner Meinung nach wenig<br />
geeignet, dem Zugleichsein als Koexistenz eine subjektiv-empirische Basis<br />
im Sinne einer reinen Innenerfahrung bieten zu können. Und zwar nicht,<br />
weil etwa <strong>der</strong> perennierende Augenblick, so wie ich ihn aufzufassen<br />
imstand bin, <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Koexistenz aufhebt, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />
weil <strong>die</strong>se in ihm gemeinsam mit nicht mehr, noch nicht o<strong>der</strong> auch niemals<br />
existierenden Dingen gedacht werden. Es ist nicht möglich, aus <strong>die</strong>ser Idee<br />
<strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Koexistenz als Zugleichsein herauszuheben, obwohl<br />
in einem uneigentlichen Sinne alles das, was vom Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart<br />
affiziert ist, als zugleich behauptet wird. In <strong>der</strong> Tat stellt sich das Gefühl<br />
<strong>der</strong> Allgegenwart auch als ästhetischer Überschuß <strong>der</strong> Vorstellung des<br />
Zugleichseins vor (<strong>und</strong> zwar als Erhabenheit <strong>der</strong> mathematischen Größe).<br />
Schließlich ist <strong>der</strong> Augenblick als Momentum o<strong>der</strong> als Jetzt selbst nicht das<br />
Zugleichsein <strong>der</strong> Gegenwart. Erst <strong>die</strong> Gegenwart (bereits als<br />
Commercium) mindestens zweier Gegenstände gibt den Begriff vom<br />
Zugleichsein mit <strong>der</strong> Bedingung seiner empirischen Bestimmbarkeit. Das<br />
Jetzt hingegen hat keinerlei eigene Bedingungen empirischer<br />
Darstellbarkeit, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Dauer des Zugleichseins in <strong>der</strong> Gegenwart als<br />
Kontinuum zur Voraussetzung, worin es eine willkürliche Grenze als<br />
Teilung <strong>der</strong> Gegenwart in Vergangenes <strong>und</strong> in Zukünftiges setzt. Als<br />
Grenze setzt das Jetzt eben <strong>die</strong> Kontinuität (<strong>die</strong> Dauer) <strong>der</strong> Zeit als<br />
Gegenwart voraus, gleich ob <strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> Zeit selbst als Substratum<br />
gedacht wird 102 o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Beharrlichkeit als synthetisches Urteil a priori aus<br />
100 K.r.V., Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus: »In m<strong>und</strong>o non datur hiatus, non datur saltus,<br />
non datur casus, non datur fatum.« (B 282/A 229)<br />
101 Vgl. AA. XVII, p. 450<br />
102 K.r.V.,: »Die Zeit also, in <strong>der</strong> aller Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen gedacht werden soll,<br />
bleibt <strong>und</strong> wechselt nicht; weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinan<strong>der</strong>- o<strong>der</strong>
-— 137 —<br />
dem Vergleich <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihenfolge<br />
<strong>der</strong> Vorstellungen (transzendentale Apprehension) eines empirischen<br />
Substratum erst den Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Dauer ausmacht. 103 Im ersten Fall ist es das<br />
Bewußtsein, das <strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> Zeit ausmacht, im zweiten Fall <strong>die</strong><br />
Substanz <strong>der</strong> Erscheinung. Die Substanz <strong>der</strong> Erscheinung scheint<br />
allerdings indifferent gegenüber <strong>der</strong> Frage zu sein, ob sie sich auf <strong>die</strong><br />
Physiologie des inneren Sinnes o<strong>der</strong> auf <strong>die</strong> Physik <strong>der</strong> wirklichen<br />
Gegenstände (Materie) bezieht.<br />
Deshalb drückt erst <strong>die</strong> Kausalitätskategorie <strong>die</strong> ausgezeichnete<br />
Bedingung aus, daß von objektiver Realität, <strong>die</strong> schon für <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>sätze<br />
<strong>der</strong> Geometrie allererst <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage objektiver Gültigkeit ist, <strong>die</strong> Rede<br />
sein kann. 104 Diese Bedingung ist aber we<strong>der</strong> im Jetzt noch im<br />
perennierenden Augenblick auszumachen: Im Jetzt nicht, weil gar nicht<br />
enthalten son<strong>der</strong>n letztlich mit vorausgesetzt; im perennierenden<br />
Augenblick nicht, weil, obgleich enthalten, nicht heraushebbar. Das Gefühl<br />
<strong>der</strong> Allgegenwart ist demnach das Produkt einer ästhetischen Idee <strong>und</strong><br />
nicht selbst objektive Erkenntnis.<br />
8) Ideales <strong>und</strong> reales Zugleichsein<br />
In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Anmerkung am Ende <strong>der</strong> Systematischen Vorstellung<br />
aller synthetischer Gr<strong>und</strong>sätze spricht Kant vom Zugleichseinals einem<br />
»bloß idealen Verhältnis«, von dem man ohne den »insgeheim<br />
angenommenen Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Gemeinschaft aller Substanzen« nicht auf<br />
ein reales Zugleichsein schließen könne, obwohl schon anfangs das<br />
Zugleichsein nur im Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Gemeinschaft aller Substanzen<br />
bestimmt werden können sollte. 105<br />
Daraus, daß Kant das Zugleichsein nicht nur als Folge des Commerciums<br />
auffaßt, ist ohne weiters zu verstehen, daß das Zugleichsein <strong>der</strong> Begriff<br />
Zugleichsein nur als Bestimmung <strong>der</strong>selben vorgestellt werden können.«<br />
(B 225/A 182)<br />
103 B 236/A 191, vgl. Anmk. 63<br />
104 Zum Schluß des Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz verweist Kant selbst<br />
auf <strong>die</strong> zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Kausalitätskategorie: »Was aber das empirische<br />
Kriterium <strong>die</strong>ser notwendigen Beharrlichkeit <strong>und</strong> mit ihr <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong><br />
Erscheinungen sei, davon wird uns <strong>die</strong> Folge Gelegenheit geben das Nötige<br />
anzumerken.« (B 232/A 189)<br />
105 B 265/A 218
-— 138 —<br />
von einer Anschauungsform sein könnte, <strong>der</strong>en objektive Gültigkeit bloß<br />
nicht ohne den synthetischen Gr<strong>und</strong>satz des Commerciums erwiesen<br />
werden kann. Hier interessiert zuerst also unabhängig von <strong>der</strong><br />
Überlegung, <strong>der</strong> Raum sei zunächst als ästhetische Idee zu fassen (als<br />
Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart), <strong>die</strong> Frage, ob das Zugleichsein vor <strong>der</strong><br />
Begründung seiner objektiven Gültigkeit in <strong>der</strong> Gemeinschaft aller<br />
Substanzen ideal als Anschaungsform behauptet werden kann. Kant zählt<br />
das Zugleichsein einmal zu den modi <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> einmal nicht. 106 Sofern<br />
<strong>die</strong> Beharrlichkeit (im übrigen alle Modi <strong>der</strong> Zeit) nicht zu den reinen<br />
Eigenschaften <strong>der</strong> Zeit als Anschauungsform zu zählen ist, 107 da sie nicht<br />
allein aus <strong>der</strong> Zeitlichkeit des inneren Sinnes abgeleitet sein kann, ist das<br />
Zugleichsein als reales Verhältnis ebenfalls nicht als reiner Zeitbegriff zu<br />
verstehen. Daraus ist also zu folgern, daß das Zugleichsein keine reine<br />
Anschauungsform sein kann. Allerdings ist noch ein an<strong>der</strong>es Argument zu<br />
bedenken: da auch das Zugleichsein <strong>der</strong> bloßen Raumteile überhaupt 108<br />
ausschließt, daß das Zugleichsein zu den modi <strong>der</strong> Zeit gehört, 109 ist wegen<br />
<strong>der</strong> möglichen Idealität des Raumes auch ein reines Argument gef<strong>und</strong>en,<br />
um das Zugleichsein nicht als ein Modus <strong>der</strong> Zeit anzuerkennen. 110 D.h.,<br />
zwischen dem realen <strong>und</strong> dem idealen Argument eröffnet sich <strong>die</strong><br />
Beson<strong>der</strong>heit des Zugleichseins, neben <strong>der</strong> Prädikabilie <strong>der</strong> Bewegung<br />
<strong>der</strong>jenige Begriff zu sein, <strong>der</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit vereinigt; 111 <strong>und</strong> zwar<br />
möglicherweise ohne auf etwas Empirisches in <strong>der</strong> Anschauungsform<br />
zurückkommen zu müssen, wie bei den Modi <strong>der</strong> Zeit o<strong>der</strong> im Begriff <strong>der</strong><br />
Bewegung.<br />
Nun ist <strong>der</strong> Nachweis, daß <strong>der</strong> Raum ohne etwas in ihm nicht darstellbar,<br />
somit für uns ohne dem Schema <strong>der</strong> Beharrlichkeit nichts wäre, nahezu<br />
trivial <strong>und</strong> führte nur zum Nachweis objektiver Gültigkeit des<br />
106 B 219/A 177: »Die drei modi <strong>der</strong> Zeit sind Beharrlichkeit, Folge <strong>und</strong> Zugleichsein.<br />
Daher werden drei Regeln aller Zeitverhältnisse <strong>der</strong> Erscheinungen, wonach je<strong>der</strong><br />
ihr Dasein in Ansehung <strong>der</strong> Einheit aller Zeit bestimmt werden, vor aller<br />
Erfahrung vorhergehen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se allererst möglich machen.« Vgl. auch<br />
B 225/A 182. Hingegen: »[...] <strong>der</strong> Wechsel trifft <strong>die</strong> Zeit selbst nicht, son<strong>der</strong>n nur <strong>die</strong><br />
Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit, (so wie das Zugleichsein nicht ein modus <strong>der</strong> Zeit selbst<br />
ist, als in welcher gar keine Teile zugleich, son<strong>der</strong>n alle nacheinan<strong>der</strong> sind).«<br />
(B 226/A 183)<br />
107 R.Aschenberg, Sprachanalyse <strong>und</strong> Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982, p. 219.<br />
Der Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen ist keine Prädikabilie.<br />
108 Vgl. <strong>die</strong> Unterscheidung in Zeitreihe <strong>und</strong> Zeitumfang (K.r.V., A 182)<br />
109 K.r.V., B 226/A 183<br />
110 B 43 f./A 27 f. Die Idealität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Realität des Raumes.<br />
111 B 58/A 41
-— 139 —<br />
Zugleichseins anhand des Commerciums. 112 Das Zugleichsein des Raumes<br />
kann also ohne den Gr<strong>und</strong>satz des Commerciums nicht objektiv erwiesen<br />
werden, da aber das Commercium seinerseits nicht vom von<br />
Gegenständen erfüllten Raum getrennt werden kann <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen doch<br />
zuallererst voraussetzt, gibt es einen eigenen Gr<strong>und</strong> von <strong>der</strong> Idealität des<br />
Raumes zu sprechen, <strong>der</strong> nichts mit <strong>der</strong> transzendentalen Idealität reiner<br />
Anschauung als Moment anschauen<strong>der</strong> Intelligenzen (o<strong>der</strong> gar bloß mit<br />
unserer spezifisch empirischen Organisationsform <strong>der</strong> Sinnlichkeit) zu tun<br />
hat. Diese Überlegungen gehen nun von <strong>der</strong> ontologischen Differenz<br />
zwischen idealem <strong>und</strong> realem Argument aus; im Rahmen <strong>der</strong> Erörterung<br />
<strong>der</strong> objektiven Gültigkeit <strong>der</strong> Geometrie führt <strong>die</strong> Beanspruchung des<br />
idealen Zugleichseins des Raumes allerdings zu Schwierigkeiten. Gerade<br />
für <strong>die</strong> Geometrie als reine Wissenschaft sollte doch, so war Kants<br />
Überlegungen, <strong>die</strong> Bewegung, <strong>und</strong> so doch wohl auch <strong>die</strong> Handlung <strong>der</strong><br />
Konstruktion 113 selbst ausgeschlossen werden, obgleich zur objektiven<br />
Gültigkeit <strong>der</strong> Geometrie <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung,<br />
mithin objektiver Realität notwendig sei. Außer <strong>die</strong> Stellen in <strong>der</strong><br />
Deduktion B, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong>sbezüglich auf <strong>die</strong> transzendentale Ästhetik selbst<br />
beziehen, ist komplementär dazu noch jene Stelle aus <strong>der</strong><br />
Schlußanmerkung des § 24 heranzuziehen, wo gesagt wird, daß, hat man<br />
erstens allein auf <strong>die</strong> Handlung des Verstandes während <strong>der</strong> Konstitution<br />
eines Objektes acht, <strong>und</strong> abstrahiert zweitens vom Raum, <strong>die</strong>se<br />
Verstandeshandlung allererst den inneren Sinn zur Sukzessivität<br />
bestimmt. Hier wurde <strong>der</strong> Raum ausgeschlossen, um zur Vorstellung <strong>der</strong><br />
reinen Sukzessivität zu kommen; zuvor wurde <strong>die</strong> Zeit ausgeschlossen,<br />
um zur reinen Anschauung des Raumes in <strong>der</strong> Geometrie zu kommen.<br />
Das Problem liegt aber noch tiefer: Vom beson<strong>der</strong>en empirischen Objekt<br />
wie vom Raum muß erst eigens abgesehen <strong>und</strong> abstrahiert werden, um<br />
den inneren Sinn zur bloßen Sukzessivität zu bestimmen. Umgekehrt soll<br />
von <strong>der</strong> Sukzessivität aber nur abgesehen werden, um zu einer reinen<br />
Vorstellung des Raumes zu gelangen. Zur Vorstellung eines Dinges in <strong>der</strong><br />
Anschauung aber ist nun zwar nicht Sukzessivität gemäß <strong>der</strong><br />
modallogischen Definition, aber doch <strong>der</strong> Wechsel vorausgesetzt,<br />
ansonsten Beharrliches nicht möglich wäre. Beharrlichkeit ist aber das<br />
Kennzeichnen eines Objekts <strong>der</strong> Erfahrung. — Die Aufhebung <strong>der</strong><br />
112 B 260/A 213: Ohne commercium könnte <strong>die</strong> communio spatii nicht erkannt werden.<br />
113 Diese Handlung gehört zwar zur Transzendentalphilosophie, aber deshalb noch<br />
nicht zwingend zur Geometrie selbst. Vgl. auch Cramer 1985, p. 360 f.
-— 140 —<br />
Sukzessivität selbst (als Gegenzug zur Aufhebung des Raumes) ist nicht<br />
schlicht auch schon <strong>die</strong> Aufhebung des Wechsels, somit auch nicht <strong>die</strong><br />
Aufhebung des Beharrlichen. Die Aufhebung des Raumes würde aber zur<br />
Aufhebung <strong>der</strong> Bedingungen des Beharrlichen in <strong>der</strong> Anschauung führen.<br />
So soll <strong>der</strong> Raum unabhängig von <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zeit unabhängig vom<br />
Raum gedacht werden können. Es ist jedoch an <strong>die</strong>ser Stelle noch nicht<br />
sinnvoll möglich, das systematische Verhältnis von progressivsynthetischer<br />
Vorgangsweise (von <strong>der</strong> Sukzessivität des inneren Sinnes zur<br />
Raum- <strong>und</strong> Gegenstandsvorstellung) 114 zur regressiv-analytischen<br />
Vorgangsweise <strong>der</strong> Einklammerung (<strong>die</strong> von <strong>der</strong> Erfahrung alles<br />
Empirische wegläßt) 115 zu diskutieren.<br />
An Stelle <strong>die</strong> Verschiedenheit von Raum <strong>und</strong> Zeit weiter hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Zeitordnung ihrer Begriffe zu untersuchen, soll hier das Problem ihrer<br />
doch mit vorausgesetzten Möglichkeit zur Einheit betrachtet werden:<br />
Einerseits ist das Ziehen einer Linie <strong>die</strong> sukzessive Verräumlichung <strong>der</strong><br />
Zeit (also <strong>die</strong> Demonstration <strong>der</strong> Darstellbarkeit <strong>der</strong> Zeit im Raume),<br />
an<strong>der</strong>erseits sollen alle Teile <strong>die</strong>ser Linie zugleich sein, ansonsten es keine<br />
Verräumlichung wäre: »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in<br />
Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben.« 116<br />
Hier geht es nicht mehr darum, <strong>die</strong> konstitutive Handlung in <strong>der</strong><br />
Darstellung des geometrischen Begriffes in erst dadurch rein zu nennen<strong>der</strong><br />
Anschauung rückwärts gewendet neuerlich auf <strong>die</strong> Formen <strong>der</strong><br />
Erscheinung zu beziehen, um allererst <strong>die</strong> reine Anschauung von bloßer<br />
Einbildung zu unterscheiden. Offensichtlich behauptet Kant, daß mit dem<br />
Denken — zumindest beim Denken geometrischer Begriffe — spontan <strong>die</strong><br />
Einbildungskraft gegenüber dem inneren Sinn tätig ist; <strong>und</strong> da<br />
geometrische Begriffe <strong>der</strong> Philosophie Konstruktionsanweisungen<br />
enthalten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> Apprehension gegebener<br />
Erscheinungen mit <strong>der</strong> Handlung des Verstandes bei <strong>der</strong> Konstruktion<br />
114 B 202/A 162: Die Apprehension erzeugt allererst <strong>die</strong> Vorstellungen von Raum <strong>und</strong><br />
Zeit, <strong>und</strong> B 225f./A 182 f.: »Unsere Apprehension des Mannigfaltigen <strong>der</strong><br />
Erscheinungen ist je<strong>der</strong>zeit sukzessiv, <strong>und</strong> ist also immer wechselnd. Wir können<br />
also dadurch allein niemals bestimmen, ob <strong>die</strong>ses Mannigfaltige, als Gegenstand <strong>der</strong><br />
Erfahrung, zugleich sei, o<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> folge, wo an ihr nicht etwas zum Gr<strong>und</strong>e<br />
liegt, was je<strong>der</strong>zeit ist, d.i. etwas Bleibendes <strong>und</strong> Beharrliches, von welchem aller<br />
Wechsel <strong>und</strong> Zugleichsein nichts, also so viel Arten (modi <strong>der</strong> Zeit) sind, wie das<br />
Beharrliche existiert.«<br />
115 B 416 f.: Die rationale Seelenlehre im analytischenVerfahren; vgl. in <strong>der</strong><br />
transzendentalen Deduktion etwa § 16 o<strong>der</strong> §§ 24-25.<br />
116 B 154
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geometrischer Begriffe in reiner Anschauung ausmachen sollen, ist daraus<br />
zu schließen, daß <strong>die</strong> Anwendbarkeit auf Formen <strong>der</strong> empirisch gegebenen<br />
Erscheinungen zu einem bloß modalen Argument wird, um objektive<br />
Gültigkeit auf objektive Realität zu gründen. Allein, daß in <strong>der</strong> Geometrie<br />
<strong>die</strong> Darstellung in reiner Anschauung als Einbildung dann ausreicht, wenn<br />
eben <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Regeln <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong><br />
empirisch gegebenen Erscheinungen mit den Regeln <strong>der</strong> Einbildungskraft<br />
behauptet werden kann, <strong>die</strong> unter einem geometrischen Verstandesbegriff<br />
stehend, im inneren Sinn <strong>die</strong> reine Anschauung verzeichnen, verleiht <strong>der</strong><br />
reinen Anschauung eine eigene Dignität gegenüber dem empirisch<br />
gegebenen Mannigfaltigen <strong>der</strong> Anschauung überhaupt.<br />
Die Evidenz <strong>der</strong> geometrischen Sätze entstammt aber <strong>der</strong> Unmittelbarkeit,<br />
<strong>die</strong> in <strong>der</strong> Selbstgesetztheit <strong>der</strong> Geometrie als reine Anschauung liegen<br />
können soll. Das Argument <strong>der</strong> Unmittelbarkeit <strong>der</strong> Evidenz scheint<br />
gerade im Fall <strong>der</strong> reinen Anschauung damit gesichert, daß eben <strong>die</strong><br />
nachfolgende Beschreibung ident ist mit <strong>der</strong> vorhergehenden<br />
Konstruktionshandlung. Das Argument <strong>der</strong> Unmittelbarkeit besteht nun<br />
aus zwei verschiedenen Stufen: Einmal ist <strong>die</strong> Evidenz als selbst gegenüber<br />
dem Inhalt indifferente Selbstempfindung des Denkens gegenüber dem<br />
inneren Sinn (o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Ausprägungen des ursprünglichen<br />
Bewußtseins) zu verstehen, <strong>und</strong> einmal als Vollständigkeit o<strong>der</strong><br />
Notwendigkeit des Gegenstandsbezuges schon in <strong>der</strong> prädikativen<br />
Bestimmmung eines Phänomens o<strong>der</strong> einer Beobachtung zu behandeln. Es<br />
wird hier also nur jenes in <strong>der</strong> Beschreibung des in reiner Anschauung<br />
Konstruierten in Betracht gezogen, welches auch analytisch aus dem<br />
geometrischen Begriff zu entnehmen ist. — Das synthetische Urteil a priori<br />
in <strong>der</strong> Geometrie wird hier eingeklammert. 117<br />
Indem eine Linie denken zugleich heißt sie in Gedanken (in <strong>der</strong><br />
Einbildung) zu ziehen, handelt es sich hier um den gleichen Fall wie im<br />
Übergang von den Paralogismen zu den kosmologischen Ideen 118 : Dort ist<br />
<strong>die</strong> selbst immer empirische Selbstempfindung (als Selbstaffektation des<br />
117 Die Evidenz des synthetischen Urteils a priori in <strong>der</strong> Geometrie stellt sich demnach<br />
erst anhand <strong>der</strong> Rechtfertigung <strong>der</strong> Intuitionen aus dem Wesensbegriff an den schon<br />
gesicherten wesentlichen Prädikaten (ut rationata) her. Vgl. hier den zweiten<br />
Abschnitt, I.,1; <strong>die</strong> Diskussion <strong>der</strong> Wesenslogik von Kant anhand seiner Antwort auf<br />
Eberhard.<br />
118 K.r.V.,B 401: Die Selbstempfindung als empirische Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> rationalen<br />
Psychologie des 'ich denke'.
-— 142 —<br />
inneren Sinnes) <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> rationalen Psychologie des »ich denke«;<br />
hier ist <strong>der</strong> Akt des Denkens (synthesis intellectualis ) nicht ohne<br />
gleichzeitiges Ziehen <strong>der</strong> Linie (synthesis speciosa ) möglich. Aus <strong>die</strong>ser<br />
Analogie entspringt nun auch <strong>die</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Vollständigkeit <strong>und</strong><br />
Notwendigkeit des Gegenstandsbezuges. Allerdings steht Kant dann vor<br />
dem Problem, daß <strong>der</strong> Teil, mit welchem ich beginne eine Linie zu ziehen,<br />
eben immer schon Teil einer Linie sein muß. Jedoch soll, obgleich ich doch<br />
von Anfang an den Begriff einer Linie denke, erst im Fortgang des Ziehens<br />
(wenn auch nur in Gedanken), also erst wenn <strong>die</strong> gezogene Linie aus<br />
mehreren Teilen in <strong>der</strong> Einbildung (so auch <strong>der</strong> Akt aus mehreren<br />
Augenblicken) besteht, sich <strong>die</strong> reine Anschauung einer Linie für uns<br />
herstellen. So entgeht Kant hier zwar <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> bloß gesetzten<br />
Identität von transzendentalen <strong>und</strong> geometrischen Gr<strong>und</strong>sätzen in den<br />
Axiomen <strong>der</strong> Anschauung, muß aber <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong><br />
Verstandeshandlung als bloßes Denken eines Begriffes <strong>der</strong> Linie (in<br />
Gedanken) mit <strong>der</strong> Verstandeshandlung des Ziehens einer Linie (in <strong>der</strong><br />
Einbildung) als Herstellung <strong>der</strong> reinen Anschauung, aufgeben: Identität<br />
könnte bloß von <strong>der</strong> Regel behauptet werden.<br />
Unmittelbarkeit kann also nur von <strong>der</strong> selbst empirischen Selbstaffektation<br />
des inneren Sinnes im Denken behauptet werden; <strong>die</strong>se Unmittelbarkeit<br />
<strong>der</strong> Selbstempfindung ist jedoch jedem Inhalt gegenüber indifferent. Es<br />
wird also in <strong>die</strong>sem Rahmen nicht <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Handlung<br />
<strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Mannigfaltigkeit von empirisch gegebenen<br />
Erscheinungen mit <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Handlung <strong>der</strong> produktiven<br />
Einbildungskraft, <strong>die</strong> unter einem geometrischen Begriff steht, bestritten,<br />
son<strong>der</strong>n zuerst überhaupt <strong>der</strong> Nachweis <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> Handlung des<br />
reinen Verstandes (synthesis intellectualis ) mit <strong>der</strong> Handlung eben des<br />
selben Verstandes gegenüber dem inneren Sinn als Produkt <strong>der</strong> mit<br />
Einbildungskraft begabten Spontaneität (synthesis speciosa ) eingefor<strong>der</strong>t.<br />
Die reine Anschauung ist deshalb rein, weil sie allein aus einem Begriff<br />
konstruiert werden kann. Nun soll schon <strong>der</strong> philosophische Begriff einer<br />
geometrischen Figur zureichend bestimmt sein, <strong>die</strong>se in reiner<br />
Anschauung zu konstruieren. Die Konstruktivität <strong>der</strong> geometrischen<br />
Begriffe Kants, auch wenn sie bloß philosophische Begriffe sind, setzen für<br />
<strong>die</strong> Konstitution <strong>der</strong> reinen Geometrie <strong>die</strong> Zeit als Sukzessivität voraus,<br />
obgleich <strong>der</strong> Begriffsinhalt selbst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gründe für <strong>die</strong> Verhältnisse in<br />
<strong>der</strong> Geometrie nicht zeitlich sein können. Zweifelos muß, bevor mit einer<br />
Konstruktion begonnen werden kann, ein Begriff des zu Konstruierenden
-— 143 —<br />
vorliegen, <strong>und</strong> da reine Anschauung nur aus <strong>der</strong> Konstruktion aus<br />
Begriffen möglich ist, ist in <strong>der</strong> Geometrie vom Begriff einer geometrischen<br />
Figur auszugehen <strong>und</strong> nicht von einer in reiner Anschauung gegeben<br />
Figur. Die reine Anschauung für sich genommen ist gegenüber <strong>der</strong><br />
formalen Anschauung also nichts als <strong>die</strong> Sphäre <strong>der</strong> Möglichkeit, aus<br />
Begriffen zu konstruieren. Insofern kann <strong>der</strong> seltsame Stelle in <strong>der</strong><br />
transzendentalen Ästhetik, wo Kant <strong>die</strong> Figuren im Raum als durch<br />
Einschränkung desselben vorstellt, doch noch eine Bedeutung<br />
unterschoben werden: Eine bestimmte geometrische Figur ist als<br />
Einschränkung <strong>der</strong> Sphäre des zu konstruieren Möglichen zu betrachten. 119<br />
Doch erweist sich gerade in <strong>die</strong>ser Überlegung zugleich <strong>die</strong><br />
Selbstständigkeit des Raumes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anschauung, da eben <strong>die</strong><br />
geometrische Figur nicht <strong>die</strong> Einschränkung des Raumes ist, son<strong>der</strong>n eine<br />
Konstruktion in <strong>der</strong> Anschauung o<strong>der</strong> im Raum aus Elementen, <strong>die</strong> freilich<br />
erst durch <strong>die</strong> Einschränkungen des Raumes auf Dimensionen desselben<br />
möglich geworden sind. Der Möglichkeit <strong>der</strong> Konstruktion einer<br />
bestimmten Figur aus einem bestimmten Begriff, <strong>die</strong> aus <strong>der</strong><br />
Einschränkung des Konstruktionsbegriffes überhaupt entspringen soll,<br />
steht also <strong>die</strong> Einschränkung des Raumes nach Dimensionen gegenüber,<br />
was von Kant für <strong>die</strong> reine Anschauung über <strong>die</strong> Anschauung überhaupt<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> darin enthaltenen formalen Anschauung nicht vermittelt wird,<br />
son<strong>der</strong>n doch allererst vom realen Raum vorausgesetzt wird. Folgerichtig<br />
ist dann im Rahmen <strong>der</strong> hier vorgenommenen Verschärfung <strong>der</strong><br />
Argumentation <strong>die</strong> reine Anschauung als bloßes Produkt <strong>der</strong><br />
Einbildungskraft vom »realen« Raum darin zu unterscheiden, daß auch<br />
<strong>die</strong> weitere Einschränkung <strong>der</strong> Dimensionsbestimmung für <strong>die</strong> reine<br />
Anschauung immer schon vom Konstruktionsbegriff mitgebracht wird.<br />
Die Idealität des Raumes in <strong>der</strong> bloßen Definition des Zugleichseins <strong>der</strong><br />
Raumteile kann durch <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Substanzen <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong>en objektive Realität als objektiv gültig erwiesen werden, gleiches<br />
scheint für <strong>die</strong> reine Anschauung selbst aber nunmehr nicht möglich zu<br />
sein. Das Zugleichsein <strong>der</strong> Teile einer sukzessive gezogenen Linie im<br />
Übergang von <strong>der</strong> Zeitlosigkeit eines Begriffes (allerdings schon mit <strong>der</strong><br />
Zeitordnung, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Konstruktionsanweisung liegt) zur Zeitlosigkeit<br />
<strong>der</strong> geometrischen Figur (respektive <strong>der</strong> Selbstständigkeit des Produktes<br />
<strong>der</strong> Einbildung gegenüber <strong>der</strong> Verstandeshandlung) wird mit <strong>der</strong><br />
119 vgl. auch B 606/A 578
-— 144 —<br />
Beschränkung auf <strong>die</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong> Konstruktion als sukzessive<br />
Reihenfolge immer schon unterschlagen. Die Beharrlichkeit, <strong>die</strong> als Regel<br />
<strong>der</strong> Apprehension dem allgemeinen Vergleich <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong><br />
reproduzierten Erscheinungen mit <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> produzierten<br />
Vorstellungen als Indiz <strong>der</strong> Substanz entspringt, hat als Voraussetzung <strong>die</strong><br />
Einheit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kontinuität von Raum <strong>und</strong> Zeit (als Anschauungsform<br />
<strong>und</strong> nicht als Idee <strong>der</strong> Ausdehnung); <strong>der</strong> Raum, dessen Vorstellungen<br />
<strong>der</strong>selben transzendentalen Reflexion des totum ideale als Ursprung von<br />
Anschauung <strong>und</strong> Begriff entspringt, hat als Voraussetzung <strong>die</strong> Einheit <strong>und</strong><br />
Kontinuität von Beharrlichkeit <strong>und</strong> Zeit (als Dauer). Die Selbstständigkeit<br />
einer geometrischen Figur in reiner Anschauung gegenüber <strong>der</strong><br />
konstruierenden Verstandeshandlung setzt aber <strong>die</strong> Kontinuitätsfor<strong>der</strong>ung<br />
für <strong>die</strong> Zeit aus. Die Zeitordnung <strong>der</strong> Konstruktionsregel (das Konzept<br />
eines Dinges als seine Konstruktionsregel) benötigt in reiner Anschauung<br />
nicht mehr unmittelbar <strong>die</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Zeit, um <strong>die</strong> Regelhaftigkeit<br />
<strong>der</strong> Darstellung eines Begriffes in <strong>der</strong> Erfahrung zu garantieren. Die<br />
Konstruktion einer geometrischen Figur kann zum Unterschied <strong>der</strong><br />
kontinuierlich verlaufenden Zeit <strong>der</strong> Abfolge <strong>der</strong> Erscheinungen, <strong>der</strong>en<br />
Reihenfolge objektive Gültigkeit zukommen kann, ob sie nun ein Ursache-<br />
Wirkungsverhältnis versinnlichen o<strong>der</strong> nicht, durchaus unterbrochen<br />
werden, auch ohne damit <strong>die</strong> Kontinuitätsbedingungen des Raumes, mit<br />
dessen Elemente in reiner Anschauung konstruiert wird, zu verletzen. Ich<br />
kann heute damit beginnen, eine Linie in reiner Anschauung zu ziehen<br />
<strong>und</strong> morgen damit fortfahren, <strong>und</strong> zwar deshalb, weil ich weiß, bei<br />
welcher Größe ich heute unterbrochen habe, sodaß ich morgens damit<br />
fortfahren kann, <strong>die</strong> Linie zu ziehen, bis sie das gedachte Quantum erfüllt.<br />
Die Zeitlichkeit <strong>der</strong> Konstruktion stellt außer <strong>der</strong> Zeitordnung keinerlei<br />
Zeitbedingungen an <strong>die</strong> Konstruktion in reiner Anschauung. Die objektive<br />
Gültigkeit <strong>der</strong> Geometrie ist also an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> objektive Gültigkeit des<br />
Zugleichseins <strong>der</strong> Teile des realen Raumes auf objektive Realität zu<br />
beziehen.<br />
Die Zeitordnung bleibt eine Ordnung <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Konstruktion <strong>und</strong><br />
nicht <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen überhaupt. Das Zugleichsein <strong>der</strong><br />
Teile im Konstruktionsraumkann für <strong>die</strong> <strong>der</strong>art von <strong>der</strong> Anschauung<br />
überhaupt abgehobene reine Anschauung also nicht unmittelbar durch <strong>die</strong><br />
Beziehung auf den Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Gemeinschaft aller Substanzen erwiesen<br />
werden, son<strong>der</strong>n bedarf eines eigenen Ausweises. Während das<br />
Zugleichsein im Commercium nicht aufgr<strong>und</strong> des Zugleichseins <strong>der</strong> Teile
-— 145 —<br />
des Raumes erwiesen wird, son<strong>der</strong>n aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Koexistenz von<br />
Seienden <strong>und</strong> <strong>der</strong>en notwendigen Wechselwirkungen, muß das<br />
Zugleichsein <strong>der</strong> reinen Anschauung in <strong>der</strong> Zeitordnung des<br />
Konstruktionsbegriffes, <strong>der</strong> eben nicht Kontinuitätsbedingungen <strong>der</strong> Zeit<br />
notwendigerweise mitbringen muß, zu begründen sein.<br />
Die Zeitordnung <strong>der</strong> Kausalitätskategorie bestimmt für sich allein<br />
bekanntermaßen <strong>die</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen deshalb nicht, weil<br />
Ursache <strong>und</strong> Wirkung einmal nur nacheinan<strong>der</strong> (z. B. in <strong>der</strong> Mechanik im<br />
Stoß) <strong>und</strong> einmal nur zugleich (z. B. in <strong>der</strong> Dynamik als Beschleunigung)<br />
möglich sind. In <strong>der</strong> reinen Anschauung wird mit dem<br />
Konstruktionsbegriff als dessen Bedingung hingegen gefor<strong>der</strong>t, daß seine<br />
Zeitordnung auch <strong>die</strong> Zeitreihenfolge <strong>der</strong> Konstruktionshandlung<br />
bestimmt, aber ohne <strong>der</strong>en Kontinuität zu for<strong>der</strong>n. Der Gr<strong>und</strong> des<br />
Zugleichseins in <strong>der</strong> reinen Anschauung kann somit nur mehr im Begriff,<br />
dem <strong>die</strong> Handlung in <strong>der</strong> Einbildungskraft als produktive<br />
Einbildungskraft unterstellt ist, liegen. Alles das, was mit dem Begriff<br />
konstruiert werden kann, hat dann als gleichzeitig zu gelten, wenn das<br />
Konstruierte als Ganzes gedacht werden kann. Die Zeitlosigkeit des<br />
geometrischen Begriffes wie <strong>die</strong> Zeitlosigkeit des Produkts <strong>der</strong><br />
Einbildungskraft ist <strong>der</strong> einzig mögliche Gr<strong>und</strong>, alternativ zum Nachweis<br />
des Zugleichseins in objektiver Realität, sich <strong>die</strong> Gleichzeitigkeit des in<br />
Gedanken Konstruierten zumindest denken zu dürfen.<br />
Bei <strong>der</strong> Konstruktion von geometrischen Figuren kann solches auf <strong>die</strong><br />
reine Anschauung als bloße Einbildung angewendet werden, nicht aber bei<br />
<strong>der</strong> Anweisung, eine Linie zu ziehen. Deren Ganzheit ist ebenso unendlich<br />
wie <strong>die</strong> Ganzheit <strong>der</strong> Fläche, in <strong>der</strong> Dreiecke, Polygone, überhaupt alle<br />
geschlossenen Linienzüge erst mittels Konstruktionsbegriffe<br />
eingeschrieben werden. Die Ganzheit einer bloßen Linie (also ohne daß ihr<br />
eine Größe zuvor gedacht worden ist, welche sie zur Strecke bestimmt)<br />
kann vom Konstruktionsbegriff nicht auf gleiche Weise gedacht werden<br />
wie <strong>die</strong> Konstruktion einer geschlossenen geometrischen Figur, da <strong>der</strong>en<br />
Ganzheit auch dann gedacht werden kann, wenn <strong>der</strong>en Größe in reiner<br />
Anschauung gar nicht als Begriff bestimmt worden ist. Die Linie ist<br />
nämlich einmal metaphysisch als Einschränkung des Raumes <strong>und</strong> einmal<br />
(im Ziehen <strong>der</strong>selben) transzendental als Konstruktion zu denken. Mit <strong>der</strong><br />
Ganzheit <strong>der</strong> bloßen Linie in reiner Anschauung wäre nun auch für <strong>die</strong><br />
reine Anschauung eine ideale Bedingung des Zugleichseins gef<strong>und</strong>en,<br />
allein scheint <strong>die</strong>se eine Größenbestimmung aus dem Begriff zu bedürfen,
-— 146 —<br />
<strong>die</strong> für <strong>die</strong> Verhältnisse des Konstruktionsbegriffes einer geometrischen<br />
Figur (o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Analyzität) gar nicht nötig war, indem für <strong>die</strong>se <strong>die</strong><br />
Angabe bloßer Größenverhältnisse ausreichend ist. Welche Größe für eine<br />
geschlossene konstruierbare geometrische Figur aus Linien o<strong>der</strong> Flächen<br />
auch immer in Frage kommen kann, ihre Ganzheit steht wegen ihrer<br />
Endlichkeit immer schon außer Frage. Ganzheit des Begriffes wie Ganzheit<br />
ihrer Konstruktion stehen außer Frage, auch wenn rational konstruierbare<br />
geometrische Figuren mit ganzzahligen Verhältnissen selbst irrationale<br />
Größenbegriffe beinhalten, wie z.B. ein pythagoräisches Dreieck für das<br />
Maß <strong>der</strong> Höhenlinien keinen vollständigen Begriff <strong>der</strong> Größe, doch aber<br />
einen vollständigen Begriff des Verfahrens, <strong>die</strong>se endliche Größe<br />
infinitesimal zu berechnen, besitzt. Hingegen ist beim Ziehen einer Linie<br />
nur <strong>die</strong> Ganzheit des Begriffes <strong>der</strong> Konstruktion, nicht aber <strong>die</strong> Ganzheit<br />
<strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Teile wegen <strong>der</strong> Infinitesimalität ihrer unendlichen Größe<br />
gewiß. Gerade im Ziehen einer Linie (gleich ob eine Gerade o<strong>der</strong> ob etwa<br />
eine Parabel) stellen sich <strong>die</strong> größten Zweifel ein, ob mit <strong>der</strong> Ganzheit des<br />
Begriffes (als Begriff eines Verfahrens) auch <strong>die</strong> ideale Geltung des<br />
Zugleichseins in <strong>der</strong> reinen Anschauung ausgedrückt werden kann.<br />
Einerseits setzt <strong>der</strong> Begriff des Infinitesimalen gerade nicht den aktuellen<br />
Vollzug <strong>der</strong> unendlich vielen Schritte voraus (mögliches Ganzes),<br />
an<strong>der</strong>erseit sind bei einer gegebenen endlichen Größe <strong>die</strong> unendlich vielen<br />
Teile <strong>der</strong>selben, wenn auch nicht aktuell gegeben, so doch bereits als<br />
möglich mitgedacht (gegebenes Ganzes). Nur unter <strong>die</strong>ser zweiseitigen<br />
Einschränkung kann <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Definition des Zugleichseins im<br />
Rahmen <strong>der</strong> reinen Anschauung erwogen werden, ohne unmittelbar auf<br />
das Commercium verwiesen zu werden. Daß <strong>die</strong> Vollständigkeit des<br />
Schemas des Konstruktionsbegriffes <strong>die</strong> Bezogenheit aller Teile<br />
aufeinan<strong>der</strong> (<strong>und</strong> nicht nur des ersten Teiles auf den zweiten Teil <strong>und</strong> des<br />
zweiten auf den dritten usf.), also ihre Ganzheit ohne vollständige<br />
Kontinuitätsbedingungen garantieren kann, ist dann eine freilich<br />
eingeschränkte ideale Definition des Zugleich in <strong>der</strong> — allerdings auch<br />
von den formalen Bedingungen <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> empirisch<br />
gegebenen Mannigfaltigkeit — reinen Anschauung. Tritt dazu <strong>die</strong> formale<br />
Bedingungen <strong>der</strong> Apprehension des empirisch Mannigfaltigen, ist <strong>die</strong>se<br />
Definition auch <strong>die</strong> modale Definition <strong>der</strong> reinen Anschauung. Allerdings<br />
gibt <strong>die</strong>se Überlegung nur eine lokale Definition <strong>der</strong> reinen Anschauung<br />
<strong>und</strong> vermag <strong>die</strong> ideale Definition des Zugleichseins gerade nicht als<br />
Totalität einer Anschauungsform zu erfüllen. Die Bedingung <strong>der</strong>
-— 147 —<br />
Kontinuität, <strong>die</strong> von Kant mit <strong>der</strong> Sinnlichkeit als formale Bedingung <strong>der</strong><br />
Apprehension eingeführt wurde, wird fragwürdig: Es hat sich also gezeigt,<br />
daß das zentrale Beispiel, welches Verstandeshandlung <strong>und</strong> Anschauung<br />
rein verbinden können soll, nämlich das Ziehen einer Linie, gar nicht<br />
geeignet ist, das Zugleichsein für <strong>die</strong> reine Anschauung ideal als aus dem<br />
Begriff <strong>der</strong> bloßen Regel für kollektiv erwiesen anzunehmen, wird <strong>die</strong><br />
Identität <strong>der</strong> Verstandeshandlung als synthesis intellectualis mit <strong>der</strong><br />
Handlung des Verstandes als reine Einbildungskraft als synthesis speciosa<br />
gegenüber dem inneren Sinn aufgegeben <strong>und</strong> durch den Begriff <strong>der</strong> Folge<br />
ersetzt.
-— 148 —<br />
II. SUBSTANZ UND BEHARRLICHKEIT:<br />
DIE DIALEKTIK ZWISCHEN DASEIN UND SUBSTANZ<br />
VERFÄLLT ZUR DICHTONOMIE VON SUBJEKT UND<br />
OBJEKT<br />
9) Der Paralogismus als Gr<strong>und</strong>problem des Daseinsbegriffes.<br />
Die Identität <strong>der</strong> Person ist in <strong>der</strong> praktischen Vernunft<br />
f<strong>und</strong>iert, in <strong>der</strong> ersten Kritik B aber kein Argument<br />
Gleich ob als Kriterium für <strong>die</strong> Einheit des Bewußtseins <strong>die</strong> kontinuierliche<br />
Beziehbarkeit <strong>der</strong> Begriffe auf Anschauung genannt wird o<strong>der</strong> ob gleich<br />
<strong>die</strong> Rückführbarkeit <strong>der</strong> Folgen von Folgen zur Beurteilung herangezogen<br />
wird: Um eine einfache Substanz kann es in <strong>der</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Einheitlichkeit des Substrates des Begriffes dessen, was alles mit Ich<br />
o<strong>der</strong> Substanz bezeichnet werden kann, nicht mehr gehen. Kant legt sich<br />
hier vor je<strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> weiteren Möglichkeiten von<br />
Gesetzmäßigkeit in den Folgen daraufhin fest, daß <strong>die</strong> Evidenz einer<br />
Kontinuität in <strong>der</strong> Zeitlichkeit des inneren Sinnes (gegenüber <strong>der</strong><br />
Kontinuität <strong>der</strong> sukzessive vorgehenden formalen Anschauung) nicht nur<br />
eine ursprünglich hervorgebrachte ist, son<strong>der</strong>n auch, daß <strong>die</strong><br />
Selbstaffektation selbst gar keine objektive Gültigkeit im Sinne <strong>der</strong> reinen<br />
Verstandesbegriffe erreichen kann.<br />
Die hier entscheidende Untersuchung hat m. E. im zweiten Paralogismus<br />
<strong>der</strong> ersten Fassung einzusetzen, wo das Substrat eines Begriffes überhaupt<br />
klassisch nach einfacher <strong>und</strong> zusammengesetzter Substanz unterschieden<br />
wird. Der zweite Paralogismus <strong>der</strong> Simplizität (in A) lautet nun:<br />
»Dasjenige Ding, dessen Handlung niemals als <strong>die</strong> Konkurrenz vieler<br />
handeln<strong>der</strong> Dinge angesehen werden kann, ist einfach. Nun ist <strong>die</strong> Seele,<br />
o<strong>der</strong> das denkende Ich, ein solches.« (A 351). Kant bestimmt demnach hier<br />
<strong>die</strong> Einheit des Selbstbewußtseins aus den Folgen des fraglichen Dinges;<br />
sie sind definitionsgemäß rückführbar (qualitative Einheit des Begriffs,<br />
§ 12), hier aber noch als einan<strong>der</strong> nicht konkurrenzierend zu denken (vgl.<br />
dazu das zweite Selektionskriterium des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand als Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft: das wesentliche Prädikate ohne<br />
Wi<strong>der</strong>spruch nebeneinan<strong>der</strong> stehen zu können). Selbst <strong>die</strong>se<br />
Unterscheidung verhilft uns aber nicht zur Selbsterkenntnis, wie Kant in<br />
<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung ausführt:
-— 149 —<br />
»So ist demnach das einfache Bewußtsein keine Kenntnis <strong>der</strong> einfachen<br />
Natur unseres Subjekts, in so fern, als <strong>die</strong>ses dadurch von <strong>der</strong> Materie, als<br />
einem zusammengesetzten Wesen, unterschieden werden soll.«<br />
»Wenn <strong>die</strong>ser Begriff aber dazu nicht taugt, ihn in dem einzigen Falle, da er<br />
brauchbar ist, nämlich in <strong>der</strong> Vergleichung meiner Selbst mit<br />
Gegenständen äußerer Erfahrung, das Eigentümliche <strong>und</strong><br />
Unterscheidende seiner Natur zu bestimmen, so mag man immer zu<br />
wissen vorgeben: das denkende Ich, <strong>die</strong> Seele, (ein Name für den<br />
transzendentalen Gegenstand des inneren Sinnes) sei einfach; <strong>die</strong>ser<br />
Ausdruck hat deshalb doch gar keinen auf wirkliche Gegenstände sich<br />
erstreckenden Gebrauch <strong>und</strong> kann daher unsere Erkenntnis nicht im<br />
mindesten erweitern.« (A 361)<br />
Um <strong>die</strong>ses Zitat recht zu verstehen, muß zuerst geklärt werden, welchen<br />
Begriff im ersten Satz Kant eingangs des zweiten Absatzes als »<strong>die</strong>ser<br />
Begriff« bezeichnet hat. Es liegt nahe, das »einfache Bewußtsein« für<br />
<strong>die</strong>sen Begriff zu halten, denn <strong>die</strong> vorangegangene Leibniz-Paraphrase<br />
(A 359) 120 behält gerade <strong>die</strong> Vertauschbarkeit materieller <strong>und</strong> intelligibeler<br />
Substanz bei: »[...] wenn ich unter Seele ein denkend Wesen an sich selbst<br />
verstehe, [ist] <strong>die</strong> Frage an sich schon unschicklich [...]: ob sie nämlich mit<br />
<strong>der</strong> Materie (<strong>die</strong> gar kein Ding an sich selbst, son<strong>der</strong>n nur eine Art<br />
Vorstellungen von uns ist) von gleicher Art sei, o<strong>der</strong> nicht; denn das<br />
versteht sich von selbst, daß ein Ding an sich selbst von an<strong>der</strong>er Natur sei,<br />
als <strong>die</strong> Bestimmungen, <strong>die</strong> bloß seinen Zustand ausmachen. Vergleichen<br />
wir aber das denkende Ich nicht mit <strong>der</strong> Materie, son<strong>der</strong>n mit dem<br />
Intelligibelen, welches <strong>der</strong> äußeren Erscheinung, <strong>die</strong> wir Materie nennen<br />
zum Gr<strong>und</strong>e liegt: so können wir, weil wir vom letzteren gar nichts<br />
wissen, auch nicht sagen: daß <strong>die</strong> Seele sich von <strong>die</strong>sem irgend worin<br />
innerlich unterscheide.<br />
So ist demnach das einfache Bewußtsein keine Kenntnis <strong>der</strong> einfachen<br />
Natur unseres Subjektes, in so fern, als <strong>die</strong>ses dadurch von <strong>der</strong> Materie, als<br />
einem zusammengesetzten Wesen, unterschieden werden soll.« 121<br />
120 »Auf solche Weise würde eben dasselbe, was in einer Beziehung körperlich heißt, in<br />
einer an<strong>der</strong>en zugleich ein denkend Wesen sein, dessen Gedanken wir zwar nicht,<br />
aber doch <strong>die</strong> Zeichen <strong>der</strong>selben in <strong>der</strong> Erscheinung, anschauuen können. Dadurch<br />
würde <strong>der</strong> Ausdruck wegfallen, daß nur Seelen (als beson<strong>der</strong>e Arten von Substanzen)<br />
denken; d. i. eben dasselbe, was, als äußere Erscheinung, ausgedehnt ist, innerlich (an<br />
sich selbst) ein Subjekt sei, was nicht zusammengesetzt, son<strong>der</strong>n einfach ist <strong>und</strong><br />
denkt.«<br />
121 A 360
-— 150 —<br />
Kant leugnet <strong>die</strong>se Vertauschbarkeit von Subjekt <strong>und</strong> Objekt im<br />
Intelligibelen zuerst cartesianisch, nachdem eben <strong>die</strong> einfache Natur<br />
unseres Subjekts von <strong>der</strong> Materie als einem zusammengesetzten Wesen<br />
wegen seiner Einfachheit getrennt bleiben soll. So gibt es gute Gründe,<br />
unter <strong>die</strong>sen Begriff eingangs des zweiten Satzes <strong>die</strong> »einfache Natur<br />
unseres Subjekts« zu verstehen, zumal »<strong>die</strong>ser Begriff« zuerst zur<br />
»Vergleichung meiner Selbst mit Gegenständen äußerer Erfahrung«<br />
<strong>die</strong>nen sollte, wozu er aber eben nicht taugt. Die Schlußfolgerung aus <strong>der</strong><br />
cartesianischen Trennung in »res cogitans« <strong>und</strong> »res extensa«, »das<br />
denkende Ich, <strong>die</strong> Seele« sei einfach, ist eben in <strong>der</strong> Erfahrung we<strong>der</strong><br />
verifizierbar noch falsifizierbar, noch findet sie einen Gr<strong>und</strong> im<br />
metaphysischen Vergleich von einfacher <strong>und</strong> zusammengesetzter<br />
Substanz. Damit erscheint das »einfache Bewußtsein« aber einmal eher<br />
selbst als Eigenschaft o<strong>der</strong> ein bestimmter Zustand des nicht-einfachen<br />
Selbst, sofern <strong>die</strong>ses unter das »Ich denke« gebracht werden kann, <strong>und</strong><br />
einmal als Produkt des »Ich denke« (das denkende Ich, <strong>die</strong> Seele). 122<br />
Der dritte Paralogismus in A nennt Kant den Paralogism <strong>der</strong> Personalität:<br />
»Was sich <strong>der</strong> numerischen Identität seiner Selbst in verschiedenen Zeiten<br />
bewußt ist, ist insofern eine Person. Nun ist <strong>die</strong> Seele etc.. Also ist sie eine<br />
Person.« 123 In <strong>der</strong> Kritik des dritten Paralogismus äußert sich Kant<br />
folgen<strong>der</strong>maßen: »Auf <strong>die</strong>sen Fuß müßte <strong>die</strong> Persönlichkeit <strong>der</strong> Seele nicht<br />
einmal als geschlossen [schlage vor: erschlossen], son<strong>der</strong>n als völlig<br />
identischer Satz des Selbstbewußtseins in <strong>der</strong> Zeit angesehen werden, <strong>und</strong><br />
das ist auch <strong>die</strong> Ursache [schlage vor: Gr<strong>und</strong>], weswegen er a priori gilt.<br />
Denn er sagt wirklich nichts mehr, als in <strong>der</strong> ganzen Zeit, darin ich meiner<br />
bewußt bin, bin ich mir <strong>die</strong>ser Zeit, als zur Einheit meiner Selbst gehörig,<br />
bewußt, <strong>und</strong> es ist einerlei, ob ich sage: <strong>die</strong>se ganze Zeit ist in Mir, als<br />
individueller Einheit, o<strong>der</strong> ich bin, mit numerischer Identität, in aller<br />
<strong>die</strong>ser Zeit befindlich.« 124<br />
Mit Hilfe einer Rückbesinnung auf den Anfang <strong>der</strong> Axiome <strong>der</strong><br />
Anschauung, wo eben <strong>die</strong> (Anschauung enthaltenden) Vorstellungen von<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit allererst erzeugt werden, kann <strong>die</strong>sem formalen Rest <strong>der</strong><br />
spinozistischen Vertauschbarkeit von Materie <strong>und</strong> Seele im Begriff <strong>der</strong><br />
122 B 417, Anmk. Das cartesianische »Ich denke, also bin ich« ist keine synthetische<br />
Schlußfolgerung, son<strong>der</strong>n analytisch im selbst rein intellektualen »Ich denke«<br />
enthalten; vgl. auch mit Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus.<br />
123 A 361<br />
124 A 362
-— 151 —<br />
Substanz Einhalt geboten werden: 125 Die apprehen<strong>die</strong>rte (konstruierte) Zeit<br />
ist zur Einheit meines Selbst gehörig, aber nicht ist das, was apprehen<strong>die</strong>rt<br />
wurde, in Mir, noch bin Ich in <strong>die</strong>ser Zeit befindlich (sonst wäre das mit<br />
Ich Bezeichnete ein Gegenstand objektiver Realität). 126 In <strong>die</strong>se Richtung<br />
geht auch <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> Kant in <strong>der</strong> zweiten Fassung vornimmt:<br />
Zur Einheitsbestimmung qua »numerischer Identität«, wie Kant hier<br />
terminologisch bedenklich anführt, kommt <strong>die</strong> Identitätsbestimmung qua<br />
spontaner Verknüpfung von Vorstellungen als erste <strong>und</strong> ursprüngliche<br />
Verstandeshandlung. Offensichtlich geht Kant in <strong>der</strong> ersten Fassung<br />
zwischen zweiten <strong>und</strong> dritten Paralogismus von <strong>der</strong> univoken<br />
Bezeichnung des Selbst, <strong>der</strong> Seele <strong>und</strong> des einfachen Bewußtseins mit<br />
»Ich« aus, während in <strong>der</strong> zweiten Fassung zur äquivoken Bezeichnung<br />
übergegangen wird: Die konstruierte Zeit, <strong>die</strong> zur »Einheit meiner Selbst«<br />
gehört, beschränkt das Selbst auf <strong>die</strong> Gegenwärtigkeit des einfachen<br />
Bewußtseins, daß aber nunmehr das Selbst mit <strong>der</strong> numerischer Identität<br />
»in aller <strong>die</strong>ser Zeit« — also <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> schon durch <strong>die</strong> Apprehension<br />
formal bestimmt ist — befindlich ist, macht für sich noch nicht notwendig,<br />
daß <strong>die</strong>ses Selbst nichts an<strong>der</strong>es als jenes Selbst ist, was mit dem einfachen<br />
Bewußtsein äquipollent o<strong>der</strong> gar ident gesetzt werden könnte. Dieser<br />
Überlegung geht allerdings Kant auch in <strong>der</strong> ersten Fassung noch weiter<br />
nach:<br />
»Denn wir selbst können aus unserem Bewußtsein darüber nicht urteilen,<br />
ob wir als Seele beharrlich sind, o<strong>der</strong> nicht, weil wir zu unserem<br />
identischen Selbst nur dasjenige zählen, dessen wir uns bewußt seyn, <strong>und</strong><br />
so allerdings notwendig urteilen müssen: daß wir in <strong>der</strong> ganzen Zeit,<br />
<strong>der</strong>en wir uns bewußt sind, eben <strong>die</strong>selbe sind. In dem Standpunkte eines<br />
Fremden aber können wir <strong>die</strong>ses darum noch nicht für gültig erklären,<br />
125 Ähnlich läßt sich anhand einiger Stellen aus Jakob Böhmes »Von <strong>der</strong> Gnadenwahl«<br />
(1623) zeigen, daß auch bei Böhme in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Selbstständigkeit <strong>der</strong><br />
materiellen Ursache durchaus ein vergleichbares Problem besteht. Allerdings ist<br />
auch da <strong>die</strong> Sache nicht einfach: Letztlich scheint auch Jakob Böhme <strong>die</strong><br />
Schwierigkeit, <strong>der</strong> Eminenz des Seins, <strong>die</strong> bei Böhme an<strong>der</strong>s als bei Thomas nicht mit<br />
dem logos (ein freilich oft mißverstandener Begriff) beginnt, <strong>die</strong> relative<br />
Selbstständigkeit des Geschöpften gegenüberstellen zu müssen, nur damit lösen zu<br />
können, <strong>die</strong> »scienz« (<strong>die</strong> feurige Schöpfungskraft, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Bitternis entspringt) auf<br />
eine Weise zu interpretieren, daß <strong>die</strong>se gleichwohl als Urkraft des Materiellen wie<br />
auch als Urkraft des Ungr<strong>und</strong>es, aus dessen Klärung Gott als logos (Christus) erst<br />
entspringt, zu verstehen sein vermöchte.<br />
126 Refl. 5655, AA. XVIII: »Daß das denkende Wesen in <strong>der</strong> Vorstellung des inneren<br />
Sinnes ihm selbst bloß Erscheinung sei, bedeutet nichts weiter, als wenn ich sage: ich,<br />
in dem das Zeitverhältnis allein anzutreffen ist, bin in <strong>der</strong> Zeit. Das continens ist<br />
zugleich contentum.«Vgl. auch nachfolgend 9 b)
-— 152 —<br />
weil, da wir an <strong>der</strong> Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen, als nur<br />
<strong>die</strong> Vorstellung Ich, welche sie alle begleitet <strong>und</strong> verknüpft, so können wir<br />
niemals ausmachen, ob <strong>die</strong>ses Ich (ein bloßer Gedanke) nicht ebensowohl<br />
fließe, als <strong>die</strong> übrigen Gedanken, <strong>die</strong> dadurch an einan<strong>der</strong> gekettet<br />
werden. [...] Denn könnten wir <strong>die</strong>se voraussetzen, so würde zwar daraus<br />
noch nicht <strong>die</strong> Fortdauer des Bewußtseins, aber doch <strong>die</strong> Möglichkeit eines<br />
fortwährenden Bewußtseins in einem bleibenden Subjekt folgen, welches<br />
zu <strong>der</strong> Persönlichkeit schon hinreichend ist, <strong>die</strong> dadurch, daß ihre<br />
Wirkung etwa eine Zeit hindurch unterbrochen wird, selbst nicht sofort<br />
aufhört. Aber <strong>die</strong>se Beharrlichkeit ist uns vor <strong>der</strong> numerischen Identität<br />
unserer Selbst, <strong>die</strong> wir aus <strong>der</strong> identischen Apperzeption folgeren, durch<br />
nichts gegeben, son<strong>der</strong>n wird daraus allererst gefolgert, (<strong>und</strong> auf <strong>die</strong>se<br />
müßte, wenn es recht zuginge, allererst <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Substanz folgen,<br />
<strong>der</strong> allein empirisch brauchbar ist). Da nun <strong>die</strong>se Identität <strong>der</strong> Person aus<br />
<strong>der</strong> Identität des Ich, in dem Bewußtsein aller Zeit, darin ich mich erkenne,<br />
keineswegs folgt: so hat auch oben <strong>die</strong> Substanzialität <strong>der</strong> Seele darauf<br />
nicht gegründet werden können.« (A 364 f.)<br />
Hier leitet noch das spezifische Interesse an <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong> Seele<br />
<strong>die</strong> Überlegung an; Kant unterscheidet aber sehr wohl den Begriff »Ich« als<br />
Begriff <strong>der</strong> Identität des einfachen Bewußtseins des »Ich denke« von seiner<br />
Funktion, das Selbst, o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Person zu bezeichnen. 127 Die Bestimmung<br />
<strong>die</strong>ser Unterscheidung hat aber nicht zur Folge, daß das Selbst o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Person nicht länger mit »Ich« bezeichnet werden dürften, bloß ist das »Ich«<br />
kein Begriff <strong>der</strong> Person o<strong>der</strong> gar des Selbst. Allerdings ist festzustellen, daß<br />
<strong>die</strong> Worte »Selbst« <strong>und</strong> »Person«, aber auch »Seele« einstweilen noch nicht<br />
in ihren Begriffen erkannt werden konnten. Es bleibt bei<br />
Nominaldefinitionen, <strong>die</strong> nur Unterschiede zu an<strong>der</strong>en Namen, aber kein<br />
eigenes Schema <strong>der</strong> Bestimmung des gemeinten Substrates feststellen: Die<br />
Seele scheint eher <strong>die</strong> Rezeptivität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Angleichung <strong>der</strong> rezepierten<br />
Inhalte aneinan<strong>der</strong>, <strong>die</strong> Person <strong>die</strong> Spontaneität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rückführbarkeit<br />
<strong>der</strong> Folgen <strong>der</strong> Handlung zu betreffen. Das Selbst fungiert als sowohl<br />
intelligibel wie unvordenklich gedachter Hintergr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser beiden<br />
Funktionen, <strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Reflexion auf <strong>die</strong> Identität angesetzt wird. Diese<br />
Identität ist nunmehr als Setzung <strong>der</strong> numerischen Einheit <strong>und</strong> als<br />
Selbstsetzung des reinen »Ich denke« in <strong>der</strong> Verknüpfung von<br />
127 Das hat sich auch P. Strawson zunutze gemacht., indem er daraus gefolgert hat, daß<br />
<strong>die</strong> Kantsche Untersuchung nicht zwischen dem »Ich« <strong>und</strong> dem »Wir« <strong>der</strong><br />
grammatikalischen Person unterscheidet.
-— 153 —<br />
Vorstellungen zu denken möglich, während <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Substanz wie<br />
<strong>der</strong> Person doch erst im Nachhinein zu haben ist. — Vom intelligiblen<br />
Subjekt <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit, daß ein reiner Wille sich nicht nur vom Gesetz <strong>der</strong><br />
praktischen Vernunft vollständig hat bestimmen lassen, son<strong>der</strong>n sich<br />
selbst noch <strong>die</strong>ses Gesetz hat geben müssen (Sittengesetz) sehe ich hier ab.<br />
Der weitere Verlauf <strong>der</strong> Untersuchung zeigt zwar letztlich in <strong>die</strong><br />
angedeutete Richtung, ist selbst aber an Ort <strong>und</strong> Stelle nach wie vor eine<br />
transzendentalanalytische Untersuchung: Zwar wird nicht mehr <strong>der</strong><br />
Verstandesgebrauch in <strong>der</strong> Erfahrung untersucht, jedoch <strong>die</strong><br />
transzendentalen Ideen <strong>der</strong> reinen <strong>und</strong> unvermeidbaren obersten<br />
Vernunftbegriffe. Es handelt sich also in den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>und</strong><br />
Auflösungen um eine transzendentale Analytik <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Dialektik <strong>der</strong> obersten Ideen <strong>der</strong> reinen Vernunft. Um sich <strong>die</strong>ser<br />
Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> reinen Vernunft, <strong>die</strong> auch als Einklammerung <strong>der</strong><br />
praktischen Vernunft vorgestellt werden kann, zu vergewissern, sagt man<br />
zuweilen auch theoretische Vernunft.<br />
Will man <strong>die</strong>se transzendentalphänomenologische Operation durchführen,<br />
darf man aber nicht übersehen, daß dabei nicht einfach <strong>die</strong> praktische<br />
Vernunft <strong>der</strong> Folgeuntersuchungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Maximenuntersuchung <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> kritischen Abwägung <strong>der</strong>en Methoden vorausgesetzt werden kann.<br />
Vielmehr muß eine pragmatische Vorform, etwa im Sinn <strong>der</strong> praktischen<br />
Klugheit (Phronesis) suppliert werden, soll <strong>die</strong> Einklammerung <strong>der</strong><br />
theoretischen Vernunft transzendentalphänomenologisch als rein<br />
ursprüngliche Handlung aufgefaßt werden. Im Sinne <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft bei Kant <strong>und</strong> bei Fichte wäre aus <strong>die</strong>ser vorhistorischen<br />
»Naturform« <strong>die</strong> Strategie <strong>der</strong> Herstellung (für manche als<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung) <strong>der</strong> kollektiven Einsicht in das Sittengesetz zu<br />
entwickeln; indviduell setzt Kant <strong>die</strong> psychologische Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Achtung vor <strong>der</strong> reinen Idee des Sittengesetzes als synthetischen Satz a<br />
priori <strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft auch ohne <strong>die</strong>ses vollends als<br />
solchen vorstellen zu müssen. Dies sei je<strong>der</strong>mann anzusinnen. — Hier aber<br />
bleibt <strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf das Verhältnis <strong>der</strong> Erkenntnisvermögen<br />
untereinan<strong>der</strong> gerichtet, was zur Folge hat, daß an Stelle von einer<br />
Willensphilosophie von <strong>der</strong> Spontaneität <strong>und</strong> Rezeptivität des intelligiblen<br />
Subjekts ausgegangen wird.<br />
Es bleibt damit so o<strong>der</strong> so <strong>die</strong> Regression auf den Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Einheitlichkeit des Subjektes als Vernunftbegriff trotz <strong>der</strong> Einheit, <strong>die</strong> den
-— 154 —<br />
Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit von Erfahrung in <strong>der</strong> empirischen<br />
Anschauung auch für das erkennende Subjekt entspringt, auf <strong>die</strong><br />
empirische Person als tragenden Gr<strong>und</strong> verwiesen. Das empirische Ich <strong>der</strong><br />
Person greift nun nicht nur über das Phänomenologische des inneren<br />
Sinnes son<strong>der</strong>n auch über das Phänomenologische <strong>der</strong> Person als Habitus<br />
hinaus. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist festzuhalten, daß im dritten<br />
Paralogismus <strong>der</strong> Person (A) <strong>die</strong> Kontinuität des Bewußtseins als<br />
Hervorgebrachtes modal ganz ähnlich situiert wird, wie <strong>die</strong> bloß<br />
subjektive Gültigkeit eines ästhetischen Urteiles, auf <strong>die</strong> Anspruch zu<br />
erheben je<strong>der</strong>mann zu erheben berechtigt ist. 128 Es gibt also eine<br />
Bestimmung <strong>der</strong> Person anhand einer Eigenschaft <strong>der</strong> Folgen, <strong>die</strong> dazu<br />
ausreicht, in B an Stelle <strong>der</strong> Personalität eine formale Einheit <strong>der</strong> Reflexion<br />
zu denken, <strong>der</strong>en modale Bedingungen denen des ästhetischen Urteils<br />
gleichen. Diese gibt aber nicht zu erkennen, ob sie nicht bloß für subjektive<br />
Einheit (Raum <strong>und</strong> Zeit) ausreicht. Kant erwartet sich erst von <strong>der</strong><br />
intellection <strong>die</strong> objektive Gültigkeit. 129<br />
Diese Folgen des Subjekts, als sinnlich feststellbare Folgen <strong>der</strong> empirischen<br />
Handlung (immer schon als Handlungen einer empirischen Person) wie<br />
auch als Folgen <strong>der</strong> Einbildungskraft in <strong>der</strong> Wahrnehmung (als Handlung<br />
des transzendentalen Subjekts) werden im Paralogismus nun nur<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Herstellung einer Vorstellung vom Subjekt<br />
(gewissermaßen als aus Teilkonzepte zusammengesetzt) betrachtet. 130 Die<br />
128 Vgl. den Zusammenhang von gefor<strong>der</strong>ter Allgemeinheit des Geschmacksurteiles<br />
<strong>und</strong> dem aus dem zweckmäßigen Verhältnis <strong>der</strong> Erkenntnisvermögen<br />
entspringenden Gefühl des Wohlgefallens (K.d.U., § 8, § 22, am deutlichsten aber in<br />
<strong>der</strong> Fußnote von § 38, B 151). Die gefor<strong>der</strong>te Allgemeinheit ist nämlich keine<br />
logische, son<strong>der</strong>n bloß eine »idealische Norm« (B 67) als vorausgesetzter<br />
Gemeinsinn, den Kant aus <strong>der</strong> allgemeinen Mitteilbarkeit eines Gefühls folgert<br />
(B 66).<br />
129 Refl. 4675, AA XVII, p. 652 f., »Die subiectiven Bedingungen <strong>der</strong> Erscheinungen,<br />
welche a priori erkannt werden können, sind Raum <strong>und</strong> Zeit: intuitionen. Die<br />
subiective Bedingung <strong>der</strong> empirischen Erkenntnis ist <strong>die</strong> apprehension in <strong>der</strong> Zeit<br />
überhaupt <strong>und</strong> also nach Bedingungen des innern Sinnes überhaupt. Die subjektive<br />
Bedingung <strong>der</strong> rationalen Erkenntnis [ist] <strong>die</strong> construction [in <strong>der</strong> Zeit] durch <strong>die</strong><br />
Bedingung <strong>der</strong> apprehension überhaupt. Alles, was gegeben wird, wird unter den<br />
allgemeinen Bedingungen <strong>der</strong> apprehension gedacht. Also ist das subiectiv<br />
allgemeine <strong>der</strong> apprehension <strong>die</strong> Bedingung des obiectiv allgemeinen <strong>der</strong><br />
intellection.«<br />
130 K.r.V., A 401 f. : »Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich<br />
voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt<br />
erkennen könne, <strong>und</strong> daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem<br />
bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom Gegenstande<br />
unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher <strong>und</strong> verführerischer als <strong>der</strong><br />
Schein, <strong>die</strong> Einheit in <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Gedanken für eine wahrgenommene Einheit
-— 155 —<br />
möglichen Bedeutungen, <strong>die</strong> in den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen von<br />
A <strong>und</strong> B versammelt werden, worauf das Ich als Name auch gemeinsam<br />
bezogen werden kann, sollen zusammen <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Einheit des<br />
Subjektes als sich selbst Setzendes (Kant: als selbst Hervorgebrachtes 131<br />
<strong>und</strong> seine Identität selbst Hervorbringendes) bestimmen können. Das<br />
drückt nur <strong>die</strong> transzendentale Freiheit aus; <strong>die</strong> empirische Freiheit <strong>der</strong><br />
Person selbst aber drückt sich erst in <strong>der</strong> Wahlmöglichkeit positiv aus <strong>und</strong><br />
ist ursprünglich we<strong>der</strong> phänomenologisch noch transzendentalanalytisch<br />
zu fassen. Die Freiheit, <strong>die</strong> je<strong>der</strong> Unterscheidungshandlung vorausgesetzt<br />
ist, kann erst dann als Ziele setzend tätig sein, wenn gewählt werden kann.<br />
Die Freiheit wird im Akt <strong>der</strong> überlegten Wahl erfahrbar als Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Personalität. Die Untersuchung des Gr<strong>und</strong>es, dem entwickelten Begriff <strong>der</strong><br />
Subjektivität Kriterien (Normen) relevanter Einheitlichkeit geben zu<br />
können, führt also auf zwei Alternativen: Die erste Alternative ist <strong>der</strong><br />
Ansatz auf <strong>die</strong> Berechtigung des Anspruches auf subjektive Gültigkeit <strong>und</strong><br />
ist leicht zu umreißen. Der Anspruch ergibt sich negativ aus dem Begriff<br />
<strong>der</strong> Freiheit vom pathologischen Zwang <strong>und</strong> leiblicher Gewalt <strong>und</strong> ist<br />
äquipollent mit <strong>der</strong> Feststellung im dritten Paralogismus in A. Daß das<br />
Gefühl <strong>der</strong> Erhabenheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Achtung im ästhetischen Urteil nicht als<br />
pathologischer Zwang verstanden wird, hat wohl allein<br />
f<strong>und</strong>amentalontologisch verstehbare Gründe. 132 Das soll hier nun zunächst<br />
nur soviel heißen, daß Gründe <strong>der</strong> Einheit des Subjekts in den Grenzen <strong>der</strong><br />
Ich-Fähigkeit eines qua Urteilskraft einfachen Bewußtseins auch dann<br />
behauptet werden, wenn das Urteilen nicht eine dogmatische<br />
Verstandeshandlung (Doktrin <strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft) ist.<br />
Nachdem sich <strong>die</strong> Überlegungen nach dem Vorbild des ästhetischen <strong>und</strong><br />
des teleologischen Urteils allein hinsichtlich einer relevanten Einheit des<br />
Subjekts <strong>der</strong> individuellen Person für <strong>die</strong> theoretische Erörterung <strong>der</strong><br />
transzendentalen Dialektik als unzureichend herausgestellt haben, muß<br />
im Subjekte <strong>die</strong>ser Gedanken zu halten. Man könnte ihn <strong>die</strong> Subreption des<br />
hypostasierten Bewußtseins (apperceptionis substantiatae) nennen.«<br />
131 »Lust ist ein Zustand des Gemüts, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst<br />
zusammenstimmt, als Gr<strong>und</strong>, entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong>sen bloß selbst zu erhalten (denn <strong>der</strong><br />
Zustand einan<strong>der</strong> wechselseitig beför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Gemütskräfte in einer Vorstellung<br />
erhält sich selbst), o<strong>der</strong> ihr Objekt hervorzubringen. Ist das erstere, so ist das Urteil<br />
über <strong>die</strong> gegebene Vorstellung ein ästhetisches Reflexionsurteil. Ist aber das letztere,<br />
so ist es ein ästhetisch-pathologisches, o<strong>der</strong> ästhetisch-praktisches Urteil.« (K.d.U.,<br />
Akad.-Ausg., S. 45). Vgl. dazu bes. K.r.V., B 113f.<br />
132 Vgl. <strong>die</strong> Ekstasen Heideggers in Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 350, in Bezug auf <strong>die</strong> Umkehr des<br />
in <strong>der</strong> selbstverschuldeten Irrnis Stehenden in den »Philosophischen Brocken«<br />
Kierkegaards.
-— 156 —<br />
<strong>die</strong> Suche nach einem weiteren Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> fortgesetzt werden:<br />
Der kategorische Imperativ ist <strong>die</strong> logische Form <strong>der</strong> sittlichen Maximen, 133<br />
<strong>und</strong> gibt nun <strong>die</strong> Formel ab, immer so zu handeln, daß <strong>die</strong> Menschheit in<br />
mir, <strong>die</strong> Menschheit in Dir, <strong>die</strong> Menschheit in einen Dritten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Menschheit in uns es wollen kann, daß das Prinzip meines Handelns zu<br />
einem allgemeinen Gesetz werden könnte. Bei Kant führt das konsequent<br />
zu Verboten <strong>und</strong> nicht zu Kriterien, <strong>die</strong> Schar <strong>der</strong> Folgen einer praktischen<br />
Handlung, <strong>die</strong> letztlich immer auf <strong>die</strong> Differenz von individuellem<br />
Interesse zum Wohl <strong>und</strong> Wehe einer Gruppe o<strong>der</strong> gleich <strong>der</strong><br />
Allgemeinheit bezogen bleibt, material nach Vereinbarkeit des<br />
individuellen Interesses mit dem allgemeinen Interesse zu beurteilen. Die<br />
jeweiligen Prinzipien des Kompromisses zwischen den Interessen o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong>en Zusammenführung können selbst nicht zu einem reinen <strong>und</strong><br />
allgemeinen Vernunftgesetz <strong>der</strong> Sittlichkeit werden. — Es bleibt zu<br />
bemerken: Die Substantialität <strong>der</strong> Seele wird in <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des<br />
dritten Paralogismus mit <strong>der</strong> mangelnden Objektivierbarkeit (es reichte<br />
Intersubjektivierbarkeit) <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> Person verworfen. Es scheint, als<br />
wäre auch <strong>die</strong> Einheit des Gattungswesens durch den Anspruch an<br />
Allgemeinheit <strong>der</strong> kategorischen Imperative in Frage gestellt. Soll man aus<br />
dem Verlauf <strong>der</strong> Argumentation schließen, daß auch <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />
einfachen Substanz anhand des Kriteriums <strong>der</strong> Identität verworfen werden<br />
muß?<br />
10) Rationale Psychologie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Substanz.<br />
Bestimmendes <strong>und</strong> bestimmbares Subjekt<br />
»Wenn ich nun aber durch bloße Kategorie sage: <strong>die</strong> Seele ist eine einfache<br />
Substanz, so ist klar, daß, da <strong>der</strong> nackte Verstandesbegriff von Substanz<br />
nichts weiter enthält, als daß ein Ding an sich, ohne wie<strong>der</strong>um Prädikat<br />
von einem an<strong>der</strong>en zu sein, vorgestellt werden solle, daraus nichts von<br />
Beharrlichkeit folge, <strong>und</strong> das Attribut des Einfachen <strong>die</strong>se Beharrlichkeit<br />
gewiß nicht hinzusetzen könne, mithin man dadurch über das, was <strong>die</strong><br />
Seele bei den Weltverän<strong>der</strong>ungen treffen könne, nicht im mindesten<br />
unterrichtet werden. Würde man uns sagen können, sie ist ein einfacher<br />
Teil <strong>der</strong> Materie, so würden wir von <strong>die</strong>ser, aus dem, was Erfahrung von<br />
133 Diese ist aber nicht leer, wie oft vorgeworfen wurde (etwa von Bolzano), son<strong>der</strong>n<br />
beinhaltet ausdrücklich <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Ersetzbarkeit des Individuums durch ein<br />
an<strong>der</strong>es.; <strong>und</strong> zwar, um <strong>die</strong> Grenzen <strong>der</strong> grammatikalischen Personen (Ich-Du, Wir-<br />
Sie) zu sprengen.
-— 157 —<br />
ihr lehrt, <strong>die</strong> Beharrlichkeit <strong>und</strong>, mit <strong>der</strong> einfachen Natur zusammen, <strong>die</strong><br />
Unzerstörlichkeit <strong>der</strong>selben ableiten können. Davon sagt uns aber <strong>der</strong><br />
Begriff des Ich, in dem psychologischen Gr<strong>und</strong>satze (ich denke), nicht ein<br />
Wort.« 134<br />
Die reine Verstandesbegriff <strong>der</strong> Substanzkategorie ist hier im Paralogismus<br />
in A also gleich <strong>die</strong> Idee vom Ding an sich, das keinerlei Prädikat von<br />
einem an<strong>der</strong>en sein kann. 135 Das enthält zweierlei: Erstens, daß <strong>die</strong> Idee des<br />
Dinges an sich im reinen Verstandesbegriff nur <strong>der</strong> reine Schein des dem<br />
Satzsubjekt Zugr<strong>und</strong>eliegenden ist. Denn das Ding an sich kann als das<br />
transzendentale Objekt=X ausdrückend nicht selbst im reinen<br />
Verstandesbegriff direkt inten<strong>die</strong>rt sein, <strong>und</strong> kann als mittels aller<br />
möglichen Prädikate durchbestimmbares Ding an sich auch nicht in <strong>der</strong><br />
Kategorie ausgedrückt werden, obgleich <strong>die</strong> Kategorien insgesamt ein<br />
transzendentales Objekt a priori inten<strong>die</strong>ren. Zweitens wird damit<br />
ausgedrückt, daß <strong>die</strong> Idee vom Ding an sich zwar auch als Einfaches nicht<br />
<strong>die</strong> Vorstellung von etwas Existierenden, jedoch entwe<strong>der</strong> auf Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Einfachheit o<strong>der</strong> auf Gr<strong>und</strong> des Arguments des ontologischen<br />
Gottesbeweises (Totalität) analytisch unbedingt Existenz (o<strong>der</strong> einen<br />
Verweis auf notwendige Existenz) beinhalten soll. Die Beharrlichkeit aber<br />
kann nach <strong>der</strong> gegebenen Definition keine Eigenschaft eines Einfachen<br />
sein; es ist also auch keine Eigenschaft des vorkategorialen Dinges. 136 —<br />
Das ontologische Argument <strong>der</strong> Einfachheit als Merkmal unzerstörbarer<br />
Substanz wird in den M.A.d.N. ersetzt durch <strong>die</strong> insgesamt<br />
gleichbleibende Summe <strong>der</strong> dynamischen Wi<strong>der</strong>standskraft (Repulsion)<br />
<strong>der</strong> Materie 137 als Substrat des Beweglichen; das kategoriale Schema a<br />
priori <strong>der</strong> Einbildungskraft ihrer Erscheinung nach aber heißt<br />
Beharrlichkeit. Die Substanz <strong>der</strong> Seele jedoch wird we<strong>der</strong> als<br />
»transzendentale Materie« noch nach dem logischen Prinzip <strong>der</strong><br />
durchgängigen Bestimmung eines Dinges (<strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Allheit<br />
134 K.r.V., A 401<br />
135 Man wird in weiterer Folge <strong>die</strong>ser Arbeit sehen, daß Kant nicht überall <strong>und</strong><br />
gleichmäßig zwischen reinem Verstandesbegriff <strong>und</strong> reiner Kategorie unterscheidet:<br />
was Kant hier als reinen Verstandesbegriff bezeichnet, ist aber auch nicht <strong>die</strong> reine<br />
Kategorie. Vgl. hiezu hier den dritten Abschnitt,, 4. Kap..<br />
136 Beharrlichkeit ist auch keine Eigenschaft eines durchbestimmten Dinges, was <strong>der</strong><br />
Allheit, also einem kategorialen Quantum, entspricht.<br />
137 Davon ist zu unterscheiden <strong>die</strong> „transzendentale Materie“ im „prototypon<br />
transcendentale“, <strong>die</strong> vom Prinzip <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines Dinges erst<br />
mittels einer logischen Regel aus <strong>der</strong> Menge aller möglichen Prädikate überhaupt<br />
zum Ding bestimmt wird. In <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Beharrlichkeit ist hingegen <strong>die</strong> Regel<br />
<strong>der</strong> Zeitreihe nicht logisch ausdrückbar.
-— 158 —<br />
entsprechend), noch selbst als phoronomisch darstellbares Bewegliches<br />
vorstellig. Die Beharrlichkeit <strong>der</strong> Seele ist also nicht schematisierbar<br />
son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> <strong>der</strong> Beharrlichkeit zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Spontaneität <strong>der</strong> Seele<br />
ist eher analog des Ursprungs <strong>der</strong> Repulsion in <strong>der</strong> dynamischen<br />
Erklärung <strong>der</strong> Materie zu denken <strong>und</strong> somit da wie dort selbst<br />
transzendentalanalytisch nicht kategorial zu fassen. Kant behandelt nun<br />
<strong>die</strong> rationale Psychologie ausdrücklich in ihrem Verhältnis zur<br />
Vernunftidee eines Dinges. Dazu ist in Erinnerung zu rufen, daß <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> rationalen Psychologie <strong>der</strong> Satz »Ich denke« ist; <strong>und</strong> zwar<br />
in einem genauen doppelten Sinn von Denken als normierende Reflexion<br />
<strong>und</strong> als Anwendung genormter Definition: »Daß aber das Wesen, welches<br />
in uns denkt, durch reine Kategorien <strong>und</strong> zwar <strong>die</strong>jenige, welche <strong>die</strong><br />
absolute Einheit unter jedem Titel <strong>der</strong>selben ausdrücken, sich selbst zu<br />
erkennen vermeine, rührt daher. Die Apperzeption ist selbst <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Kategorien, welche ihrer Seits nichts an<strong>der</strong>es<br />
vorgestellen, als <strong>die</strong> Synthesis des Mannigfaltigen <strong>der</strong> Anschauung, so fern<br />
dasselbe in <strong>der</strong> Apperzeption Einheit hat. Daher ist das Selbstbewußtsein<br />
überhaupt <strong>die</strong> Vorstellung desjenigen, was <strong>die</strong> Bedingung aller Einheit,<br />
<strong>und</strong> doch selbst unbedingt ist. Man kann daher von dem denkenden Ich<br />
(Seele) das sich als Substanz, einfach, numerisch identisch in aller Zeit, <strong>und</strong><br />
das Correlatum alles Daseins, aus welchem alles an<strong>der</strong>e Dasein<br />
geschlossen werden muß, denkt, sagen: daß es nicht sowohl sich selbst<br />
durch <strong>die</strong> Kategorien, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Kategorien, <strong>und</strong> durch sie alle<br />
Gegenstände, in <strong>der</strong> absoluten Einheit <strong>der</strong> Apperzeption, mithin durch<br />
sich selbst erkennt.« 138 Die Apperzeption kann aber nicht <strong>der</strong> ganze Gr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Kategorien sein. Das verstünde sich nur dann, legte<br />
man das Gewicht nur auf <strong>die</strong> logische Form <strong>der</strong> Begrifflichkeit im<br />
Bewußtsein. Doch gründet sich <strong>die</strong> ursprüngliche Einheit <strong>der</strong><br />
Apperzeption selbst nicht nur auf <strong>die</strong> sprachliche Verfaßtheit <strong>der</strong><br />
intelligiblen Spontaneität, <strong>die</strong>, als Zeichenhaftigkeit des Bewußtseins <strong>und</strong><br />
sprachliche Verfaßtheit insofern auch genetisch 139 <strong>und</strong> selbst empirisch, <strong>der</strong><br />
synthesis intellectualis zugr<strong>und</strong>eliegt. So liegt <strong>die</strong> »ursprünglich<br />
synthetische Einheit <strong>der</strong> Apperzeption« auch schon in <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong><br />
»Einen Anschauung« (§ 17) <strong>und</strong> ist auch nach <strong>der</strong> Darstellung Kants in<br />
§ 16 zunächst unabhängig von <strong>der</strong> ursprünglich-synthetischen Einheit <strong>der</strong><br />
138 K.r.V., A 401<br />
139 Das ist natürlich näher <strong>die</strong> ontogenetische Dimension betreffend <strong>und</strong> nicht selbst<br />
eine historische o<strong>der</strong> evolutionstheoretische Vorstellung <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Arten.
-— 159 —<br />
Apperzeption zu denken, welche eben <strong>die</strong>se rein intellektuelle Synthesis<br />
im verknüpfenden »ich denke« impliziert.<br />
Kant beschränkt hier methodisch <strong>die</strong> Vorstellung des Daseins aber auf <strong>die</strong><br />
dem Subjekt des »ich denke« vorausgesetzten Struktur, welche eben zur<br />
Erkenntnis eines Objektes vorausgesetzt ist, obwohl er im letzten Satz des<br />
obigen Zitats Ausblick auf <strong>die</strong> transzendentale Anthropologie nimmt: Dort<br />
sollte alternativ durch <strong>die</strong> Kategorien <strong>die</strong> empirische Bedingung des<br />
Subjekts selbst genetisch erkennbar werden, indem »alle Gegenstände [...]<br />
in <strong>der</strong> absoluten Einheit <strong>der</strong> Apperzeption« gedacht werden müssen.<br />
Offenbar ist unsere Leiblichkeit geeignet, zu allen Gegenständen zu<br />
gehören, <strong>die</strong> das Dasein in <strong>der</strong> absoluten Einheit <strong>der</strong> Apperzeption, mithin<br />
<strong>die</strong> Kategorien durch sich selbst erkennt. Das ist in <strong>der</strong> K. r. V. durchaus<br />
Angelegenheit <strong>der</strong> Ideenlehre: Vom regulativen Gebrauch <strong>der</strong> Ideen:<br />
Homogenität, Spezifikation, Kontinuität (B 686/A 656) als Vernunftideen;<br />
als Prinzipien ihres Erfahrungsgebrauches: Mannigfaltigkeit,<br />
Verwandtschaft, Einheit (B 690/A 662). Hier ist zweifellos <strong>der</strong><br />
Ansatzpunkt evolutionärer Vorstellungen bei Kant zu sehen: als einer <strong>der</strong><br />
vielen Versuche, Mannigfaltiges auf einfache Prinzipien zurückzuführen.<br />
— Doch sind <strong>die</strong> Kategorien gerade nicht ein Produkt <strong>der</strong> Ideenlehre <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong>en Regressus zu einfacheren Prinzipien, son<strong>der</strong>n beziehen sich auf den<br />
Erfahrungsgebrauch: »Er [<strong>der</strong> Regressus] ist also kein Principium <strong>der</strong><br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong> empirischen Erkenntnis <strong>der</strong><br />
Gegenstände <strong>der</strong> Sinne, mithin kein Gr<strong>und</strong>satz des Verstandes [...]«<br />
(B 537/A 509)<br />
Jedoch beschränkt Kant hier <strong>die</strong> Dimensionen einer solchen<br />
Untersuchung 140 auf <strong>die</strong> rationale Psychologie, <strong>und</strong> so ist damit insofern<br />
auch Existenz nicht nur bloß unbestimmt <strong>und</strong> allgemein als reine Idee<br />
gedacht, son<strong>der</strong>n im Denken auch immer schon vollzogen, auch dann,<br />
wenn ein Objekt nur als real möglich gedacht werden kann, ohne das<br />
<strong>die</strong>ses aktuell gegeben wäre. 141 — Da <strong>die</strong> Synthesis des Mannigfaltigen im<br />
Begriff (synthesis intellectualis ) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Synthesis <strong>der</strong> Mannigfaltigkeit <strong>der</strong><br />
140 Eine phänomenologische Anthropologie, <strong>die</strong> letztlich das, was Natur <strong>und</strong> Geschichte<br />
wie auch unser Umgang miteinan<strong>der</strong> aus uns gemacht hat, uns als Substrat unseres<br />
Anfangenkönnens mit <strong>der</strong> Aufklärung voraussetzt.<br />
141 Vgl. Paul Jansen zum unterbelichteten Unterschied von singulärer Wesensschau <strong>und</strong><br />
Schau des Wesens als allgemeine Idee in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Überlegungen<br />
Husserls zu seiner Ideenlehre zwischen 1907 <strong>und</strong> 1913; im Vorwort zu »Die Idee <strong>der</strong><br />
Phänomenologie. Fünf Vorlesungen«, von Edm<strong>und</strong> Husserl, nach dem Text des 2.<br />
Bandes <strong>der</strong> Husserliana hrsg. v. P. Jansen, Meiner-Verlag, Hamburg 1986, p. XXXIV<br />
f.
-— 160 —<br />
Anschauung (synthesis speciosa ) <strong>der</strong> selben Verstandeshandlung<br />
unterstehen soll, wird präsumptiv jedes Schema <strong>der</strong> Darstellung zum<br />
Schematismus des handelnden Selbst; insofern <strong>der</strong> Differenz von<br />
Handlung <strong>und</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> Begriffe <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong>sätze des Verstandesgebrauches im Rücken liegend, komplementär<br />
zum Schema <strong>der</strong> Selbstdarstellung in seinen Handlungen.<br />
»Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen<br />
muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt<br />
erkennen könne, <strong>und</strong> daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem<br />
bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom<br />
Gegenstande unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher <strong>und</strong><br />
verführerischer als <strong>der</strong> Schein, <strong>die</strong> Einheit in <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Gedanken<br />
für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte <strong>die</strong>ser Gedanken zu halten.<br />
Man könnte ihn <strong>die</strong> Subreption des hypostasierten Bewußtseins<br />
(apperceptionis substantiatae) nennen.« 142<br />
Im ersten Satz des gegebenen Abschnittes stellt Kant nun fest, daß das<br />
bestimmende Selbst zwar nicht als Objekt, aber das bestimmbare Subjekt<br />
zuerst als Objekt gedacht wird. 143 Im folgenden Satz wird nochmals erklärt,<br />
weshalb we<strong>der</strong> das Subjekt des Satzes »Ich denke« noch das Subjekt als<br />
bestimmbares Ich (Objekt) als Gegenstand <strong>der</strong> Kategorien gedacht werden<br />
dürfe, obgleich das Subjekt des Selbstbewußtseins notwendigerweise<br />
zuerst als Objekt <strong>der</strong> Kategorien zu denken versucht wird: Die Einheit in<br />
<strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Gedanken ist nicht <strong>die</strong> Einheit im — den Gedanken<br />
zugr<strong>und</strong>eliegenden — Subjekt; nun beruht <strong>die</strong> Verwechslung des<br />
Subjektes <strong>der</strong> Gedanken (aktiv) mit dem Objekt <strong>der</strong> Gedanken (passiv)<br />
allein auf <strong>die</strong> Verwechslung <strong>der</strong> synthetischen Einheit <strong>der</strong> Gedanken mit<br />
dem Objekt als Ding an sich; d. h. hier also, soll das Subjekt auch durch <strong>die</strong><br />
Kategorien gedacht werden, wird <strong>die</strong>ses selbst nicht <strong>die</strong>selbe Einheit in<br />
den Gedanken sein, welche als Einheit des Subjekts <strong>die</strong>ser vorausliegt. —<br />
Die Produziertheit <strong>der</strong> Einheit des Gedankens in den Kategorien impliziert<br />
eine Einheit im Subjekt, ohne allerdings damit das ganze Subjekt im Sinne<br />
<strong>der</strong> quantitativen Allheit <strong>der</strong> Prädikate eines Dinges zu umfassen o<strong>der</strong><br />
einem schematisierten Verstandesbegriff, also erst wirklich einer Kategorie<br />
entsprechen zu können.<br />
142 K.r.V., A 401 f.<br />
143 Vgl. <strong>die</strong> Unterscheidung in das setzende Ich <strong>und</strong> das als (sich) setzendes Ich gesetzte<br />
Ich Fichtes.
-— 161 —<br />
Das entscheidende Argument im Paralogismus ist für Kant aber, daß dem<br />
intelligiblen Subjekt selbst gar keine Anschauung, also keine<br />
kontinuierlichen Erscheinungen von sich gegeben werden kann; es scheint<br />
geradezu so, daß nun eben nur <strong>die</strong> Einheit <strong>der</strong> Gedanken als einzige<br />
Vorstellung von einer Einheit des Subjekts selbst als Antwort auf <strong>die</strong> Frage<br />
nach <strong>der</strong> Einheit eines intelligiblen Subjekts gegeben werden kann. Nun<br />
gilt solches nur unter <strong>der</strong> Einschränkung auf <strong>die</strong> rationale Psychologie. So<br />
bleibt darüber hinaus <strong>der</strong> Zweifel, ob erstens nun jede Mitteilung des<br />
Subjektes an den inneren Sinn nur zur Konstitution einer<br />
veräußerlichenden Vorstellung eines Objekts <strong>die</strong>nt, <strong>und</strong> zweitens ob<br />
deshalb alle <strong>der</strong> möglichen Erscheinungen des Selbst <strong>die</strong> Beobachtung<br />
einer Folge <strong>der</strong> Handlung des Subjekts in <strong>der</strong> sinnlich gebbaren Welt<br />
voraussetzen. Die Erscheinungen des Selbst treten zunächst auf <strong>die</strong>sen<br />
Umweg über <strong>die</strong> Folgen <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> sinnlichen Welt gegenüber<br />
den Erscheinungen <strong>der</strong> Sinnlichkeit nur als mittelbare Erscheinungen auf:<br />
ähnlich wie im ästhetisch-logischen Urteil müßten <strong>die</strong>se Erscheinungen<br />
bereits <strong>die</strong> Vorstellung eines f<strong>und</strong>ierenden Verhältnisses von Subjekt zu<br />
einem Objekt beinhalten. 144 Damit ist aber eben gerade nicht <strong>die</strong><br />
Kontinuität <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>der</strong>selben als innerer Ausdruck im Ideal<br />
des Schönen garantiert worden, zumal <strong>die</strong> vorhin angezogene Differenz<br />
innerhalb des Umfanges des Begriffes von <strong>der</strong> Erscheinung <strong>die</strong><br />
Erscheinungen des Selbst bereits als Schlußfolgerung aus <strong>der</strong> Erscheinung<br />
<strong>der</strong> leiblichen Existenz als Objekt, aber <strong>die</strong>ses als mit <strong>der</strong> Fähigkeit zum<br />
Ausdruck vom Subjekt anheim gestellt hat. Von <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong><br />
praktischen Vernunft her betrachtet (also nicht <strong>der</strong> technisch-praktischen<br />
Vernunft, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vernunft <strong>der</strong> Zweckbegriffe überhaupt), ist <strong>die</strong><br />
Beharrlichkeit nicht ein Begriff des Schemas einer Kategorie <strong>der</strong> sinnlich<br />
gebbaren <strong>und</strong> gegebenen Erscheinungen son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Bedingung je<strong>der</strong><br />
Setzung einer Norm durch <strong>die</strong> Vernunft: sieht man zunächst von <strong>der</strong><br />
dynamischen Beharrlichkeit pathologischer Begierden einmal ab, so gehört<br />
zweifellos <strong>die</strong> Beharrlichkeit des Willens selbst zu einer, <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft theoretisch vorauszusetzenden reinen Norm. Gleichwohl kann<br />
<strong>der</strong> immanent notwendige Schein, in <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong><br />
144 Vgl. dazu K.d.U: »Der Verstand kann durch <strong>die</strong> Vergleichung des Objekts im<br />
Punkte des Wohlgefälligen mit dem Urteile ein allgemeines Urteil machen:z.B. alle<br />
Tulpen sind schön; aber das ist alsdann kein Geschmacks- son<strong>der</strong>n ein logisches<br />
Urteil, welches <strong>die</strong> Beziehung eines Objekts auf den Geschmack zum Prädikate <strong>der</strong><br />
Dinge von einer gewissen Art überhaupt macht; dasjenige aber, wodurch ich eine<br />
einzelne gegebene Tulpe schön, d. i. mein Wohlgefallen an <strong>der</strong>selben<br />
allgemeingültig finde, ist allein das Geschmacksurteil.« (B 143/A 141)
-— 162 —<br />
Gedanken schon eine Einheit des Subjekts <strong>der</strong> rationalen Psychologie im<br />
»ich denke« zu denken, nicht völlig falsch sein, da im Rahmen <strong>der</strong><br />
praktischen Vernunft gerade das Vermögen <strong>der</strong> reinen (theoretischen)<br />
Vernunft als Denken den »pathologischen« Affektationen des Willens<br />
gegenübergestellt wird. So kann man Selbstdenken <strong>und</strong> an Stelle an<strong>der</strong>er<br />
denken auch therapeutisch als Kur auffassen. Die Erscheinung des<br />
Subjekts im inneren Sinn ist demnach mit <strong>die</strong>ser Perspektivenverschiebung<br />
nicht allein mittelbar als Erscheinung <strong>der</strong> Leiblichkeit <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />
Interpretation als Ausdruck, o<strong>der</strong> als Folgen <strong>der</strong> Handlungen in <strong>der</strong> Welt<br />
<strong>der</strong> Erscheinungen son<strong>der</strong>n auch als wirklicher Ausdruck des Selbst im<br />
Gemüt (Gewissen, innere Stimme, Imagination) zu betrachten.<br />
11) Beharrlichkeit als allgemeine Bedingung.<br />
Substanz als Materie <strong>und</strong> Räumlichkeit<br />
Die Beharrlichkeit ist mit dem Schema <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong><br />
Erscheinungen als Erkenntnisgr<strong>und</strong> nur demonstrierbar, ihr Seinsgr<strong>und</strong><br />
selbst aber ist damit nicht herstellbar. Die Kontinuität <strong>der</strong> Zeit liegt<br />
insofern als reine Anschauungsform <strong>der</strong> Beharrlichkeit voraus, gleich ob<br />
<strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> Zeit selbst als Substratum gedacht wird 145 o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Beharrlichkeit aus dem fortlaufenden Vergleich <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong><br />
Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Vorstellungen (Apprehensionen)<br />
als empirisches Substratum erst jeweils den Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Dauer in unseren<br />
Erscheinungen a posteriori ausmacht: »Man siehet bald, daß, weil<br />
Übereinstimmung <strong>der</strong> Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist, hier nur<br />
nach den formalen Bedingungen <strong>der</strong> empirischen Wahrheit gefragt<br />
werden kann, <strong>und</strong> Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den<br />
Vorstellungen <strong>der</strong> Apprehension, nur dadurch als das davon<br />
unterschiedene Objekt <strong>der</strong>selben könne vorgestellt werden, wenn sie unter<br />
einer Regel steht, welche sie von je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Apprehension<br />
unterscheidet.« 146 Daß Kant von <strong>der</strong> Erscheinung in <strong>der</strong> Einzahl, ich aber<br />
oben in <strong>der</strong> Mehrzahl spreche, hat einen guten Gr<strong>und</strong>, <strong>der</strong> hier nicht<br />
ausführlich behandelt werden kann. In aller Kürze: Daß Kant gegenüber<br />
den Vorstellungen <strong>die</strong> Erscheinung nur im Singular gebraucht, hat den<br />
Gr<strong>und</strong> darin, daß <strong>die</strong> Erscheinung eines Gegenstandes durch viele<br />
145 K.r.V.,: »Die Zeit also, in <strong>der</strong> aller Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen gedacht werden soll,<br />
bleibt <strong>und</strong> wechselt nicht; weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinan<strong>der</strong>- o<strong>der</strong><br />
Zugleichsein nur als Bestimmung <strong>der</strong>selben vorgestellt werden können.«<br />
(B 225/A 182)<br />
146 B 236/A 191
-— 163 —<br />
Vorstellungen vorgestellt wird. Dann aber ist <strong>die</strong> Erscheinung bereits das<br />
synthetische Produkt <strong>der</strong> produktiven Einbildungkraft aus den vielen<br />
Vorstellungen <strong>und</strong> kann nicht als dasjenige gedacht werden, was den<br />
Vorstellungen zugr<strong>und</strong>e liegt. Weiters ist <strong>der</strong> ausdrücklich singuläre<br />
Gebrauch von Erscheinung bereits auf <strong>die</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Materie<br />
fixiert. Zuvor aber schreibt Kant selbst: »Ich nehme wahr, daß<br />
Erscheinungen auf einan<strong>der</strong> folgen, d.i. daß ein Zustand <strong>der</strong> Dinge zu<br />
einer Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustande war.« 147 Es wurde<br />
schon weiter oben bemerkt, daß erstens <strong>die</strong> Erscheinung einerseits als das,<br />
was allererst apprehen<strong>die</strong>rt worden ist, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits als das, womit<br />
<strong>die</strong> Reihe <strong>der</strong> Apprehensionen (einzelne Vorstellungen) verglichen wird,<br />
doppelt in Stellung gebracht wurde, <strong>und</strong> daß zweitens <strong>die</strong> Substanz <strong>der</strong><br />
Erscheinung indifferent gegenüber <strong>der</strong> Frage zu sein scheint, ob sie sich<br />
auf <strong>die</strong> rationale Physiologie des inneren Sinnes o<strong>der</strong> auf <strong>die</strong> Physik <strong>der</strong><br />
wirklichen Gegenstände (Materie) bezieht.<br />
Die Zeit als Verän<strong>der</strong>ungwie als Wechsel setzt also <strong>die</strong> Zeit als Dauer<br />
voraus; <strong>die</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Zeit selbst als Dauer kann aber den<br />
Substanzbegriff nicht zureichend ersetzen, <strong>und</strong> for<strong>der</strong>t einen weiteren<br />
Gr<strong>und</strong> für ihre konstatierte Dauer. Für Kant muß hier <strong>die</strong> Materie <strong>der</strong><br />
metaphysisch letzte Begriff sein, welcher <strong>der</strong> Dauer zugr<strong>und</strong>e liegt 148 <strong>und</strong><br />
ist dem vorgezeigten Schema <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen nicht<br />
zu entnehmen, vielmehr ist <strong>die</strong>ser dem Schema zwischen Einbildungskraft<br />
in produktiver <strong>und</strong> reproduktiver Funktion als topos (vgl. Pendenz im<br />
vierten Abschnitt, III) vorausgesetzt, bevor <strong>der</strong> Rekognition (als<br />
Apperzeption <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Reproduktion) das Ding an sich als<br />
intellektuelles Substrat <strong>der</strong> individuellen Spezifizierbarkeit unterschoben<br />
147 B 232<br />
148 »Hiermit stimmt nun aller Erfahrungsgebrauch unseres Erkenntnisvermögens in<br />
Bestimmung <strong>der</strong> Zeit vollkommen überein. Nicht allein, daß wir alle<br />
Zeitbestimmung nur durch den Wechsel in äußeren Verhältnissen (<strong>die</strong> Bewegung) in<br />
Beziehung auf das Beharrliche im Raum (z.B. Sonnenbewegung, in Ansehung <strong>der</strong><br />
Gegenstände <strong>der</strong> Erde,) vornehmen können, so haben wir so gar nichts Beharrliches,<br />
was wir dem Begriffe einer Substanz, als Anschauung unterlegen könnten, als bloß<br />
<strong>die</strong> Materie <strong>und</strong> selbst <strong>die</strong>se Beharrlichkeit wird nicht aus äußerer Erfahrung<br />
geschöpft, son<strong>der</strong>n a priori als notwendige Bedingung aller Zeitbestimmung, mithin<br />
auch als Bestimmung des inneren Sinnes in Ansehung unseres eigenen Daseins<br />
durch <strong>die</strong> Existenz äußerer Dinge vorausgesetzt. Das Bewußtsein meiner selbst in<br />
<strong>der</strong> Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, son<strong>der</strong>n eine bloß intellektuelle<br />
Vorstellung <strong>der</strong> Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat <strong>die</strong>ses Ich auch<br />
nicht das mindeste Prädikat <strong>der</strong> Anschauung, welches, als beharrlich, <strong>der</strong><br />
Zeitbestimmung im inneren Sinne zum Korrelat <strong>die</strong>nen könnte: wie etwa<br />
Undurchdringlichgkeit an <strong>der</strong> Materie, als empirischer Anschauung, ist.« (K.r.V.,<br />
B 275 ff.)
-— 164 —<br />
wird. In <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen bleibt das<br />
Substrat des Beharrlichen aber nicht gänzlich ohne Merkmale <strong>der</strong><br />
anschaulichen Vorstellbarkeit; <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> selbst völlig plastischen<br />
transzendentalen Materie wird ergänzt mit Bedingungen <strong>der</strong> Orientierung<br />
des Raumes, <strong>die</strong> selbst ohne abgrenzbare Dinge nicht möglich wäre: In <strong>der</strong><br />
Regel <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Beharrlichkeit wird im synthetischen<br />
Gr<strong>und</strong>satz noch zuvor eine Stellenordnung <strong>der</strong> Elemente im Raum<br />
zueinan<strong>der</strong> vorgestellt, <strong>die</strong> über das nur abstrakt vorgestellte Zugleichsein<br />
als Schluß aus <strong>der</strong> Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Apprehensionen<br />
als Teilanschauungen o<strong>der</strong> Teilvorstellungen hinausgeht: »Die Ordnung in<br />
<strong>der</strong> Folge meiner Wahrnehmungen in <strong>der</strong> Apprehension ist hier also<br />
bestimmt, <strong>und</strong> an <strong>die</strong>selbe ist <strong>die</strong> letztere geb<strong>und</strong>en. In dem vorigen<br />
Beispiele von einem Hause konnten meine Wahrnehmungen in <strong>der</strong><br />
Aprehension von <strong>der</strong> Spitze desselben anfangen, <strong>und</strong> beim Boden endigen,<br />
aber auch von unten anfangen, <strong>und</strong> beim obigen endigen, imgleichen<br />
rechts o<strong>der</strong> links das Mannigfaltige <strong>der</strong> empirischen Anschauung<br />
apprehen<strong>die</strong>ren.« 149<br />
Wohl ist <strong>die</strong> Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Ausgangsrichtung <strong>der</strong> Apprehension<br />
gegenüber <strong>der</strong> Erscheinung eines vorbeifahrenden Schiffes damit<br />
dargetan, aber doch zugleich eine Stellenordnung <strong>der</strong> beharrlichen<br />
Momente untereinan<strong>der</strong> vorgestellt worden (<strong>die</strong> an<strong>der</strong>s auch das<br />
Beharrliche an <strong>der</strong> Gestalt des vorbeifahrenden Schiffes auszumachen<br />
hätten). Kant bezieht sich schließlich aber selbst nur auf <strong>die</strong> Ordnung<br />
in <strong>der</strong> Zeit: »In <strong>der</strong> Reihe <strong>die</strong>ser Wahrnehmungen war also keine<br />
bestimmte Ordnung, welche es notwendig machte, wenn ich in <strong>der</strong><br />
Apprehension anfangen müßte, um das Mannigfaltige zu verbinden. Diese<br />
Regel aber ist bei <strong>der</strong> Wahrnehmung, was geschieht, je<strong>der</strong>zeit anzutreffen,<br />
<strong>und</strong> sie macht <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> einan<strong>der</strong> folgenden Wahrnehmungen (in<br />
<strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen) notwendig.« 150 Damit ist <strong>die</strong> hier<br />
durchwegs von mir gebrauchte Normierung <strong>der</strong> primitiven Regel <strong>der</strong><br />
Apprehension <strong>der</strong> Beharrlichkeit in den Erscheinungen zwar gerechtfertigt<br />
worden, doch aber ist darauf hinzuweisen, daß <strong>die</strong> bloße Verneinung <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen (<strong>die</strong> noch eingehen<strong>der</strong><br />
zu diskutieren wäre) nicht <strong>die</strong> Orientierung im Raume enthält, wie oben<br />
anhand des Beispiels <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Signifikanz <strong>der</strong> zeitlichen<br />
149 B 237/A 192 f.<br />
150 B 237/A 193
-— 165 —<br />
Reihenfolge noch angezeigt worden ist. 151 Die Beharrlichkeit behält so über<br />
<strong>die</strong> Orientierung <strong>der</strong> körperlichen Begrenzung im Raume einen Bezug zur<br />
Konstitution des Raumes in <strong>der</strong> Anschauung, <strong>der</strong> hier aber letztlich nicht<br />
ausdrücklich wird <strong>und</strong> in <strong>die</strong> primitive Regel <strong>der</strong> Beharrlichkeit in den<br />
Erscheinungs- <strong>und</strong> Vorstellungsreihen nicht mit eingeht.<br />
Das Beharrliche als ein Begriff des reinen Schemas <strong>der</strong> Apprehension ist<br />
zwar nicht dem Vergleich <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong><br />
Vorstellungen (transzendentales Schema <strong>der</strong> Apprehension) vorausgesetzt<br />
wie etwa <strong>der</strong> Begriff des einzelnen Gegenstandes als Ideal <strong>der</strong> reinen<br />
Vernunft dem Objekt <strong>der</strong> Erfahrung, son<strong>der</strong>n es entspringt <strong>der</strong> Begriff des<br />
Beharrlichen als Regel <strong>der</strong> Apprehension selbst immer schon a posteriori<br />
<strong>und</strong> synthetisch <strong>der</strong> Zeitlichkeit des Erfahrungmachens in eben <strong>die</strong>sem<br />
Vergleich von Erscheinungsreihe <strong>und</strong> Vorstellungsreihe. Doch aber soll <strong>die</strong><br />
Beharrlichkeit a priori eine Bedingung objektiver Erfahrung sein; <strong>und</strong> zwar<br />
mit <strong>der</strong> Begründung, daß schon in <strong>der</strong> rein analytischen Beziehung <strong>der</strong><br />
Begriffe von »Beharrlichkeit« <strong>und</strong> »Verän<strong>der</strong>lichkeit« ohne Verän<strong>der</strong>liches<br />
<strong>der</strong> Begriff des Beharrlichen, <strong>und</strong> ohne Beharrliches <strong>der</strong> Begriff des<br />
Verän<strong>der</strong>lichen sinnlos wird. — Das Verän<strong>der</strong>liche ist<br />
transzendentalanalytisch <strong>der</strong> Möglichkeit je<strong>der</strong> Erfahrung vorausgesetzt,<br />
analytisch im Sinne reiner Logik kann jedoch dem Wechsel zwischen<br />
Begriff (Ursache bzw. Wirkung) <strong>und</strong> analytisch notwendigem Prädikat<br />
(Wirkung bzw. Ursache) kein Einhalt geboten werden. Das gleiche gilt für<br />
den Wechsel von Beharrlichkeit bzw. Dauer <strong>und</strong> Wechsel bzw.<br />
Verän<strong>der</strong>ung im reinen Verstandesbegriff <strong>der</strong> Substanz selbst. So verlangt<br />
das Beharrliche in <strong>der</strong> Kategorie selbst schon ein synthetisches Urteil a<br />
priori, weil es nur a posteriori gewonnen werden kann. Dem selbst a priori<br />
notwendigen Ergebnis des ursprünglichen empirischen Vergleichs von<br />
Regeln <strong>der</strong> Reproduktion <strong>und</strong> <strong>und</strong> Regeln <strong>der</strong> Produktion unter<br />
Verstandesbegriffe im inneren Sinn gegenüber soll aber <strong>die</strong> Rekognition<br />
ihrerseits bereits <strong>der</strong> Regel a priori das Ding als Vernunftidee bzw. den<br />
Begriff vom einzelnen Gegenstand als Ideal <strong>der</strong> Vernunft a priori<br />
vorausgesetzt haben. So ist auch nur insofern <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Substanz im<br />
Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit auch zu denken möglich (allerdings eben nicht<br />
mit Notwendigkeit analytisch aus <strong>der</strong> Erfahrung selbst heraushebbar),<br />
weil mit <strong>die</strong>sem wie mit jenem zwar irgend ein Ding o<strong>der</strong> Dinge, aber<br />
151 Damit steht im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalität eine für <strong>die</strong><br />
Substanzkategorie wesentliche Aussage, welche <strong>die</strong> Konstitution <strong>der</strong> Substanz als<br />
Begriff in <strong>der</strong> Erfahrung erst mit den vorgeometrischen Bedingungen <strong>der</strong><br />
Orientierung im Raum zusammenbringt.
-— 166 —<br />
nicht <strong>der</strong> Begriff vom einzelnen Gegenstand eindeutig gedacht werden<br />
kann — im Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit als primitive Regel <strong>der</strong> Apprehension<br />
kann also nicht <strong>der</strong> Begriff einer einfachen Substanz gedacht werden, wie<br />
auch traditionell immer schon behauptet wurde. Die Definition <strong>der</strong><br />
Substanz als Beharrlichkeit wird nach dem obigen Vorschlag bereits als<br />
eine <strong>der</strong> transzendentalen Zeitbestimmung, also als über jene Einheit, <strong>die</strong><br />
als reine Mannigfaltigkeit gemäß des reinen Verstandesbegriffes gedacht<br />
wird, hinausgehende Definition <strong>der</strong> Kategorie vorgestellt, <strong>die</strong> allerdings zu<br />
ihrer Erfüllung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Anschauungsform im<br />
Gegebensein <strong>der</strong> Erscheinung ebenso wie Verstandesbegriffe für ihre<br />
objektive Geltung bedarf. Deren Zusammenfügung (das synthetische<br />
Urteil a priori) leistet <strong>der</strong> transzendentale Schematismus, was <strong>der</strong><br />
Koordinierung in <strong>der</strong> transzendentalen Subsumtion entspricht.<br />
12) Die Dialektik <strong>der</strong> Beharrlichkeit<br />
a) Das Substrat des Dasein <strong>und</strong> <strong>die</strong> Assymmetrie des<br />
Zuschreibungsurteils<br />
Im Gegenzug zur transzendentalanalytischen Erörterung enthält zwar<br />
auch <strong>die</strong> ontologische Idee vom Dinge überhaupt <strong>und</strong> ihr erst durch<br />
Einschränkung (Ausstoßung von Prädikaten) zum Begriff bestimmter<br />
einzelner Gegenstand (<strong>die</strong> abstrakte Gedankenform <strong>der</strong> konkreten<br />
Vorstellung des Erfahrungsobjektes des logischen Gegenstandes)<br />
analytisch <strong>die</strong> Existenz, jedoch läßt sich, wie später anhand <strong>der</strong><br />
Untersuchung des prototypons transcendentale näher einzusehen sein wird,<br />
daraus keinerlei weiteren modale Bestimmungen ableiten, da immer schon<br />
davon auszugehen ist, daß <strong>der</strong> Anfang <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Untersuchung Existenz <strong>und</strong> Dasein voraussetzt. Das Ding hat aber, wenn<br />
auch aus an<strong>der</strong>en Gründen, noch weniger wie schon zuvor <strong>die</strong> Ideen von<br />
Substanz <strong>und</strong> Materie <strong>die</strong> Eigenschaften, <strong>die</strong> es als unmittelbar<br />
zugängliches Substrat einer ursprünglichen Evidenz geeignet erscheinen<br />
lassen würde. Das Ding an sich steht, gleich in welcher Fassung, dem<br />
logischen Gegenstand <strong>der</strong> Intentionalität im Verstandesurteil am nächsten.<br />
Doch hat <strong>die</strong> strengste Form <strong>der</strong> kritischen Untersuchung nur zur Einheit<br />
<strong>und</strong> Identität <strong>der</strong> Verknüpfungshandlung im »ich denke« <strong>der</strong> rationalen<br />
Psychologie geführt, was zweifellos <strong>die</strong> stärkste <strong>und</strong> reinste Form von<br />
Evidenz im Rahmen des strikt subjektivistischen transzendentalen
-— 167 —<br />
Idealismus ist. Diese rein intellektuelle Einheit scheint nun je<strong>der</strong><br />
Unterstellung eines spezifischen Substrats gegenüber immun zu sein. Alle<br />
Konzepte o<strong>der</strong> Ideen gehen einerseits zwar von Existenz, somit von einem<br />
Existierenden, an<strong>der</strong>erseits schließlich von einer Gestaltetheit des<br />
Existierenden aus. Nun hat sich <strong>die</strong> transzendentale Analyse anhand <strong>der</strong><br />
Behandlung <strong>der</strong> Begriffe von Gegenstand, Ding, Substanz <strong>und</strong> Materie<br />
nicht nur <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> rationalen Metaphysik für fähig erwiesen; <strong>die</strong><br />
transzendentale Analytik (<strong>und</strong> ohne eine solche stoßen wir auch nicht auf<br />
Probleme <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik) zeichnet sich für Kant<br />
gegenüber <strong>der</strong> rationalen Metaphysik gr<strong>und</strong>sätzlich dadurch aus, daß sie<br />
auf <strong>die</strong> Einheit <strong>der</strong> Erfahrung ausgerichtet ist <strong>und</strong> insofern zuerst nicht<br />
ohne Gr<strong>und</strong> auch Phänomenologie heißen könnte. Die Basis <strong>der</strong><br />
Transzendentalphilosophie ist, sofern sie auch kritische Wissenschaft ist,<br />
seit Descartes <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> ursprünglichen Einheit <strong>der</strong> Affinität<br />
von res cogitans <strong>und</strong> res extensa (nexus), <strong>und</strong> man kann sagen, daß <strong>die</strong><br />
neuzeitliche Transzendentalphilosophie damit ein Problem <strong>der</strong><br />
ontotheologischen <strong>und</strong> ontologischen Ordensphilosophie <strong>der</strong> Scholastik<br />
übernommen hat. Die ganze Transzendentalphilosophie Kants hängt an<br />
<strong>die</strong>ser Wendung zum Subjektiven, dessen Strukturen für <strong>die</strong> Erkenntnis<br />
von noch ursprünglicherer Bedeutung sind, wie <strong>die</strong> Strukturen <strong>der</strong><br />
empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> äußeren Sinnlichkeit<br />
auch mit Seinsgründen des Seienden verb<strong>und</strong>en sein müssen. Daß nun <strong>die</strong><br />
Transzendentalphilosophie auf eine beson<strong>der</strong>e Art <strong>und</strong> Weise auch <strong>die</strong><br />
Wissenschaft von <strong>der</strong> Erfahrung ist, ist eine Folge <strong>die</strong>ser Hinwendung zur<br />
Subjektivität. Diese Subjektivität hat ungeachtet <strong>der</strong> räumlichen <strong>und</strong><br />
zeitlichen Horizonte <strong>die</strong> Grenzen ihrer Existenz in einer Gegenwart <strong>und</strong><br />
somit ein Anwesen, das mit <strong>der</strong> individuellen Existenz in <strong>der</strong> Zeitlichkeit<br />
je verb<strong>und</strong>en ist. Die Subjektivität ist mehr als ein raumzeitlicher<br />
Standpunkt <strong>und</strong> mehr als ein reales Commercium von vereinzelten<br />
Existenzen, doch aber ist ihr Dasein als Existenz ein gegenwärtiges <strong>und</strong><br />
begrenztes. Es ist <strong>die</strong> Frage, inwieweit ein Horizont des Zugleichseins, <strong>der</strong><br />
sich in lokalen Wechselwirkungssystemen von realen Objekten einstellt,<br />
<strong>die</strong> sich unabhängig von <strong>der</strong> Dynamik rein phoronomisch in<br />
raumzeitlichen Horizonten verifizieren lassen, als Dasein völlig<br />
gleichbedeutend mit dem Daseinsbegriff <strong>der</strong> Subjektivität angesprochen<br />
werden kann.<br />
Das Dasein vor <strong>der</strong> Unterscheidung in subjektive <strong>und</strong> objektive Realität<br />
des Anwesens im Dasein ist nun nicht bloß mit etwas zugleich, son<strong>der</strong>n
-— 168 —<br />
umgreift das mit <strong>die</strong>ser Unterscheidung jeweils bestimmbare Anwesen<br />
<strong>und</strong> geht darüber hinaus. In <strong>die</strong>ser wirklichen Beständigkeit aus sich selbst<br />
(was nicht mit <strong>der</strong> Kontinuität des inneren Sinnes verwechselt werden<br />
sollte) ist im Dasein selbst immer schon ein beharrliches Momentum. 152 Mit<br />
<strong>die</strong>sem ersten Schritt ist aber nicht <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz von <strong>der</strong> Beharrlichkeit<br />
<strong>der</strong> Substanz als synthetisches Urteil a priori bewiesen, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />
spezifische Weise <strong>der</strong> Beharrlichkeit vom Dasein als individuelles Wesen<br />
(transzendentales Ideal) nur (unvollständig) exponiert worden. — Das ist<br />
<strong>der</strong> synthetisch-metaphysische Abschnitt <strong>der</strong> Argumentation; <strong>der</strong><br />
transzendentalanalytische Abschnitt geht transzendentalpsychologisch<br />
vor. Zuerst wird <strong>die</strong> Kontinuität des inneren Sinnes als beharrliche Form<br />
<strong>der</strong> inneren Anschauung apostrophiert <strong>und</strong> daraufhin gleich zum Substrat<br />
des Wechsels gemacht: »Alle Erscheinungen sind in <strong>der</strong> Zeit, in welcher,<br />
als Substrat, (als beharrliche Form <strong>der</strong> inneren Anschauung), das<br />
Zugleichsein sowohl als <strong>die</strong> Folge allein vorgestellt werden kann.« 153 In <strong>der</strong><br />
ersten Fassung lautet <strong>die</strong>se Stelle: »Alle Erscheinungen sind in <strong>der</strong> Zeit.<br />
Diese kann auf zweifache Weise das Verhältnis im Dasein <strong>der</strong>selben<br />
bestimmen, entwe<strong>der</strong> so fern sie nach einan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> zugleich seien.« 154 In<br />
A werden gleich <strong>die</strong> objektiven Verhältnisse <strong>der</strong> Gegenstände <strong>der</strong><br />
Erscheinungen (»das Verhältnis im Dasein <strong>der</strong>selben«) ausgedrückt. Das<br />
Substrat des beständigen Daseins in <strong>der</strong> zweiten Fassung aber ist <strong>der</strong><br />
innere Sinn, insofern seine »beharrliche« Form <strong>die</strong> Zeit ist.<br />
Weshalb Kant <strong>die</strong> Form des inneren Sinnes als »beharrlich« bezeichnet, ist<br />
wohl nur all zu klar: Den sachlichen Gr<strong>und</strong> liefert <strong>die</strong><br />
Kontinuitätsbedingung <strong>der</strong> Zeit als Form des inneren Sinnes in <strong>der</strong><br />
empirischen Apperzeption. Doch versucht Kant wohl nur vergeblich mit<br />
<strong>die</strong>ser Wendung des Gebrauches von Beharrlichkeit, <strong>die</strong> mit dem<br />
Substanzbegriff verb<strong>und</strong>en wird, <strong>die</strong> Zeit, transzendentalpsychologisch<br />
<strong>der</strong> innere Sinn, als Substrat des Wechsels vorzustellen. Die Bestimmung<br />
<strong>der</strong> Form des inneren Sinnes zum Substrat des Wechsels bleibt nicht ohne<br />
Folgen. Gleich im Anschluß daran schreibt Kant nämlich weiter: »Die Zeit<br />
also in <strong>der</strong> aller Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt<br />
<strong>und</strong> wechselt nicht; weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinan<strong>der</strong>-<br />
152 Man denke an das sowohl geometrisch wie auch dynamisch verschieden behandelte<br />
Momentum von Cusanus, Descartes, Boskovic <strong>und</strong> <strong>die</strong> Differenz zwischen<br />
Aristoteles <strong>und</strong> Epikur in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Proportionalität von Bewegung <strong>und</strong> Zeit.<br />
Vgl. auch Heideggers »ontische« Interpretation des Paralogismus in: Sein <strong>und</strong> Zeit,<br />
Niemeyer, Tübingen 15 1979, p. 317 f..<br />
153 K.r.V., B 224.<br />
154 A 182
-— 169 —<br />
o<strong>der</strong> Zugleichsein nur als Bestimmungen <strong>der</strong>selben vorgestellt werden<br />
können.« 155<br />
Das Nacheinan<strong>der</strong>- <strong>und</strong> Zugleichsein, das in <strong>der</strong> Zeit stattfindet, soll also<br />
zuerst nicht <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Zeit selbst sein (»<strong>die</strong> Zeit [...] bleibt <strong>und</strong><br />
wechselt nicht«), son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Erscheinung ist dasjenige, wovon »das<br />
Nacheinan<strong>der</strong>- o<strong>der</strong> Zugleichsein nur als Bestimmung <strong>der</strong>selben vorgestellt<br />
werden« kann (also als Bestimmung <strong>der</strong> Erscheinungen). Dazu wird hier<br />
noch <strong>die</strong> Bedingung des äußeren Sinnes für das Zugleichsein<br />
unterschlagen. 156 Nur eine Seite später aber drückt sich Kant präziser aus<br />
<strong>und</strong> trennt auch das Zugleichsein von <strong>der</strong> Zeit; <strong>die</strong> Eigenständigkeit <strong>der</strong><br />
Bedingung des Zugleichseins wird damit anerkannt: »Denn <strong>der</strong> Wechsel<br />
trifft <strong>die</strong> Zeit selbst nicht, son<strong>der</strong>n nur <strong>die</strong> Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit, (so<br />
wie das Zugleichsein nicht ein modus <strong>der</strong> Zeit selbst ist, als in welcher gar<br />
keine Teile zugleich, son<strong>der</strong>n alle nach einan<strong>der</strong> sind).« 157 Die Zeit selbst<br />
als Substratum wechselt nicht, aber <strong>die</strong> Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit. Daß <strong>die</strong><br />
Bedingung des Zugleichseins nicht selbst auf <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Zeit<br />
rückführbar ist, son<strong>der</strong>n dazu <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Wechselwirkung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Raum vorausgesetzt ist, muß <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> sein, weshalb Kant das<br />
Zugleichsein nicht mehr als Modus <strong>der</strong> Zeit selbst verstanden haben<br />
wollte, obgleich er zuerst zu Beginn <strong>der</strong> synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze das<br />
Zugleichsein zu den Zeitmodi gezählt hat 158 <strong>und</strong> es zum Ausgang <strong>der</strong><br />
synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze wie<strong>der</strong> tut. 159 Nun aber ist doch das eigentlich<br />
Zeitliche an <strong>der</strong> Zeit, das etwas vorhergeht <strong>und</strong> das etwas nachfolgt, <strong>und</strong><br />
das betrifft nur <strong>die</strong> Erscheinungen, <strong>die</strong> wechseln. Denn: »Der Wechsel trifft<br />
<strong>die</strong> Zeit selbst nicht«, was doch sehr merkwürdig ist, da dann <strong>die</strong> Zeit in<br />
<strong>der</strong> Unterscheidung von Zeit <strong>und</strong> den Verhältnissen <strong>der</strong> Erscheinungen in<br />
<strong>der</strong> Zeit selbst keine eigene Bestimmung mehr hätte: Die Zeit »als<br />
Substratum« könnte demnach auch das von <strong>der</strong> Zeit unterschiedene<br />
Zugleichsein sein. Kant aber spricht an <strong>die</strong>ser Stelle vom inneren Sinn. Die<br />
Bestimmung des Nacheinan<strong>der</strong>seins <strong>und</strong> Zugleichseins kann jedoch in<br />
155 B 224 f.<br />
156 Wobei zu bedenken ist, daß <strong>der</strong> äußere Sinn selbst gar nicht von selbst räumlich<br />
verfaßt ist, son<strong>der</strong>n vielmehr dasjenige richtig ist, was Kant selbst in § 1 <strong>der</strong><br />
Transzendentalen Ästhetik festgestellt hat: »In <strong>der</strong> Erscheinung nenne ich das, was<br />
<strong>der</strong> Empfindung korrespon<strong>die</strong>rt, <strong>die</strong> Materie <strong>der</strong>selben, daßjenige aber, welches<br />
macht, daß das Mannigfaltige <strong>der</strong> Erscheinung in gewisse Verhältnisse geordnet<br />
werden kann, nenne ich <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Erscheinung.« (B 33/A 19)<br />
157 B 226/A 183<br />
158 In <strong>der</strong> ersten Fassung unterscheidet Kant in <strong>die</strong>sem Sinne <strong>die</strong> Zeitreihe vom<br />
Zeitumfang (A 182)<br />
159 Allerdings als Kategorie des Commerciums
-— 170 —<br />
<strong>die</strong>sem Zusammenhang nicht Bestimmung im Sinne <strong>der</strong> rationalen<br />
Physiologie des inneren Sinnes sein, als ob es sich dabei um eine<br />
Bestimmung handele, <strong>die</strong> allein am inneren Sinn zu finden wäre. Wohl<br />
kann Kant vom Wechsel <strong>der</strong> Zustände des inneren Sinnes sprechen, nur<br />
sind <strong>die</strong>se Zustände dann nicht als Erscheinungen von etwas o<strong>der</strong><br />
Vorstellungen, <strong>die</strong> jemand etwas vorstellen, zu fassen. Näher beschrieben,<br />
findet <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong> Realität, <strong>die</strong> im <strong>und</strong> mit dem Dasein auch ohne <strong>der</strong><br />
Schwierigkeit, wie <strong>und</strong> weshalb mit den Empfindungen des äußeren<br />
Sinnes auch schon <strong>der</strong> Raum als Form <strong>der</strong> Anschauung gegeben sein soll,<br />
doch immer schon gegeben ist, mit <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
von Innen <strong>und</strong> Außen auf <strong>die</strong> Einschränkung einer Vorstellung o<strong>der</strong><br />
Vorstellungsverhältnisse als Verhältnisse im inneren Sinn als das »Reale<br />
<strong>der</strong> Apperzeption« eine eigene rein psychologische Definition. 160 Diese<br />
Einschränkung gibt dem Dasein einen ersten Begriff von Existenz 161 o<strong>der</strong><br />
zumindest einen vom Dasein als objektives <strong>und</strong> subjektives Umfassendes<br />
unterschiedenen Begriff davon. — Diese ursprüngliche<br />
Gegenstandskonstitution jedoch erweist sich so abermals mit <strong>der</strong><br />
Raumkonstitution anhand <strong>der</strong> Ersten metaphysischen Erörterung des<br />
Raumes als untrennbar verb<strong>und</strong>en.<br />
160 »Das unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge wird in dem vorstehenden<br />
Lehrsatze [Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins<br />
beweiset das Dasein <strong>der</strong> Gegenstände im Raum außer mir] nicht vorausgesetzt,<br />
son<strong>der</strong>n bewiesen, <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>die</strong>ses Bewußtseins mögen wir einsehen, o<strong>der</strong><br />
nicht. Die Frage wegen <strong>der</strong> letzteren würde sein: ob wir nur einen inneren Sinn, aber<br />
keinen äußeren, son<strong>der</strong>n bloß äußere Einbildung hätten. Es ist aber klar, um uns auch<br />
nur etwas als äußerlich einzubilden, d.i. dem Sinne in <strong>der</strong> Anschauung darzustellen,<br />
wir schon einen äußeren Sinn haben, <strong>und</strong> dadurch <strong>die</strong> bloße Rezeptivität einer<br />
äußeren Anschauung von <strong>der</strong> Spontaneität, <strong>die</strong> jede Einbildung charakterisiert,<br />
unmittelbar unterscheiden müssen. Denn sich auch einen äußeren Sinn bloß<br />
einzubilden, würde das Anschauungsvermögen, welches durch <strong>die</strong> Einbildungskraft<br />
bestimmt werden soll, selbst vernichten.« (Anmk. zu B 276).<br />
161 Hierbei ist an den Begriff vom einzelnen Gegenstand zu denken, <strong>der</strong> durch<br />
Einschränkung (Austoßung aller Prädikate, <strong>die</strong> sich wi<strong>der</strong>sprechen o<strong>der</strong> neben<br />
einan<strong>der</strong> nicht stehen können) <strong>der</strong> Sphäre aller möglichen Prädikate überhaupt eines<br />
Dinges entsteht, bevor im Gegenzug damit das Allerrealste vom bloß Möglichen<br />
(dann schon aristotelisch als Wirkliches <strong>und</strong> Kontingentes) zu unterscheiden gesucht<br />
wird. (K.r.V., prototypon transcendentale)
-— 171 —<br />
b) Die Zeit als Form des Bewußtseins ist <strong>die</strong> Form des inneren Sinnes<br />
(Perzeption) <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> <strong>der</strong> Verstandeshandlung (Apperzeption).<br />
Das Substrat des Daseins ist nicht das des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen.<br />
Die Zeit als Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen, <strong>die</strong> Zeit als Form<br />
des inneren Sinnes: <strong>der</strong> Schluß liegt nahe, daß <strong>der</strong> innere Sinn als das<br />
Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen bezeichnet wird. Kants<br />
Formulierung zur Zeit als Substrat, welche den inneren Sinn mit <strong>die</strong>sem zu<br />
identifizieren erlaubt, bezieht nun <strong>die</strong> Erscheinungen im Vorstellen<br />
eigentlich auf das Subjekt <strong>die</strong>ser Erscheinungen, also nur mittelbar über<br />
den inneren Sinn weiter, <strong>und</strong> das verlängert sich zur Frage,<br />
wem <strong>der</strong> Gegenstand vorgestellt wird. Der Schluß, den inneren Sinn als<br />
Substrat des Wechsels anzusehen, wäre soweit korrekt, jedoch paßt <strong>die</strong><br />
Definition <strong>der</strong> Zeit als Wechsel <strong>der</strong> Erscheinung <strong>und</strong> Abfolge von<br />
Prädikaten nicht auf alle Definitionen des inneren Sinnes, nur auf <strong>die</strong><br />
Affektationen durch den äußeren Sinn. So soll im Rahmen des inneren<br />
Sinnes (Gemüt) auch <strong>die</strong> Vergleichung von Begriffen <strong>und</strong> Größen<br />
stattfinden. Diese Handlungen o<strong>der</strong> Vorgänge sind zweifellos Reflexionen<br />
bzw. schließen Reflexionen mit ein, sodaß ein lineares Nacheinan<strong>der</strong> von<br />
Zeitabschnitten wie im Vergleich von Erscheinungs- <strong>und</strong><br />
Vorstellungsreihen <strong>die</strong>sen Funktionen keinesfalls genügen könnte.<br />
Allerdings bezeichnet Kant in <strong>der</strong> ersten Fassung <strong>der</strong> Deduktion den<br />
inneren Sinn ohne Gegenstandskonstitutionen auch schon als <strong>die</strong><br />
empirische Apperzeption (= Bewußtsein numerischer Einheit). — Es bleibt<br />
zunächst festzuhalten, daß <strong>der</strong> innere Sinn mehrere Definitionen besitzt<br />
<strong>und</strong> als Medium für verschiedene Funktionen in Anspruch genommen<br />
wird. Es muß einstweilen offen bleiben, ob es gelingen kann, dem inneren<br />
Sinn eine Basisdefinition zu geben, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> verschieden zu<br />
denkenden Formen <strong>der</strong> Wirkung <strong>der</strong> Spontaneität zu verschiedenen<br />
Zeitdefinitionen modifiziert wird, <strong>und</strong> inwieweit Kant überhaupt <strong>die</strong><br />
kontinuierliche Entwicklung des Konzeptes vom inneren Sinn zum Gemüt<br />
im Rahmen einer transzendentalen Psychologie vorsieht. Diese müßte<br />
zwar vom Verhältnis von rationaler Psychologie <strong>und</strong> rationaler<br />
Physiologie ausgehen, aber zur Einteilungsproblematik <strong>der</strong> ganzen<br />
Seelenlehre als Vermögenslehre in Spannung bleiben, um jeweils von <strong>der</strong><br />
rationalen Psychologie <strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft über <strong>die</strong><br />
Psychologie <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Gefühl <strong>der</strong> Achtung vor dem<br />
Sittengesetz <strong>der</strong> reinen Willensphilosophie) bis hin zur reflektierenden<br />
Urteilskraft (Ästhetik <strong>und</strong> Teleologie) <strong>die</strong> Funktionen des inneren Sinnes
-— 172 —<br />
erst zu bestimmen. Zieht man <strong>die</strong> erörterten Schwierigkeiten in Betracht,<br />
<strong>und</strong> ist <strong>die</strong> Zeit nun <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Erscheinungen im inneren Sinn<br />
überhaupt <strong>und</strong> tritt <strong>der</strong> innere Sinn nur mittels Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />
Verhältnisse gegenüber <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption in<br />
Erscheinung, 162 ist, gleich ob Perzeption <strong>und</strong> Apperzeption, <strong>die</strong> Zeit immer<br />
auch <strong>die</strong> Form des Bewußtseins, <strong>die</strong>ses aber abermals nicht selbst Substrat<br />
des Wechsels o<strong>der</strong> eine Antwort, wem <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Vorstellung<br />
vorgestellt wird. Nur insofern etwas im Bewußtsein als Substrat des<br />
Wechsels betrachtet wird, kann <strong>die</strong> Zeit auch als Form des Bewußtseins<br />
bezeichnet werden.<br />
Was kann nun als Substrat des Wechsels im Bewußtsein in Stellung<br />
gebracht werden, wenn es nicht doch <strong>der</strong> vom <strong>und</strong> im inneren Sinn (durch<br />
den äußeren Sinn: Perzeption) vermittelten Gegenstand des gedachten<br />
Erfahrungsobjektes ist? Hier wird aber nach <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong><br />
Zuschreibung einer Vorstellung als meine Vorstellung <strong>und</strong> nicht als<br />
mögliches Prädikat des Erfahrungsobjektes gefragt. In <strong>der</strong> ersten Fassung<br />
<strong>der</strong> ersten Kritik muß es das »Ich« <strong>der</strong> numerischen Einheit aus dem<br />
bloßen Fluß <strong>der</strong> Erscheinung (empirische Apperzeption) sein. Damit ist<br />
eben nur in A <strong>die</strong> verfolgte Frage auch schon als gelöst zu betrachten: Das<br />
»Ich« ist <strong>die</strong> bleibende nicht-empirische (was hier nur nicht vom äußeren<br />
Sinn gegeben bedeutet) Vorstellung im Fluß wechseln<strong>der</strong> Erscheinungen.<br />
Allerdings wird spätestens in <strong>der</strong> zweiten Fassung B deutlich, daß hier nur<br />
auf <strong>die</strong> Verknüpfbarkeit <strong>die</strong>ser Vorstellung vom »Ich« mit einer jeden<br />
an<strong>der</strong>en Vorstellung rekurriert werden kann, aber keineswegs auf eine<br />
Zuschreibung einer Vorstellung, <strong>die</strong> auch Anschauungen enthalten kann,<br />
auf <strong>die</strong> Vorstellung »Ich« als Substrat <strong>die</strong>ses Zuschreibungsurteiles. Eben<br />
<strong>die</strong>ses versuchte Zuschreibungsurteil in Richtung des Subjektes <strong>der</strong><br />
Affektion wie <strong>der</strong> Erkenntnis führt mit seinem logisch unvollständigen<br />
Schein eines Substrates in den Problemkreis <strong>der</strong> Paralogismen, <strong>die</strong><br />
162 Und zwar als rationale Physiologie, vgl. auch den Übergang <strong>der</strong> M.A.d.N. zur<br />
Transzendentalphilosophie, <strong>die</strong> nicht mehr Propädeutik sein soll; in: Erich Adickes ,<br />
Kants Opus postumum,, Kant-Stu<strong>die</strong>n, Ergänzungshefte im Auftrag <strong>der</strong> Kant-<br />
Gesellschaft, Hersg. von H. Vaihinger, M. Frischeisen-Köhler <strong>und</strong> A. Lieber, Nr. 50,<br />
Berlin 1920, p. 293 f.. Vgl. Kurt Hübner, Leib <strong>und</strong> Erfahrung in Kants Opus<br />
postumum, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Verlag Anton Hain,<br />
Meisenheim, Bd. 7, 1953, p. 204-219. Wie<strong>der</strong>abdruck in: Kant. Zur Deutung seiner<br />
Theorie von Erkennen <strong>und</strong> Handeln, Koepenheuer&Witsch, NWB 63, 1973, p. 192-<br />
204. Hübner zitiert das O.p. nach <strong>der</strong> Ausgabe von Artur Buchenau, 2. Bde., Leipzig<br />
1936. Zur Erscheinung <strong>der</strong> Erscheinung etwa II, p. 367, auch: »Was metaphysisch<br />
betrachtet bloß zu Erscheinungen gezählt werden muß, das ist von physischem<br />
Betracht Sache an sich selbst. (Erscheinung <strong>der</strong> Erscheinung.)«, in: II, p. 329.
-— 173 —<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich mit <strong>der</strong> Fragestellung nach <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong> Seele<br />
verb<strong>und</strong>en sind. Das erlaubt aber durchaus komplementär zunächst eine<br />
transzendentalphänomenologische Strategie weiter anzuwenden, <strong>die</strong> von<br />
A <strong>und</strong> B unbelastet, <strong>die</strong> Vorstellungen als <strong>die</strong> meinen betrachtet, nur weil<br />
sie empirisch in meinem Bewußtsein von mir vorgef<strong>und</strong>en werden, was<br />
allerdings nur neuerlich auf eine <strong>der</strong> möglichen Fassungen des inneren<br />
Sinnes verweist.<br />
Erst <strong>die</strong> Reflexion auf <strong>die</strong> Transzendentalität <strong>der</strong> Subjektivität verhilft<br />
dazu, <strong>die</strong> Identität von Zeit <strong>und</strong> Substrat des Bewußtseins aufzuspalten,<br />
<strong>und</strong> etwas vom empirischen Bewußtsein (<strong>die</strong> empirische Apperzeption im<br />
inneren Sinn) verschiedenes als Kanditat zu behandeln, das das eigentliche<br />
Substrat des Wechsels auszumachen imstande ist. Gerade weil <strong>die</strong><br />
Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen zumindest aufzeigen lassen, daß <strong>die</strong><br />
Vorstellung von <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong> Seele wi<strong>der</strong>leglich ist <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />
Argumentation keineswegs am sicheren Leitfaden <strong>der</strong> Logik fortgeht, wird<br />
<strong>die</strong> Fragestellung weitergetrieben zur Frage, wem <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong><br />
Vorstellung vorgestellt wird. In <strong>der</strong> ersten Fassung A erscheint <strong>die</strong><br />
Beantwortung noch relativ einfach zu sein: Identität <strong>und</strong> Einheit des<br />
Bewußtseins übernimmt <strong>die</strong> Person, was ich in Hinblick auf<br />
rechtsphilosophische Fragen als Bewegung hin zu einer<br />
Willensphilosophie interpretiere. In <strong>der</strong> zweiten Fassung B ist nur mehr<br />
von <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Form des Bewußtseins <strong>die</strong> Rede, was hinsichtlich <strong>der</strong><br />
rein formalen Voraussetzungen, <strong>die</strong> Bedingungen <strong>und</strong> Grenzen des<br />
Urteilens zu untersuchen, eine Präzisierung darstellt, aber eben <strong>die</strong> Frage,<br />
wem <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Vorstellung vorgestellt wird, weiter verschiebt;<br />
das heißt aber auch, <strong>die</strong>se Frage an<strong>der</strong>s zu stellen hat. Die Universalität <strong>der</strong><br />
Geltung <strong>der</strong> Bedingungen <strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft macht es aber<br />
schon von Seiten <strong>der</strong> methodischen Erfor<strong>der</strong>nisse unmöglich, eine<br />
konkrete Individualität in <strong>die</strong> transzendentale Argumentation selbst mit<br />
aufzunehmen. Die Bezugnahme auf <strong>die</strong> Frage, wem etwas vorgestellt<br />
wird, ist also keine Fortsetzung <strong>der</strong> ursprünglichen <strong>und</strong><br />
transzendentalanalytischen Frage nach dem Subjekt <strong>der</strong> reinen<br />
(theoretischen) Vernunft, son<strong>der</strong>n schließt komplementär den Ansatz <strong>der</strong><br />
reinen praktischen Vernunft mit ein.<br />
Die Zeit in <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> bloßen Abfolge ist demnach zwar <strong>die</strong><br />
Charakteristik des Bewußtseins hinsichtlich des kategorialen<br />
Verstandesgebrauches o<strong>der</strong> hinsichtlich rein physikalischer Bedeutung,<br />
wie mit <strong>der</strong> intentionalen Verfaßtheit des Bewußtseins <strong>die</strong> primäre
-— 174 —<br />
Intentionalität an Bedeutung gewinnt, <strong>und</strong> zu einer Frage <strong>der</strong><br />
Wesensbestimmung des Bewußtseins wird. Jedoch wird auch hier von<br />
Bewußtsein nur weiter <strong>die</strong> Rede sein können, wenn von <strong>der</strong> entlang <strong>der</strong><br />
primären Intentionalität bestimmten Horizonte <strong>der</strong> Zeitbedingungen<br />
hinausgegangen werden kann, da davon ausgegangen wird, daß das<br />
Bewußtsein sich <strong>der</strong> Ausdehnung <strong>der</strong> Zeit aus verschiedenen Perspektiven<br />
reflektierend <strong>und</strong> bestimmend nähern kann, ohne deshalb das menschliche<br />
Bewußtsein, o<strong>der</strong> das einer Intelligenz mit sinnlicher Anschauung<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich ins Referenzlose zu entschränken. Das ist ein weiterer<br />
Gr<strong>und</strong>, weshalb sich das Bewußtsein nicht zum Substrat des Wechsels <strong>der</strong><br />
Erscheinungen eignet. — Die Zeit wäre also a fortiori auch <strong>die</strong> Form des<br />
Daseins im Sinne <strong>der</strong> Objektivität, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Bestimmung des<br />
transzendentalen Subjektivismus selbst liegt, wenngleich offensichtlich<br />
nicht als das Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen, wofür empirisch<br />
insofern wie<strong>der</strong> nur <strong>die</strong> Form des bereits erledigt geglaubten inneren<br />
Sinnes als Folge von Zuständen desselben o<strong>der</strong> als Reihe von<br />
Erscheinungen im inneren Sinn in Frage zu kommen scheint. Die Zeit als<br />
Ordnung des Nacheinan<strong>der</strong>seins aber ist auch <strong>die</strong> Form <strong>der</strong><br />
Verstandeshandlung, <strong>und</strong> somit für das »ich denke«, das jede Vorstellung<br />
begleiten können muß, also gerade auch für <strong>die</strong> ursprünglich-synthetische<br />
Einheit <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption formal als konstituierend zu<br />
denken.<br />
Die Zeitlichkeit <strong>der</strong> synthesis intellectualis ist — mit dem hier noch<br />
ausstehenden Gr<strong>und</strong> des Zugleichseins im Raum — <strong>die</strong> Bedingung, <strong>die</strong> mit<br />
dem eingangs behandelten Zeitbegriff als logifizierbare Form des inneren<br />
Sinnes im Rahmen <strong>der</strong> <strong>die</strong> rationale Physiologie sprengenden<br />
transzendentalen Psychologie erst <strong>die</strong> transzendentalästhetische<br />
Anschauung von Gegenständen in Raum <strong>und</strong> Zeit als Objekte <strong>der</strong><br />
Erfahrung vorstellig machen kann. Das Bewußtsein <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Apperzeption, wie es zuvor gelegentlich versuchsweise als rein<br />
intelligibles Substratum vorgestellt wurde, steht aber<br />
transzendentalsubjektiv sowohl <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong> synthesis intellectualis<br />
wie <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong> synthesis speciosa, sofern <strong>die</strong> transzendentale<br />
Apperzeption auch Spontaneität <strong>und</strong> Rezeptivität schon als ursprünglich<br />
vereinigt gedacht hat, gegenüber, woraufhin sich freilich in objektiver<br />
Hinsicht <strong>die</strong> Identität von Dasein <strong>und</strong> Zeit als immanenter Schein eines<br />
umgreifenden Daseins aufdrängt. Doch bleibt <strong>die</strong>s, wenn man es streng<br />
objektiv nehmen will, eine gänzlich akzidentielle <strong>und</strong> zufällige
-— 175 —<br />
Bestimmung für <strong>die</strong> gegebenen Gegenstände: In rein<br />
transzendentalsubjektiver Hinsicht scheint transzendentalanalytisch<br />
ursprünglich keinerlei notwendige Zeitbedingung angebbar. Mit <strong>der</strong><br />
synthesis intellectualis ist aber auch <strong>der</strong> Sprachcharakter des untersuchten<br />
Bewußtseins implizite eingeführt worden (noumena überhaupt); mit <strong>der</strong><br />
transzendentalen Funktion <strong>der</strong> synthesis speciosa (den Schematen <strong>der</strong><br />
Kategorien) wird in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft <strong>der</strong><br />
Sprachcharakter implizite im Sinne einer mitteilungsfähigen<br />
Darstellungsintention auf <strong>die</strong> Rahmenbedingungen einer physikalistischen<br />
Sprache eingeschränkt, aber schließlich selbst wegen den zeitlichen<br />
Bedingungen <strong>der</strong> Performation unter <strong>der</strong> Vorstellung einer vergehenden<br />
o<strong>der</strong> verfließenden linearen Zeit subsummierbar. Obgleich hier <strong>die</strong><br />
Bedeutung <strong>der</strong> primären Intentionalität nicht nur was <strong>die</strong> intentionale<br />
Strukturiertheit des Bewußtseins überhaupt (also formal), son<strong>der</strong>n auch<br />
was <strong>die</strong> inhaltliche Zwecksetzung <strong>der</strong> Untersuchung angeht, wie<strong>der</strong> zum<br />
Ausdruck kommt, wird anhand <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> Zeitbedingung<br />
zumindest deutlich, daß zur Erörterung des ganzen Horizontes des<br />
Bewußtseins noch an<strong>der</strong>e Zeitdefinitionen, wie auch an<strong>der</strong>e<br />
Zeitbedingungen gehören. Damit ist auch gr<strong>und</strong>sätzlich gerechtfertigt, <strong>die</strong><br />
Intentionalität nicht nur auf <strong>die</strong> von <strong>der</strong> sinnlichen Anschauungen<br />
gegebenen Gegenstände des Bewußtseins zu richten.<br />
Gesucht war zweierlei: (1) Der Gr<strong>und</strong>, weshalb ich von »meinen«<br />
Vorstellungen reden darf, (2) Das Substrat des Wechsels <strong>der</strong><br />
Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit. Der erste Punkt ist schnell erledigt; es gibt zwei<br />
Rechtfertigungen, von »meinen« Vorstellungen zu reden: (1.1)<br />
Vorstellungen sind Zustände des inneren Sinnes, <strong>die</strong>ser ist fraglos je<br />
»mein« innerer Sinn, etc. (1.2) Das Erfahrungmachen bei Kant<br />
unterscheidet sich gr<strong>und</strong>legend von <strong>der</strong> bloß psychologisch vorgehenden<br />
Frage nach dem Bewußtwerden von Vorstellungen: Ich habe mir nunmehr<br />
<strong>die</strong> Vorstellungen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Regeln <strong>der</strong> Einteilung <strong>und</strong> Verknüpfung<br />
etwa in einem technisch-praktisch definierbaren Prozess (Experiment)<br />
angeeignet <strong>und</strong> darf sie deshalb »meine« Vorstellungen nennen. Das aber<br />
ist nur <strong>die</strong> empirische Deduktion, <strong>die</strong> erklärt, woher ich empirisch meine<br />
Erfahrung her habe, aber nicht eine transzendentale Rechtfertigung, ob ich<br />
<strong>die</strong>se Erfahrung zu Recht eine Erkenntnis nennen kann, wozu es<br />
notwendig ist zu wissen, woher etwas notwendig ist. Diese Begründung<br />
entspricht <strong>der</strong> modalen Unterscheidung <strong>der</strong> Erfahrung in Kenntnis <strong>und</strong><br />
Erkenntnis, <strong>die</strong> Kant im § 13 <strong>der</strong> Deduktion mit den juridischen
-— 176 —<br />
Ausdrücken quid factis <strong>und</strong> quid iuris, welche zwischen<br />
Verfügungsgewalt (Besitz) <strong>und</strong> verbrieftes Eigentumsrecht unterscheiden,<br />
befragt hat.<br />
Das Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen vollständig zu bestimmen,<br />
ist schon in <strong>der</strong> Substanzkategorie des Verstandesgebrauches in <strong>der</strong><br />
sinnlichen Erfahrung nicht vollständig gelungen; im Rahmen einer<br />
möglichen Selbstzuschreibung <strong>der</strong> Erscheinungen als meine Vorstellungen<br />
haben sich bislang zwei mögliche Kandidaten gezeigt: Der innere Sinn,<br />
dessen Zustände wechseln, empfiehlt sich als Kandidat für das Substrat<br />
des Wechsels von selbst, doch mißfällt an <strong>die</strong>ser Vorstellung, daß hier eben<br />
nicht mehr vom Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> Vorstellungen <strong>die</strong> Rede<br />
ist, son<strong>der</strong>n opak vom Wechsel <strong>der</strong> Zustände des inneren Sinnes. Weiters<br />
mißfällt, daß bei Kant plötzlich <strong>der</strong> innere Sinn sowohl <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Zeit<br />
wie auch das Substrat <strong>der</strong> Zeit sein soll. Das Zusammenfallen von Form<br />
<strong>und</strong> Substrat scheint ansonsten für den inneren Sinn unmöglich zu sein, es<br />
sei denn, es handelt sich um »transzendentale« Vorstellungen über den<br />
inneren Sinn selbst, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Verknüpfungsregeln <strong>der</strong> Vorstellungen im<br />
inneren Sinn än<strong>der</strong>n. Doch werden solche Regelvorstellungen nicht vom<br />
inneren Sinn selbst produziert, son<strong>der</strong>n durch intelligible Spontaneität <strong>der</strong><br />
rationalen Psychologie des »ich denke«, also <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Apperzeption, erzeugt. Die Zweifel am Zusammenfallen von Substrat <strong>und</strong><br />
Form im inneren Sinn waren offenbar in einem gewissen Sinn berechtigt:<br />
im Fall <strong>der</strong> produktiven Einbildungskraft fungiert <strong>der</strong> innere Sinn zwar als<br />
Substrat, stellt sich aber nicht als einzige Quelle <strong>der</strong> Zeitlichkeit dar,<br />
obgleich dessen Kontinuität insgesamt durchaus über <strong>die</strong> Bedingungen<br />
<strong>der</strong> Konstruktion hinaus als notwendig gefor<strong>der</strong>t wird. Die Zeit als<br />
oberster Formbegriff des bestimmenden Urteils kann auch inhaltlich<br />
wegen <strong>der</strong> bestimmenden Verstandeshandlung nicht allein als dem<br />
inneren Sinn zugehörig aufgefaßt werden.<br />
Die verschiedenen Fragen haben verschiedene Untersuchungsgänge: Die<br />
Frage, weshalb es jeweils wichtig wird, daß es sich um meine Vorstellungen<br />
handelt, <strong>und</strong> was damit nach <strong>der</strong> Eröffnung des Daseins zur<br />
intersubjektiven Kommunikation verknüpft sein kann, hat zwei mögliche<br />
Antworten, <strong>die</strong> beiden transzendental verstanden werden können: Erstens<br />
<strong>die</strong> einfache psychologische, nach <strong>der</strong> ich klare Vorstellungen habe <strong>und</strong><br />
bereit bin, darüber auch zu berichten; <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong> Antwort nach <strong>der</strong><br />
Prüfung gemäß <strong>der</strong> Unterscheidung in quid facti <strong>und</strong> quid iuris. Erst <strong>die</strong><br />
zweite Antwort besitzt überhaupt eine Denkmöglichkeit, mit <strong>der</strong> nächsten
-— 177 —<br />
Frage in Verbindung gebracht zu werden: wem wird mit <strong>der</strong> Vorstellung<br />
etwas vorgestellt? Das ist mit <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong> Frage, aus welchen<br />
Gründen ich von meinen Vorstellungen sprechen kann, noch nicht<br />
beantwortet worden. Schließlich bleibt drittens <strong>die</strong> Frage nach dem<br />
Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen unter beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung<br />
<strong>der</strong> Komplementarität, daß <strong>die</strong> Zeit <strong>die</strong> Form von etwas sein muß.<br />
Letztendlich aber kann man nicht in <strong>der</strong> Perspektive verharren, in welcher<br />
man <strong>die</strong> Schematen des Verstandesbegriffes vorstellt, sodaß auch <strong>die</strong><br />
Bedeutung <strong>der</strong> Frage nach dem Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen<br />
nicht durch <strong>die</strong> Antwort, <strong>der</strong> innere Sinn sei das Substrates des Wechsels<br />
<strong>der</strong> Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit, o<strong>der</strong> das Objekt <strong>der</strong> Erfahrung sei das<br />
Substrat des Wechsels, als völlig ausgelegt betrachtet werden kann. Mit<br />
<strong>der</strong> Zuschreibung des Vorstellungsinhaltes als Prädikat <strong>und</strong> Merkmal auf<br />
Erfahrungsobjekte ist nichts gewonnen, da eben hier <strong>die</strong> Zuschreibung von<br />
Erscheinungen <strong>und</strong> Vorstellungen behandelt werden soll. Die einzige<br />
Alternative zum naheliegenden inneren Sinn als Substrat <strong>die</strong>ser<br />
Zuschreibung zeigt sich dann doch mit <strong>der</strong> Frage, wem etwas vorgestellt<br />
werden soll, denn <strong>der</strong> innere Sinn reicht nur zu, <strong>die</strong> anaonyme<br />
psychologische Bedeutung <strong>der</strong> Rede von je meiner Vorstellung zu<br />
f<strong>und</strong>ieren. Diese Alternative ist unabhängig vom Ausgang <strong>der</strong> Erörterung<br />
des Verhältnisses von inneren Sinn, verstandesgemäßer Spontaneität <strong>der</strong><br />
transzendentalen Apperzeption, <strong>und</strong> schlußendlich einem<br />
Bewußtseinszustand, <strong>der</strong> bereits in Spannung zur Willensphilosophie<br />
steht, in <strong>der</strong> anstehenden Frage zu verfolgen, führt aber über <strong>die</strong><br />
transzendentale Dialektik <strong>der</strong> reinen Vernunftideen, worin letzenendes <strong>die</strong><br />
synthetischen Sätze a priori <strong>der</strong> praktischen Vernunft ihren Ursprung<br />
haben, hinaus zu den metaphysischen <strong>und</strong> psychologischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
<strong>der</strong> Rechtsphilosophie <strong>und</strong> dem Sitttengesetz <strong>der</strong> praktischen Vernunft.<br />
Für <strong>die</strong> Absichten des vorliegenden Untersuchungsganges muß<br />
einstweilen als Ergebnis reichen, daß erstens <strong>die</strong> Zeit als Form nicht eine<br />
alleinige Eigenschaft des inneren Sinnes ist, zweitens, daß mit <strong>der</strong><br />
transzendentalanalytischen Einklammerung des äußeren Gegenstandes<br />
des Erfahrungsobjektes zwar Beharrlichkeit als reiner Verstandesbegriff<br />
weiterhin eine Bedeutung besitzt, aber das Substrat des Wechsels <strong>der</strong><br />
Erscheinungen muß wegen <strong>der</strong> psychologischen Feststellung, daß <strong>die</strong>se<br />
o<strong>der</strong> jene Vorstellung meine Vorstellung sei, auch dann <strong>der</strong> innere Sinn<br />
sein, wenn nach <strong>der</strong> Rechtfertigung <strong>der</strong> Kenntnis (quid facti) zur<br />
Erkenntnis (quid iuris) gefragt wird.
-— 178 —<br />
c) Die Kritik <strong>der</strong> Vorstellung vom Bewußtsein als Form des inneren<br />
Sinnes (Perzeption) führt zum reinen Verstandesgebrauch:<br />
Zeitreihe, Kausalität <strong>und</strong> Objektivität<br />
Der Frage nach <strong>der</strong> Subjektivität <strong>und</strong> Objektivität <strong>der</strong> Zeit bei Kant soll<br />
noch eine weitere Beleuchtung gegeben werden können. Peter Bieri 163 hat<br />
<strong>die</strong> Thesen McTaggerts untersucht <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> kritische<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung in <strong>der</strong> Literatur mit den Lösungsvorschlägen<br />
Reichenbachs diskutiert, welcher <strong>die</strong> Objektivität <strong>der</strong> Zeitreihe B<br />
(vorhergehend — nachfolgend) auf das Kausalprinzip zurückführt. 164 Bieri<br />
stellt <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> „transzendentalen“ Zeit <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Zeitlosigkeit<br />
(wie Bieri sich ausdrückt) erst anhand seiner Bearbeitung <strong>der</strong> Husserlschen<br />
Aussagen zum inneren Zeitbewußtsein. Zwar wird Kant von ihm im<br />
Anschluß an Reichenbach zunächst hauptsächlich als Vertreter <strong>der</strong><br />
Auffassung eingeführt, erst <strong>die</strong> spezifische Bedeutung des<br />
Kausalitätsbegriffes verleihe <strong>der</strong> Zeitreihe B objektive <strong>und</strong> reale<br />
Bedeutung. Er zitiert aber im Zuge <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Retention Kants<br />
Reflexion 5655; dort sagt Kant von <strong>der</strong> Einheit des Bewußtseins in <strong>der</strong><br />
Selbsterscheinung, daß in <strong>die</strong>sem Falle das continens zugleich<br />
contentum ist. 165<br />
Bieri hat das Problem, daß er von <strong>der</strong> Zeitreihe B (früher - später) erwartet,<br />
damit schon bei Husserl <strong>die</strong> Frage nach dem Kriterium <strong>der</strong> objektiven<br />
Realität <strong>der</strong> Zeit entscheiden zu können. Aber in <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong><br />
Retention, wie Husserl sie von Locke übernommen <strong>und</strong> weiter bearbeitet<br />
hat, 166 kommt Bieri mit seiner Auffassung von <strong>der</strong> Irreversibilität als<br />
alleiniges <strong>und</strong> zentrales Thema <strong>der</strong> Determination in Schwierigkeiten, wie<br />
er auch bei Kant <strong>die</strong> verschiedenen Ansätze übersieht, <strong>die</strong> erst zusammen<br />
deutlich machen, warum Kant sich in <strong>der</strong> Lage glaubt, anscheinend allein<br />
synthetisch-metaphysisch aus <strong>der</strong> bloßen Zeitfolge <strong>die</strong> Kausalität<br />
erschließen zu können. Überhaupt dürfte Bieri auch <strong>die</strong> Unterscheidung in<br />
Kausalitätsprinzip <strong>und</strong> Determination übersehen: auch das, was zufällig<br />
163 P. Bieri, Zeit <strong>und</strong> Zeiterfahrung, Suhrkamp 1972<br />
164 H. Reichenbach, The Philosophy of Space and Time, New York 1958. Bieri kommt zu<br />
dem Schluß, daß Reichenbach im Problem <strong>der</strong> Irreversibilität <strong>der</strong> Zeit <strong>die</strong> zur<br />
Determination notwendige Bedingung des Kausalitätsprinzips übersehen hat, cit. op.,<br />
p. 130<br />
165 cit. op., p. 201<br />
166 Edm<strong>und</strong> Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins,<br />
hrsg. von Martin Heidegger, in: Jahrbuch für Philosophie <strong>und</strong> phänomenologischer<br />
Forschung, Bd. IX, Halle a. d. Saale 1928
-— 179 —<br />
ist, hat immer eine Ursache. Hingegen ist <strong>der</strong> bloße Wechsel <strong>der</strong><br />
Erscheinungen in <strong>der</strong> empirischen Apperzeption noch vor <strong>der</strong><br />
Bestimmung zur Sukzessivität zwar eindeutig nach <strong>der</strong> Reihe B gestaltet,<br />
aber selbst nicht zur Objektivität im Sinne objektiver Realität zu bringen.<br />
Auch <strong>die</strong> eigentlich logisch-grammatikalische Regel, daß das, was nicht<br />
zugleich an einem Ding gelten kann, doch nacheinan<strong>der</strong> gelten kann,<br />
macht den Wechsel mit <strong>der</strong> logischen Bestimmung zur Sukzessivität nur<br />
zu einer objektiven Bestimmung fähig, ohne selbst schon objektive Realität<br />
zu erweisen. 167<br />
Die Reflexion 5655 hat Bieri in Hinblick auf <strong>die</strong> Retention Husserls gut<br />
gewählt, indem <strong>die</strong> Abschattungen <strong>der</strong> erinnerten Urimpression in<br />
Beziehung zur Gegenwart bleiben, <strong>und</strong> so das Bewußtsein <strong>der</strong> Retention<br />
<strong>der</strong> ersten Urimpression als zweite neue Urimpression auftritt. Spätestens<br />
nach <strong>der</strong> dritten Urimpression, welche das gegenwärtige Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Retention <strong>der</strong> Erinnerung des Bewußtseins <strong>der</strong> Retention <strong>der</strong> ersten<br />
Urimpression ist, spricht <strong>die</strong> Kantsche Reflexion eben das in sich selbst<br />
Enthaltensein von Bewußtsein aus. 168 Aber schon in <strong>der</strong> Retention <strong>der</strong><br />
ersten Urimpression wird mit <strong>der</strong> Erinnerung gewußt, daß <strong>die</strong><br />
Urimpression jetzt als vergangenes, ehemals Gegenwärtiges des selben<br />
Bewußtseins gewußt wird; 169 <strong>und</strong> zwar soll <strong>die</strong>ses Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Selbigkeit des Bewußtseins ohne <strong>der</strong> transzendentalen Reflexion auf<br />
Identität im »ich denke«, gewissermaßen als Kennzeichen <strong>der</strong> Retention,<br />
stattfinden. Daraus schließt Husserl auf <strong>die</strong> Zeitlosigkeit des Bewußtseins<br />
selbst, obwohl er den Zeitfluß des inneren Bewußtseins als uneigentliche<br />
Abfolge weiterhin beibehält. Dieses freilich selbst nicht unproblematische<br />
Teilergebnis gleicht <strong>der</strong> offenen Frage zwischen <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong><br />
synthesis intellectualis <strong>und</strong> <strong>der</strong> Unzeitlichkeit des reinen<br />
Verstandesbegriffes in <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion <strong>der</strong> Kategorien<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong>en Folgeuntersuchungen. Die Husserlschen Überlegungen zum<br />
inneren Zeitbewußtseins selbst sind nicht nur was <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />
167 Ich sehe aber we<strong>der</strong> so recht ein, weshalb gr<strong>und</strong>sätzlich jede Art von unendlichem<br />
Regress Gr<strong>und</strong> zur Wi<strong>der</strong>legung einer Theorie sein muß, noch weshalb von <strong>der</strong> Zeit<br />
(<strong>und</strong> vom Raum) »Realität« gefor<strong>der</strong>t werden muß, wenn Objektivität von Zeit (<strong>und</strong><br />
Raum) ausreicht.<br />
168 Refl. 5655, AA. XVIII: »Daß das denkende Wesen in <strong>der</strong> Vorstellung des inneren<br />
Sinnes ihm selbst bloß Erscheinung sei, bedeutet nichts weiter, als wenn ich sage: ich,<br />
in dem das Zeitverhältnis allein anzutreffen ist, bin in <strong>der</strong> Zeit. Das continens ist<br />
zugleich contentum.«<br />
169 Vgl. Brentanos temporale Differenzen, hier im dritten Abschnitt, Kap. 5. Intellection<br />
<strong>und</strong> Einbildungskraft
-— 180 —<br />
Identität als bewußte Selbigkeit angeht Kant, zum Teil auf Kosten <strong>der</strong><br />
Strenge <strong>der</strong> Kriterien, voraus. Auch <strong>die</strong> teleologische<br />
Bewußstseinsverfassung erfährt bei Husserl bereits eine psychologische<br />
Gr<strong>und</strong>legung, während Kant <strong>die</strong>selbe zwar noch vor <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />
teleologischen Urteilskraft, aber doch erst nach <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />
transzendentalen Dialektik <strong>der</strong> reinen Vernunft als ein Prinzip des<br />
regulativen Gebrauches von Vernunftbegriffen vorstellt. Nur subtilere<br />
Betrachtungen würden noch eine Beziehung zur Antizipationskategorie<br />
herstellen können. Bei Husserl verhält es sich so, daß schon in <strong>der</strong><br />
Retention durch <strong>die</strong> Beziehung <strong>der</strong> retinierten Urimpression zur<br />
eigentlichen Gegenwart des Bewußtseins <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Beziehung zur<br />
nächsten Urimpression angelegt ist. Das schließt <strong>die</strong> gewöhnliche<br />
Erwartungshaltung (Rupert Riedl: ratiomorphically) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bereitstellung<br />
dazu passen<strong>der</strong> Verhaltensmuster mit ein. Husserl nennt <strong>die</strong>s im<br />
Rückblick Protention. Ich halte das nach wie vor eindeutig für eine<br />
Analyse im Rahmen <strong>der</strong> Zeitreihe B ohne daß damit ein Argument für<br />
objektive Realität gegeben wäre <strong>und</strong> nicht für eine Analyse <strong>der</strong> Zeitreihe A<br />
(Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft), <strong>und</strong> so unabhängig von <strong>der</strong><br />
Zeitreihe A für eine subjektive Zeitordnung. Die intentionalen<br />
Verflechtungen <strong>der</strong> Reihen von abgestuft abgeschatteten Urimpressionen<br />
in <strong>der</strong> Retention <strong>und</strong> <strong>die</strong> dazugehörigen Reihen von sich abschwächenden<br />
Retentionen o<strong>der</strong> handlungs- bzw. entscheidungsmotivierenden<br />
Protentionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> jeweiligen »Urimpressionen« des aktuell<br />
Gewärtigens begleiten, än<strong>der</strong>n nichts daran, daß es sich hier um nichts<br />
an<strong>der</strong>es als um eine Theorie <strong>der</strong> sukzessiven Verän<strong>der</strong>ung des jeweilig<br />
gewärtigenden Bewußtseins handelt, aber nicht um eine objektive<br />
Zeitfolge einer bewußtseinsunabhängigen Weise des Existierens von <strong>der</strong><br />
das erkennende Subjekt umfassenden <strong>und</strong> vom Subjekt ausschnittweise<br />
<strong>und</strong> pars pro toto umfaßten Wirklichkeit. — Bieri kann sich angesichts <strong>der</strong><br />
mehr als mißverständlich formulierten These Reichenbachs, daß <strong>die</strong><br />
Zeitreihe B kraft des Prinzips <strong>der</strong> Kausalität objektive Realität zu<br />
kennzeichnen imstand sei, in <strong>die</strong>ser Frage offenbar nicht eindeutig<br />
entscheiden. Es ist nämlich festzustellen, daß <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong> Zeitreihe B<br />
auf objektive Gültigkeit <strong>und</strong> objektiver Realität subjektiv <strong>die</strong> Gegenwart<br />
voraussetzt <strong>und</strong> als objektiv <strong>die</strong> Vergangenheit, nicht aber eine bestimmte<br />
Zukunft. Insofern spricht Kant auch von <strong>der</strong> »als Vergangenheit gesetzten<br />
Zeit« als <strong>die</strong> Zukunft bestimmend, <strong>und</strong> charakterisiert zwar <strong>die</strong><br />
Vergangenheit insgesamt, aber nicht <strong>der</strong>en Folgen ausschließlich als<br />
irreversibel. Die Kontinuität <strong>der</strong> Retention selbst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kontinuation <strong>der</strong>
-— 181 —<br />
so entstandenen Reihe <strong>der</strong> Urimpressionen in einer gleichsinnig sich<br />
aufbauenden Reihe <strong>der</strong> einfachen Protention ist hingegen geradezu <strong>die</strong><br />
Deskription des rein subjektiven Phänomens <strong>der</strong> sich selbst in <strong>der</strong> Zeit<br />
bewegenden Gegenwart, welche <strong>die</strong> Grenze zur Zukunft zu überschreiten<br />
im Begriff ist, <strong>und</strong> liefert den Nachweis, daß <strong>die</strong> Gegenwart ein subjektives<br />
F<strong>und</strong>ament hat, während dem Zugleichsein zwar zur Erkenntnis des<br />
Zugleichseins <strong>die</strong> Gegenwart vorausgesetzt ist, aber ein eigenes<br />
ontologisches F<strong>und</strong>ament im Ereignis (Kant: was geschieht) zu<br />
beanspruchen vermag. 170 Trotzdem gehört <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Retention<br />
we<strong>der</strong> zur Zeitreihe A 171 noch vermag sie <strong>die</strong> Objektivität <strong>der</strong> Zeitreihe B<br />
im Sinne objektiver Realität zu beweisen. Das ist auch dem<br />
Untersuchungsgang Husserls selbst zu entnehmen, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Retention<br />
<strong>die</strong> Reproduktion dahingehend unterschieden hat, daß <strong>die</strong> letztere<br />
Vergangenes wie<strong>der</strong>erinnert, dessen Retention nicht von einer aktuellen<br />
Urimpression (es sei denn protentional) ausgeht. Die Unterscheidung in<br />
Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft beinhaltet nämlich <strong>die</strong><br />
Unterbrechung <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Gegenwart, <strong>und</strong> genau <strong>die</strong>se<br />
Unterbrechung verzeichnet Husserl mit seiner Unterscheidung in<br />
Retention <strong>und</strong> Reproduktion. 172<br />
Dabei ist zu beachten, daß <strong>die</strong>ser Gebrauch des Wortes »Reproduktion«<br />
bei Husserl vom Gebrauch bei Kant völlig verschiedenes bedeutet, denn<br />
Kant versteht <strong>die</strong> reproduktive Funktion <strong>der</strong> Einbildungskraft allein<br />
gegenüber <strong>der</strong> Kontinuität des inneren Sinnes, also noch gänzlich im<br />
Rahmen <strong>der</strong> subjektiv-objektiven Bedingungen <strong>der</strong> Gegenwart<br />
verbleibend. Die Erinnerung eines gänzlich Vergangenen ist für Kant<br />
Angelegenheit einer produktiven Einbildungskraft allein anhand von<br />
Begriffen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Merkzeichen. 173<br />
170 Man hat sich hier zuerst <strong>die</strong> Sollizitation im mechanischen Stoß als metaphysischen<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Teilung <strong>der</strong> Gegenwart — objektiv im Zugleichsein, subjektiv im Jetzt —<br />
urbildlich vorzustellen.<br />
171 McTaggerts Einteilung <strong>der</strong> Zeitformen in eine Zeitreihe A <strong>und</strong> eine Zeitreihe B sind<br />
zwar, wie Bieri ganz richtig nach <strong>der</strong> Durchsicht <strong>der</strong> Literatur feststellt, voneinan<strong>der</strong><br />
semantisch unabhängig, doch aber bleibt <strong>die</strong>se Einteilung nicht vollständig. Dazu<br />
fehlt zunächst <strong>die</strong> Erörterung <strong>der</strong> Teleologie; <strong>die</strong> <strong>der</strong> Zeitsstruktur <strong>der</strong> Umkehr im<br />
Existenzialismus wie überhaupt <strong>die</strong> Überlegungen zur Zeit aus <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong><br />
heilsgeschichtlichen Traditionen herschreibenden philosophischen Vorstellungen von<br />
Geschichte jenseits kosmologisch-zyklischer Vorstellungen fehlen.<br />
172 Husserl unterscheidet zwischen primärer Erinnerung <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärer<br />
Wie<strong>der</strong>erinnerung, in: Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins a.a.O., § 14,<br />
Reproduktion von Zeitobjekten (sek<strong>und</strong>äre Erinnerung).<br />
173 Weiters behaupte ich, daß <strong>die</strong> reproduktive Funktion <strong>der</strong> Einbildungskraft eine<br />
Eigenschaft wie <strong>die</strong> Retention für den inneren Sinn (empirische Apperzeption)
-— 182 —<br />
Die Protention garantiert <strong>der</strong> Retention <strong>die</strong> Identität des Bewußtseins in<br />
<strong>der</strong> sich verän<strong>der</strong>nden Zeit, aber nicht selbst das Bewußtsein <strong>die</strong>ser<br />
Identität. Es ist erst <strong>die</strong> gegenüber dem gegebenen Fluß <strong>der</strong> Erscheinung<br />
(nunmehr ergänzt zum sich erweiternden Erinnerungsfeld in <strong>der</strong> Retention<br />
des vormals aktual Gegebenen <strong>und</strong> von den daraus im Rahmen <strong>der</strong><br />
Protention von <strong>der</strong> produktiven Einbildungskraft gegebene Reihe von<br />
Vorstellungen) willkürliche Hinzusetzung einer Vorstellung zu einer<br />
an<strong>der</strong>en, was das »Ich denke« zu einem Urteil <strong>und</strong> somit zur bewußten<br />
Aneignung im Actus des einfachen Bewußtseins des Zusammennehmens<br />
von Vorstellungen im abstrakten Begriff <strong>der</strong> Verbindung macht. Die<br />
Zeitreihe B alleine aber ist nicht geeignet, <strong>die</strong> Beziehung <strong>der</strong> Vorstellungen<br />
auf objektive Realität als eindeutig zu garantieren. Ob zur Behebung <strong>die</strong>ser<br />
Subjektivität erst <strong>die</strong> Unterscheidung in Irreversibilät <strong>und</strong> Kausalität sich<br />
im Sinne Bieris als entscheidend herausstellt, kann zumindest von Kant<br />
aus bezweifelt werden: Von hier aus betrachtet, hat <strong>die</strong> Irreversibiltät zwar<br />
immer Kausalität zur Vorausetzung gehabt, 174 doch ist es nicht <strong>die</strong><br />
Irreversibilität, welche in <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>die</strong> Objektivität einer<br />
Kausalverknüpfung zuerst <strong>und</strong> wesentlich charakterisiert. — Der<br />
Gesetzesbegriff ist selbst keine Ableitung aus dem transzendentalen<br />
Prinzip <strong>der</strong> Kausalität.<br />
voraussetzen muß, um nicht in eine endlose Aufstufung von Schematen <strong>der</strong><br />
reproduktiver Einbildungskraft zu gelangen, welche das Produkt des Einsatzes <strong>der</strong><br />
produktiven Einbildungskraft wie <strong>die</strong> Kennzeichnung des relevanten Zeitpunktes<br />
(<strong>der</strong> von <strong>der</strong> bloßen Aktualität inhaltlich stets verschieden sein muß) jeweils<br />
neuerlich in Stellung zu halten hätte: Das Schema eines Bildes eines Schemas eines<br />
Bildes etc. würde den transzendentalen Schematismus, <strong>der</strong> Ungleichartiges<br />
zusammensetzt, verhin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> nicht analytisch freilegen.<br />
174 So wird zum Beispiel schon in <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> thermodynamischen Gesetze auf<br />
Gase immer allgemein <strong>die</strong> korpuskularmechanische Vorstellung <strong>der</strong> Brownschen<br />
Bewegung <strong>der</strong> Moleküle, <strong>und</strong> damit eine — für uns unzugängliche — Kausalität<br />
zwischen den Molekülen (zumindest im Falle nicht-idealer Gase) vorausgesetzt.
-— 183 —<br />
13) Die nicht-subjektiven F<strong>und</strong>amente <strong>der</strong> objektiven<br />
Realität:<br />
Phoronomie <strong>und</strong> Dynamik an Stelle von<br />
transzendentaler Ästhetik <strong>und</strong> transzendentaler Deduktion<br />
a) Die Dialektik <strong>der</strong> Beharrlichkeit im Dasein findet<br />
zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt statt<br />
Kant unterscheidet nun in <strong>der</strong> Zeit einerseits <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Verhältnisse <strong>der</strong><br />
Vorstellungen als innersubjektive Relationen im Rahmen <strong>der</strong> subjektivobjektiven<br />
Anschauungsformen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Form des Verhältnisses in<br />
Erscheinungen als Beziehung von einem Dasein hier <strong>und</strong> einem Dasein<br />
dort als äußere Relation. An<strong>der</strong>erseits ist im einigen, je empirisch subjektiv<br />
gegebenen Dasein <strong>die</strong> Zeit <strong>die</strong> Form von den gegebenen Erscheinungen<br />
doch wie<strong>der</strong> immer schon als innersubjektive Relation (<strong>und</strong> für uns zuerst<br />
nur dort) zu erfassen: Die Erscheinungen sind in <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> damit auch<br />
gleich im Dasein gegeben, was aber eben nicht bedeuten muß, das <strong>die</strong><br />
Form des Daseins auch selbst nichts als <strong>die</strong> Zeit als Abfolge (im Sinne <strong>der</strong><br />
These B McTagggerts) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Abfolge von Vergangenheit-Gegenwart-<br />
Zukunft (These A) sei. Damit vermag Kant also nur einen amphibolischen<br />
Begriff von <strong>der</strong> Substanz vorzustellen, denn er gelangt auf <strong>die</strong>sem Weg<br />
nicht zum Begriff <strong>der</strong> extensiven Materie eines äußerlichen Gegenstandes.<br />
Vielmehr wurde bislang nur <strong>die</strong> Beständigkeit des Daseins selbst als <strong>die</strong><br />
Beharrlichkeit von etwas, das den Erscheinungen nur äußerlich<br />
zugr<strong>und</strong>eliegt, untergeschoben: »Also ist an allen Erscheinungen das<br />
Beharrliche <strong>der</strong> Gegenstand selbst, d.i. <strong>die</strong> Substanz (phaenomenon), alles<br />
aber, was wechselt, o<strong>der</strong> wechseln kann, gehört nur zu <strong>der</strong> Art, wie <strong>die</strong>se<br />
Substanz o<strong>der</strong> Substanzen existieren, mithin zu ihren Bestimmungen.« 175<br />
Der Plural <strong>der</strong> Substanzen scheint nun direkt den Versuchen zu<br />
wi<strong>der</strong>sprechen, das Substrat des Wechsels mit dem inneren Sinn o<strong>der</strong> dem<br />
Dasein zu identifizieren. Vergleiche aber den Perspektivenwechsel<br />
zwischen folgenden Aussagen: »Das Ich macht das Substratum zu einer<br />
Regel überhaupt aus, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Apprehension bezieht jede Erscheinung<br />
darauf.« 176 <strong>und</strong> »Eine elastische Kugel, <strong>die</strong> auf eine gleiche in gera<strong>der</strong><br />
Richtung stößt, teilt <strong>die</strong>ser ihre ganze Bewegung, mithin ihren ganzen<br />
Zustand (wenn man bloß auf <strong>die</strong> Stellen im Raume sieht) mit. Nehmet<br />
nun, nach <strong>der</strong> Analogie mit <strong>der</strong>gleichen Körpern, Substanzen an, <strong>die</strong> eine<br />
175 K.r.V., B 227/A 183 f.<br />
176 B 601 f./A 573 f. ◊
-— 184 —<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Vorstellungen, samt <strong>der</strong>en Bewußtsein einflößete, so wird sich<br />
eine ganze Reihe <strong>der</strong>selben denken lassen, <strong>der</strong>en <strong>die</strong> erste ihren Zustand,<br />
samt dessen Bewußtsein, <strong>der</strong> zweiten, <strong>die</strong>se ihren eigenen Zustand, samt<br />
dem <strong>der</strong> vorigen Substanz, <strong>der</strong> dritten <strong>und</strong> <strong>die</strong>se eben so <strong>die</strong> Zustände<br />
aller vorigen, samt ihren eigenen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Bewußtsein, mitteilete. Die<br />
letzte Substanz würde also aller Zustände <strong>der</strong> vor ihr verän<strong>der</strong>ten<br />
Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusamt dem<br />
Bewußtsein in sie übertragen worden, <strong>und</strong> dem unerachtet, würde sie<br />
doch nicht eben <strong>die</strong>selbe Person in <strong>die</strong>sen Zuständen gewesen sein.« 177<br />
Offensichtlich werden zwei verschiedene Formen des Bewußtseins<br />
angesprochen: Das erste Zitat drückt nicht nur <strong>die</strong> Idee des<br />
Regelbewußtseins absolut als reine Totalität aus, son<strong>der</strong>n weist auch<br />
darauf hin, daß es je<strong>der</strong>zeit möglich ist, auf <strong>die</strong>se Idee zurückzukommen.<br />
Damit wird den Bewußtseinsinhalten kollektiv ein zeitlicher Horizont<br />
verliehen, <strong>der</strong> nicht entlang einer bestimmten gegebenen kontinuierlichen<br />
Zeitachse geordnet ist, entlang <strong>der</strong> man sich in <strong>der</strong> Zeit zu bewegen <strong>und</strong><br />
zu verän<strong>der</strong>n scheint: eine Mehrzahl verschieden wirksam werden<strong>der</strong><br />
Motive <strong>und</strong> Bedingungen können zu einer konkreten Regelbildung<br />
zusammenwirken, <strong>die</strong> nicht aus einer gemeinsamen Epoche entstammen<br />
<strong>und</strong> so auch nicht in <strong>der</strong> Zusammenfügung selbst ein dynamisches Gefüge<br />
außerhalb <strong>der</strong> subjektiven Vorstellung aufweisen müssen. Entscheidend<br />
bleibt <strong>die</strong> Angleichung an das Urbild <strong>der</strong> Regel im »ich denke«, was eben<br />
nichts an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> ursprüngliche Evidenz in <strong>der</strong> tätigen Verknüpfung<br />
von Vorstellungen im Bewußtsein evoziert (ursprünglich-synthetische<br />
Einheit <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption, § 16). — Das zweite Zitat stellt<br />
nun <strong>die</strong> These vor, daß, betrachtet man das Bewußtsein reproduktiv<br />
entlang <strong>der</strong> Zeitachse nach einem mechanischen Modell, <strong>die</strong>s das<br />
Bewußtsein in Form eines Gedächtnisses, das nichts vergessen kann, zur<br />
Folge haben muß. Die Identität <strong>der</strong> Substanz bzw. Person wäre dabei nicht<br />
gefor<strong>der</strong>t. Damit wird das Bewußtsein vom individuellen Subjekt als<br />
Person abgehoben, ohne inhaltlich streng neutral <strong>und</strong> abstrakt bleiben zu<br />
müssen (o<strong>der</strong> gleich zur Totalität verpflichtet zu werden) wie das Substrat<br />
des universalen Regelbewußtseins aus <strong>der</strong> rationalen Psychologie. Diese<br />
zwei Formen des Bewußtseins sind als <strong>die</strong> »termini« (Grenzbegriffe) des<br />
Begriffs vom Bewußtsein aufzufassen. Während nun mit dem Ich als<br />
Urbild aller Regeln <strong>der</strong> Anspruch zu erheben ist, daß <strong>die</strong> Regelhaftigkeit<br />
177 K.r.V., Anmk. zu A 363
-— 185 —<br />
auch für an<strong>der</strong>e theoretisch wie praktisch demonstriert werden kann, gilt<br />
ein Gleiches für das mechanische Modell eines allwissenden Bewußtseins<br />
nicht von vorneherein: Die Einheit <strong>der</strong> verschiedenen Zustände im<br />
Bewußtsein bleibt subjektiv <strong>und</strong> kann nicht objektiv für einen äußeren<br />
Beobachter (»Standpunkt eines Fremden«) dargetan werden, weil wir an<br />
<strong>der</strong> Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen. Kant beansprucht in <strong>der</strong><br />
zweiten Fassung des dritten Paralogismus aber nicht mehr, den<br />
Paralogismus <strong>der</strong> Person, son<strong>der</strong>n nur mehr den <strong>der</strong> objektiven Einheit <strong>der</strong><br />
Form des Subjekts des Bewußtseins zu wi<strong>der</strong>legen. Der Begriff <strong>der</strong><br />
Substanz vom Phaenomenon bleibt also trotz <strong>der</strong> objektiven Zeitordnung<br />
aus dem Vergleich <strong>der</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Erscheinungsreihe zu <strong>der</strong> nach<br />
einer Verstandesregel produzierten Reihe von Vorstellungen in seinem<br />
Ursprung zwischen subjektiver <strong>und</strong> objektiver Realität indifferent. — Nun<br />
trifft Kant im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz eine Entscheidung, um <strong>die</strong>se<br />
Indifferenz zu überwinden: »Es ist aber das Substrat alles Realen, d.i. zur<br />
Existenz <strong>der</strong> Dinge Gehörigen, <strong>die</strong> Substanz, an welcher alles, was zum<br />
Dasein gehört, nur als Bestimmung kann gedacht werden.« 178<br />
Es ist bemerkenswert, daß Kant <strong>die</strong>se Subreption (also <strong>die</strong> Vertauschung<br />
<strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong> Elemente, <strong>die</strong> zuerst als Elemente des Daseins bekannt<br />
werden, zu Bestimmungen des Dinges) inmitten des transzendentalen<br />
Gr<strong>und</strong>satzes von <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz in Verbindung mit dem<br />
Begriff <strong>der</strong> Existenz vollführt. D. h., Kant behauptet das Ding als<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Erscheinungen, weil er schon mit einem analytischen<br />
Begriff von Existenz operiert, den er aber nach dem Gang <strong>der</strong><br />
Überlegungen anhand <strong>der</strong> Trennung von Innen <strong>und</strong> Außen noch gar nicht<br />
seinen Grenzen gemäß objektiv in Stellung bringen kann. Nach <strong>der</strong> hier im<br />
ersten Teil des Dritten Abschnitt durchgeführten Untersuchung scheint es,<br />
als müßte Kant dazu auf das transzendentale Produkt <strong>der</strong><br />
Einbildungskraft, welches in <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Regel von (reinen) Begriffen<br />
überhaupt vorgestellt wird, zurückgreifen. Da nun <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> reinen<br />
Stammbegriffe nur exponiert werden kann, <strong>und</strong> ohne Schematismus nicht<br />
demonstriert, hat <strong>der</strong> weitere Fortgang <strong>der</strong> Untersuchung des Schemas<br />
(<strong>der</strong> allgemeinen Bedingung) eines Begriffes von <strong>der</strong> Substanz, nämlich<br />
<strong>der</strong> Beharrlichkeit, bereits auf <strong>die</strong> Verhältnisse <strong>der</strong> Objekte selbst <strong>und</strong> nicht<br />
nur auf bloße Erscheinungsverhältnisse in <strong>der</strong> Anschauung Acht zu geben.<br />
So liegt bekanntlich <strong>der</strong> objektiv reale Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Beharrlichkeit von<br />
Erscheinungen in <strong>der</strong> dynamischen Raumerfüllung durch <strong>die</strong> Materie, <strong>die</strong><br />
178 K.r.V., B 225
-— 186 —<br />
allein <strong>der</strong> Dauer des Daseins in den Erscheinungen zugr<strong>und</strong>eliegen kann,<br />
doch schlägt Kant zunächst einen an<strong>der</strong>en Weg ein.<br />
b) Die Ersetzung des Beharrlichen durch das Bewegliche:<br />
Das Bewegliche als Gr<strong>und</strong>lage von Phoronomie, Dynamik <strong>und</strong><br />
Mechanik in den M. A. d. N.<br />
Zwar illustriert Kant seine Auffassung von Kausalität im Gr<strong>und</strong>satz<br />
einerseits noch mit wesenslogischen Argumenten, 179 an<strong>der</strong>erseits gibt er<br />
den Impuls 180 (wie zuvor in § 19 <strong>die</strong> Schwere) eines Gegenstandes als<br />
neues Datum <strong>und</strong> nicht als Folgebegriff aus <strong>der</strong> Anschauungs- o<strong>der</strong><br />
Verstandesform an. Nicht <strong>die</strong> Erschließung neuer Quellen <strong>der</strong> Sinnlichkeit,<br />
wie es da scheinen mag, ist aber hier in den M. A. d. N. <strong>der</strong> systematisch<br />
erste Schritt, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Identifikation <strong>der</strong> vorhergehenden<br />
Bestimmungen <strong>der</strong> Objekte <strong>der</strong> Erscheinungen anhand <strong>der</strong><br />
Beweglichkeit. 181 Die gemeinsame Beweglichkeit verschiedener Merkmale<br />
o<strong>der</strong> auch ihre gemeinsame relative Ruhe sind das entscheidende<br />
Argument, um in <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion anhand <strong>der</strong><br />
Beharrlichkeit im Schema <strong>der</strong> Apprehension zu einem ersten Begriff von<br />
einem Objekt zu kommen <strong>und</strong> nicht eine selbst dynamische<br />
Argumentation. Die relative Ruhe zueinan<strong>der</strong> bestimmt eine<br />
Stellenordnung <strong>der</strong> Empfindungen (Merkmale) von einem Objekt im<br />
Raum, <strong>die</strong> zu befragen Kant sich in <strong>der</strong> ersten Erklärung <strong>der</strong> Phoronomie<br />
gar nicht anschickt: »Der Raum aber wäre bloß <strong>die</strong> Form aller äußeren<br />
sinnlichen Anschauung (ob eben <strong>die</strong>selbe auch dem äußeren Objekt, das<br />
wir Materie nennen, an sich selbst zukomme, o<strong>der</strong> nur in <strong>der</strong><br />
Beschaffenheit unseres Sinnes bleibe, davon ist hier gar nicht <strong>die</strong> Frage).<br />
Die Materie wäre im Gegensatz <strong>der</strong> Form das, was in <strong>der</strong> äußeren<br />
Anschauung ein Gegenstand <strong>der</strong> Empfindung ist, folglich das Eigentlich-<br />
Empirische <strong>der</strong> sinnlichen <strong>und</strong> äußeren Anschauung, weil es gar nicht a<br />
priori gegeben werden kann.« 182 Damit meint Kant metaphysische Begriffe<br />
179 Im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz: ein wesentliches Prädikat habe auch seinen Realgr<strong>und</strong><br />
im Objekt des Gegenstandsbegriffes im Satzgegenstand des Urteiles. (B 229/A 186 f.)<br />
180 B 252<br />
181 Das Beispiel des sich bewegenden Schiffes, wobei nicht klar wird, ob es sich aus<br />
Trägheit, durch <strong>die</strong> Mitnahme eines fließenden Gewässers, o<strong>der</strong> aus eigener Kraft<br />
(bzw. mittels <strong>der</strong> Windeskraft) bewegt. (B 237)<br />
182 M.A.d.N., Phoron. Erkl. 1, Anmk. 2, AA IV, p. 481. Vgl. K. CRAMER 1985, p. 118.<br />
Cramer bezieht zwar <strong>die</strong> metaphysischen Abschnitte <strong>der</strong> Kategorien auf <strong>die</strong><br />
Einteilung in den M.A.d.N., will aber anscheinend zunächst <strong>der</strong> Phoronomie<br />
keinerlei Funktion für den metaphysischen Gehalt <strong>der</strong> dynamischen Kategorien
-— 187 —<br />
<strong>der</strong> Erfahrung wie Bewegung, Substanz <strong>und</strong> Ursache, <strong>die</strong> allerdings in den<br />
M.A.d.N. eine eigene Rechtfertigung ihrer Apriorität, wenngleich auch<br />
nicht synthetisch a priori, erhalten. Dem stellt Kant reine Prinzipien a<br />
priori <strong>der</strong> Konstruktion gegenüber: Das Substrat <strong>der</strong> Phoronomie<br />
(wenngleich <strong>die</strong> Materie weitgehend auf einen Punkt reduziert) hat <strong>die</strong><br />
Eigenschaft, jeweils für sich als Zentrum eines räumlichen<br />
Koordinantengerüstes gedacht werden zu müssen, <strong>und</strong> kann insofern nur<br />
a priori gedacht werden, was Kant zu komplexen Konstruktionen <strong>der</strong><br />
jeweils spezifischen Räume verschiedener beweglicher Punkte geführt hat.<br />
— Wie <strong>die</strong>s aber zu denken auch nur möglich sein soll, ohne zuvor anhand<br />
<strong>der</strong> eigenen Gestalt eine Orientierung im Raume zustande zu bringen<br />
(woraufhin eine Stellenordnung im Raume überhaupt erst möglich wird),<br />
bliebe mir unverständlich, wenn nicht <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> M. A. d. N. <strong>die</strong><br />
transzendentale Analytik des Verstandesgebrauches vorausgesetzt wäre. 183<br />
Doch hat sich auch gezeigt, daß <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit als Regel <strong>der</strong><br />
Apprehension gar nicht tauglich ist, zwingend auf eine Substanz o<strong>der</strong> auf<br />
ein Objekt zu schließen; das einzige was mit Sicherheit behauptet werden<br />
kann, ist, daß <strong>die</strong>ser Regel <strong>der</strong> Beharrlichkeit in <strong>der</strong> Apprehension keine<br />
einfache Substanz zugr<strong>und</strong>eliegen kann. Also nicht <strong>die</strong> bloße<br />
Denkmöglichkeit eines einzelnen Gegenstandes in <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Logik, 184 o<strong>der</strong> <strong>die</strong> logische Einteilbarkeit des Raumes, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Tat<br />
nicht verän<strong>der</strong>te Merkmale (obgleich im Quantum o<strong>der</strong> im Vorkommen<br />
überhaupt womöglich auch durchaus verän<strong>der</strong>liche bzw. wechselnde<br />
Merkmale) bleiben <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> je<strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong><br />
Erscheinungen <strong>und</strong> nicht ein ontologisch erster Gr<strong>und</strong>. Die analytische<br />
Feststellung, daß sich Verän<strong>der</strong>ung nur an Beharrlichem zeigt, ist nur <strong>die</strong><br />
metaphysische Interpretation <strong>der</strong> logischen Gr<strong>und</strong>lage, um das<br />
Irgendetwas, dem Beweglichkeit im Raum zugeschrieben werden kann, in<br />
zugestehen. Aber im Laufe des weiteren Gedankenganges wird das Bewegliche im<br />
Raum auch im Rahmen seiner Überlegungen zum Argument für <strong>die</strong> Koexstensität<br />
von „Materie“ <strong>und</strong> „Gegenstand <strong>der</strong> äußeren Sinne“. (p. 135, bes. p. 139)<br />
183 Vgl. in <strong>die</strong>sem Abschnitt I, 4.<br />
184 »In <strong>die</strong>sem Falle würde es eine Logik geben, in <strong>der</strong> man nicht von allem Inhalt <strong>der</strong><br />
Erkenntnis abstrahierte; denn <strong>die</strong>jenige, welche bloß <strong>die</strong> Regeln des reinen Denkens<br />
eines Gegenstandes enthielte,würde alle <strong>die</strong>jenigen Erkenntnisse ausschließen,welche<br />
von empirischen Inhalte wären. Sie würde auch auf den Ursprung unserer<br />
Erkenntnisse von Gegenständen gehen, so fern er nicht den Gegenständen<br />
zugeschrieben werden kann [...]« (K. r. V., B 79 f./A 55 f.) Diese Definition wird<br />
sowohl vom grammatikalischen Gegenstand (aus § 12) wie vom logischen<br />
Gegenstand (das Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft im Begriff von einem einzelnen<br />
Gegenstand, in: prototypon transcendentale) erfüllt.
-— 188 —<br />
<strong>der</strong> Anschauung als ein einzelnes Objekt vorzustellen <strong>und</strong> als zu einem<br />
beweglichen Punkt abstrahiert zu denken. Ohne <strong>die</strong> Überlegung <strong>der</strong> Regel<br />
<strong>der</strong> Apprehension bleibt das Ding an sich bloß in Abhängigkeit von <strong>der</strong><br />
ersten metaphysischen Erörterung des Raumes, worin etwas vorausgesetzt<br />
wird, um eine Vorstellung auf etwas außer mir zu beziehen <strong>und</strong> <strong>der</strong>art<br />
gänzlich außerhalb <strong>der</strong> Darstellungsmöglichkeit in <strong>der</strong> reinen<br />
Anschauungsform. Erst im Fortgang <strong>der</strong> Untersuchung zu den<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen von Ursache <strong>und</strong> Dependenz (o<strong>der</strong> eben hier in <strong>der</strong> M.A.d.N.<br />
im Fortgang zur Dynamik) kann dem Schema <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>die</strong><br />
Stellung im Gang <strong>der</strong> objektiven Deduktion verläßlich angewiesen<br />
werden, denn nicht <strong>die</strong> Beharrlichkeit als Regel <strong>der</strong> Apprehension in <strong>der</strong><br />
Erscheinungskonstitution eines Gegenstandes in <strong>der</strong> Anschauung, o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Beharrlichkeit als Eigenschaft einer Kraft <strong>der</strong> Substanz in einer dynamischen<br />
Erklärung, son<strong>der</strong>n das Substrat <strong>der</strong> Beweglichkeit ist <strong>der</strong> Beschreibbarkeit<br />
des objektiven Raumes als dem objektiven Verhältnis <strong>der</strong> Objekte in<br />
<strong>die</strong>sem Raum zuerst vorausgesetzt: An Stelle <strong>der</strong> Substanz als bloß immer<br />
nur gedachtes Substrat des Beharrlichen in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinungen ist<br />
nun das Bewegliche von Seiten <strong>der</strong> konstruktiv vorgehenden Phoronomie<br />
ontologisch als Substrat <strong>der</strong> freilich selbst beharrlichen Bewegung<br />
vorausgesetzt worden. Auch mit <strong>der</strong> Überlegung <strong>der</strong> Frage nach den<br />
geometrischen Darstellungsbedingungen <strong>der</strong> Anschauungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
Objekte beinhalten, wird nur ein erster, wenn auch notwendiger Schritt<br />
zur Objektivierung getan; <strong>der</strong> eigentliche Schritt <strong>der</strong> Setzung des Daseins<br />
außer dem Begriff (als Materie) ist <strong>die</strong> Bestimmung des Substrates als<br />
Bewegliches. Dieser auch ontologisch entscheidende Schritt ist <strong>der</strong><br />
zwingend vorgezeichnete nächste Schritt nach <strong>der</strong> ontologischen<br />
Interpretation <strong>der</strong> ersten metaphysischen Erörterung des Raumes, <strong>der</strong> das<br />
reale Ding in <strong>der</strong> Affinität ohne eigene qualitative Bestimmung außer eben<br />
des Auseinan<strong>der</strong>seins gelassen hat. Die damit verb<strong>und</strong>ene Äußerlichkeit<br />
war aber in <strong>der</strong> transzendentalen Ästhetik als Erscheinung o<strong>der</strong><br />
Erscheinungsform (Anschauungsform) selbst nicht wie<strong>der</strong> erhältlich. Mit<br />
dem notwendigen Prädikat <strong>der</strong> Beweglichkeit wird in <strong>der</strong> Phoronomie<br />
<strong>die</strong>se Schwäche behoben — <strong>und</strong> zwar zuerst unabhängig von <strong>der</strong><br />
Verfassung <strong>der</strong> jeweils gelungenen Geometrisierbarkeit des Raumes, <strong>die</strong><br />
zweifellos Bedingung für eine systematische Bewegungslehre ist. Die<br />
Geometrisierbarkeit des objektiven Raumes wird zunächst aus <strong>der</strong><br />
Geometrisierbarkeit <strong>der</strong> Anschauung nur problematisch erschlossen. Man<br />
kann sagen: auch deshalb kann <strong>die</strong> Beweglichkeit <strong>der</strong> Materie selbst noch<br />
nicht <strong>die</strong> Erklärung für <strong>die</strong> selbstständige <strong>und</strong> wirkliche Einheit des
-— 189 —<br />
Substrates sein. Im ersten Falle <strong>der</strong> Beharrlichkeit als Schema <strong>der</strong><br />
Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen geht es um <strong>die</strong> Konstitution <strong>der</strong><br />
Erscheinung eines Gegenstandes im Fluß <strong>der</strong> Erscheinungen, in zweiten<br />
Falle, wo dessen Substrat zum Beweglichen erklärt wird, geht es schon um<br />
<strong>die</strong> Erfahrung des Verhältnisses zwischen Gegenstände im Raume — <strong>und</strong><br />
zwar auch dann, wenn davon we<strong>der</strong> <strong>die</strong> Erklärung <strong>der</strong> Substanz aus <strong>der</strong><br />
Beharrlichkeit in den Erscheinungen noch im Sinne einer individuellen<br />
wesenslogischen Definition vollständig erfüllt sein kann. Die Darstellung<br />
<strong>der</strong> Bewegung auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Geometrie des Raumes gibt schon<br />
Verhältnisse zwischen wirklichen Dingen <strong>der</strong> Objekte <strong>der</strong> Erfahrung<br />
wie<strong>der</strong>. Doch fehlt <strong>die</strong> Einsicht in <strong>die</strong> Ursache <strong>die</strong>ser Verhältnisse. Hier<br />
sind zwei weitere Schritte ins Auge zu fassen: Dynamik <strong>und</strong> Mechanik.<br />
Kant fügt dem Substrat des Beweglichen in <strong>der</strong> Dynamik eine weitere<br />
Bedingung zu: »Materie ist das Bewegliche im Raum, so fern es einen<br />
Raum erfüllt. Einen Raum erfüllen heißt allem Beweglichen wi<strong>der</strong>stehen,<br />
das durch seine Bewegung in einen gewissen Raum einzudringen bestrebt<br />
ist.« 185 Die Bewegung wird im zweiten Satz zur Bedingung, <strong>die</strong>se<br />
Erfülltheit nachzuweisen. Die Materie ist nicht einfach <strong>die</strong> Raumerfüllung<br />
qua Existenz, »son<strong>der</strong>n durch eine beson<strong>der</strong>e bewegende Kraft«. 186 Diese<br />
»bewegende Kraft« wird Repulsion 187 genannt, <strong>und</strong> ist eigentlich keine<br />
Kraft, <strong>die</strong> auf dem ersten Blick erkennbar mit Bewegung zu tun hätte: sie<br />
erfüllt den Raum, indem sie verhin<strong>der</strong>t, daß an<strong>der</strong>es Bewegliches gänzlich<br />
den bereits eingenommenen Raum besetzt. Bemerkenswert ist <strong>der</strong> erste<br />
Zusatz: »Die expansive Kraft nennt man auch Elastizität«. 188 Aus <strong>der</strong><br />
Erörterung <strong>der</strong> Elastizität, <strong>die</strong> nur gedanklich bis zur absoluten<br />
Undurchdringlichkeit gesteigert werden kann, <strong>und</strong> ihrem Wi<strong>der</strong>spiel, dem<br />
an<strong>der</strong>en Beweglichen, vermag aber keine befriedigende Erklärung <strong>der</strong><br />
Grenze eines Körpers als Gestalt zu entspringen. Die Überlegung <strong>der</strong><br />
185 M.A.d.N., Erklärung 1 <strong>der</strong> Dynamik, A 31<br />
186 cit. op., Lehrsatz <strong>der</strong> Dynamik, A 33. Dieser Satz ver<strong>die</strong>nt deshalb beson<strong>der</strong>e<br />
Beachtung, weil Kant hier den Ausdruck „bewegende Kraft“ eindeutig dynamisch<br />
versteht (daraus wird auch <strong>die</strong> Repulsion), er aber doch <strong>die</strong>sen Ausdruck in <strong>der</strong><br />
Mechanik auch für <strong>die</strong> potentielle Energie des Impulses eines sich träge <strong>und</strong><br />
gleichförmig bewegten Körpers verwendet hat, wo <strong>die</strong> Zweideutigkeit mit <strong>der</strong><br />
spätscholastischen Verwendung desselben Ausdrucks, daß auch ein gleichförmig<br />
bewegter Körper zur Bewegung eine fortwährend gleichmäßig wirkende Ursache<br />
benötige (Buridan), sehr irritierend ist. Es muß aber festgestellt werden, daß Kant in<br />
<strong>der</strong> Mechanik <strong>der</strong> M. A. d. N. im wesentlichen den Ausdruck „bewegende Kraft“<br />
korrekt im Sinne von Impuls verwendet.<br />
187 cit. op., Lehrsatz 2 <strong>der</strong> Dynamik, A 36<br />
188 cit. op,, A 37
-— 190 —<br />
Materie bleibt gewissermaßen auf atomaren Niveau. 189 Dennoch bedenkt<br />
Kant <strong>die</strong> Materie als Gegenstand offensichtlich auch vor dem alternativen<br />
Hinterg<strong>und</strong> phänomenaler Kontinuität <strong>der</strong> Materie: »Materielle Substanz<br />
ist dasjenige im Raume, was für sich, d. i. abgeson<strong>der</strong>t von allem an<strong>der</strong>en,<br />
was außer ihm im Raume existiert, beweglich ist. Die Bewegung eines Teils<br />
<strong>der</strong> Materie, dadurch sie aufhört, ein Teil zu sein, ist <strong>die</strong> Trennung. Die<br />
Trennung <strong>der</strong> Teile <strong>der</strong> Materie ist <strong>die</strong> physische Teilung.« 190 Die Teilung<br />
entstammt dem Ideenkreis des Kontinuums mit dem das Problem <strong>der</strong><br />
infinitesimalen Teilung eines idealen Kontinuums unweigerlich verb<strong>und</strong>en<br />
ist. Die unbefriedigende Offenheit des „atomaren“ Konzeptes in <strong>der</strong><br />
Darstellung <strong>der</strong> Elastizität hingegen stößt auf <strong>die</strong> leibnizianische (<strong>und</strong><br />
nicht zuletzt scholastisch-aristotelische) Schwierigkeit, das ideale vom<br />
realen Kontinuum zu unterscheiden, was mit <strong>der</strong> Repulsion als neu<br />
entdeckter (aber nur seit Demokrit zum dritten Mal wie<strong>der</strong>entdeckte)<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Trennbarkeit im realen Kontinuum in einen offenen<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zum idealen Kontinuum führt. Dieser Wi<strong>der</strong>spruch führt<br />
nun selbst einerseits zwar dazu, rein spekulativ ein reales Kontinuum<br />
anzunehmen, für das Teilbarkeit Trennbarkeit bedeuten; doch wird damit<br />
allein je<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch nicht gänzlich zum Verschwinden gebracht. So<br />
bleibt unverständlich, weshalb Kant hier in <strong>der</strong> fünften Erklärung so tut,<br />
als ginge er immer schon von einem real in einer Gestalt begrenzten<br />
Körpers aus, wenn er von Materie spricht: aber eben <strong>die</strong>se Grenze <strong>der</strong><br />
Abson<strong>der</strong>ung, im Raum als Gestalt verzeichenbar zu sein, wird nicht<br />
abgeleitet, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> fünften Erklärung als Prämisse eingeführt. Die<br />
geometrische Zerlegbarkeit einer Gestalt führt über <strong>die</strong> bloße<br />
(proportionale) Teilung eines Kontinuums hinaus <strong>und</strong> zu selbsständig<br />
definierten (<strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Möglichkeit nach trennbaren) Teilen, so auch<br />
hier: Die Trennbarkeit durch Bewegung (hier durch eine Wegbewegung)<br />
als einfache Folge von <strong>der</strong> Trennbarkeit des hier schon ausgesprochenen<br />
»Physischen« hat nicht notwendigerweise zur Folge, daß nunmehr Materie<br />
eine festumreißbare Gestalt haben soll — keine einfache logische<br />
Konsequenz, son<strong>der</strong>n ein synthetisches Urteil bestimmt, daß <strong>die</strong><br />
Trennbarkeit durch Beweglichkeit eines Teiles <strong>der</strong> Materie mit <strong>der</strong><br />
Einführung <strong>der</strong> rein geometrisch darstellbaren Teilen einer Gestalt <strong>der</strong><br />
anschaulich umrissenen Materie in abstrakter Ü bere in stimmu ng steht.<br />
189 Bezüglich des Unterschiedes von Atom <strong>und</strong> phänomenaler Materie vgl. z. B.: Karl<br />
Vogel, Kant <strong>und</strong> <strong>die</strong> Paradoxien <strong>der</strong> Vielheit, Meisenheim/Glan 1975, hiezu p. 167 ff.<br />
190 M.A.d.N., Erklärung 5 <strong>der</strong> Dynamik, A 43
-— 191 —<br />
Im fünften Lehrsatz führt Kant <strong>die</strong> Attraktion ein; 191 ohne Attraktion <strong>und</strong><br />
Repulsion sei keine Materie möglich. 192 Kant prolongiert das schon<br />
bekannte Stück zwischen Repulsion <strong>und</strong> an<strong>der</strong>em Beweglichen unter dem<br />
neuen Titel »Attraktion <strong>und</strong> Repulsion«. Im »Allgemeinen Zusatz« 193 wird<br />
<strong>der</strong>en Verhältnis unter den Titel <strong>der</strong> Limitation gebracht, welches eben <strong>die</strong><br />
geometrisch als Gestalt bzw. Figur verzeichenbare Grenze zwingend zur<br />
Folge haben soll. Die Analogie zur zweiten Kategorientafel (Qualität <strong>und</strong><br />
Intensität) tritt zwar schlagend ins Bewußtsein, allein eine Erklärung , wie<br />
nun <strong>die</strong> Beharrlichkeit als Schema <strong>der</strong> Apprehension zu einem <strong>der</strong>art<br />
zugerichteten Substrat kommen solle, wird nicht geleistet. We<strong>der</strong> vermag<br />
<strong>die</strong> <strong>der</strong>art bestimmte Grenze eine Erklärung für <strong>die</strong> Gestalt beson<strong>der</strong>er<br />
Materien zu sein, weil hier <strong>die</strong> Materie nach ihrer Abstraktion zum<br />
beweglichen Punkt in <strong>der</strong> Phoronomie in voller Plastizität nur als Produkt<br />
von Wi<strong>der</strong>ständigkeit (Repulsion) <strong>und</strong> äußerlicher Krafteinwirkung<br />
gedacht wird, 194 noch hat das Beharrliche als primitives Schema <strong>der</strong><br />
Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen selbst <strong>die</strong> Eigenschaft <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong><br />
empirischen synthesis speciosa an sich, welche in <strong>der</strong> Anschauung allererst<br />
Figuren verzeichnet. So dürfte <strong>die</strong> Repulsion als beharrlich wirkende<br />
»bewegliche Kraft« eben nur als <strong>die</strong> »physische« Ursache für <strong>die</strong><br />
ontologische Interpretation <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz in Betracht<br />
kommen. Zur dynamischen Erklärung <strong>der</strong> Phoronomie, <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong>lage<br />
von Aussagen über wirkliche Verhältnisse zwischen den Objekten selbst<br />
(Mechanik), hat <strong>die</strong> obige Überlegung zwischen Repulsion <strong>und</strong> Attraktion<br />
aber nicht zugereicht, auch würde man <strong>die</strong> Schwäche in <strong>der</strong> Darstellung<br />
<strong>der</strong> Attraktion supplieren. Was geleistet worden ist, kann knapp mit<br />
Anfangsgründe einer dynamischen Erklärung umrissen werden.<br />
Um <strong>die</strong> dynamische Erklärung <strong>der</strong> Phoronomie zu vervollständigen, ist<br />
also <strong>die</strong> Mechanik, als <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>der</strong> dynamischen Verhältnisse<br />
zwischen den Substraten <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>und</strong> Beweglichkeit,<br />
notwendig. Deren erste Erklärung lautet: »Materie ist das Bewegliche,<br />
sofern es, als ein solches, bewegende Kraft hat.« 195 Immerfort ist es das<br />
Bewegliche, das das Zentrum <strong>der</strong> Definition ausmacht. 196 Nunmehr meint<br />
191 cit. op., A 52 f.<br />
192 cit. op., Lehrsatz 6 <strong>der</strong> Dynamik, A 57<br />
193 cit. op., A 81<br />
194 Allerdings reichen <strong>die</strong> Bestimmungsstücke Kants aus, eine erste Hypothese zu<br />
planetaren Nebeln <strong>und</strong> <strong>der</strong> Entstehung von Sonnen <strong>und</strong> Planeten zu bilden.<br />
195 M.A.d.N., A 106<br />
196 So auch noch in <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Phänomenologie
-— 192 —<br />
Kant mit dem Ausdruck »bewegende Kraft« wohl nicht mehr <strong>die</strong><br />
Repulsion, obwohl eine raumerfüllende Kraft implizite vorauszusetzen ist.<br />
Es bleibt zuerst <strong>die</strong> Frage, ob Kant damit <strong>die</strong> Attraktion als Ursache <strong>der</strong><br />
Bewegung, o<strong>der</strong> doch schon mit dem Ausdruck »bewegende Kraft«<br />
eindeutig den Impuls im Stoß zwischen zwei Körpern idealer Elastizität 197<br />
bezeichnen wollte. In <strong>der</strong> Anmerkung wird deutlich, daß er <strong>die</strong> Attraktion<br />
nicht weiter behandelt son<strong>der</strong>n als Ursache <strong>der</strong> Bewegung den Stoß<br />
ansieht: <strong>die</strong> »Erteilung« <strong>der</strong> Bewegung erfolgt durch <strong>die</strong> Repulsion . 198<br />
Unter <strong>der</strong> Mitteilung <strong>der</strong> damit übermittelten Kraft kann demnach wohl<br />
nur mehr <strong>der</strong> Impuls im Stoß in Betracht zu ziehen sein.<br />
Von einer weiteren Untersuchung <strong>der</strong> M.A.d.N. wird hier abgesehen; es<br />
muß <strong>die</strong> Erörterung bis hierher auch ohne strengen Beweis zureichen, um<br />
überzeugend aufzuzeigen, daß trotz <strong>der</strong> hier schon ersichtlich gewordenen<br />
neuen Problematik eines realen Kontinuums (also unabhängig von<br />
intellektuellen o<strong>der</strong> sinnlichen Kontinuitätskriterien) mit <strong>der</strong> Phoronomie<br />
<strong>der</strong> entscheidende Schritt getan worden ist, um den dynamischen<br />
Kategorien in <strong>der</strong> K. r. V. den Bezug auf objektiv reale Verhältnisse<br />
zwischen den Dingen <strong>der</strong> Objekte <strong>der</strong> Erfahrung zu sichern. Es sind<br />
zweifellos identifizierbare Objekte, <strong>die</strong> mit dem Gr<strong>und</strong>satz des<br />
Beharrlichen als Begriff des Schemas <strong>der</strong> Apprehension gesucht werden,<br />
wie <strong>die</strong>, <strong>die</strong> nach dem Gr<strong>und</strong>satz des Substrats des Beweglichen gesucht<br />
werden. — Während das Substrat des Beharrlichen in den Erscheinungen<br />
allein mittels <strong>der</strong> einschränkenden Regel <strong>der</strong>en Zeitreihe gedacht wird,<br />
setzt das Substrat des Beweglichen bei Kant bereits einen objektiven<br />
(geometrisierbaren) Raum voraus. Die dynamische Erklärung in den<br />
M. A. d. N. bleibt aber selbst dann, wenn an Stelle einer gleichbleibenden<br />
<strong>und</strong> unbeschleunigten Bewegung <strong>die</strong> Attraktion als Ursache in Stellung<br />
gehalten wird, <strong>und</strong> nur <strong>die</strong> Wirkung <strong>der</strong> durch Attraktion erteilten<br />
Bewegung, <strong>die</strong> im Stoß liegt, untersucht werden soll, letztlich<br />
unbefriedigend. Dieser Mangel liegt nicht in architektonisch motivierten<br />
Selbstbeschränkungen, <strong>die</strong> im transzendentalen Idealismus o<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Idee <strong>der</strong> Mathesis ihren Gr<strong>und</strong> haben, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> nicht ausreichend<br />
geklärten ursprünglichen Verbindung <strong>und</strong> entwickelten Unterscheidung<br />
von Repulsion <strong>und</strong> Attraktion im Zuge <strong>der</strong> Klassifizierung bei<strong>der</strong> als<br />
»bewegende« Kraft (R. G. Boskovic).<br />
197 M.A.d.N., Anmerkung 2, A 41. »Die absolute Undurchdringlichkeit ist in <strong>der</strong> Tat<br />
nichts mehr, o<strong>der</strong> weniger, als qualitas occulta.«<br />
198 cit. op., A 107
-— 193 —<br />
c) Das Dasein vor <strong>der</strong> Unterscheidung in subjektive <strong>und</strong> objektive<br />
Realität als ursprüngliches Substrat <strong>und</strong> eigentlicher Gegenstand<br />
<strong>der</strong> Transzendentalphilosophie<br />
Auf <strong>die</strong> antagonistische Struktur <strong>der</strong> bisherigen Untersuchungsgänge in<br />
<strong>die</strong>sem Teil (Substanz <strong>und</strong> Beharrlichkeit) des zweiten Abschnitts möchte<br />
ich eigens hinweisen: Vom sechsten Kapitel bis zum achten Kapitel wurde<br />
<strong>die</strong> subjektive Realität ausgehend von <strong>der</strong> Subreption des Substanzbegriffs<br />
im Paralogismus (A 401) <strong>und</strong> im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz (B 225) bis hin<br />
zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins behandelt. Hier im<br />
zwölften Kapitel wurde hingegen als erstes Kriterium <strong>der</strong> objektive<br />
Realität <strong>die</strong> Beweglichkeit <strong>der</strong> Materie erkannt, <strong>und</strong> zwar als ursprünglich<br />
phoronomisches Merkmal. Diese Dichtonomie ist eine ursprüngliche, denn<br />
sie verzichtet sowohl auf <strong>die</strong> Dynamik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mechanik wie auf <strong>die</strong><br />
Teleologie in Biologie <strong>und</strong> Ethik. Es bleibt <strong>die</strong> Bifurkation des<br />
Untersuchungsganges insofern innerhalb <strong>der</strong> Sinnlichkeit: es handelt sich<br />
einmal um eine Untersuchung des inneren <strong>und</strong> einmal um eine<br />
Untersuchung des äußeren Sinnes.<br />
Es konnte weiters gezeigt werden, daß <strong>die</strong> Untersuchung des inneren<br />
Sinnes eine Alternative besitzt, <strong>die</strong> Kant selbst herbeiführt. In den<br />
untersuchten Zitaten wurde klar <strong>und</strong> deutlich, daß Kant den Begriff vom<br />
Dasein nicht nur neutral für das subjektive wie für das objektive Dasein<br />
verwendet. Kant verwendet den Begriff vom Dasein einmal als Quelle des<br />
Begriffes <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz jenseits <strong>der</strong> kategorialen<br />
Bestimmung aus dem Vergleich von Erscheinungsreihe <strong>und</strong><br />
Vorstellungsreihe, weil <strong>der</strong> Begriff von <strong>der</strong> Substanz bekanntlich mit dem<br />
Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit wegen dessen kontradiktorischen Verbindung<br />
zum Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit eigentlich nichts, <strong>und</strong> als einfache<br />
Substanz sicherlich nichts zu tun haben sollte. Hier werden <strong>die</strong><br />
f<strong>und</strong>amentalontologischen Bestimmungen des Daseins mit den<br />
ontologischen Bestimmungen <strong>der</strong> Substanz konf<strong>und</strong>iert, wenn nicht<br />
letztere aus ersterem als abgeleitet vorgestellt. Anzumerken ist, daß <strong>die</strong>se<br />
Art von Ableitung als <strong>die</strong> transzendentalsubjektivistische Variante <strong>der</strong><br />
aristotelischen ersten Ursache bei Thomas von Aquin anzusehen ist.<br />
An<strong>der</strong>erseits führt Kant in <strong>der</strong> ersten Fassung A noch deutlicher als in <strong>der</strong><br />
zweiten Fassung B aus, daß das gesuchte synthetische Urteil a priori eine<br />
Relation nicht nur zwischen Vorstellungen des affizierten Subjekts,<br />
son<strong>der</strong>n zwischen daseienden Objekten auszudrücken habe. We<strong>der</strong> das<br />
eine noch das an<strong>der</strong>e entspricht dem durchschnittlichen Gebrauch des
-— 194 —<br />
Begriffes vom Dasein in den Texten Kants. Es ist also nicht möglich, sich<br />
einfach für eine bestimmte Version <strong>der</strong> Begriffsverwendung zu<br />
entscheiden; das Dasein gewinnt in beiden komplementären<br />
Interpretationen <strong>die</strong> Qualität, für <strong>die</strong> jeweils eigentlich ursprüngliche<br />
Existenzweise stehen zu können. Der transzendentalpsychologische<br />
Standpunkt liefert aber nicht den ontologisch ursprünglicheren, son<strong>der</strong>n<br />
den methodologisch ursprünglicheren Begriff vom Dasein. In <strong>die</strong>sen<br />
Rahmen versteht sich <strong>der</strong> Begriff vom Dasein<br />
transzendentalsubjektivistisch als ursprünglicher <strong>und</strong> beginnt den Gr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Existenz von <strong>der</strong> Evidenz des »ich denke« ausgehend zu okkupieren.<br />
Das kann gelingen, weil <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen gezeigt<br />
haben, daß es keinen substantialen Begriff <strong>der</strong> individuellen Seele gibt,<br />
weshalb von da aus <strong>die</strong> subjektive Realität des Daseins nicht verlassen<br />
werden kann. Die Ursprünglichkeit <strong>der</strong> ursprünglich-synthetischen<br />
Einheit <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption ist aber nicht mit einer<br />
naturontologischen o<strong>der</strong> intelligiblen Ursprünglichkeit überbietbar.<br />
Der Übergang von <strong>der</strong> reinen (theoretischen) Vernunft zur praktischen<br />
Vernunft hinterläßt ein Desi<strong>der</strong>at, das in <strong>der</strong><br />
transzendentalpsychologischen Fassung des Daseins in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />
reinen Vernunft (es könnte ebenso von einer eingeschränkten<br />
transzendentalsubjektivistischen Fassung <strong>der</strong> Seelenlehre auf<br />
Erkenntnisvermögen <strong>die</strong> Rede sein) schon unabhängig von <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />
Urteilskraft <strong>die</strong> Frage aufwirft, ob dem Begriff vom Dasein nicht eine<br />
existenzialistische Fassung von Existenz, <strong>und</strong> a fortiori, ob <strong>die</strong>ser Fassung<br />
des Begriffs vom Dasein eine f<strong>und</strong>amentalontologische Relevanz im Sinne<br />
Heideggers gegeben werden kann, <strong>die</strong> von <strong>der</strong> Kantschen Kritik <strong>der</strong><br />
transzendentalen Dialektik, <strong>die</strong> eben nur hinsichtlich des Überganges <strong>der</strong><br />
reinen Vernunft zur reinen praktischen Vernunft einen Ausgang aus dem<br />
transzendentalen Subjektivismus in den Gattungssubjektivismus findet,<br />
nicht erreicht werden konnte. Inwieweit es sich um einen Vorteil in <strong>der</strong><br />
Entwicklung <strong>der</strong> ganzen transzendentalen Argumentation handelt, indem<br />
es sich um eine bislang von <strong>der</strong> rationalen Metaphysik trotz <strong>der</strong><br />
Vereinbarungsversuche von Aristoteles (Thomas) <strong>und</strong> Augustinus<br />
(Bonaventura) bei Kant vernachlässigte Seite des Stoizismus handeln<br />
könnte, o<strong>der</strong> ob es sich um einen Nachteil handelt, weil sowohl <strong>die</strong><br />
Problemstellungen <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft (Ästhetik <strong>und</strong> Teleologie)<br />
wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Sittengesetz) verfehlt werden,<br />
das kann nicht einfach entschieden werden. Diese Fragestellung zu
-— 195 —<br />
untersuchen, hätte an <strong>der</strong> Frage »wie ich bin« in § 25 <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Deduktion anzusetzen, <strong>und</strong> wäre mit <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> scharfen Trennung<br />
von pathologischen Begehren <strong>und</strong> <strong>der</strong> praktischen Vernunft als oberstes<br />
Begehrungsvermögen fortzusetzen, ohne dabei <strong>die</strong> Gründe einer solchen<br />
starken Gegenüberstellung in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Natur des Willens <strong>und</strong><br />
nach seiner Bestimmbarkeit aufheben zu wollen o<strong>der</strong> zu können. Das<br />
eigentliche Ziel <strong>der</strong> Philosophie wäre demnach <strong>die</strong> Bedingungen des<br />
reinen Willens ausfindig zu machen. Insofern stellt sich anhand <strong>die</strong>ser<br />
psychologischen Komponente <strong>die</strong> Willensphilosophie als erste<br />
F<strong>und</strong>amentalontologie dar, <strong>die</strong> freilich unter an<strong>der</strong>en Voraussetzungen<br />
eine solche genannt zu werden ver<strong>die</strong>nt, als das <strong>der</strong> Absicht nach <strong>und</strong> in<br />
<strong>der</strong> Tat umfassen<strong>der</strong>e Projekt einer F<strong>und</strong>amentalontologie wie es<br />
Heidegger ins Werk gesetzt hat. Dessen F<strong>und</strong>amentalontologie setzt we<strong>der</strong><br />
eine Naturphilosophie noch eine Ethik voraus, steht aber in <strong>der</strong> Tradition<br />
Descartes <strong>und</strong> des Subjektivismus <strong>der</strong> Transzendentalphiosophie, auch<br />
wenn Heidegger vermeint, wegen seiner Daseins- <strong>und</strong> Seinshermeneutik<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> übrigens zurecht kritischen Behandlung des Anwesens im<br />
Rahmen seiner »Destruktion« <strong>der</strong> Metaphysik <strong>und</strong> des<br />
Geschichtsbegriffes, sich über seine Quellen erheben zu können.
-— 196 —<br />
III. SEIN UND DASEIN<br />
14) Zur ursprünglichen Bedeutung des Gr<strong>und</strong>es<br />
Es gibt noch eine an<strong>der</strong>e Definition des Gr<strong>und</strong>es als <strong>die</strong> von Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Folge o<strong>der</strong> von Ursache <strong>und</strong> Wirkung, <strong>die</strong> zu behandeln ich nach dem<br />
Verlauf <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Begriffe von Substanz <strong>und</strong> Kausalität im<br />
vorhergehenden Teiles des zweiten Abschnittes für nötig halte. Dort hat<br />
sich gezeigt, daß im Gr<strong>und</strong>e des Begriffs von <strong>der</strong> Substanz eine nicht<br />
abzuwendende fortwährende Verwechslung (Amphibolie) von Objekt <strong>und</strong><br />
Subjekt stattfindet, <strong>die</strong> erst anhand <strong>der</strong> Untersuchung des dynamischen<br />
Begriffes <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Wirkung einer Kraft (<strong>der</strong> selbst nicht unter<br />
<strong>die</strong> Definition des Beharrlichen aus <strong>der</strong> Apprehension fallen kann)<br />
vollständig hervorgetreten ist. Nachdem ich erstens im Kap. 13 (Realität<br />
<strong>und</strong> Objektivität) <strong>die</strong> Beharrlichkeit durch <strong>die</strong> Beweglichkeit ersetzt habe,<br />
um <strong>die</strong> Mindestbedingung für <strong>die</strong> objektive Realität, somit auch den<br />
Gr<strong>und</strong>, den <strong>der</strong> Subreption zwischen Beharrlichkeit des Daseins <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Beharrlichkeit in den Erscheinungen einer Substanz entspringenden<br />
dialektischen Schein wenigstens in <strong>der</strong> Konsequenz als objektiv zu<br />
rechtfertigen, <strong>und</strong> zweitens zuvor im Kap. 8 (Ideales <strong>und</strong> reales<br />
Zugleichsein) das ideale Zugleichsein gegenüber dem realen Zugleichsein<br />
anhand einer mathematischen Argumentation <strong>der</strong> Bedingungen einer<br />
reiner Anschauung diskutiert habe, erscheint es mir für unabdingbar,<br />
wenigstens das Nötigtste zur Beharrlichkeit des Daseins unabhängig von<br />
<strong>der</strong> diskutierten Subreption im Paralogismus <strong>und</strong> im metaphysischen<br />
Abschnitt des synthetischen Gr<strong>und</strong>satzes des Verstandesbegriffes <strong>der</strong><br />
Substanz zu sagen.<br />
Am Anfang stehen Urgr<strong>und</strong>, Abgr<strong>und</strong>, Ungr<strong>und</strong>, <strong>die</strong> Heidegger im<br />
Versuch heranzieht, den Ursprung des Raumes im Da des Ereignisses als<br />
Einheit von Raum <strong>und</strong> Zeit (als <strong>die</strong> selbst wie<strong>der</strong> abzugrenzende Offenheit<br />
des reinen Zeit-Raumes des Ereignisses) durch eine möglichst große<br />
Mannigfaltigkeit an Folgeerörterungen zu begründen. Das hängt mit <strong>der</strong><br />
gr<strong>und</strong>sätzlich hermeneutischen Anlage des Ansatzes von Heidegger<br />
zusammen. 199 Das Ereignis selbst wird wie<strong>der</strong>um nur als Ankündigung<br />
verstanden. — Die deictische Interpretation des Da, <strong>die</strong><br />
transzendentalsubjektivistisch <strong>der</strong> seinshemeneutischen Interpretation<br />
199 Martin Heidegger, GA, Bd. 65: Vom Ereignis, p. 371 ff. (Der Zeit-Raum als <strong>der</strong> Abgr<strong>und</strong>)
-— 197 —<br />
auch bei Wittgenstein vorausgesetzt bleibt, 200 stellt freilich von Anfang an<br />
eine gegenläufige Ergänzung <strong>die</strong>ser konkreten Daseinsinterpretation dar.<br />
Dieser Strang <strong>der</strong> Deutung eines Begriffs vom Gr<strong>und</strong> denkt den Gr<strong>und</strong><br />
aber we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> einen noch in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Fassung in Verbindung mit<br />
einer bestimmten Folge. Entscheidend ist, daß in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />
<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> nicht als Gr<strong>und</strong> einer Folge wie auch <strong>die</strong> Ursache <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong><br />
einer Wirkung ist, zu verstehen ist, son<strong>der</strong>n wie das F<strong>und</strong>ament eines<br />
Hauses o<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> Boden, auf dem man geht. We<strong>der</strong> das Haus noch das<br />
Gehen ist eine Folge des Gr<strong>und</strong>es, <strong>die</strong>ser aber ist ursprünglicher Gr<strong>und</strong> in<br />
<strong>der</strong> Offenheit des F<strong>und</strong>amentes für weiteres. So ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
unbedingte Bedingung, aber doch nicht bloß Bedingung als eine<br />
notwendig hinzutretende weitere Ursache, damit eine Gruppe von<br />
Wirkenden als Ursachen eine bestimmte Wirkung zustandebringen,<br />
son<strong>der</strong>n ist selbst ein wesentliches Merkmal des primären je schon<br />
existierenden Gegenstandes als Substanz <strong>der</strong> wirkenden Kausalität o<strong>der</strong><br />
als <strong>die</strong> Wirkung empfangende Substanz, das völlig unabhängig von einer<br />
spezifizierbaren Relation zwischen <strong>die</strong>sen beiden Polen <strong>der</strong> Substanz<br />
bleibt. So ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> im Sinne eines F<strong>und</strong>amentes vor allen an<strong>der</strong>en<br />
Bedingungen dessen, was geschieht, ausgezeichnet <strong>und</strong> von den Ursachen,<br />
welche eine Folge, wie weit <strong>der</strong>en Folge von Folgen etc. auch immer<br />
reichen mag, determinieren, ebenso verschieden wie von logischen<br />
Gründen, <strong>die</strong> formal Konsequenzen implizieren. Diese Auffassung des<br />
Gr<strong>und</strong>es (auch als Materie zur Einbildung <strong>der</strong> Idee <strong>und</strong> das Ding an sich<br />
als wirklicher Gegenstand, dem unsere Vorstellungen von ihm gleichgültig<br />
sind, <strong>und</strong> so schlechthin eben nicht unsere — betrachtende — Vorstellung<br />
von ihm »verursacht«) läßt sich nicht weiter nach Raum <strong>und</strong> Gegenstand<br />
unterscheiden. — Das Bewußtsein als Ereignis steht nun selbst im<br />
Horizont <strong>die</strong>ser naturalistischen Offenheit, »versteht« aber das, was<br />
geschieht, als Ankündigung. Obwohl Heidegger den Zeit-Raum zwischen<br />
dem eigentlichen, erst zu erwartenden Ereignisses <strong>und</strong> seiner Vorboten als<br />
Existenzialien in <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Anthropologie gereinigten<br />
F<strong>und</strong>amentalontologie spätestens ab dem daseinshermeneutischen<br />
Wahrheitsproblem mit kategorialen Bestimmungen <strong>der</strong> »Seynsgeschichte«<br />
in Zusammenhang bringt, bin ich <strong>der</strong> Auffassung, daß <strong>die</strong> damit zuvor<br />
von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hand vollzogene Abwerbung anthropologischer<br />
Qualitäten nur literarisch nachzuvollziehen sei: Zuvor hat man<br />
200 Beilage zum Kongress in Wien 1985 (?); Wittgensteins »Zeigen« verschiedener<br />
Ordnung (201)
-— 198 —<br />
Anwesenheit nur in Zusammenhang von Dasein mit Seienden gedacht,<br />
nun sei das, was west, in seinem Gr<strong>und</strong>e selbst schon als Ankündigung<br />
eines Ereignisses zu befragen. Das Ereignis enthüllt einen Teil dessen, was<br />
west. Das Ereignis wird damit aber zum Ereignis <strong>der</strong> bloßen Ankündigung<br />
eines womöglich erst eigentlichen Ereignisses, während <strong>die</strong> Wahrheit <strong>der</strong><br />
Ankündigung noch zu <strong>die</strong>sem gewissen augenblicklich zeitigenden<br />
Ereignis gemacht wird, dessen Folgen offensichtlich notwendig<br />
mitgegeben worden sind, ohne alle Folgen (das ganze Ereignis selbst)<br />
gleich mitzuoffenbaren. 201 Für Heidegger erzeugt <strong>die</strong> Spannung zwischen<br />
Ankündigung <strong>und</strong> Ereignis mit dem Zeit-Raum auch den Raum vor je<strong>der</strong><br />
Geometrisierung <strong>und</strong> glaubt sich wohl dabei noch auf sein<br />
existenzialistisches Konzept des Strukturganzen <strong>der</strong> Sorge aus Sein <strong>und</strong><br />
Zeit stützen zu können, obgleich <strong>die</strong> Verfallenheit <strong>der</strong> Innerweltlichkeit an<br />
das »man« gerade als Ontologisierung <strong>der</strong> Sozialisierung es für das<br />
ursprünglich Ontische immanent unmöglich macht, zu erscheinen. 202 Diese<br />
Schwierigkeit Heideggers könnte ihn allerdings komplementär dazu<br />
verführt haben, gerade <strong>die</strong> Amphibolie zwischen Ontik <strong>und</strong> Ontologie<br />
anzugehen, <strong>der</strong>en Schein ihm schließlich gestattet hat, <strong>die</strong> Anthropologie<br />
aus <strong>der</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie in Schritten (erstes Kantbuch, Wahrheit als<br />
Unverborgenes) zu entfernen <strong>und</strong> damit auch gerade durch <strong>die</strong><br />
Herstellung <strong>die</strong>ser Indifferenz zwischen Sein <strong>und</strong> Wahrheit den Horizont<br />
des Daseins zu ontologisieren.<br />
Man mag ein Gedächtnis in <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Seienden im Sinne einer<br />
physikalistischen Informationstheorie, o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Kybernetik<br />
systemtheoretisch darstellbarer Verhältnisse den Ansatz einer<br />
depotenzierten Teleologie vermuten, eine weitere Beschreibung mit Hilfe<br />
<strong>der</strong> vom subjektiven Dasein abgeworbenen anthropologischen, aber<br />
existenzial-allgemein ausgesprochenen Kategorien halte ich in <strong>die</strong>sem<br />
201 Michael Benedikt, Glauben <strong>und</strong> Wissen, Wien 1975, §§ 65-66<br />
202 Ich unterschlage hier zunächt <strong>die</strong> hermeneutische Definition des Daseins Heideggers<br />
in Sein <strong>und</strong> Zeit (S. 7), worin das Stellenkönnen <strong>der</strong> Frage nach dem Seinsgr<strong>und</strong> zu<br />
einer <strong>der</strong> wesensbestimmenden Seinsmodi des Daseins gehört. Ich unterschlage<br />
<strong>die</strong>sen in <strong>der</strong> Tat wesentlichen Aspekt an <strong>die</strong>ser Stelle aus zwei Gründen: Erstens,<br />
weil <strong>der</strong> Zielpunkt <strong>der</strong> transzendentalanalytischen Untersuchung in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong><br />
ersten Kritik primär nicht selbst allein <strong>der</strong> Seinsgr<strong>und</strong> des subjektiven Daseins ist,<br />
<strong>und</strong> zweitens, weil Heidegger in <strong>der</strong> Schrift »Vom Ereignis« den Abgr<strong>und</strong> —<br />
fälschlicherweise — dazu benützt, eine Rede vom An-sich-Seienden einzuführen.<br />
Fälschlicherweise deshalb, weil <strong>der</strong> Abgr<strong>und</strong> doch <strong>der</strong> Alternative von Wahrheit <strong>und</strong><br />
im Irrtum-Stehen überhaupt zu Gr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> so Angelegenheit des Fragen<br />
stellenden Daseins ist (Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus II, Turia <strong>und</strong><br />
Kant Wien 1998, Kap. VIII, p. 88 ff.)
-— 199 —<br />
Zusammenhang für unstatthaft. Das »Da« ist nicht selbst ein irgendwie<br />
ursprünglich als solcher konkret für sich Realität besitzen<strong>der</strong> Horizont<br />
eines Ereignisses in seynsgeschichtlicher Betrachtung, <strong>der</strong> unabhängig<br />
vom Zusammenhang unter den Seienden wäre, son<strong>der</strong>n wird vom Dasein<br />
allererst als solches in deicitischer Absicht ausgesprochen .<br />
Ohne Intentionalität ist ein Da, nach seinem Wesen näher befragt, gerade<br />
nicht möglich. Der Übergang vom substantialen Wesen des Anwesens im<br />
Dasein zum, <strong>die</strong> vergehende Zeit vorbringenden Verb des wesens , das ein<br />
Anwesen im selben Dasein nicht länger voraussetzt son<strong>der</strong>n sich mit <strong>der</strong><br />
Ankündigung zufrieden gibt, kann <strong>die</strong> transzendentale Differenz zwischen<br />
cartesianischen Subjektivismus <strong>und</strong> Ontologie nicht überwinden, son<strong>der</strong>n<br />
vermag <strong>die</strong>se nur zu verschieben. Heidegger kann erstens keinen<br />
überzeugenden Gr<strong>und</strong> angeben, weshalb <strong>die</strong> Zeitlichkeit des gebrauchten<br />
Verbs selbst schon a priori objektive Geltung in jedem Falle beanspruchen<br />
können muß. Zweitens kann deshalb objektive Realität von einer solchen<br />
Aussage trotz <strong>der</strong> grammatikalischen Verlagerung <strong>der</strong><br />
transzendentallogischen Untersuchung nicht erwartet werden.<br />
Drittens kann kein überzeugen<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en werden, weshalb das<br />
Dasein selbst im Da f<strong>und</strong>iert sein sollte. Auch aus <strong>die</strong>sen Gründen gehe ich<br />
hier mit Kant in <strong>der</strong> transzendentalen Analytik vom empirischen<br />
Bewußtsein in <strong>der</strong> gemachten Erfahrung <strong>und</strong> konsequent vom Dasein des<br />
betrachtenden Subjekts aus.<br />
15) Zwei Öffnungen des Daseinshorizontes bei Heidegger<br />
Heidegger bestimmt in Sein <strong>und</strong> Zeit das Dasein hermeneutisch als<br />
dasjenige Sein, daß (unter an<strong>der</strong>em) den Seinsmodus des Fragens nach <strong>der</strong><br />
eigenen Existenz zur Wesensbestimmung hat. Zwischen Urgr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Ungr<strong>und</strong> einerseits <strong>und</strong> dem Horizont <strong>der</strong> Erscheinung als <strong>der</strong>en<br />
Ankündigung nach <strong>der</strong> Wende von <strong>der</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie zur<br />
Seynsgeschichtlichkeit im Spätwerk an<strong>der</strong>erseits ist aber vom Kantschen<br />
Paralogismus ausgehend (synthetisch-metaphysische Methode versus<br />
transzendentalanalytische Methode) <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie<br />
Heideggers nur als ontologische Anmaßung zu verstehen möglich, 203<br />
203 K.r.V., »Nehmen wir nun unsere obigen Sätze, wie sie auch für alle denkenden<br />
Wesen gültig, in <strong>der</strong> rationalen Psychologie als System genommen werden müssen,<br />
in synthetischem Zusammenhange, <strong>und</strong> gehen, von <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Relation, mit<br />
dem Satze: alle denkenden Wesen sind, als solche, Substanzen, rückwärts <strong>die</strong> Reihe<br />
<strong>der</strong>selben, bis sich <strong>der</strong> Zirkel schließt, durch, so stoßen wir zuletzt auf <strong>die</strong> Existenz
-— 200 —<br />
allerdings ohne, wie bei Christian Wolff auch, darin eine Gelegenheit zur<br />
Definition <strong>der</strong> Differenz von Ontologie <strong>und</strong> Ontik erblicken zu können. 204<br />
Die vorhin skizzierte späte Auffassung Heideggers entspricht eben nicht<br />
<strong>der</strong> allgemein bekannten Aufstellung des Problems des Daseins, wie man<br />
sie insbeson<strong>der</strong>e aus Sein <strong>und</strong> Zeit kennt, doch führt schon <strong>die</strong> frühere<br />
Fassung selbst zu einer Grenze, <strong>die</strong> das Dasein ontologisch damit belastet,<br />
<strong>der</strong> einzige Ursprung <strong>der</strong> Geschichte zu sein. Hier wäre zuvor Platz für<br />
einen Hinweis auf den vorhin vorgestellten hermeneutischen <strong>und</strong> somit<br />
selbst unbedingten subjektiven Hintergr<strong>und</strong> des Daseins in <strong>der</strong><br />
F<strong>und</strong>amentalontologie. Ich folge i. a. in <strong>der</strong> Kurzdarstellung <strong>die</strong>ser<br />
Schwierigkeit <strong>der</strong> Auffassung von Jeffrey Barash. 205<br />
Die Diskussion um Heideggers Auffassung von Hermeneutik sieht sich<br />
folgendem Hintergr<strong>und</strong> gegenüber: Der Neukantianismus leitet <strong>die</strong><br />
geschichtliche Wahrheit werttheoretisch aus reinen<br />
Individualitätsbegriffen ab; Dilthey f<strong>und</strong>iert das Geschichtsverständnis in<br />
<strong>der</strong> psycho-physischen Einheit von Erlebniszusammenhängen; <strong>die</strong><br />
(Heidegger: französischen) Positivisten vermuten Zusammenhänge nach<br />
dem Vorbild <strong>der</strong> Naturgesetze (p. 63). Ich denke, daß Heidegger mit seiner<br />
Kritik am Begriff des Geschichtlichen vom Individualitätsbegriff des<br />
Neukantianismus ausgehend erst <strong>die</strong> hermeneutischen Prinzipien<br />
Diltheys, <strong>die</strong>se selbst modifizierend, gegen den naiv-empiristischen<br />
Positivismus in Stellung bringt: »Die Frage, ob <strong>die</strong> Historie nur <strong>die</strong><br />
Reihung <strong>der</strong> einmaligen, „individuellen“ Begebenheiten o<strong>der</strong> auch<br />
<strong>der</strong>selben [...] Hieraus folgt aber, daß <strong>der</strong> Idealism in eben demselben<br />
rationalistischen System unvermeidlich sei, wenigstens <strong>der</strong> problematische, <strong>und</strong>,<br />
wenn das Dasein äußerer Dinge zu Bestimmung seines eigenen in <strong>der</strong> Zeit gar nicht<br />
erfor<strong>der</strong>lich ist, jenes auch nur ganz umsonst angenommen werde, ohne jemals einen<br />
Beweis davon angeben zu können. Befolgen wir dagegen das analytische Verfahren,<br />
da das Ich denke, als ein Satz, <strong>der</strong> schon ein Dasein in sich schließt, als gegeben,<br />
mithin <strong>die</strong> Modalität, zum Gr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> zerglie<strong>der</strong>n ihn, um seinen Inhalt, ob<br />
<strong>und</strong> wie nämlich <strong>die</strong>ses Ich im Raum o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit bloß dadurch sein Dasein<br />
bestimmt, zu erkennen, so würden <strong>die</strong> Sätze <strong>der</strong> rationalen Seelenlehre nicht vom<br />
Begriffe eines denkenden Wesens überhaupt, son<strong>der</strong>n von einer Wirklichkeit<br />
überhaupt anfangen, <strong>und</strong> aus <strong>der</strong> Art, wie <strong>die</strong>se gedacht wird, nachdem alles, was<br />
dabei empirisch ist, abgeson<strong>der</strong>t worden, das was einem denkenden Wesen<br />
überhaupt zukommt gefolgert werden [...].« (B 416 f). Vgl. insbeson<strong>der</strong>e im dritten<br />
<strong>und</strong> im fünften Abschnitt § 21, d <strong>und</strong> § 31<br />
204 Die Formalontologie Wolffs schließt Subjekt <strong>und</strong> Objekt zwangsweise<br />
zusammen.<br />
205 Jeffrey Barash, Über den geschichtlichen Ort <strong>der</strong> Wahrheit. Hermeneutische<br />
Perspektiven bei Wilhelm Dilthey <strong>und</strong> Martin Heidegger, in: Martin Heidegger:<br />
Innen- <strong>und</strong> Außenansichten, Hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg (S.<br />
Blasche, W.R. Köhler, W. Kuhlmann, P. Rohs), Frankfurt/Main 1989, stw 779, p. 58-<br />
74.
-— 201 —<br />
„Gesetze“ zum Gegenstand habe, ist in <strong>der</strong> Wurzel schon verfehlt. We<strong>der</strong><br />
das nur einmalig Geschehene noch ein darüber schwebendes Allgemeines<br />
ist ihr Thema, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> faktisch existent gewesene Möglichkeit. Diese<br />
wird nicht als solche wie<strong>der</strong>holt, d.h. eigentlich historisch verstanden,<br />
wenn sie in <strong>die</strong> Blässe eines überzeitlichen Musters verkehrt wird.« 206<br />
Barash versteht <strong>die</strong> »faktisch existent gewesene Möglichkeit« daraufhin<br />
ausschließlich auf <strong>die</strong> Hinordnung zur »Wie<strong>der</strong>holung« <strong>und</strong> läßt <strong>die</strong><br />
uneigentliche Erinnerung beiseite. Die Eigentlichkeit <strong>der</strong> Erinnerung in<br />
Gestalt <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung entfernt nun Heidegger von <strong>der</strong> Position<br />
Diltheys <strong>und</strong> im geringeren Maße von Yorck. — Den Zirkelcharakter des<br />
Lebens, daß selbst Leben erschließt, beschreibt Heidegger in Blick auf<br />
Dilthey folgen<strong>der</strong>maßen: »Was sich wie Zwiespältigkeit <strong>und</strong> unsicheres,<br />
zufälliges ›Probieren‹ ausnimmt, ist <strong>die</strong> elementare Unruhe zu dem einen<br />
Ziel: das ›Leben‹ zum philosophischen Verständnis bringen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>sem<br />
Verstehen aus dem ›Leben selbst‹ ein hermeneutisches F<strong>und</strong>ament zu<br />
sichern. Alles zentriert in <strong>der</strong> ›Psychologie‹, <strong>die</strong> das ›Leben‹ in seinem<br />
geschichtlichen Entwicklungs- <strong>und</strong> Wirkungszusammenhang verstehen<br />
soll als <strong>die</strong> Weise , in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch ist , als möglicher Gegenstand <strong>der</strong><br />
Geisteswissenschaften <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wurzel <strong>die</strong>ser Wissenschaften zumal.« 207<br />
Darin zeigt sich <strong>die</strong> Bedeutung des hermeneutischen Standpunktes<br />
Diltheys für Heidegger wie seine Gespaltenheit in Psychologie <strong>und</strong><br />
Geschichtlichkeit in ganzer Deutlichkeit. — Die Zwiespältigkeit <strong>und</strong><br />
Unsicherheit, <strong>die</strong> Heidegger anfangs beobachtet, hat formal seine Wurzel<br />
in <strong>der</strong> unvollkommenen Indifferenz Leibnizens, führt aber nicht zur<br />
Heraushebung <strong>der</strong> notwendigen Wahrheiten wie in <strong>der</strong> Theozidee. 208<br />
Heidegger wendet sich hier unvermittelt an <strong>die</strong> Lebenswelt, <strong>die</strong> er<br />
gegenüber <strong>der</strong> »Psychologie« <strong>der</strong> Daseinshermeneutik gleich als<br />
Geschichtlichkeit vorstellt, was ohne weitere Differenzierung in<br />
206 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 395. Benedikt bringt aber demgegenüber <strong>die</strong> Temporalität als<br />
nächste Konstitutionstsufe ins Spiel, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Geschichtlichkeit wie <strong>der</strong><br />
Innerzeitlichkeit vorausgesetzt sei, <strong>und</strong> zwar als »Geschicklichkeit« im Sinne von<br />
Geschick o<strong>der</strong> Schicksal o<strong>der</strong> gleich als »Seinsvernunft«; in: <strong>der</strong>selbe, Kein Ende <strong>der</strong><br />
Zukunft, Wien 1997, p. 85 f. (Pkt. 8)<br />
207 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 398<br />
208 Natürlich hat historisch gesprochen Heidegger <strong>die</strong>se Auffassung von Brentano<br />
übernommen (Vom Ursprung <strong>der</strong> sittlichen Erkenntnis,, 4 1955, p 149 ff., insbes. § 14);<br />
<strong>die</strong>ser wie<strong>der</strong>um von Herbart, doch ist bekannt (etwa durch Robert Zimmermann<br />
o<strong>der</strong> J. Barchudarian), daß Herbart in deutlicher Abhängigkeit von gewissen<br />
Leibnizianischen Konzepten gestanden hat. Noch Brentano rechnet mit <strong>der</strong> Einsicht<br />
des an sich Guten aus <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Indifferenz alltäglicher Interessen. Vgl. hiezu<br />
auch Michael Benedikt, Phil. Emp. II, Turia <strong>und</strong> Kant, Wien 1998, insbeson<strong>der</strong>e vom<br />
ersten zum dritten Kapitel)
-— 202 —<br />
»Lebenslauf« <strong>und</strong> »Geschichte«, bzw. <strong>der</strong> weiteren In-Frage-Stellung des<br />
Begriffs von Geschichte überhaupt eigentlich trotz Heideggers<br />
phänomenologische Einwände gegen Diltheys Psychologismus nur wenig<br />
an<strong>der</strong>es sagt als Diltheys Konzept eines psychologischen F<strong>und</strong>aments des<br />
Geschichtsverständnisses des eigenen Erlebens. Zweifellos geschieht <strong>die</strong><br />
Entdeckung des Geschichtsverständnisses im Zuge hermeneutischer<br />
Problemstellungen <strong>der</strong> fortschreitenden Reflexion des eigenen Daseins als<br />
Person <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Geschichtlichkeit im eigenen Lebenslauf, keineswegs<br />
aber besteht <strong>die</strong> wissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />
allein aus hermeneutischen Kategorien des Nachvollzuges des inneren<br />
Selbstverständnisses einer Epoche, sei es nun eine Epoche aus <strong>der</strong><br />
Lebensgeschichte, eine Epoche aus <strong>der</strong> Gattungsgeschichte, <strong>die</strong> in <strong>der</strong><br />
Lebensgeschichte miterlebt worden ist, o<strong>der</strong> um das nachvollziehende<br />
Verständnis des kritisch behandelten Materials aus den Projekten <strong>der</strong><br />
Geschichtswissenschaften einer Epoche, auch wenn ein solches<br />
Verständnis auch immer qualitative wie genetische Voraussetzung zu<br />
einem wissenschaftlichen Verständnis <strong>der</strong> Geschichte sein wird.<br />
Geschichte als relativ eigenständiger Horizont des Wahrheitsproblems<br />
wird zwar als Daseinsgemäßes im Zusammenhang mit dem Anspruch, <strong>die</strong><br />
Hermeneutik als Basis- <strong>und</strong> Leitwissenschaft für <strong>die</strong> Ontologie zu<br />
etablieren, entdeckt <strong>und</strong> erkannt, bezieht sich aber doch als Wissenschaft<br />
mehrfach auf Prinzipien, <strong>die</strong> nicht allein im immer individuellen Dasein<br />
f<strong>und</strong>iert sind. Die demgegenüber einseitige Ausschließlichkeit <strong>der</strong><br />
Untersuchung <strong>der</strong> Grenzziehung zwischen Psychologie <strong>und</strong> Geschichte,<br />
<strong>die</strong> Heidegger schließlich gar nicht mehr zu überschreiten sucht, wird<br />
schon in <strong>der</strong> hermeneutischen Gr<strong>und</strong>legung des Daseins in Sein <strong>und</strong> Zeit<br />
ersichtlich: »Ausarbeitung <strong>der</strong> Seinsfrage besagt demnach:<br />
Durchsichtigmachung eines Seienden — des fragenden — in seinem Sein.<br />
Das Fragen <strong>die</strong>ser Frage ist als Seins modus eines Seienden selbst von dem<br />
her wesenshaft bestimmt, wonach in ihm gefragt ist — vom Sein. Dieses<br />
Seiende, das wir selbst je sind <strong>und</strong> das unter an<strong>der</strong>em <strong>die</strong> Seinsmöglichkeit<br />
des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein .« 209 Das Erstaunliche<br />
daran wird erst im Zuge <strong>der</strong> Weiterbewegung des Gedankenganges klar:<br />
Das Daseinde ist ein Seiendes, vermag als Seiendes aber doch ein<br />
hermeneutisch sowohl als gattungsgemäßes Innenverhältnis wie<br />
individuell als Selbst-Verständnis geklärtes Dasein zum Sein in ein<br />
mittelbares Verhältnis zu bringen. — Diese Intentionsrichtung steht<br />
209 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 7
-— 203 —<br />
(insofern ähnlich wie <strong>die</strong> transzendentalanalytische Methode) im<br />
Gegensatz zur Auffassung <strong>der</strong> Unmittelbarkeit des primären<br />
Gegenstandes (äußerer) Erfahrung in <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus bei<br />
Kant (ebenso zur primären Intentionalität Brentanos) <strong>und</strong> gehört wohl zu<br />
den beson<strong>der</strong>s interessanten Wendungen Heideggers, wenngleich <strong>die</strong><br />
damit aufgeworfenen Schwierigkeiten nicht wirklich einer Lösung<br />
zugeführt werden.<br />
Heidegger dürfte das bloße Vorhandensein des immer nur innerweltlich<br />
Seienden in Sein <strong>und</strong> Zeit noch ohne kategoriale Bestimmung gedacht<br />
haben; erst das (technisch-) praktisch zugängliche Zuhandene soll in einer<br />
kategorialen Bestimmung zum Was eines Soseienden bestimmt werden. 210<br />
In »Zeit <strong>und</strong> Sein« (zweiter Teil <strong>der</strong> »Gr<strong>und</strong>züge <strong>der</strong> Phänomenologie«,<br />
GA, Bd. 24) wird dann aber doch das Vorhandene als Sachhaltiges <strong>der</strong><br />
realen Möglichkeit einer Bestimmung <strong>der</strong> Washeit unterzogen. Barash hält<br />
den Zirkel <strong>der</strong> Seinsfrage, <strong>die</strong> das Sein des Fragenden voraussetzt, nicht<br />
für einen logischen Zirkel »im Beweis«, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>ser Zirkel sei<br />
unentrinnbar, weil er <strong>die</strong> »existenziale Vor-Struktur des Daseins selbst«<br />
ausdrückt. 211 Darin liege eben das hermeneutische F<strong>und</strong>ament <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Verb<strong>und</strong>enheit mit dem Diltheyschen Ansatz des<br />
Geschichtsverständnisses. — »Freilich bietet Dilthey keine hermeneutische<br />
Ontologie, son<strong>der</strong>n eine hermeneutische Anthropologie.« (p. 65)<br />
Yorck weist schon den Zusammenhang <strong>der</strong> Geschichtsauffassung Diltheys<br />
mit dem Kraftbegriff zurück. (p. 66) Das Verfahren des Vergleiches, das als<br />
Methode <strong>der</strong> Geisteswissenschaften in Anspruch genommen wird, ist<br />
ästhetisch <strong>und</strong> bezieht sich auf <strong>die</strong> Gestalt. Der Begriff des Dilthey‘schen<br />
210 Carl Friedrich Gethmann, Heideggers Wahrheitskonzept in seinen Marburger<br />
Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von Sein <strong>und</strong> Zeit (§ 44), in: Martin Heidegger:<br />
Innen- <strong>und</strong> Außenansichten, cit. op.. Das Konzept <strong>der</strong> »Ausweisung« <strong>der</strong><br />
Richtigkeit <strong>der</strong> Intentionalität sei aber nach Heidegger kein Akt des Schauens,<br />
son<strong>der</strong>n ein Akt des Sich-Verstehens-auf-etwas — das wäre in <strong>die</strong>ser pragmatischen<br />
Form bloß <strong>die</strong> Reduktion <strong>der</strong> Akteinheit auf ein für <strong>die</strong> Wahrheitsfrage sek<strong>und</strong>äres<br />
Moment <strong>der</strong>selben, sollte bloß <strong>die</strong>se Definition <strong>der</strong> »Ausweisung« zur<br />
Unterscheidung von <strong>der</strong> sinnlichen Anschauung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Sinnerfüllung <strong>der</strong> Intention<br />
<strong>die</strong>nen. Jedoch: »Für Heidegger ist daher <strong>der</strong> Übergang vom f<strong>und</strong>ierenden Modus<br />
<strong>der</strong> Anschauung zum f<strong>und</strong>ierten Modus <strong>der</strong> Aussagewahrheit umzuinterpretieren<br />
als „Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken“. (Sein <strong>und</strong><br />
Zeit, p. 360) Dieser Umschlag ist das entscheidende Moment <strong>der</strong> „ontologischen<br />
Genesis“ <strong>der</strong> Aussage, <strong>die</strong> Heidegger Husserls „Genealogie <strong>der</strong> Logik“<br />
entgegenstellt. Diese ontologische Genesis verläuft — wie bei Heidegger allgemein —<br />
als methodische Bewegung von einem eminenten zu einem defizienten Modus.«<br />
(p. 113), Vgl. hier Kap. 14<br />
211 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 153
-— 204 —<br />
Typus ist aber als ein innerlicher ein Begriff des Charakters. Dieser stehe<br />
im Zusammenhang mit dem Begriff <strong>der</strong> Kraft, aber nicht mit <strong>der</strong><br />
Vergleichung von Gestalten. 212 Heidegger stellt aber überhaupt <strong>die</strong><br />
Ursprünglichkeit des Unterschiedes von Natur <strong>und</strong> Geschichte (auch bei<br />
Humboldt, Hegel, Ranke) in Frage. Diese Unterschiede sollen sich nämlich<br />
auf <strong>die</strong> „tieferliegende“ Einheit des Daseinsverständnisses zurückführen<br />
lassen. (p. 69) — Das bringt jedoch für Heidegger nur das Dasein als<br />
Seiendes wie<strong>der</strong> ins Blickfeld <strong>der</strong> Überlegung, d. h. dann schon als »etwas«<br />
<strong>und</strong> selbst als innerweltliche Vorhandenheit Behandelbares <strong>und</strong> nicht als<br />
das Seiende, welches als Dasein <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie erst<br />
hermeneutisch zu begründen versucht. Das Seiende als immer völlig ins<br />
Innerweltliche zu Verschränkende jedoch ist dann freilich nur ontisch zu<br />
verstehen möglich, gleich sei es Natur o<strong>der</strong> Geschichte.<br />
Heidegger greift <strong>die</strong> Unterscheidung Diltheys <strong>der</strong> Geisteswissenschaften<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Naturwissenschaften anhand <strong>der</strong> „Methode“ des »Verstehens«<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> „Methode“ <strong>der</strong> »Erklärung« auf, <strong>und</strong> unterscheidet Geistes- <strong>und</strong><br />
Naturgeschichte von <strong>der</strong> Geschichtlichkeit als Seinsmodus des Daseins,<br />
doch wird daraus keine Lösung <strong>der</strong> Beschränktheit des Geschichtlichen<br />
aus dem Bereich <strong>der</strong> ontischen Innerweltlichkeit gewonnen: »Der<br />
eigentliche Sinn <strong>der</strong> Geschichte ist nicht aus dem Bereich objektiver<br />
Wirkungszusammenhänge — Zusammenhänge <strong>der</strong> Tatsachen, <strong>der</strong><br />
„Kulturwerte“ (Rickert) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> geistigen Erwerbungen <strong>der</strong><br />
Lebenserfahrung (Dilthey) — abzulesen. Für Heidegger bezeichnen <strong>die</strong><br />
objektiven Wirkzusammenhänge <strong>der</strong> Weltgeschichte vielmehr den Bereich,<br />
in den das Dasein zunächst <strong>und</strong> zumeist seine Zuflucht nimmt, um vor<br />
dem endlichen Sinn seines je eigenen Seins auszuweichen.« (p. 69) Der<br />
Sinn <strong>der</strong> Geschichte liege dann wie<strong>der</strong> ekstatisch in <strong>der</strong> augenblicklichen<br />
Aneignungsweise des Gewesenen im Hinblick auf ihre Wie<strong>der</strong>holung in<br />
<strong>der</strong> Zukunft <strong>und</strong> nicht in einer objektiven <strong>und</strong> allgemeingültigen<br />
Bedeutung vergangener Epochen. — Damit kehrt Heidegger von <strong>der</strong><br />
ontologischen Frage nach <strong>der</strong> Geschichte über <strong>die</strong> Hermeneutik wie<strong>der</strong> zu<br />
<strong>der</strong> hermeneutischen Fragestellung <strong>der</strong> Ontik des Daseins zurück.<br />
Keinesweg kann daraus eine vollständige <strong>und</strong> systematische Gr<strong>und</strong>legung<br />
<strong>der</strong> Geschichte als Wissenschaft o<strong>der</strong> Geschichtsphilosophie ersehen<br />
werden. Heidegger kehrt nicht nur Dilthey son<strong>der</strong>n den<br />
Geschichtswissenschaften insgesamt den Rücken, wenn er das<br />
212 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 399, vgl. auch Michael Benedikt, Kein Ende <strong>der</strong> Zukunft, Turia <strong>und</strong><br />
Kant Wien 1997, Kap. IV, p. 79 ff..
-— 205 —<br />
Geschichtliche gänzlich im Dasein <strong>und</strong> nicht auch im Gattungswesen<br />
f<strong>und</strong>iert. Heideggers hermeneutische Geschichtsauffassung ist letztlich<br />
viel eher an Nietzsche orientiert als an Dilthey, <strong>der</strong> zumindest eine, wenn<br />
auch schwierig zugängliche „Objektivität“ in den Symbolen <strong>der</strong><br />
erlebnismäßigen Einheit für vergangene Epochen voraussetzt, <strong>die</strong> für uns<br />
entschlüsselbar wäre (p. 70). — Es gibt <strong>die</strong>se Freiheit <strong>der</strong><br />
Auslegungsmöglichkeit des Vergangenen auf das Zukünftige hin (so schon<br />
bei Kant, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschichtsschreibung empfiehlt, sich an <strong>die</strong> Geschichte<br />
<strong>der</strong> Revolutionen <strong>der</strong> Denkungsart zu halten), nur führt das nicht zu einer<br />
Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, auch nicht sofort zu einer<br />
Philosophie <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, son<strong>der</strong>n immer nur zu einer In-<br />
Dienst-Stellung <strong>der</strong> Geschichte des heroisch zum Eigentlichen des Seins<br />
vorstoßenden Daseins. 213 Heideggers indirektes Geständnis inmitten seines<br />
hermeneutischen Ansatzes, daß das Dasein vor <strong>der</strong> Endlichkeit seines je<br />
eigenen Seins in <strong>die</strong> Weltgeschichte flüchtet, ist als Indiz zu werten, daß<br />
Heidegger das ontisch-hermeneutische Konzept des Daseins, das ohne<br />
Seiendes, das selbst allerdings nicht nur mittels des Selbstverständnisses<br />
bestimmt werden kann, nichts ist, schon seit Anfang an als<br />
Absprungsbasis aus <strong>der</strong> Subjektivität des Daseins in Stellung bringt. So hat<br />
213 Heidegger reproduziert also <strong>die</strong> im Rahmen <strong>der</strong> anthroposophischen Bewegung<br />
Rudolf Steiners von Stein (einem Wiener Mathematik- <strong>und</strong> Geographieprofessor)<br />
wie<strong>der</strong> aufgenommene scholastische Geschichtsvorstellung. Anhand <strong>der</strong> Deutung<br />
<strong>der</strong> Gralssage in <strong>der</strong> Fassung von Wolfram von Eschenbach durch Stein, <strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
Geschehnisse im von ihm vorgestellten Kampf eines deutschen Christentums mit<br />
dem römischen Christentum im neunten Jahrh<strong>und</strong>ert mit Vorgängen während <strong>der</strong><br />
Völkerwan<strong>der</strong>ung (<strong>der</strong> veranschlagte Ursprung <strong>der</strong> Gralssage), aber auch im 13. Jhdt.<br />
zur Zeit von Wolfram von Eschenbach nach ein <strong>und</strong> den selben Handlungsmuster<br />
interpretiert, spannt Steiner <strong>die</strong> Erscheinung des Doppelgängers historisch ab, indem<br />
er das spätmittelalterliche Geschichtskonzept von Joachim von Fiori <strong>und</strong><br />
Nostradamus in <strong>der</strong> bekannten Form wie<strong>der</strong>belebt: Da <strong>die</strong> Geschichte aus <strong>der</strong><br />
Wie<strong>der</strong>holung einiger wesentlichen Gr<strong>und</strong>konstellationen besteht, sei in je<strong>der</strong><br />
Epoche genau <strong>die</strong> analoge Situation zu finden, in welcher man sich gerade selbst<br />
befindet; <strong>der</strong>art ist <strong>der</strong> Doppelgänger dann jene historische Person, welche in <strong>der</strong><br />
»Geschichte« ihrer Epoche <strong>die</strong> gleiche Position einnimmt, <strong>die</strong> man selbst in <strong>der</strong><br />
Geschichte <strong>der</strong> heutigen Epoche einnimmt. Dabei ist hier unter »Geschichte« ein<br />
dramatisches Gefüge von aufeinan<strong>der</strong> bezogen handelner Personen zu verstehen, <strong>die</strong><br />
auch anhand des Zieles miteinan<strong>der</strong> verglichen werden können. Ziele <strong>die</strong>ser Art<br />
wären <strong>der</strong> Kampf um das wahre Christentum, <strong>der</strong> Kampf des Christentums gegen<br />
den Islam <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Kampf des Christentums gegen das Judentum. Später<br />
kommen rassistisch-nationale Ideen (<strong>der</strong> Kampf gegen den Osten: Türkei, Russland);<br />
o<strong>der</strong> politische Ideen (Kampf gegen den westlichen Kapitalismus, gegen den Bolschewismus)<br />
rein zum Ausdruck. Dabei wird das Prinzip <strong>der</strong> Eigenverantwortung so<br />
weit getrieben, daß außerhalb <strong>der</strong> Kampf- <strong>und</strong> Zeugungsgemeinschaft we<strong>der</strong> das<br />
Verantwortung-Übernehmen-für-an<strong>der</strong>e noch das In-<strong>der</strong>-Verantwortung-einesan<strong>der</strong>en-Stehen<br />
für das Individuum mehr als wesentlich erkannt werden kann. Die<br />
Selbstverpflichtung gegenüber seinen Reinkarnationen in <strong>der</strong> Kampfgemeinschaft<br />
hat dann schon das Netz <strong>der</strong> wirklichen sozialen Bezüge ersetzt.
-— 206 —<br />
er in Sein <strong>und</strong> Zeit im Rahmen <strong>der</strong> methodischen Unterscheidung Diltheys<br />
in Naturwissenschaft <strong>und</strong> in Geisteswissenschaft letztere durch <strong>die</strong><br />
Projektion des ontischen Geschichtsverständnisses auf <strong>die</strong> Weltgeschichte<br />
ursupiert (was immerhin noch als ekstatisch angesehen werden kann),<br />
dortselbst aber auch <strong>die</strong> durch Messung objektivierbare Zeit in eine<br />
einseitige Beziehung zum Ontischen unter Ausschluß <strong>der</strong> objektiven<br />
Realität gebracht. Nun sahen wir im vorangehenden Kapitel im Spätwerk<br />
(Vom Ereignis) eine völlige Reontologisierung <strong>der</strong> Terminologie, <strong>die</strong><br />
ursprünglich am subjektiven Dasein als (f<strong>und</strong>amental-) ontologische<br />
Begrifflichkeit <strong>der</strong> Ontik gewonnen worden ist. Was den Geschichtsbegriff<br />
angeht, hat Heidegger <strong>die</strong>sen zuerst in seiner Eigentlichkeit als ontisch<br />
bestimmt, nur um im Anschluß daran <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Geschichtsbegriffe im<br />
Zuge <strong>der</strong> Flucht aus <strong>der</strong> Innerweltlichkeit mit eben <strong>die</strong>ser Innerweltlichkeit<br />
ekstatisch zu überwältigen. Was den Begriff von Naturwissenschaft<br />
angeht, be<strong>die</strong>nt sich Heidegger offensichtlich genau <strong>der</strong> spiegelbildlich<br />
entgegengesetzten Strategie: Noch in Sein <strong>und</strong> Zeit läßt er <strong>die</strong> ontologisch<br />
selbstständigen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> messbaren Zeit im Ontischen<br />
verschwinden, nur um später unter Beibehaltung <strong>der</strong> ontischen<br />
Begrifflichkeit <strong>die</strong> Innerweltlichkeit auszustreichen <strong>und</strong> den Raum im Zeit-<br />
Raum <strong>der</strong> Ankündigung eines Ereignisses zu f<strong>und</strong>ieren. Die Darstellung<br />
ist als solche zwar nicht uninteressant, zur Überwindung <strong>der</strong><br />
transzendentalen Differenz in Erkenntnisfragen reicht <strong>die</strong>se Strategie aber<br />
beiweitem nicht aus. Kant hat sich in <strong>die</strong>ser Frage schon vor <strong>der</strong><br />
transzendentalen Ästhetik <strong>der</strong> ersten Kritik klarer ausgedrückt, als er den<br />
Raum als das Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart bezeichnet hat. Heidegger vermag<br />
mit seiner transzendentalphilosophisch problematischen Darstellung dem<br />
bloß »räumigen« Seinshorizont, <strong>die</strong> er dem Konzept <strong>der</strong> Anwesenheit<br />
abgewinnt, seine innere Tendenz zur Hervorbringung bzw. des Zur-<br />
Erscheinung-Bringens, also eine ihm innewohnende zeitliche Tendenz<br />
beizubringen, dringt dabei aber nur bis zur Grenze einer dynamischen<br />
Erklärung auf Kosten des Zugleichseins vor, während Kant mit seiner<br />
frühen Formulierung vom Raum als das Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart nicht<br />
nur dem Raum als »Räumlichkeit« in toto sowohl <strong>die</strong> Möglichkeit von<br />
Gegenwärtigem sowie <strong>die</strong> Möglichkeit von Zugleichsein gibt, son<strong>der</strong>n<br />
noch <strong>die</strong> transzendentale Einbildungskraft — bemerkenswerterweise als<br />
Gefühl beschrieben — eine eindeutige Entscheidung hinsichtlich<br />
ontologischer Fragestellungen über den Raum garantiert, bevor ein System<br />
von Wechselwirkungen das Zugleichsein des Raumes als objektive Realität<br />
zu beurteilen erlaubt.
-— 207 —<br />
16) Dasein <strong>und</strong> reale Objektivität.<br />
Heidegger: Die Gr<strong>und</strong>probleme <strong>der</strong> Phänomenologie<br />
MartinHeidegger, Gr<strong>und</strong>probleme <strong>der</strong> Phänomenologie (GA, Bd. 24)<br />
a) Die Stellung <strong>der</strong> »Intellection« in <strong>der</strong> Lehre von <strong>der</strong> Intentionalität<br />
Heidegger diskutiert im ersten Kapitel (§ 7) <strong>die</strong> These Kants: »Sein ist kein<br />
reales Prädikat« einmal nach dem »Beweisgr<strong>und</strong> Gottes« (1763), <strong>und</strong><br />
einmal nach K.r.V. (1781): transzendentale Logik, Von <strong>der</strong> Unmöglichkeit<br />
eines ontologischen Beweises Gottes (B 620 ff.). Der Daseinsbegriff Kants<br />
ist in <strong>der</strong> Tat verschieden von dem Heideggers <strong>und</strong> ist auch gemäß <strong>der</strong><br />
primären Intentionalität zuerst <strong>und</strong> zunächst auf das Objekt gerichtet.<br />
Kant versteht meiner Auffassung nach das Dasein trotzdem nicht nur aus<br />
<strong>der</strong> Vorhandenheit wie Heidegger (S. 37) glaubt, son<strong>der</strong>n bedenkt immer<br />
schon das subjektive Verhältnis zum Objekt <strong>und</strong> liefert <strong>der</strong>art eine präzise<br />
Charakteristik <strong>der</strong> Seinsweise physikalischer Objekte in ihrem<br />
Gegebensein für uns. Die Wahrgenommenheit als Charakteristik von<br />
Existenz <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Weise des Seins des<br />
Seienden wie auch als Gr<strong>und</strong>lage (Unterlage) des möglichen Wasseins ist<br />
eben nicht nur <strong>die</strong> Angelegenheit <strong>der</strong> Einbildungskraft (Eidos), son<strong>der</strong>n<br />
bei Kant auch eine <strong>der</strong> »Intellection« (Genus).<br />
So wird von Kant noch zwischen subjektiver <strong>und</strong> objektiver Einheit des<br />
Bewußtseins (§§ 18-19) analog zur Unterscheidung in subjektive <strong>und</strong><br />
objektive Realität anhand <strong>der</strong> Intellection (vom hypothetischen Urteil zum<br />
kategorischen Urteil) unterschieden, was hier noch als einziger Gr<strong>und</strong> zu<br />
verstehen ist, <strong>der</strong> zu allgemeinen Prinzipien führt. Einbildungskraft <strong>und</strong><br />
Verstandesgebrauch werden im § 24 <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion<br />
zuerst korrekt gemäß dem Verhältnis von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Vernunftideen<br />
zum Verstand als <strong>die</strong> transzendentale Funktion von synthesis speciosa<br />
einerseits <strong>und</strong> <strong>die</strong> transzendentale Funktion <strong>der</strong> synthesis intellectualis<br />
an<strong>der</strong>erseits vorgestellt, bevor <strong>die</strong> Selbstzensur Kants auf Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
methodischen Entscheidung im Paralogismus zwischen »synthetischmetaphysischem«<br />
<strong>und</strong> »transzendentalanalytischem« Verfahren<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich behauptet, das ursprüngliche Verhältnis von Verstand <strong>und</strong><br />
innerer Sinn sei keines <strong>der</strong> Einbildungskraft <strong>und</strong> selbst nicht synthetisch.<br />
Offenbar ist <strong>die</strong> Grenzziehung zwischen Verstand <strong>und</strong> Einbildungskraft<br />
für Kant zum Problem geworden. 214 — Die Intellection selbst ist ein<br />
214 Vgl. hier im dritten Abschnitt, Kap. 4, § 20.
-— 208 —<br />
Konzept, daß schon im Duisburger Nachlaß zur Bestimmung <strong>der</strong><br />
Vollständigkeit <strong>der</strong> Erfahrung verwendet worden ist, 215 <strong>und</strong> von Kant<br />
sicherlich mit einiger systematischen Bedachtheit den Schematismen <strong>der</strong><br />
Einbildungskraft schon im metaphysischen Abschnitt <strong>der</strong> Deduktion mit<br />
dem reinen Verstandesbegriff vorangestellt worden ist.<br />
Die Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft ist zuerst eine Kritik <strong>der</strong> rationalen<br />
Metaphysik, um solche Vernunftprinzipien aufzufinden, welche <strong>die</strong><br />
Möglichkeiten, Erfahrung zu machen, sowohl methodisch bestimmt wie<br />
systematisch erweitert. Modallogisch wird nach einer Entscheidung über<br />
<strong>die</strong> Geltung von Sätzen, <strong>die</strong> kontingente Wahrheit aussagen, verlangt, was<br />
<strong>die</strong> rationale Metaphysik sowenig wie <strong>die</strong> aristotelische Scholastik über<br />
<strong>der</strong>en bloße Bestimmung als Mögliches zwischen Unmögliches <strong>und</strong><br />
Notwendiges zu leisten imstande war. Hier kommt <strong>die</strong> Einbildungskraft<br />
ins Spiel; zuerst, um <strong>die</strong> empirischen Sinnlichkeit einer Regel zu<br />
unterwerfen, dann, um <strong>die</strong> Schematen von empirischer <strong>und</strong> reiner<br />
Einbildungskraft zusammenzufügen, als transzendentale<br />
Einbildungskraft. Ob nun <strong>der</strong> transzendentale Schematismus das einzige<br />
Produkt <strong>der</strong> transzendentalen Einbildungskraft im inneren Sinn ist o<strong>der</strong> ob<br />
<strong>die</strong> transzendentale Einbildungskraft uns das sinnlich gegebene <strong>und</strong> auch<br />
wahrgenommene Objekt erst als wirklichen Gegenstand vorstellen kann,<br />
<strong>der</strong> Zielpunkt <strong>der</strong> Untersuchung (<strong>der</strong> logische Leitfaden) ist <strong>die</strong><br />
Beantwortung <strong>der</strong> Frage, wie aus Erfahrung überhaupt Erkenntnis werden<br />
kann.<br />
Die Intellection steht nun in <strong>der</strong> ersten Kritik bereits im Rahmen einer<br />
transzendentalen Reflexion, <strong>und</strong> zwar in <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion<br />
<strong>der</strong> Kategorien, <strong>und</strong> das hat meines Erachtens zur Folge, daß sich <strong>die</strong><br />
Stellung <strong>der</strong> Intellection zum Argument aus <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />
(Apprehension <strong>und</strong> Konstruktion) zwischen Duisburger Nachlaß 216 <strong>und</strong><br />
erster Kritik geän<strong>der</strong>t hat, auch wenn Kant weiterhin auf <strong>die</strong> Überlegenheit<br />
des Verstandesbegriffes beharrt. Diese Verschiebung besteht darin, daß <strong>die</strong><br />
Konstruktion aus dem Duisburger Nachlaß in <strong>der</strong> ersten Kritik aufrückt<br />
zum transzendentalen Schematismus, in welchem Verstand <strong>und</strong><br />
Sinnlichkeit zusammen <strong>die</strong> Bedingung zur Erkenntnis ausmachen — <strong>und</strong><br />
nicht nur »vermittelt« werden, wie oftmals auch von Kant verkürzt gesagt<br />
215 Und zwar anhand <strong>der</strong> Proportion von Prinzip, Eigentümlichkeit des Gegebenen <strong>und</strong><br />
dem Exponenten, <strong>der</strong> das Prinzip für das Gegebene <strong>und</strong> das Gegebene für das<br />
Prinzip tauglich macht. Vgl. hier den dritten Abschnitt, §§ 16-19<br />
216 Refl. 4683, AA XVII, p. 670. Der Duisburger Nachlaß wird im dritten Abschnitt, 3.<br />
Kap. näher behandelt.
-— 209 —<br />
wird. Darin unterscheidet sich Kant gerade von je<strong>der</strong> Tradition, <strong>und</strong><br />
interpretiert selbst <strong>die</strong> Grenzen von essentia <strong>und</strong> existentia einerseits <strong>und</strong><br />
von res cogitans <strong>und</strong> res extensa an<strong>der</strong>erseits neu. Schließlich dürfte<br />
Heidegger übersehen haben, daß Kant <strong>die</strong> Methode <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Analytik aus den Paralogismen bestimmt, wo nicht nur geleugnet wird,<br />
daß das Ich ein etwas (res) sein könne (was Heidegger immerhin an<br />
gegebener Stelle einsieht) son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong> empirische Bedingung des »Ich<br />
denke« im inneren Sinn keinerlei Merkmale für eine Gegenstands- o<strong>der</strong><br />
Objektbestimmung an sich hat <strong>und</strong> so nicht <strong>die</strong> Seinsweise von Seienden<br />
aussagt.<br />
Heidegger hingegen behauptet hier schlichtweg das Dasein als ein<br />
Seiendes, wenn auch nicht von <strong>der</strong> Art o<strong>der</strong> Seinsweise <strong>der</strong><br />
Vorhandenheit, während er dem Daseinsbegriff von Kant gänzlich<br />
abspricht, schon in <strong>der</strong> Affinität (ordo naturalis) von Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />
zu stehen, <strong>und</strong> ihm dabei aber <strong>die</strong> Vorhandenheit als einziges Konzept des<br />
Daseinsbegriffes unterschiebt (p. 37). Heidegger erkennt zwar an, daß <strong>der</strong><br />
Realitätsbegriff Kantens an<strong>der</strong>s ist als <strong>der</strong> heutige Sprachgebrauch: da<br />
bedeute Realität soviel wie »Wirklichkeit, Existenz o<strong>der</strong> Dasein im Sinne<br />
von Vorhandenheit« (p. 37). Er verkennt aber, daß Kant eben schon <strong>die</strong><br />
Realität einmal zur Bezeichnung von Existenz <strong>und</strong> Dasein (noch im<br />
Bewußtsein <strong>der</strong> subjektiven Realität), einmal zur Bezeichnung von<br />
Vorhandenheit (anschauende Vorstellung), <strong>und</strong> einmal zur Bezeichnung<br />
von Wirklichkeit (Wechselwirkung o<strong>der</strong> Erfahrungsurteil) verwendet. —<br />
Heidegger übersieht das modallogische Argument Kantens <strong>und</strong> hält<br />
dessen Realitätsbegriff fälschlicherweise für ident mit dem scholastischen<br />
(thomistischen) Realitätsbegriff. Heidegger bespricht den ontologischen<br />
Gottesbeweis bei Kant unter <strong>der</strong> Voraussetzung, Kant hätte hier einen<br />
Existenzbegriff im Sinne <strong>der</strong> Vorhandenheit (qua Dasein) vorausgesetzt!<br />
(l. c.)<br />
Dabei möchte ich mich <strong>der</strong> vorangehenden Überlegung Heideggers<br />
anschließen können: »Wir sind jeweils ein Dasein. Dieses Seiende, das<br />
Dasein, hat wie jedes eine spezifische Seinsweise. Die Seinsweise des<br />
Daseins bestimmen wir terminologisch als Existenz, wobei zu bemerken<br />
ist, daß Existenz o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Rede: das Dasein existiert, nicht <strong>die</strong> einzige<br />
Bestimmung <strong>der</strong> Seinsart unser selbst ist. Wir werden eine dreifache<br />
kennenlernen, <strong>die</strong> allerdings in einem spezifischen Sinne in <strong>der</strong> Existenz<br />
verwurzelt ist.« (S. 36 f.) Hier wird Existenz schließlich als<br />
gleichbedeutend mit subjektiver wie mit objektiver Realität in Aussicht
-— 210 —<br />
gestellt. Wenn Heidegger allerdings fortfährt, Kant <strong>und</strong> <strong>die</strong> Scholastik<br />
einfach darin zu identifizieren, als daß sie <strong>die</strong> Existenz allein aus <strong>der</strong><br />
Seinsweise <strong>der</strong> Naturdinge bestimmt hätten, so hat hier schon eine<br />
verkürzende Vereinfachung den Blick auf <strong>die</strong> wesentlichen<br />
Zusammenhänge <strong>der</strong> scholastischen Aristoteles-Rezeption verstellt, <strong>die</strong><br />
Heidegger bekannt gewesen sein müssen. — Trotzdem vermag mit<br />
Heidegger gelten, daß »nicht alles Seiende ein Vorhandenes, aber auch<br />
nicht alles Nichtvorhandene [...] auch schon Nichtseiendes [bedeute],<br />
son<strong>der</strong>n kann existieren o<strong>der</strong>, wie wir noch sehen werden, bestehen o<strong>der</strong><br />
von an<strong>der</strong>er Seinsart sein.« (p. 37) Wie allerdings daraus Heidegger<br />
schlußfolgern zu können glaubt, <strong>die</strong> Frage nach dem Dasein Gottes würde<br />
von Kant mit ontologischer Relevanz nach dem Modus des innerweltlich<br />
Vorhandenen behandelt, wird wohl sein Geheimnis bleiben.<br />
b) Der ontologische Gottesbeweis<br />
Heidegger behandelt <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legungen des ontologischen<br />
Gottesbeweises durch Thomas von Aquin (p. 40 f.) (Kommentar zu den<br />
Sentenzen des Lombardus, Summa theologica, Summa contra gentiles, De<br />
veritate). Der ontologische Gottesbeweis scheitere daran, daß wir <strong>die</strong><br />
Quidditas (Washeit, Wesen) Gottes nicht mit seinem Begriff kennen. —<br />
Einwand: Könnte nicht <strong>der</strong> Nachweis eines höchsten Wesens, gleich<br />
welcher Natur o<strong>der</strong> ratio, gelingen? Thomas bestreitet nämlich nicht <strong>die</strong><br />
Notwendigkeit, daß das Seinsprädikat im vollkommenen Subjektbegriff<br />
enthalten sein muß, er bestreitet nur wegen <strong>der</strong> unvollkommenen<br />
qualitativen Bestimmung unseres Begriffes, daß <strong>die</strong>ses wesentliche<br />
Prädikat (o<strong>der</strong> <strong>die</strong> göttlichen Attribute) aus dem Subjektbegriff<br />
heraushebbar <strong>und</strong> für uns (ohne Offenbarung) erkennbar ist. Der<br />
vollkommene Begriff ist uns eben noch nicht damit selbst bekannt, auch<br />
wenn wir glauben sollten, seine modallogische Bestimmung aus <strong>der</strong><br />
abstrakten logischen Totalität ableiten zu können.<br />
Hingegen Kant: Dergleichen wie Dasein <strong>und</strong> Existenz gehören überhaupt<br />
nicht zur Bestimmtheit eines Begriffes. (p. 42) Wenn nun Kant sagen kann,<br />
Sein ist bloß <strong>die</strong> Position eines Dinges o<strong>der</strong> gewisser Bestimmungen an<br />
sich selbst, <strong>und</strong> so, wie Heidegger bemerkt, zwischen Sein überhaupt <strong>und</strong><br />
Dasein zunächst nicht unterschieden wird (p. 43), so ist das doch eher ein<br />
Indiz für meine Auffassung über das Seinsprädikat, welches gerade nicht<br />
ausschließlich von <strong>der</strong> Vorhandenheit ausgeht, son<strong>der</strong>n nur einen Vorrang<br />
<strong>der</strong> primären Intentionalität als ursprünglich ersteres (früheres) im Gang
-— 211 —<br />
<strong>der</strong> Analyse hergibt. Daß Kant den Ausdruck »objektive Realität« mit dem<br />
Begriff vom »Dasein« ident setze (p. 45), ist ein bezeichnendes Beispiel für<br />
Heideggers Verkürzungen, <strong>die</strong> mit Destruktion als phänomenologische<br />
Methode nichts zu tun haben: Richtig ist vielmehr, daß Kant den Begriff<br />
von <strong>der</strong> objektiven Realität unbedingt als mit dem Begriff des Daseins wie<br />
auch mit dem Begriff dessen, was Heidegger das Vorhandene nennt,<br />
vereinbar denkt; daß hat mit logischer Identität (hier als Identität des<br />
Begriffsinhalts) nichts zu tun, son<strong>der</strong>n ist durch Äquipollenz zweier<br />
verschiedener Begriffe (gleicher Umfang möglicher Gegenstände bei<br />
inhaltlicher Verschiedenheit <strong>der</strong> bestimmenden Merkmale) formal zu<br />
beschreiben. Kant hat gar keinen allgemein <strong>der</strong> Washeit nach<br />
bestimmbaren Daseinsbegriff, <strong>der</strong> auf ein bestimmtes Konzept von<br />
vorneherein festgelegt wäre, son<strong>der</strong>n gebraucht <strong>die</strong>sen Begriff sowohl für<br />
<strong>die</strong> Existenz von Naturgegenstände wie für das Dasein des urteilenden<br />
Subjekts. Existenz wird offensichtlich wie <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Realität<br />
überhaupt gebraucht, bevor ersterer mit letzterer zur objektiven Realität<br />
bestimmt werden soll.<br />
c) prototypon transcendentale<br />
Omnitudo realitatis als Möglichkeit <strong>der</strong> Sachbestimmtheit (gemäß <strong>der</strong><br />
Realität als Sachbestimmtheit <strong>der</strong> res als ontologisch verstandenes Prinzip<br />
<strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung) scheint nur ein <strong>der</strong> Sache nach möglicher<br />
Gedankengang zu sein (p. 45); vielmehr gibt es einige Hinweise, daß Kant<br />
damit <strong>die</strong> Kompossibilität überhaupt in ihrer formalen Totalität <strong>der</strong><br />
Möglichkeiten nach verstanden hat. Jedoch stellt Kant in seinem Kapitel<br />
zum prototypon transcendentale <strong>die</strong> omnitudo realitatis zuerst als Allheit<br />
(eingeschränkte Vielheit) <strong>und</strong> letztendlich auch in <strong>der</strong> Definition des<br />
transzendentalen Ideals als entschränkte Allheit <strong>der</strong> Prädikate vor, <strong>die</strong> aber<br />
da wie dort zur durchgängigen Bestimmung eines Dinges (eines Wesens)<br />
erst einzuschränken ist. Gleichviel: Heideggers Gedankengang würde eher<br />
auf <strong>die</strong> Exponation <strong>der</strong> transzendentalen Materie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vielheit aller<br />
möglicher Prädikate überhaupt ohne Selektionsregel (als ein Prinzip <strong>der</strong><br />
durchgängigen Bestimmbarkeit) passen, denn letztenendens führt erst <strong>die</strong><br />
Einschränkung <strong>der</strong> Vielheit zur Allheit. 217<br />
Ens realissimum bedeutet nach Heidegger nicht Wirklichkeit vom<br />
höchsten Grade <strong>der</strong> Wirklichkeit (vgl. etwa den Einwand Kierkegaards in<br />
217 Vgl. hier § 9 im 2. Kapitel des dritten Abschnittes
-— 212 —<br />
den Philosophischen Brocken), 218 son<strong>der</strong>n das Wesen des größtmöglichen<br />
Sachgehaltes: das Wesen, dem keine positive Sachbestimmung fehlt. (S. 49)<br />
— Auch <strong>die</strong>ser Darstellung scheint auf den ersten Blick einiges<br />
abgewinnen zu sein, doch bleibt mit <strong>die</strong>ser Interpretation <strong>die</strong> Frage offen,<br />
wie dazu das Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft, <strong>die</strong> Allgemeinheit <strong>der</strong><br />
Wesensbestimmung, welche durch Ausschluß aller nicht<br />
wesensnotwendigen Prädikate (<strong>die</strong> aus an<strong>der</strong>en Prädikaten abgeleitet<br />
worden sind) zu denken sein soll, in ein verständliches Verhältnis gebracht<br />
werden kann. Heidegger hätte den »Beweisgr<strong>und</strong> Gottes« von 1763<br />
genauer lesen sollen, wo Kant ausdrücklich nicht alle möglichen<br />
Bestimmungen im ens realissimum versammelt wissen will. Im prototypon<br />
transcendentale wird eben genau das gemeinsam zu denken aufgegeben,<br />
was Heidegger zuvor treffend in <strong>der</strong> kategorialen Bestimmung<br />
auseinan<strong>der</strong>hält: Realität als Qualität, Existenz, Dasein <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
als Modalität. Das prototypon transcendentale aber ist keine kategoriale<br />
Bestimmung, son<strong>der</strong>n übersteigt <strong>die</strong>se zur regulativen Vernunftidee in <strong>der</strong><br />
theologischen Spekulation; wird von Kant aber umgehend auch als »bloßer<br />
roher Schattenriss« zurückgenommen. Trotzdem: Heideggers<br />
Interpretation des transzendentalen Ideals bezieht sich allein auf <strong>die</strong><br />
kategoriale Bestimmung des Ideals (Allheit <strong>der</strong> Prädikate), <strong>und</strong> hat somit<br />
für Kant nicht nur das Thema (<strong>die</strong> Definition des transzendentalen Ideals<br />
als Begriff vom einzelnen Wesen), son<strong>der</strong>n auch das prototypon<br />
transcendentale, das einmal als wirkliches Urbild, einmal als ideelles<br />
Substrat <strong>der</strong> theologischen Idee auftritt, verfehlt.<br />
d) Die primäre Intentionalität: Wahrnehmung<br />
Wie erläutert Kant den Unterschied des »Ist-Sagens« in <strong>der</strong> Funktion <strong>der</strong><br />
Kopula (ist) <strong>und</strong> in <strong>der</strong> rein modalen Funktion von Existenz, Dasein<br />
ausdrückend? (p. 52) Heidegger setzt zum Nachweis seiner Behauptung<br />
an, das Dasein sei bei Kant nach dem Vorbild <strong>der</strong> Vorhandenheit bestimmt<br />
worden. Er gibt folgendes Zitat:<br />
218 In einer Fußnote, wo er sich gegen <strong>die</strong> Tautologie Spinozas wendet, daß je mehr<br />
Vollkommenheit, desto mehr Sein zu denken sei, <strong>und</strong> so <strong>der</strong> Begriffes <strong>der</strong> Existenz im<br />
ontologischen Gottesbeweis durch <strong>die</strong> doppelte Steigerung in Ohnmächtigkeit hier<br />
(Materie) <strong>und</strong> Absolutum da (erste Ursache) nach dem Vorbild Thomas von Aquin<br />
den Umfang <strong>der</strong> Ontologie in Seinsstufen vorstellen können sollte, antwortet er, daß<br />
dann <strong>die</strong> Vollkommenheit sich abermals nur als Sein ausdrücken könnte: Je<br />
vollkommener, so mehr ist es, je mehr es ist, desto vollkommener, also je mehr es ist,<br />
um so mehr ist es. (Kierkegaard, Philosophische Brocken , Kopenhagen 1844, dtsch.<br />
Frankfurt 1975, stw 147, p. 44)
-— 213 —<br />
»Der Begriff <strong>der</strong> Position o<strong>der</strong> Setzung ist völlig einfach <strong>und</strong> mit dem vom<br />
Sein überhaupt einerlei. Nun kann etwas als bloß beziehungsweise gesetzt<br />
o<strong>der</strong> bloß <strong>die</strong>se Beziehung (respectus logcius) von etwas als einem<br />
Merkmal zu einem Ding gedacht werden <strong>und</strong> dann ist das Sein, d.i. <strong>die</strong><br />
Position <strong>die</strong>ser Beziehung [A ist B], nichts als <strong>der</strong> Verbindungsbegriff in<br />
einem Urteile. Wird nicht bloß <strong>die</strong>se Beziehung [d.h. wird Sein <strong>und</strong> >ist<<br />
nicht bloß im Sinne <strong>der</strong> Kopula, A ist B, gebraucht], son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Sache an<br />
<strong>und</strong> vor sich selbst gesetzt betrachtet, so ist <strong>die</strong>ses Sein so viel als Dasein<br />
[d.h. Vorhandensein].« 219<br />
Die Kompatibilität des Konzepts des Vorhandenseins mit dem Begriff vom<br />
Dasein wurde aber gar nicht bestritten. Hier wird doch deutlich genug von<br />
einer Sache als an <strong>und</strong> vor sich selbst gesetzt gesprochen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se<br />
Verwendung des Daseins als ein Begriff von Sein näher spezifiziert durch<br />
<strong>die</strong> vergleichende Relation des »so viel als«. Und schließlich wird erst<br />
<strong>die</strong>ser bereits spezifizierte Begriff des Daseins mittels Vorhandensein<br />
charakterisiert. Die Sache an sich selbst betrachtet wird als solche<br />
betrachtet, <strong>die</strong> ich mir allein als vor mich selbst gesetzt habe: daß soll wohl<br />
soviel heißen, daß ich mir <strong>die</strong> Sache so denke, daß ich von <strong>der</strong> Affinität<br />
von Subjekt <strong>und</strong> Objekt (was erst ineinan<strong>der</strong>bezogen das Dasein<br />
ausmacht) absehe. Das Sein <strong>die</strong>ser Sache für sich selbst ist aber soviel wie<br />
das Dasein als bloßes Vorhandensein, von welchem aber <strong>der</strong> Akt <strong>der</strong><br />
Wahrnehmung (damit <strong>die</strong> ganze Konstitutionsleistung) nunmehr<br />
abgezogen worden ist. — Ich kann daraus nicht entnehmen, daß Kant<br />
damit eine Definition des Daseins überhaupt geben wollte, vielmehr halte<br />
ich das für eine Ableitung des Daseins des Objektes an <strong>und</strong> für sich aus<br />
dem Dasein <strong>der</strong> Affinität von Subjekt <strong>und</strong> Objekt. Das aber ist nur eine<br />
an<strong>der</strong>e Interpretation einer Ansicht, <strong>die</strong> psychologisch auch als <strong>die</strong><br />
Notwendigkeit <strong>der</strong> intentionalen Struktur des Bewußtseins ausgedrückt<br />
werden kann, von wo aus <strong>der</strong> gleiche Gedankengang mit <strong>der</strong><br />
Demonstration des deictischen Charakters <strong>der</strong> Intentionalität, <strong>der</strong> mit dem<br />
Ausdruck »Da-sein« des Vorhanden erst erläutert wird, zu verstehen ist.<br />
— Der Vorwurf, <strong>der</strong> Begriff des Daseins bei Kant sei überwiegend o<strong>der</strong><br />
auch nur von vornherein allein am Vorhandensein orientiert, bleibt trotz<br />
des Faktums, daß <strong>die</strong> »Meldung des Seienden« (Perzeption) über <strong>die</strong><br />
Sinnlichkeit (qua Körperlichkeit) erfolgt, von seltsamer Einseitigkeit.<br />
Heideggers Darstellung erfüllt keineswegs den erhobenen Vorwurf: »Sein<br />
ist we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> „bloßen Position“ noch in <strong>der</strong> „absoluten<br />
219 Beweisgr<strong>und</strong> Gottes, p. 77
-— 214 —<br />
Position“ ein reales Prädikat.« (Heidegger, p. 53). Die »bloße Position« sei<br />
<strong>die</strong> <strong>der</strong> formalen Möglichkeit in Beziehung auf <strong>die</strong> reale Möglichkeit in <strong>der</strong><br />
reinen Sachverhaltsdarstellung; <strong>die</strong> absolute Position ist <strong>die</strong> Verknüpfung<br />
des Dinges mit <strong>der</strong> Wahrnehmung (Wirklichkeit, Dasein). (zu: K.r.V.,<br />
B 287, Beweisgr<strong>und</strong> Gottes, p. 79)<br />
Die Thesen Kants: Sein ist gleich Position, Dasein ist gleich absolute<br />
Position, führen sie ins Dunkle? (p. 57) In § 8 führt Heidegger unter (a) als<br />
konsequente Umkehrung <strong>der</strong> Entscheidung Kantens ein, <strong>die</strong> absolute<br />
Position an <strong>die</strong> Wahrnehmung zu binden: »Das Prädikat <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
fügt dem Begriff vom Dinge <strong>die</strong> Wahrnehmung hinzu.« (p. 62) — Kant<br />
sagt aber nicht nur unentwegt, absolute Position <strong>und</strong> Wahrnehmung seien<br />
<strong>die</strong> einzigen Charakteristika für Wirklichkeit, wie Heidegger unterstellt.<br />
(p. 64) Heidegger übersieht <strong>die</strong> rationalistische Kunstfertigkeit <strong>die</strong>ses<br />
modallogischen Gedankenganges <strong>und</strong> hält <strong>die</strong> Verwendung des<br />
Ausdrucks »Wirklichkeit« in <strong>die</strong>ser Definition für <strong>die</strong> einzig<br />
Ursprüngliche. Die modallogische Argumentation ist aber selbst<br />
intellektuell <strong>und</strong> hat nichts mit <strong>der</strong> transzendentalen Einbildungskraft zu<br />
tun, <strong>die</strong> nur <strong>die</strong> Voraussetzungen schaffen soll, damit sinnliche<br />
Erscheinungen überhaupt als Wahrnehmung von etwas angesprochen<br />
werden können: aber eben nur als bereits in Verbindung stehend mit <strong>der</strong><br />
Sphäre an<strong>der</strong>er Wahrnehmungen real möglicher Washeiten (realitas) in<br />
einer zusammenhängenden Erfahrung. Die Untersuchung <strong>der</strong><br />
transzendentalen Einbildungskraft führt in <strong>die</strong> Deduktion <strong>der</strong><br />
Verstandesbegriffe <strong>und</strong> zum transzendentalen Schematismus, <strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
beiden Erkenntnisvermögen Verstand <strong>und</strong> Sinnlichkeit verbinden können<br />
soll. Meine Interpretationshypothese, <strong>die</strong> ich im dritten Abschnitt <strong>die</strong>ser<br />
Arbeit näher ausführen werde, ist <strong>die</strong>, daß nicht jene Interpretation <strong>der</strong><br />
Deduktion, welche ihre Synthesis aus <strong>der</strong> Übereinstimmung <strong>der</strong> beiden<br />
Bestimmungsarten <strong>der</strong> Washeit, nämlich Eidos <strong>und</strong> Genus bezieht, den<br />
Intentionen Kants näher kommt, son<strong>der</strong>n ich denke, <strong>die</strong> Erweiterung auf<br />
<strong>die</strong> Ganzheit <strong>der</strong> Erfahrung eines bestimmten Gegenstandes X als Ganzes<br />
<strong>der</strong> Sinnlichkeit <strong>und</strong> Ganzes des Denkens eingangs des Duisburger<br />
Nachlasses <strong>und</strong> <strong>der</strong>en von <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Grammatik in<br />
analytischen <strong>und</strong> synthetischen Urteilen ausgehenden Varianten von<br />
aptitudo, Exponent <strong>und</strong> Prinzip hat in <strong>der</strong> Überlegung <strong>der</strong> Vermittlung<br />
<strong>und</strong> Zusammenfügung von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Verstand in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />
reinen Vernunft deutlich genug Spuren hinterlassen, z. B. logische Tafel —<br />
kategoriale Tafel, konstitutive (mathematische) Kategorien — dynamische
-— 215 —<br />
Kategorien u. a., sodaß <strong>die</strong> Annahme, <strong>die</strong> strikte Geb<strong>und</strong>enheit des<br />
Themas, als ginge es beim Schematismusproblem nur um <strong>die</strong><br />
Vereinbarung von Eidos <strong>und</strong> Genus, verworfen werden muß.<br />
Das Schematismusproblem stellt sich mir einerseits so dar, daß das<br />
sogenannte Schematismuskapitel erst spät <strong>die</strong> Aufgabenstellung<br />
einigermaßen bewältigt; <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Fixierung auf <strong>die</strong> primäre Intention<br />
im Duisburger Nachlaß gestellten Grenzen (Wahrnehmung = Sinnlichkeit,<br />
Konstruktion, Intellection) hinausgehende Untersuchung <strong>der</strong> Schematen<br />
<strong>der</strong> (transzendentalen) Einbildungskraft hat eine Untersuchung des<br />
Prinzips <strong>der</strong> transzendentalen Kausalität zu sein. An<strong>der</strong>erseits wird sich<br />
zeigen, daß <strong>die</strong> Formulierung des transzendentalen Schematismus im<br />
Schematismuskapitel zwar für <strong>die</strong> transzendentale Deduktion <strong>die</strong><br />
wesentliche <strong>und</strong> entscheidende, aber nicht eine einmalige o<strong>der</strong> alle<br />
Problemstellungen auflösende Formulierung bleibt. Was darunter zu<br />
verstehen sein kann, will ich im vierten Abschnitt einem Abschluß näher<br />
bringen, bevor im fünften Abschnitt Klarheit hergestellt wird. Eigentlich<br />
kann <strong>die</strong> Frage nach dem Verhältnis von Intellection <strong>und</strong> empirischer (mit<br />
o<strong>der</strong> ohne Phronesis), reiner (konstruktiver) <strong>und</strong> transzendentaler<br />
Einbildungskraft erst im Rahmen des selbst ursprünglich praktischen<br />
Freiheitsproblems behandelt werden. — Keinesfalls darf <strong>die</strong> Formulierung<br />
des transzendentalen Schemas selbst in <strong>der</strong> Reihe von empirischer, reiner<br />
<strong>und</strong> transzendentaler Einbildungskraft mit <strong>der</strong> Problemaufstellung<br />
verwechselt werden, den Analogien von Verstand <strong>und</strong> Sinnlichkeit sei<br />
dadurch Aufklärung zu verschaffen, indem man sich <strong>die</strong> Vermittlung als<br />
anhand einer schematischen Übereinstimmung von Eidos <strong>und</strong> Genus<br />
geschehen denke. Wie hier im ersten Abschnitt bereits gezeigt, ist <strong>die</strong><br />
Merkmalslehre nicht in ein ein für alle Mal eindeutiges Verhältnis zu den<br />
Gattungsbegriffen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en subsumtive Struktur zu bringen. 220<br />
Die transzendentale Deduktion, sofern sie das Schematismuskapitel <strong>und</strong><br />
Teile <strong>der</strong> synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze im Nachweis <strong>der</strong> objektiven Geltung<br />
<strong>der</strong> Kategorien umfaßt, behandelt an Stelle des Problems, wie sind <strong>die</strong><br />
Schematen des Eidos <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schematen des Genus zu vereinbaren, trotz<br />
<strong>der</strong> auf sprachliche Voraussetzungen hin kritisierbaren Form <strong>der</strong><br />
220 Hier wäre entlang <strong>der</strong> Unterscheidung in erster (Merkmal) <strong>und</strong> zweiter Definition<br />
(Organisationsform) <strong>der</strong> Washeit im Umfeld o<strong>der</strong> bei Aristoteles selbst Näheres zu<br />
bedenken (W. Mathis). Weiters ließe sich anhand <strong>der</strong> Geschichte des<br />
Klassifikationsproblemes in <strong>der</strong> Botanik zwischen Jungius <strong>und</strong> Linné <strong>die</strong> relative<br />
Unabhängigkeit <strong>der</strong> Gründe <strong>der</strong> Merkmalslehre von <strong>der</strong> logischen Arbiträrität <strong>der</strong><br />
Gattungsbegriffe aufzeigen. ◊
-— 216 —<br />
Kantschen Definitionen <strong>die</strong> Frage nach dem Verhältnis von konstitutiver<br />
<strong>und</strong> dynamischer Kategorie — <strong>die</strong> Kategorien erscheinen damit als Quelle<br />
ausschließlich für <strong>die</strong>jenigen Definitionen <strong>der</strong> Washeiten geeignet, insofern<br />
<strong>die</strong>se als Vorhandenes vorgestellt werden <strong>und</strong> existieren können (als Sache<br />
an sich selbst). Das macht von selbst <strong>die</strong> Beschränktheit auf den logischen<br />
Inhalt <strong>der</strong> modallogischen Erörterung des »Ist«-sagens Heideggers in <strong>der</strong><br />
Frage, was <strong>der</strong> Ausdruck »Wirklichkeit« bei Kant bedeuten könnte,<br />
nochmals deutlich. An<strong>der</strong>s als Heidegger als vorgeblich nicht-katholischer<br />
Philosoph hält sich Kant den Daseinsbegriff zwischen Satzsubjekt <strong>und</strong><br />
Satzgegenstand frei von allen <strong>die</strong> Universalität des Genus<br />
beanspruchenden Definitionen. — So halte ich <strong>die</strong>sbezüglich eher<br />
Heideggers Überlegungen von Setzen, Gesetztsein <strong>und</strong> Gesetztheit des<br />
gesetzten Objektes in Hinblick auf <strong>die</strong> Andeutungen zu Fichtes<br />
Wissenschaftslehre für dunkler als <strong>die</strong> von Kant aus angebotenen<br />
Alternativen. Noch deutlicher wird in § 11a (Ursprung von essentia <strong>und</strong><br />
existentia; hier p. 147) <strong>die</strong> Einseitigkeit <strong>der</strong> Darstellung Heideggers; er<br />
bezieht sich bei Kant nach wie vor nur auf eine verkürzte Auffassung von<br />
»Wahrnehmung«, ohne <strong>die</strong> damit vorausgesetzte Affinität zu bedenken. —<br />
Zwar: Die Darstellung <strong>der</strong> beiden Positionen des Begriffs in <strong>der</strong> Schrift<br />
Kants (»Vom Beweisgr<strong>und</strong> Gottes«) macht auch deutlich, daß <strong>die</strong> Kritik<br />
Leibnizens an <strong>der</strong> Cartesianischen »res extensa«, <strong>die</strong>ser fehle <strong>die</strong> causa<br />
effiziens, nur bedingt richtig ist: so kommt nicht nur <strong>die</strong> Phoronomie in<br />
den M.A.d.N. (Beweglichkeit), son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Substanz<br />
(Beharrlichkeit) ohne Ursache- <strong>und</strong> Kraftbegriff aus. Kant geht aber nicht<br />
nur hier von <strong>der</strong> Leibnizianischen Vorstellung aus, <strong>die</strong> Prädikatsbeziehung<br />
auf ein existierendes Ding sei <strong>der</strong> zureichende Gr<strong>und</strong> alles weiteren, was<br />
sich im davor diskutierten Zitat aus dem »Beweisgr<strong>und</strong> Gottes«<br />
nie<strong>der</strong>schlägt. Es ist insofern ja auch nicht gerade falsch, Kant <strong>der</strong><br />
Auffassung zu verdächtigen, <strong>die</strong> Wahrnehmung in <strong>der</strong> Prädikatisierung<br />
sei bereits als Verbindung von Verstand <strong>und</strong> Sinnlichkeit zu verstehen. (So<br />
verdächtige ich meinerseits Heidegger, selbst hier noch einen gegenüber<br />
<strong>der</strong> »Intellection« defizienten Begriff von »Wahrgenommenheit« zu<br />
verwenden). Falsch ist es jedoch zu behaupten, <strong>die</strong>se Definition des<br />
zureichenden Gr<strong>und</strong>es als <strong>die</strong> erste ratio <strong>der</strong> objektiv inten<strong>die</strong>rten Realität<br />
sei schlechthin <strong>die</strong> vollständige Definition von Realität als objektiv<br />
mögliche Existenzform (Seinsweise des je Seienden), wenn nach <strong>der</strong><br />
objektiven Realität eigens gefragt wird. Die Objektivität des Begriffes ist<br />
eigens zu rechtfertigen; sei es nun im Rahmen <strong>der</strong> Schematen von Eidos<br />
<strong>und</strong> Genus o<strong>der</strong> im Rahmen des transzendentalen Schematismus zwischen
-— 217 —<br />
konstitutiver <strong>und</strong> dynamischer Kategorie. Das kann <strong>die</strong> einfache<br />
Erörterung <strong>der</strong> primären Intentionalität nicht leisten, weshalb eine<br />
transzendentale <strong>und</strong> synthetische Erörterung notwendig wird. Was Kant<br />
in <strong>der</strong> Nova dilucidatio noch <strong>der</strong> Verknüpfung <strong>der</strong> einfachen <strong>und</strong><br />
untereinan<strong>der</strong> wirkungslosen Atome durch den göttlichen Verstand<br />
zuschreibt, wird spätestens im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> dritten<br />
Kategorie (reales Zugleichsein) als System von Wechselwirkungen<br />
aufgefaßt (wobei vergleichbares Kant des öfteren schon in <strong>der</strong> sogenannten<br />
vorkritischen Phase behauptet hat). — Die Definition <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
wird — <strong>und</strong> zwar mit o<strong>der</strong> ohne ausdrückliche Hereinnahme des<br />
praktischen Vernunftbegriffes in <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> objektiven Realität —<br />
zwar ebenso wie im zureichenden Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Zuschreibung eines<br />
Prädikates auf ein Ding für das Zugleichsein getroffen, was <strong>die</strong><br />
Vorhandenheit als eine Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit zweifellos<br />
notwendigerweise in Stellung hält (aber eben schon als mögliche<br />
Wahrnehmung als Anschauung <strong>und</strong> Intellection), doch aber wird mit <strong>der</strong><br />
Kategorie <strong>der</strong> Wechselwirkung <strong>die</strong> strenge Polarität <strong>der</strong> Affinität von<br />
Subjekt <strong>und</strong> Objekt in <strong>der</strong> primären Intentionalität geöffnet. Nunmehr<br />
wird <strong>der</strong> Horizont des Zugleichseins <strong>und</strong> des Vorhandenseins aller<br />
Seien<strong>der</strong> unterscheidbar vom Horizont des subjektiven <strong>und</strong><br />
möglicherweise auch individuellen Horizont des Daseins als bloßes Gefühl<br />
<strong>der</strong> Allgegenwart; <strong>und</strong> zwar letztlich mittels des dynamischen Arguments<br />
<strong>der</strong> transzendentalen Kausalität, <strong>die</strong> gegenüber <strong>der</strong> Kausalität aus Freiheit<br />
<strong>und</strong> Kausalität durch Freiheit als Naturkausalität selbstständig ist. —<br />
Damit wird zwar <strong>die</strong> Passendheit des Konzeptes <strong>der</strong> Vorhandenheit im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Definition des realen Zugleichseins weiterhin je garantiert,<br />
aber eben gerade nicht das Sein über das Dasein nur als innerweltliche<br />
Vorhandenheit bestimmt. Das Dasein des Objektes, obwohl aus dem<br />
Dasein <strong>der</strong> Affinität von Subjekt <strong>und</strong> Objekt abgeleitet, trifft im<br />
Vorhandenen erst sein selbstständiges Substrat. Das aber mag Heidegger<br />
hier nicht glauben; später hat er in <strong>der</strong> Schrift »Vom Ereignis« das Subjekt<br />
nahezu ausgeschaltet <strong>und</strong> trifft in <strong>der</strong> Lichtung <strong>der</strong> Wahrheit zwischen<br />
Ontik <strong>und</strong> Ontologie eine bloße Ankündigung.<br />
Heideggers Darstellung des Begriffs <strong>der</strong> Wirklichkeit, bei Kant sei <strong>die</strong>ser<br />
nur auf das Subjekt als Vorhandenes bezogen, ist auch in § 11 <strong>der</strong><br />
»Gr<strong>und</strong>probleme <strong>der</strong> Phänomenologie« (das eigentliche Kant-Buch) falsch:<br />
Das Commercium als System <strong>der</strong> Wechselwirkung ist in seiner Existenz<br />
unabhängig vom Subjekt <strong>die</strong> Wirklichkeit, obgleich sich das Subjekt als in
-— 218 —<br />
<strong>die</strong>ser Wechselwirkung stehend begreift. Heidegger behandelt hier eine<br />
Frage, <strong>die</strong> Kant bereits mit <strong>der</strong> Unterscheidung von subjektiver <strong>und</strong><br />
objektiver Realität gelöst hat. Die ontologische Wirklichkeit des<br />
transzendentalen Subjekts steht bei Kant entgegen den Unterstellungen<br />
Heideggers spätestens ab <strong>der</strong> Abziehung des inneren Sinnes zum reinen<br />
»ich denke« im Zuge <strong>der</strong> transzendentalen Analytik eines Ganzen <strong>der</strong><br />
Erfahrung durchaus in Frage (Paralogismus: synthetisch-metaphyische<br />
versus transzendentalanalytische Methode) <strong>und</strong> ist in synthetischer (auch<br />
in »genetischer«) Hinsicht Ausgangspunkt aber nicht das F<strong>und</strong>ament<br />
seiner Analyse (vgl. <strong>die</strong> Unterscheidung in Ich <strong>und</strong> Leib im vierten<br />
Paralogismus, den Vorrang <strong>der</strong> primären Intentionalität in <strong>der</strong><br />
Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus als Strukturmerkmal einer jeden<br />
Bewußtseinstheorie). Wahr ist auch, daß Kant das Problem <strong>der</strong><br />
formalisierbaren Intentionalität erst spät erkannt hat.<br />
Auch <strong>die</strong> Behauptung Heideggers, daß <strong>die</strong> primäre Orientierung am<br />
Subjekt in <strong>der</strong> neuzeitlichen Philosophie vom Motiv geleitet sei, daß das<br />
Ich-Bewußtsein von vorneherein <strong>die</strong> größte Gewißheit besitze (§ 13,<br />
p. 175), ist nur teilweise richtig: Gerade Kant hat in <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des<br />
Idealismus <strong>die</strong> primäre Intentionalität aufs Objekt behauptet (wie später<br />
Brentano von Aristoteles <strong>und</strong> Descartes herkommend auch), <strong>und</strong> von <strong>der</strong><br />
Erfahrung ausgehend in <strong>der</strong> transzendentalen Analyse erst im<br />
Paralogismus <strong>die</strong> subjektive Realität des Daseins (eben nicht kategorial<br />
bestimmbar) als Ausgangspunkt <strong>der</strong> Deduktion <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Kategorien gewonnen. Und das »Ich denke« des § 16 <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Deduktion hat noch nicht das Auge <strong>der</strong> zu deduzierenden Kategorien<br />
eingesetzt bekommen, auch wenn das vielfach so verstanden worden ist.<br />
— Ausgerechnet im Zusammenhang des § 16 <strong>der</strong> ersten Kritik <strong>die</strong><br />
For<strong>der</strong>ung Kantens aus dem Beweisgr<strong>und</strong> Gottes nach sinnlicher<br />
Wahrnehmung <strong>der</strong>art zu verstehen, daß man als Argument einzuwerfen<br />
können glaubt, es hätte anstatt Psychologie besser <strong>die</strong> Anthropologie als<br />
Gegenstand des inneren Sinnes entwickelt werden sollen, zeugt nur vom<br />
Unverstand Heideggers betreffs des Ganges <strong>der</strong> Deduktion. 221<br />
221 Vgl. hiezu auch Schnädelbach, Kant — <strong>der</strong> Philosoph <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, in: Schönrich <strong>und</strong><br />
Kato (Hrsg.),Kant in <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, Suhrkamp Frankfurt/Main 2 1997,<br />
p. 11-26
-— 219 —<br />
e) Das Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit<br />
Kant gesteht, daß unsere Erkenntnis letztlich auf unauflösliche Begriffe<br />
beruhe; <strong>und</strong> seien manche auch nur »beinahe unauflöslich«, so sind <strong>die</strong><br />
Merkmale <strong>der</strong> Sache nur »sehr wenig klärer <strong>und</strong> einfacher als <strong>die</strong> Sache<br />
selbst«. So sei es auch im Falle <strong>der</strong> Erklärung von <strong>der</strong> Existenz. »Allein <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> Natur des Gegenstandes in Beziehung auf <strong>die</strong> Vermögen unseres<br />
Verstandes verstattet auch keinen höheren Grad.« 222 — Also auch <strong>die</strong><br />
Erklärung <strong>der</strong> absoluten Position durch <strong>die</strong> Wahrnehmung <strong>und</strong> <strong>die</strong> daraus<br />
zu erwartende Vorstellung von Existenz als Washeit sind für Kant nicht<br />
völlig befriedigend. Das ist doch eine weitere deutliche Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong><br />
Vermutung Heideggers, <strong>der</strong> Begriff des Vorhandenseins würde in Kants<br />
Begriff vom Dasein ausschließliches Charakteristikum sein. Das Dasein<br />
umfaßt <strong>die</strong> Position des Seins, als das Reich <strong>der</strong> möglichen Washeiten<br />
(Realitäten), nicht nur <strong>die</strong> Existenz, <strong>die</strong> für uns durch Wahrnehmung<br />
charakterisiert werden kann. 223 Das Dasein selbst ist zweifellos intentional<br />
verfaßt, denn zum Dasein gehört Aufmerksamkeit (Bewußtsein). Hierin ist<br />
das Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit das Kennzeichen <strong>der</strong> Erfülltheit einer<br />
durch sinnliche Wahrnehmung charakterisierten Intention, <strong>die</strong> durch eine<br />
sachhaltige Form (Realität als Mögliches) bestimmt worden ist. Das<br />
Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit bringt <strong>die</strong> intentionale Struktur (Washeit <strong>der</strong><br />
sachhaltigen Realität) zum logischen Nachvollzug <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />
(erfüllte Intention). Die Sphäre realer Möglichkeiten sind aber<br />
definitionsgemäß sachhaltig, weil real möglich <strong>und</strong> weil sie an<strong>der</strong>swo o<strong>der</strong><br />
zu an<strong>der</strong>en Zeiten existieren könnten o<strong>der</strong> sogar nachweisbar existieren.<br />
Insofern ist zu sagen, daß <strong>die</strong> realen Möglichkeiten auf Vorhandenheit hin<br />
konzipiert sind, <strong>und</strong> es scheint mir empfehlenswert zu sein, sich an <strong>die</strong>se<br />
Konvention zu halten, um <strong>die</strong> verschiedenen Bewußtseinszustände nicht<br />
durcheinan<strong>der</strong>zubringen <strong>und</strong> den Wert des existierenden Daseins nicht zu<br />
unterschätzen (Heidegger hält das Dasein für ein Seiendes, daß nicht<br />
existiert). Der Bezug des Daseins zur realen Möglichkeit bestärkt zwar nur<br />
<strong>die</strong> Auffassung von <strong>der</strong> Wesenhaftigkeit des Daseins als ein intentional<br />
verfaßtes Bewußtsein, doch än<strong>der</strong>t sich das Kriterium <strong>der</strong> Erfüllung einer<br />
Intention, wenn <strong>die</strong> bloße Vorstellung einer real sachhaltig bestimmten<br />
Möglichkeit ausreicht, um sicher sein zu können, daß vom Konzept A <strong>und</strong><br />
nicht vom Konzept B <strong>die</strong> Rede ist, gleich ob <strong>der</strong>en Vorhandenheit nun<br />
behauptet worden ist o<strong>der</strong> nicht. Darüberhinaus ist unabhängig davon <strong>die</strong><br />
222 Beweisgr<strong>und</strong> Gottes, p 78<br />
223 »Die Wahrnehmung ist <strong>der</strong> einzige Charakter <strong>der</strong> Wirklichkeit« (K.r.V., B 273)
-— 220 —<br />
Erinnerung an <strong>die</strong> Differenz zwischen real möglich <strong>und</strong> existent qua<br />
sinnlicher Wahrnehmung im Dasein immer schon enthalten. Das Fragen<br />
<strong>der</strong> theoretischen Philosophie beginnt mit dem Moment, wo <strong>die</strong>ser<br />
Unterschied im Dasein ins Bewußtsein tritt. Deshalb habe ich von<br />
Anbeginn behauptet, <strong>der</strong> Begriff vom Dasein sei bei Kant nicht allein vom<br />
Konzept des Vorhandenseins wesentlich bestimmt, son<strong>der</strong>n darf<br />
zumindest im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie auf <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong>lage aller dreier Kritiken Kants hoffen.<br />
f) Die Vorstellung vom Ich als eines Subjekts o<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>es des<br />
Denkens<br />
»Müssen wir nicht phänomenologisch fragen, in welcher Weise dem<br />
Dasein selbst sein Ich, sein Selbst, gegeben ist, d. h. in welcher Weise das<br />
Dasein existierend es selbst, sich zu eigen, d. h. eigentlich im strengen<br />
Wortsinn ist?« (Heidegger, GA, Bd. 24, § 15 b, S. 225)<br />
Die programmatische Aussage, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser Frage enthalten ist, führt zu<br />
den Paralogismen Kants zurück, <strong>die</strong>, wennzwar negativ, <strong>die</strong> Seinsweise<br />
des Ichs in Unterscheidung vom Dasein (!) bestimmt haben. So schreibt<br />
Kant auch von <strong>der</strong> Vorstellung des Ichs als Subjekt o<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des<br />
Denkens, daß <strong>die</strong>se Vorstellungsarten nicht kategorial, <strong>und</strong> so nicht<br />
Erkenntnis genannt werden kann, wozu sinnliche Anschauung nötigt wäre<br />
(K.r.V., B 429), was letztlich durchaus etwas mehr zugestehen scheint, als<br />
<strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen selbst. Insofern ist das »Ich denke«,<br />
das alle unsere Vorstellungen begleiten können muß, da ohne eigene<br />
Vorstellung nur als rein begriffliche Erkenntnis möglich, noch weniger<br />
bestimmt als <strong>die</strong> Realitas (Washeit) <strong>der</strong> Möglichkeit des Seins. Die<br />
Seinsweisen <strong>der</strong> Möglichkeiten des Seins hingegen sind allein dadurch,<br />
daß sie auf das Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit hingeordnet sind, näher<br />
bestimmt, wenn auch selbst nicht von <strong>der</strong> Seinsweise <strong>der</strong> Vorhandenheit.<br />
Dies <strong>und</strong> das Vorhandene im engeren Sinne umfaßt mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
das Dasein, ein Ausdruck, den Kant zunächst gleichmäßig über alles<br />
Existierende verwendet, was aber nicht bedeutet, daß Kant unter Dasein<br />
immer auch Vorhandenheit selbst versteht. — Die Seinsart <strong>der</strong> Vorstellung<br />
des Ichs als Subjekt o<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens hat nicht einmal <strong>die</strong>se<br />
Hinordnung auf das Konzept des Vorhandenseins. (Heidegger hält<br />
inkonsequenterweise gleich das ganze Dasein in <strong>die</strong>sem Sinne für ein<br />
Seiendes, das nicht existiert).
-— 221 —<br />
Kant formuliert vermutlich präzise, wenn er von einer Vorstellung des Ich<br />
»als« Subjekt o<strong>der</strong> »als« Gr<strong>und</strong> des Denkens spricht; in Frage steht, ob mit<br />
<strong>die</strong>ser Formulierung das Subjekt dem Gr<strong>und</strong> des Denkens<br />
gegenübergestellt werden soll (1), o<strong>der</strong> ob das Subjekt auch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des<br />
Denkens genannt werden müßte, was ein analytisches Urteil wäre (2).<br />
ad (1) Steht dem Subjekt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens gegenüber, so ist <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong> das Nicht-Subjektive, das Objektive. Allerdings ist das Objektive<br />
selbst nicht nur das An<strong>der</strong>e schlechthinnig an <strong>und</strong> für sich selbst, son<strong>der</strong>n<br />
auch laut Heidegger mit Fichte erst als Objekt <strong>der</strong> analytische Gegensatz<br />
des Subjekts. Das ist nicht unrichtig, zumal das Objekt in <strong>der</strong> Reflexion<br />
schließlich <strong>die</strong> Unterlage des Begriffs des Gegenstandes wird. Überhaupt<br />
bezeichnet das Objekt begrifflich einen Zwischenstatus von Substanz (als<br />
transzendentale Materie ohne Form, im Kapitel über das prototypon<br />
transcendentale das Substrat <strong>der</strong> Allheit realer Prädikate) <strong>und</strong> Gegenstand.<br />
Schon das Empirische überhaupt (im Paralogismus als unqualifizierte<br />
Affiziertheit des inneren Sinnes, in den M.A.d.N. wie<strong>der</strong>um als<br />
transzendentale Materie) erweist sich zwar als Unterlage sowohl eines<br />
Objekts- wie eines Gegenstandsbegriffes, ohne deshalb selbst<br />
notwendigerweise den Begriff <strong>der</strong> Substanz geklärt haben zu müssen. Der<br />
Begriff des Objektes ist also offenbar nicht allein aus dem analytischen<br />
Gegensatz zum Subjekt bestimmbar. Insofern ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens<br />
inhaltlich nicht <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des fraglichen Daseins als Subjekt, doch ist<br />
<strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong> deshalb noch nicht nur in <strong>der</strong> Position des Nicht-Subjektes,<br />
son<strong>der</strong>n immer nur als Gr<strong>und</strong>, im Subjekt als Nicht-Subjekt zu erscheinen<br />
o<strong>der</strong> aus einer Affektation des Subjekts erschließbar zu sein, auch zu<br />
haben. Sobald <strong>die</strong>se Reflexion abgeschlossen ist (<strong>und</strong> zwar mit o<strong>der</strong> ohne<br />
unmittelbares sinnliches Substrat), wird das Objekt subjektiv <strong>und</strong> objektiv<br />
zum Gegenstand. We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Objektes noch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des<br />
Gegenstandes ist nur subjektiv: M.a.W. we<strong>der</strong> Objekt noch Gegenstand<br />
haben ihren Gr<strong>und</strong> bloß analytisch aus dem Gegensatz zum Begriff des<br />
Subjektes gewonnen. Während das Objekt aber noch auf äußere<br />
Sinnlichkeit <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>der</strong> Anschauung angewiesen bleibt, soll<br />
<strong>der</strong> Begriff des Gegenstandes — wie Kant es in <strong>der</strong> reinen Ontologie<br />
(Architektonik) vorsieht — allein aus <strong>der</strong> durchbestimmbaren Form <strong>der</strong><br />
Intentionalität gewonnen werden können.<br />
Es gibt also verschiedene Gründe, anhand des Begriffs vom einzelnen<br />
Gegenstand eine Seinsweise zu charakterisieren, wird <strong>die</strong>ser nur einmal<br />
als entis rationis aufgefaßt, <strong>die</strong> von allen an<strong>der</strong>en Charakteristika von
-— 222 —<br />
Seinsweisen verschieden ist, obgleich doch <strong>der</strong> Begriff vom Gegenstand<br />
ursprünglich aus <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> logischen Wesensbestimmung eines<br />
Objektes <strong>der</strong> sinnlichen <strong>und</strong> intellektuellen Wahrnehmung entstammt: <strong>der</strong><br />
Begriff vom logischen Gegenstand hingegen soll nur aus <strong>der</strong> »logischen«<br />
Form <strong>der</strong> Intentionalität des Daseins entspringen, gleich wie sonst noch<br />
das empirische Kriterium <strong>der</strong> Erfülltheit einer bestimmbaren Intention<br />
auch lauten mag. Da haben wir auch gleich das erste Kriterium: <strong>die</strong><br />
Bedingung des logischen Gegenstandes erfüllt jede semantische Differenz,<br />
sofern sie nur zu definieren möglich ist. Daraus folgt unmittelbar, daß<br />
nicht jede Definition von »es gibt« o<strong>der</strong> »es gilt« eine Gegenständlichkeit<br />
im Sinne einer von sinnlich <strong>und</strong> intellektuell charakterisierten<br />
Wahrnehmung bedeuten können muß. Damit ist aber auch noch nicht <strong>die</strong><br />
Behauptung gefallen, daß das Konzept <strong>der</strong> Gegenständlichkeit in<br />
transzendentallogischer Hinsicht nur unter <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />
inhaltlich (qualitativ) eine transzendentale Charakteristik besäße.<br />
ad (2) Soll aber das Subjekt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens genannt werden,<br />
indem Kant doch schreibt »Wenn ich mich hier als Subjekt <strong>der</strong> Gedanken,<br />
o<strong>der</strong> auch als Gr<strong>und</strong> des Denkens vorstelle [...]« (B 429), <strong>und</strong> so <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong><br />
des Denkens mit dem Gedanken, <strong>der</strong> zweifellos dem Subjekt angehört, in<br />
Verbindung gebracht wird, so ist <strong>der</strong> Begriff des Daseins eindeutig auf<br />
eine Weise charakterisiert worden, <strong>der</strong> von vorneherein einer Reduzierung<br />
auf bloße Vorhandenheit wi<strong>der</strong>steht. Heidegger hat das Konzept <strong>der</strong><br />
Vorhandenheit im Gebrauch des Metapher <strong>der</strong> »Hergestelltheit« im Sinne<br />
<strong>der</strong> Seele als eines endlichen ens creatum endlos überzogen. Gegenüber<br />
dem ontologischen Gottesbeweis (dessen Interpretation <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>legung<br />
durch Kant Heidegger gründlich mißversteht) bleiben freilich res cogitans<br />
<strong>und</strong> res extensa endliche Seiende, ohne deshalb <strong>die</strong> Differenz von res<br />
cogitans <strong>und</strong> res extensa aufzuheben. Aber an Stelle zu fragen, was denn<br />
das Konzept eines unendlich Seienden (Gott) für eine ontologische<br />
Untersuchung des Verhältnisses von Naturphilosophie, Psychologie,<br />
Anthropologie <strong>und</strong> Politik bedeuten könne, erklärt Heidegger am an<strong>der</strong>en<br />
Ende des Rätsels eines an sich existierenden Geistes <strong>die</strong> res cogitans wegen<br />
ihrer vergleichsweisen Endlichkeit zu einer Weise <strong>der</strong> Vorhandenheit<br />
unter an<strong>der</strong>en. — Nun, ohne Zweifel kann bei Bedarf <strong>der</strong> res cogitans,<br />
nötigenfalls mittelbar, ein Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit intersubjektiv<br />
angemessen werden, doch muß doch jedem auch nur einigermaßen<br />
aufmerksamen Beobachter <strong>der</strong> Streitfrage aufgefallen sein, daß mit dem<br />
Kriterium <strong>der</strong> »Intersubjektivität« eine an<strong>der</strong>e Art des Faktums in <strong>die</strong>
-— 223 —<br />
Diskussion eingetreten ist als mit <strong>der</strong> Subjektivität im Rahmen des<br />
individuellen Daseins.<br />
In <strong>der</strong> Allgemeinen Anmerkung zum Paralogismus macht Kant hingegen<br />
deutlich, daß man erst durch <strong>die</strong> Abstraktion von <strong>der</strong> Anschauung zur<br />
Vorstellung des »Ich denke« gelangen kann: »Nun will ich mir meiner aber<br />
nur als denkend bewußt werden; wie mein eigenes Selbst in <strong>der</strong><br />
Anschauung gegeben sei, das setze ich bei Seite, <strong>und</strong> da könnte es mir, <strong>der</strong><br />
ich denke, aber nicht so fern ich denke, bloß Erscheinung sein; im<br />
Bewußtsein meiner Selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst,<br />
von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist.<br />
Der Satz aber, Ich denke, so fern er so viel sagt, als: ich existiere denkend,<br />
ist nicht bloße logische Funktion, son<strong>der</strong>n bestimmet das Subjekt (welches<br />
denn zugleich Objekt ist) in Ansehung <strong>der</strong> Existenz, <strong>und</strong> kann ohne<br />
inneren Sinn nicht stattfinden, dessen Anschauung je<strong>der</strong>zeit das Objekt<br />
nicht als Ding an sich selbst, son<strong>der</strong>n bloß als Erscheinung an <strong>die</strong> Hand<br />
gibt. In ihm ist also schon nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens,<br />
son<strong>der</strong>n auch Rezeptivität <strong>der</strong> Anschauung. « 224<br />
Die Erscheinungen des Selbst lassen sich aber selbst nicht nur kategorial zu<br />
einem Begriff objektiver Realität, son<strong>der</strong>n zu einen objektiven Begriff vom<br />
Leib bestimmen. Die Unterscheidung von res cogitans <strong>und</strong> res extensa nur<br />
innerhalb eines reinen Bewußtseins ist allerdings nicht möglich: Dazu muß<br />
ich <strong>die</strong> Spontaneität des reinen Denken verlassen <strong>und</strong> zur Rezeptivität <strong>der</strong><br />
Anschauung zurückkehren (<strong>die</strong> Ausklammerung — das Beiseite-Setzen —<br />
wie<strong>der</strong> aufheben). Dazu bedarf es keiner Hilfskonstruktion zur Rettung<br />
des Konzepts <strong>der</strong> Vorhandenheit im Sinne kommunikativer<br />
Intersubjektivität, <strong>die</strong> wechselseitige Anerkennung als Person voraussetzt.<br />
— In <strong>der</strong> Tat: Daß nun we<strong>der</strong> das Konzept <strong>der</strong> »Sache« noch <strong>der</strong><br />
»Ausdehnung« ohne jede analytische Bezugnahme auf das Subjekt <strong>der</strong><br />
Spontaneität des »Ich denke« möglich ist, liefert auch das Argument dafür,<br />
daß das Subjekt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Gedankens ist, obgleich we<strong>der</strong> »Sache« noch<br />
»Ausdehnung« für sich Konzepte eines Gedankens selbst sind, son<strong>der</strong>n<br />
nur des Gr<strong>und</strong>es des Denkens als äußerlicher Anlaß.<br />
Das Subjekt in einem dritten Schritt dann doch als Gr<strong>und</strong> des Denkens<br />
vorgestellt, hat den Anlass, <strong>der</strong> überhaupt erst zu denken gibt, zu klären.<br />
— Es gibt also im anspruchslosen Sinn eine Fähigkeit des Subjektiven nicht<br />
im allgemeinsten o<strong>der</strong> gar abstrakten Sinn, son<strong>der</strong>n in einem ausdrücklich<br />
224 B 429
-— 224 —<br />
beson<strong>der</strong>en Sinn. Das Ich ist <strong>der</strong>art verb<strong>und</strong>en mit <strong>die</strong>ser beson<strong>der</strong>en<br />
Fähigkeit des Subjekts, Gr<strong>und</strong> des Denkens zu sein. Diesem Gr<strong>und</strong> ist<br />
eigentümlich, <strong>und</strong> im eigentlichem Sinne seine Definition, daß für ihn gilt,<br />
zwischen dem Allgemeinen des Subjekts <strong>und</strong> dem Individuellen des<br />
an<strong>der</strong>en (des Objekts) zu stehen. Das einzelne Subjektive selbst als<br />
Individuum hat das Allgemeine mit dem Beson<strong>der</strong>en zu verbinden. —<br />
Was ist das Beson<strong>der</strong>e am Dasein des urteilenden Subjekts, das den<br />
Gebrauch <strong>die</strong>ses Wortes für <strong>die</strong> Existenz physikalischer Objekte an <strong>und</strong> für<br />
sich in <strong>die</strong>sem Falle schließlich falsch werden läßt? — Das Subjektive als<br />
Gr<strong>und</strong> des Denkens gibt sich selbst in seiner abstrakten Form als Identität<br />
<strong>der</strong> reinen (vom ganzen Reflexionsgang abgeschnittenen) Selbstreflexion<br />
das (logische) Ich, was Kant wohl wegen <strong>der</strong> Transzendentalität des<br />
Reflexionsganges auch transzendentales Ich nennt. Wollte man in <strong>der</strong> Tat<br />
<strong>die</strong> Vorstellung eines metaphysischen Ich kennenlernen, so hätte man sich<br />
in den Abgr<strong>und</strong> zwischen moralisch-persönlichen Gott <strong>und</strong> Demiurgen zu<br />
verfügen, wie man ihn zwischen Eckehart <strong>und</strong> Böhme, o<strong>der</strong> auch zuletzt<br />
bei Spinoza, Leibniz <strong>und</strong> Schelling kennengelernt haben könnte. 225 Da wäre<br />
das Selbst <strong>die</strong>ses Wesens als reine Spontaneität <strong>und</strong> nicht nur zugleich<br />
son<strong>der</strong>n ident mit reiner Betrachtung zu denken.<br />
❆<br />
Es scheint nach einer Betrachtung <strong>der</strong> verfügbaren Alternativen nicht<br />
klarer zu werden, wer o<strong>der</strong> was ein allgemein zu bezeichnendes<br />
Substratum des »Ich denke« als Zuschreibungsurteil sein könnte, noch<br />
weniger, wie allein aus <strong>der</strong> bisher geführten Erörterung dem nun doch<br />
zumindest mit hinreichen<strong>der</strong> Unterscheidbarkeit bezeichenbaren Dasein<br />
als Dasein eines Subjektes <strong>die</strong> Bezeichnung mit »Ich« außerhalb <strong>der</strong><br />
transzendentallogischen Erörterung, <strong>die</strong> selbst allerdings allgemein bleibt<br />
<strong>und</strong> nicht wirklich individuell werden kann, in concreto zugemutet<br />
werden kann. Wir müssen uns also in <strong>der</strong> Tat fragen, wie <strong>die</strong>sem <strong>der</strong>art<br />
bereits spezifzierten Dasein (p. 225) sein Ich überhaupt gegeben werden<br />
kann. Immerhin hat <strong>die</strong>ses mit <strong>der</strong> philosophischen Frage erst nachhaltig<br />
gesetzte Daseinsweise nicht nur logische o<strong>der</strong> ontologische, son<strong>der</strong>n auch<br />
noch wirkliche <strong>und</strong> moralisch-sittliche Konsequenzen. Es bleibt <strong>die</strong> Frage<br />
nach dem Substrat des Subjekts des »Ich-sagen-könnens« innerhalb des<br />
225 Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus, II. Teil: Praxis, Turia <strong>und</strong> Kant,<br />
Wien 1998, Kap, IV
-— 225 —<br />
bewußtseinsfähigen Daseins schon vor <strong>der</strong> ausdrücklichen Thematisierung<br />
<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Intersubjektivität verb<strong>und</strong>enen Wahrhaftigkeit des Bezeugens<br />
ein sachliches Problem im Rahmen <strong>der</strong> Wahrheitsfrage: Die Systeme <strong>der</strong><br />
Wechselwirkung sind in beiden möglichen Bedeutungen <strong>der</strong><br />
»Vorhandenheit« (persönlich-geistig <strong>und</strong> physikalisch-materiell) nicht nur<br />
nicht restlos trennbar, son<strong>der</strong>n auch nicht restlos unterscheidbar. Wollte<br />
man aber im strengen Wortsinn fragen, wie denn ein Ich sein könne, so<br />
frägt man zuerst nach <strong>der</strong> Möglichkeit, wie ein Selbst, o<strong>der</strong> auch ein<br />
Subjekt, ein Ich besitzen könne. Die Antwort versucht Heidegger eben mit<br />
dem Zitat Hegels zum Selbstbewußtsein zu geben, vermag aber gerade <strong>die</strong><br />
auch von Heidegger verlangte (<strong>und</strong> auch für Heidegger bei Hegel im<br />
bloßen Sich-selbst-Wissen des Geistes als Selbstbewußtsein nicht<br />
gef<strong>und</strong>ene) in sich selbst vermittelte Identität von Ich, Selbst, Dasein <strong>und</strong><br />
Art von Vorhandenheit nicht darzustellen. An <strong>die</strong>ser Stelle <strong>der</strong><br />
Untersuchung sollte aber bei Hegel doch deutlicher zwischen <strong>der</strong><br />
Phänomenologie des Geistes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wesenslogik unterschieden werden:<br />
Subjekt <strong>und</strong> Selbst sind Bezeichnungen (Namen) des fraglichen Substrats,<br />
<strong>die</strong> den Bezeichnungen des selben Substrats als das des Bewußtseins,<br />
zumal des urteilenden (selbstbewußten) Bewußtseins, vorangehen. Nicht,<br />
daß Subjekt o<strong>der</strong> Selbst ohne <strong>der</strong> Bezeichenbarkeit des Selbstbewußtseins<br />
durch den allgemein-individualisierenden Namen »Ich« für <strong>die</strong> empirische<br />
Psychologie nichts wären, doch besitzen <strong>die</strong> Namen »Subjekt« <strong>und</strong><br />
»Selbst« in <strong>der</strong> Analyse des Komplexes Ich - Selbstbewußtsein nur <strong>die</strong><br />
semantische Funktion einer Unterlage des vom »Ich« allgemein<br />
bezeichneten je individuellen Selbstbewußtseins, ohne allerdings ein<br />
Kriterium einer umreißbaren Gestalt in <strong>der</strong> Raum-Zeit-Einheit »Einer«<br />
Anschauung o<strong>der</strong> einer eindeutig bestimmten <strong>und</strong> notwendigen<br />
(andauernden) Kraftwirkung wie physische Gegenstände zu besitzen.<br />
Dabei ist <strong>der</strong> Gebrauch des Namens »Subjekt« <strong>der</strong> abstraktere, da <strong>die</strong>ser<br />
Begriff, von <strong>der</strong> subjektiven Leiblichkeit ausgehend, auch nur einfach <strong>die</strong><br />
Perspektive eines spezifischen Raum-Zeitpunktes zu bezeichnen vermag,<br />
<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> dauernden Gegenwart durch <strong>die</strong> Zeit wan<strong>der</strong>t. Der Ausdruck<br />
»Selbst« hingegen, wie ihn Heidegger ins Spiel bringt, verlangt in <strong>der</strong> Tat<br />
schon <strong>die</strong> phänomenologische Analyse des bloß empirisch vorgef<strong>und</strong>enen<br />
Begriffes <strong>der</strong> Persönlichkeit, <strong>und</strong> bringt somit ausdrücklich eine<br />
Komplizierung <strong>der</strong> Psychologie zu sittlichen <strong>und</strong> politischen<br />
Fragestellungen mit sich.
-— 226 —<br />
g) Die Personalität des Daseins<br />
Personalitas transcendentalis . Will man Heidegger helfen: Nur insofern,<br />
wenn man das »Ich denke« ausdrücklich selbst als Personalität<br />
ausdrückenden Akt versteht, ergibt sich <strong>die</strong> formale Möglichkeit einer Idee<br />
einer personalitas transzendentalis. Die ist aber keineswegs selbst eine<br />
notwendige Bestimmung des »Ich denke« aus den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong><br />
Paralogismen (B) hergeleitet, wie Heidegger trotz des von ihm wohl<br />
erkannten Unterschied <strong>der</strong> beiden Fassungen <strong>der</strong> Paralogismen (A, B)<br />
andeutet (p. 182). — Es sei denn, ich halte <strong>die</strong> personalitas transcendentalis<br />
ausschließlich für eine völlig allgemeine Voraussetzung, sich <strong>die</strong><br />
Möglichkeit eines mit Wahrheit urteilenden Subjektes vorzustellen. Ich<br />
halte es für wichtig, hier Klarheit zu besitzen: Ist <strong>die</strong> personalitas<br />
transcendentalis nun als prototypon transcendentale des praktischen<br />
Vernunftwesens anzusehen, o<strong>der</strong> muß das transzendentale Subjekt des<br />
urteilenden Bewußtseins (das Wesen, daß ich — nach Kant — nur in reiner<br />
Intellektualität selbst sein kann) schon als zureichend angesehen werden,<br />
um überhaupt <strong>der</strong> personalitas transcendentalis eine Unterlage sein zu<br />
können? Kants Darstellung in <strong>der</strong> ersten <strong>und</strong> in <strong>der</strong> zweiten Fassung des<br />
Paralogismus unterscheidet sich vor Allem darin, daß er im dritten<br />
Paralogismus <strong>die</strong> formale Einheit (Akteinheit) in <strong>der</strong> ersten Fassung als<br />
Personalität, in <strong>der</strong> zweiten Fassung als formale Einheit des »Denkens«<br />
verstanden hat. Derart ist offenbar einer Lösung <strong>der</strong> Frage auf dem Boden<br />
<strong>der</strong> ersten Kritik nicht näher zu kommen. An<strong>der</strong>s im Lichte aller dreier<br />
Kritiken: Von hier aus kann <strong>die</strong> personalitas transcendentalis immer nur<br />
<strong>die</strong>jenige Definition des transzendentalen Subjekts des »Ich denke« sein,<br />
welche <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des dritten Paralogismus <strong>der</strong> ersten Fassung (A)<br />
komplementär ist. — Im Lichte aller dreier Kritiken ist hierin also <strong>der</strong><br />
ersten Fassung <strong>der</strong> Vorzug zu geben? Letztlich hinsichtlich eines<br />
f<strong>und</strong>amentalontologischen Interesses doch: Schon <strong>die</strong> in <strong>der</strong><br />
Methodenlehre <strong>der</strong> reinen Vernunft erkenntliche Ergänzungsbedürftigkeit<br />
bloß theoretischer Vernunft durch eine Ideenlehre <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft läßt <strong>die</strong>sbezüglich keine Zweifel aufkommen, daß <strong>die</strong><br />
personalitas transcendentalis nicht allein in den formalen<br />
Bestimmungsstücken des »ich denke« f<strong>und</strong>iert sein kann, sofern darunter<br />
nur logische Bestimmungsstücke vorzustellen sind.<br />
In <strong>der</strong> Allgemeinen Anmerkung zum Paralogismus (nur in B) muß nur <strong>die</strong><br />
Anschauung eigens beiseite gesetzt werden, um das »ich denke« rein<br />
intellektuell zu denken (worin ich aber erst allein das rein gedachte Wesen
-— 227 —<br />
selbst bin). Das zu Gr<strong>und</strong>e gelegte reale Wesen ist offensichtlich sowohl als<br />
mit Verstand wie mit Sinnlichkeit begabt zu denken. Das Wesen, daß ich<br />
bin, wenn ich denke, weiß davon aber nichts. Trotzdem ist <strong>die</strong>ses Wesen<br />
als reales nicht an<strong>der</strong>s als mit sinnlicher Anschauung begabt zu denken. —<br />
Insofern habe ich eingangs gefragt, ob das reine »ich denke« analytisch<br />
nach einer personalitas transcendentalis verlange o<strong>der</strong> nicht: Der formalen<br />
Einheit des Denkens ist (an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> ersten Fassung des zweiten<br />
Paralogismus) erst nachzuweisen, ob darunter mehr als nur <strong>die</strong> Einheit <strong>der</strong><br />
logischen Bestimmungsstücke eines Erkenntnisurteils zu verstehen ist.<br />
Wäre darunter nichts als eben <strong>die</strong>s zu verstehen, so ließe sich das »ich<br />
denke« auch ohne personalitas transcendentalis vorstellen.<br />
Die personalitas psychologica wird durch eine Einteilung näher eingegrenzt:<br />
Empirisches (psychologisches) <strong>und</strong> transzendentales Ich, logisches Ich;<br />
eine Anthropologie (anstatt Psychologie) sei aus dem inneren Sinn zu<br />
entwickeln, sofern <strong>der</strong> Mensch sich als Gegenstand des inneren Sinnes<br />
erkenne (p. 183). Dieser gegen Kant erhobene Vorwurf geht völlig ins<br />
Leere <strong>und</strong> demonstriert nur, in welcher philosophischen Halbwelt<br />
Heidegger sich oftmals gerade dort befindet, wo er vermeint, im Zuge <strong>der</strong><br />
Destruktion <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Philosophie erstmals zu den eigentlichen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Philosophie vorzustoßen. — Dazu nur ein Zitat aus <strong>der</strong><br />
Architektonik <strong>der</strong> reinen Vernunft:<br />
»Wo bleibt denn <strong>die</strong> empirische Psychologie, welche von jeher ihren Platz<br />
in <strong>der</strong> Metaphysik behauptet hat, <strong>und</strong> von welcher man in unseren Zeiten<br />
so große Dinge zu Aufklärung <strong>der</strong> Dinge <strong>der</strong>selben erwartet hat, nachdem<br />
man <strong>die</strong> Hoffnung aufgab, etwas Taugliches a priori auszurichten? Ich<br />
antworte: sie kommt dahin, wo <strong>die</strong> eigentliche (empirische) Naturlehre<br />
hingestellt werden muß, nämlich auf <strong>die</strong> Seite <strong>der</strong> angewandten<br />
Philosophie, zu welcher <strong>die</strong> reine Philosophie <strong>die</strong> Prinzipien a priori<br />
enthält, <strong>die</strong> also mit jener zwar verb<strong>und</strong>en, aber nicht vermischt werden<br />
muß. Also muß empirische Psychologie aus <strong>der</strong> Metaphysik gänzlich<br />
verbannet sein, <strong>und</strong> ist schon durch <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong>selben davon gänzlich<br />
ausgeschlossen. Gleichwohl wird man ihr nach dem Schulgebrauch doch<br />
noch immer (obzwar nur als Episode) ein Plätzchen darin verstatten<br />
müssen, <strong>und</strong> zwar aus ökonomischen Bewegursachen, weil sie noch nicht<br />
so reich ist, daß sie allein ein Studium ausmachen, aber doch zu wichtig,<br />
als daß man sie ganz ausstoßen, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>wärts anheften sollte, wo sie<br />
noch weniger Verwandtschaft als in <strong>der</strong> Metaphysik antreffen dürfte. Es ist<br />
also bloß ein so lange aufgenommnerer Fremdling, dem man auf einige
-— 228 —<br />
Zeit einen Aufenthalt vergönnt, bis er in einer ausführlichen Anthropologie<br />
(dem Pendant zu <strong>der</strong> empirischen Naturlehre) seine eigene Behausung<br />
wird beziehen können.« 226<br />
Die personalitas moralis sieht Heidegger im Gefühl gegründet: Fühlen <strong>und</strong><br />
sich Offenbaren im Sichfühlen des Gefühlten (p. 187) — Diese<br />
Phänomenologie entspricht ganz dem Hören <strong>und</strong> dem Wissen, das man<br />
hört etc. bei Aristoteles <strong>und</strong> geht dem abstrakten Formalobjekt als konkrete<br />
Formbestimmung einer Intention noch voraus. Auf Spuren Brentanos<br />
wandelt Heidegger das Thema wie in einem Wortspiel ab: Gefühl meiner<br />
Existenz, moralisches Gefühl, Gefühl des Handelnden; hier fließen<br />
moralisches Gefühl <strong>und</strong> Actus dann doch wie<strong>der</strong> zusammen. Zu beachten<br />
ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang: Für Kant ist nicht jedes Gefühl sinnlich, d.i.<br />
durch Lust <strong>und</strong> Unlust bestimmt. (p. 188) Es stellt sich für <strong>die</strong> Behandlung<br />
<strong>der</strong> Urteilskraft im Umkreis aller drei Kritiken überhaupt <strong>die</strong> Frage, auf<br />
welche Weisen <strong>die</strong> Spontaneität als apperzeptiv charakterisierbare<br />
Handlung gedacht werden kann. Die komplementäre Variante <strong>der</strong><br />
Bestimmbarkeit <strong>der</strong> Spontaneität zum strikten Gesetz <strong>der</strong> Apperzeption<br />
(p. 189; Cassirer, WW Bd. 5, p. 80) folgt umgehend: Die vollständige<br />
Bestimmung des freien Willen durch das Sittengesetz, (p. 190). Diese für<br />
den Menschen aber nicht vollständig erfüllbare For<strong>der</strong>ung wird mit <strong>der</strong><br />
Psychologie <strong>der</strong> zweiten Kritik umgangen: Vgl. K.p.V., Von den<br />
Triebfe<strong>der</strong>n <strong>der</strong> reinen Vernunft: Das Gefühl <strong>der</strong> Achtung ist als<br />
intellektuell gezeugtes Gefühl das einzige Gefühl, daß rein <strong>und</strong> a priori<br />
geltend gemacht werden kann. Dieses Gefühl <strong>die</strong>ne nicht zur Beurteilung<br />
<strong>der</strong> Handlungen »d.h., das moralische Gefühl stellt sich nicht hinterher<br />
ein« (p. 191); 227 es ist nicht <strong>die</strong> Ursache son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Folge des moralischen<br />
Gesetzes. Dieses Gefühl <strong>der</strong> Achtung kann sich aber nur auf Prinzipien,<br />
insbeson<strong>der</strong>e auf das Sittengesetz, <strong>und</strong> nicht unmittelbar auf Personen<br />
o<strong>der</strong> Sachen beziehen. — Heidegger bezieht <strong>die</strong> Achtung gleich auf das Ich<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Würde im Sinne von Erhabenheit: Die in <strong>der</strong> Achtung erkannte<br />
Würde einer Person beziehe sich nicht auf das Ich im allgemeinen, son<strong>der</strong>n<br />
letztlich auf ein faktisches Ich (p. 194) <strong>und</strong> bleibt <strong>der</strong>art ein Ideal des<br />
Schönen, also Angelegenheit <strong>der</strong> ästhetischen Urteilskraft. 228 Das<br />
226 K.r.V., B 877 f./A 849 f. (Hervorhebung von mir)<br />
227 Gerichtet gegen Adam Smiths moralisches Gefühl als Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong><br />
Handlungen<br />
228 »Zuerst ist wohl zu bemerken, daß <strong>die</strong> Schönheit, zu welcher ein Ideal gesucht<br />
werden soll, keine vage, son<strong>der</strong>n durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit<br />
fixierte Schönheit sein, folglich keinem Objekt eines ganz reinen, son<strong>der</strong>n zum Teil<br />
intellektuierten Geschmacksurteiles angehören müsse..« (K.d.U., B 55/A 54 f.) Wie
-— 229 —<br />
empirische Ich, nach welchem gefragt worden ist, ist dann aber schon das<br />
Ich eines praktischen Bewußtseins <strong>und</strong> bezieht sich demnach einerseits<br />
mittelbar auf <strong>die</strong> historische Dimension <strong>der</strong> Erfahrung, <strong>die</strong> mit dem<br />
technischen <strong>und</strong> praktischen Aspekten <strong>der</strong> Klugheit (Phronesis) schon vor<br />
je<strong>der</strong> vollständigen theoretischen Reflexion gegeben worden ist,<br />
an<strong>der</strong>erseits auf <strong>die</strong> Sphäre möglicher Zwecke, <strong>die</strong> hinsichtlich eines<br />
Endzweckes hierarchisch geordnet sind. — Der Mensch existiert aber<br />
jeweils zugleich auch intelligibel als Zweck an sich selbst (Gr<strong>und</strong>legung<br />
<strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten) (p. 195), Personen sind »objektive Zwecke, d.i.<br />
Dinge [res im weitesten Sinne, M.H.], <strong>der</strong>en Dasein an sich selbst Zweck<br />
ist« (K.p.V., Triebfe<strong>der</strong> <strong>der</strong> reinen Vernunft). Darauf gründet Heidegger<br />
<strong>die</strong> Eröffnung <strong>der</strong> praktischen Interpretation <strong>der</strong> Cartesianischen<br />
Unterscheidung in »res cogitans« <strong>und</strong> »res extensa«: Nicht <strong>die</strong><br />
Bestimmung des Ichs als rein logischer Gegenstand eines allgemeinen<br />
Begriffes des Ichs im logischen o<strong>der</strong> transzendentalen Ich, son<strong>der</strong>n erst <strong>die</strong><br />
Übersteigung des Rahmens einer selbst aus <strong>der</strong> ästhetisch reflektierenden<br />
Urteilskraft entnommenen Psychologie <strong>der</strong> praktischen Vernunft, <strong>die</strong> dazu<br />
gemacht ist, <strong>der</strong> Verfallenheit an <strong>die</strong> Innerweltlichkeit des »man«<br />
anheimzufallen — also komplementär zur Würde bleibt, Zweck an sich<br />
selbst zu sein — könne auch Kants »Ich denke« praktisch <strong>und</strong> faktisch<br />
zugemutet werden, unter <strong>die</strong> cartesianische Unterscheidung in res cogitans<br />
<strong>und</strong> res extensa gebracht werden zu können. Aber: »Das Reich <strong>der</strong> Zwecke<br />
muß ontisch genommen werden. Zweck ist existierende Person, das Reich<br />
<strong>der</strong> Zwecke das Miteinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> existierenden Personen selbst.« (p. 197) —<br />
Hier unterschlägt Heidegger nicht nur <strong>die</strong> vernünftige Reflexion <strong>der</strong><br />
Zwecke <strong>und</strong> <strong>der</strong> Mittel hinsichtlich eines im Gattungsbegriff<br />
bestimmbaren Endzweckes, son<strong>der</strong>n noch <strong>die</strong> Weiterbestimmung des<br />
Menschen als Wesen, das Zweck an sich selbst ist, gerade anhand <strong>der</strong><br />
Metaphysik <strong>der</strong> Sitten: »Auf solche Weise entspringt <strong>die</strong> Idee einer<br />
zwiefachen Metaphysik, eine Metaphysik <strong>der</strong> Natur <strong>und</strong> eine Metaphysik<br />
<strong>der</strong> Sitten« (Kant, aus: »Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Möglichkeit einer Metaphysik<br />
<strong>der</strong> Sitten«, Cassirer, WW, p. 244, von Heidegger zitiert auf p. 198).<br />
Die personalitas moralis bestimmt das Gattungswesen. Als wesentliche<br />
Bestimmung ist <strong>der</strong> kategorische Imperativ nicht hypothetisch (Heidegger:<br />
noch später ausgeführt bezieht sich das Ideal <strong>der</strong> Schönheit zunächst auf <strong>die</strong><br />
Darstellung <strong>der</strong> innere Gestimmtheit eines Menschen, doch bestimmt Kant<br />
ausdrücklich, daß »[...] <strong>die</strong> Beurteilung nach einem solchen Maßstabe niemals rein<br />
ästhetisch sein könne, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Beurteilung nach einem Ideale <strong>der</strong> Schönheit kein<br />
bloßes Urteil des Geschmackes sei.« (K.d.U., B 61)
-— 230 —<br />
wenn-frei), er habe zu gelten, weil <strong>der</strong> Mensch ein Wesen ist, dessen<br />
wesentliches Merkmal gegenüber allen an<strong>der</strong>en Naturdingen es ist, Zweck<br />
an sich selbst zu sein. — Hier wäre mehrfach Anlass, zu wi<strong>der</strong>sprechen;<br />
zunächst hinsichtlich <strong>der</strong> Maximenlehre <strong>und</strong> <strong>der</strong> Imperativik: Der<br />
kategorische Imperativ hat in seiner allgemeinen Gestalt, <strong>die</strong> er wie jede<br />
an<strong>der</strong>e Maxime gewinnt, Bezug zu einer Vorstellung eines Gesolltseins,<br />
das seinerseits bereits auf das Wohl des Gattungswesen überhaupt als<br />
höchster Zweck gerichtet ist <strong>und</strong> somit alle an<strong>der</strong>en möglichen Zwecke<br />
subordiniert. Da Heidegger übersieht, daß Kant <strong>der</strong> Ontoteleologie (<strong>der</strong><br />
Mensch als Zweck an sich selbst) — zumindest in normativer Absicht —<br />
<strong>die</strong> Ethicoteleologie gegenübergestellt hat, 229 übersieht er natürlich auch,<br />
daß ein Wesen, das sich selbst als Zweck an sich versteht, verschieden ist<br />
von dem gleichen Begriff als <strong>der</strong> Begriff des Gattungswesens, worin in<br />
dessen wahren Gegenwart nicht nur ein bestimmtes Individuum son<strong>der</strong>n<br />
auch <strong>die</strong> Vielheit <strong>der</strong> Gattung gemeint ist. Es handelt sich hier logisch nicht<br />
um Äquipollenz, wonach verschiedene Begriffe (mit verschiedenen<br />
Merkmalen bestimmt) den gleichen Umfang möglicher Gegenstände<br />
betreffen, son<strong>der</strong>n um den Fall, wo ein Begriff mit gleichen Merkmalen<br />
sich auf verschiedene Gegenstände bezieht. M.a.W., es handelt sich a<br />
fortiori um eine Unterbestimmtheit des Verhältnisses des Begriffs vom<br />
höchsten Zweck <strong>und</strong> des Begriffs eines Zweckes an sich selbst im Begriff<br />
des Gattungswesens in uns. Insofern wird vom bestimmbaren Ich zwar<br />
doch auch das komparativ Allgemeine des Gattungswesens <strong>und</strong> erst dann<br />
das Allgemeine aus <strong>der</strong> Notwendigkeit des logischen o<strong>der</strong><br />
transzendentalen Ichs eingeholt.<br />
Die Darstellung in <strong>der</strong> »Kritische Betrachtung mit Rücksicht auf Kants<br />
Interpretation <strong>der</strong> personalitas moralis.« (§ 14a, p. 199) mündet in eine<br />
entschiedene Wendung — Die von Heidegger gestellte Frage nach dem<br />
Zusammenfassenden in <strong>der</strong> vielfältigen Verwendungsweise von »Dasein«<br />
durch Kant in <strong>der</strong> theoretischen Vernunft einerseits <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Verschiedenheit in <strong>der</strong> Daseinsbestimmung als personalitas moralis<br />
(p. 200) an<strong>der</strong>erseits schien mir zuvor zwar schon beantwortet worden zu<br />
sein. Mit Fichte stellt Heidegger aber verstärkt <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />
Ontologie des handelnden Ichs: »Wenn das Ich durch <strong>die</strong> Seinsart des<br />
Handelns bestimmt ist, ist <strong>der</strong> Anfang <strong>der</strong> Philosophie, <strong>die</strong> mit dem Ich<br />
anfängt, nicht eine Tat-Sache, son<strong>der</strong>n eine Tat-Handlung.« (p. 201) . Mit<br />
<strong>die</strong>ser alternativen Gegenüberstellung zweier Anfänge <strong>der</strong> Philosophie<br />
229 K.d.U., § 85
-— 231 —<br />
gesteht Heidegger aber nur, daß er <strong>die</strong> Unterscheidung in theoretische <strong>und</strong><br />
praktische Vernunft, <strong>und</strong> wie <strong>die</strong>s doch zu einer Einheit in <strong>der</strong> Vernunft<br />
führen soll, ebenfalls nicht bewältigt. Bleibt man vor <strong>die</strong>sen Alternativen<br />
stehen, ist es gleichermaßen unbefriedigend, wenn dem<br />
naturphilosophischen Anfang o<strong>der</strong> wenn dem philosophischanthropologischen<br />
(humanistischen) Anfang <strong>der</strong> Philosophie ein<br />
unbedingter Vorrang als eigentlicher Anfang <strong>der</strong> Philosophie eingeräumt<br />
wird. — Diese nur vermeintlich ursprüngliche Tatsache <strong>der</strong><br />
Unentscheidbarkeit wird nun zu einer Tat-Handlung genötigt, allerdings<br />
ist jede Tat-Handlung doch auf eine Sache angewiesen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Handlung<br />
vorausliegt, <strong>und</strong> erst daraufhin zur „Tat-Sache“ wird.<br />
Heidegger weist nun <strong>die</strong> Erklärungen, <strong>die</strong> Kant zu einer »Ontologie« des<br />
(schon als Ich verstandenen) Subjekts gegeben haben könnte, insgesamt<br />
zurück; sie enthielten keinen ausreichenden Aufschluß über <strong>die</strong> Seinsweise<br />
des Ich: »Denn mit Rücksicht auf <strong>die</strong> personalitas psychologica werden wir<br />
von vornherein keine Antwort erwarten, da Kant das Ich-Objekt, das Ich<br />
<strong>der</strong> empirischen Apprehension, des empirischen Selbstbewußtseins, direkt<br />
als Sache bezeichnet, also ihm ausdrücklich <strong>die</strong> Seinsart <strong>der</strong> Natur, des<br />
Vorhandenen zuweist, — wobei fraglich ist, ob das mit Recht geschieht«<br />
(p. 201). Heidegger rafft <strong>die</strong> Äußerungen Kants etwa zum Ich <strong>der</strong><br />
empirischen Apprehension in A (ohne <strong>der</strong>en vorrangigen Verbindung zur<br />
bloß numerischen Einheit zu beachten) <strong>und</strong> zum empirisch-pathologischen<br />
Ursprung des Willens (Refl. zu Baumgarten, AA. XVIII, etwa p. 258) zu<br />
Unrecht auf <strong>die</strong>se Weise zusammen. Das empirische Ich im Flusse <strong>der</strong><br />
Erscheinungen wird nicht als Sache bezeichnet, son<strong>der</strong>n im Ich als Namen<br />
von Arten wie ich mir erscheine o<strong>der</strong> als Arten von Verhaltungen, wie ich<br />
bin, werden <strong>die</strong>se Arten von Zuständen etwas Bleibenden im Bewußtsein<br />
zugesprochen, das man daher immerhin als »Sache« bezeichnen könnte<br />
(das bestimmbare Ich). Das bestimmbare (empirische) Ich ist eben nicht als<br />
das <strong>der</strong> Apperzeption aufzufassen, son<strong>der</strong>n ein Existierendes, wenngleich<br />
we<strong>der</strong> als Sache im Sinne <strong>der</strong> den Erscheinungen zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />
Objekte noch gleich an <strong>und</strong> für sich als Zweck an sich Seiendes. Das<br />
bestimmbare Ich ist weiters <strong>der</strong> Name einer bestimmten Person in concreto<br />
<strong>und</strong> in individuo, <strong>und</strong> somit nicht Sache <strong>und</strong> noch weniger nichts als das<br />
darin durchaus auch repräsentierte Allgemeine des Gattungswesens, als<br />
welches ein Ding, das als Zweck an sich selbst ist, hier vorstellig gemacht<br />
worden ist. Das Substrat des empirischen Ichs in <strong>der</strong> Funktion eines<br />
individualisierenden Namens ist nun nach einiger Selbsterkenntnis das,
-— 232 —<br />
was Natur, Geschichte <strong>und</strong> wir einan<strong>der</strong> angetan haben, <strong>und</strong> erst dann <strong>der</strong><br />
intelligible Charakter des transzendentalen Subjekts. Für eine<br />
»anthropologia transcendentalis« ist es nun nicht genug, Menschen zu<br />
kennen, son<strong>der</strong>n »den Menschen <strong>und</strong> was aus ihm gemacht werden kann<br />
zu kennen.« 230 — Also mehr als das, was Natur <strong>und</strong> Geschichte aus uns<br />
gemacht hat einerseits <strong>und</strong> das was wir einan<strong>der</strong> antun an<strong>der</strong>erseits (den<br />
empirischen Charakter). Dieser wie auch immer plastische empirische<br />
Charakter sei nun als Naturell mit dem intelligiblen Charakter erst<br />
zusammenzufügen. 231 In <strong>der</strong> ersten Kritik (K.r.V., A XV-XVII) hat Kant<br />
»<strong>die</strong> Frage <strong>der</strong> Ermöglichung des Zutreffens unserer Semantik <strong>der</strong><br />
anthropologischen Bedürfnisse, gemäß dem, was Natur, auch Geschichte<br />
aus uns gemacht, mit den Folgeinteressen, ihren Relationen <strong>und</strong> Modi, <strong>der</strong><br />
Freiheit überlassen [...]. Ich nenne <strong>die</strong>se Freiheit prinzipiell Kausalität<br />
<strong>der</strong> Freiheit« 232<br />
Die Bestimmbarkeit <strong>die</strong>ser Erfahrungsmodi kann nun nicht allein<br />
kategorial im Sinne <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft sein; es<br />
bleibt übrigens auch zu bezweifeln, daß <strong>der</strong> historische Erfahrungsmodus<br />
allein durch <strong>die</strong> Kategorien <strong>der</strong> Freiheit in <strong>der</strong> praktischen Vernunft<br />
zureichend beschrieben worden ist. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang Kant aber<br />
vorzuwerfen, er hätte <strong>die</strong> empirische Apperzeption (das empirische Ich im<br />
Flusse <strong>der</strong> Erscheinungen) zu einer Sache im Sinne <strong>der</strong> Vorhandenheit als<br />
Objekt <strong>der</strong> Existenzweise von Gegenständen <strong>der</strong> durch sinnliche<br />
Wahrnehmungen erfüllten Intentionen gemacht, ist trotz <strong>der</strong><br />
Verwobenheit solcher Intentionalitäten mit <strong>der</strong> Intentionalität, <strong>die</strong> auf das<br />
bestimmbare Ich, <strong>die</strong> Person in ihrer zeitlichen — historischen —<br />
Dimension gerichtet ist, eine grobe Verkennung <strong>der</strong> von Heidegger selbst<br />
anhand <strong>der</strong> Differenz von essentia <strong>und</strong> existentia referierten<br />
Bestimmungen des Kantschen Denkens. Die Sachheit <strong>der</strong> Realitas in <strong>der</strong><br />
bloßen Position des Seins, also als Teil <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> realen Möglichkeit,<br />
bezieht sich auf das Konzept des Vorhandenseins immer schon als<br />
Kennzeichen <strong>der</strong> Intentionserfüllung eines seiner Bestimmung nach vom<br />
aktuellen Dasein unabhängig seienden logischen Gegenstandes. Diese<br />
Formbestimmung <strong>der</strong> Intentionalität des Daseins als Bewußtsein ist in <strong>der</strong><br />
transzendentalen Deduktion <strong>der</strong> ersten Kritik zur kategorialen Einheit zu<br />
bestimmen, um <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Sinnerfüllung (Erfahrung) qua<br />
230 Kant; Reflexionen zur Anthropologie, XV, p. 395<br />
231 Michael Benedikt, Anthropozidee, Turia <strong>und</strong> Kant 1995, p. 101<br />
232 Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus, Teil 2: Praxis, p 57
-— 233 —<br />
Anschauung hinsichtlich vorgängig als physisch zu charakterisierende<br />
Objekte (im Sinne von Vorhandenem) zu bestimmen. — Hingegen ist <strong>die</strong><br />
Sachheit am als Subjekt bestimmbaren Ich zwar als Objekt zu denken (<strong>und</strong><br />
zwar sowohl als Körper wie als Leiblichkeit), aber nur im Rahmen einer<br />
Evolutionstheorie in phylogenetisch-gattungsmäßiger Allgemeinheit<br />
ontogenetisch als eigenes Substrat kategorial im gleichen Sinne wie<strong>der</strong> zu<br />
haben. Ontogenetisch <strong>und</strong> soziologisch lassen sich Idealtypen zur<br />
Klassifikation dynamischer Prozessabläufe heranziehen. Ontisch ist <strong>die</strong><br />
»Sache« des bestimmbaren Ichs als Name einer sich verzeitlichenden<br />
Person jedoch kein Gegenstand einer kategorialen Konstitution (schon gar<br />
nicht von Kategorien des bloßen Verstandesurteils), son<strong>der</strong>n gehört zu <strong>der</strong><br />
Determination <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> auf sich zukommenden Bedingungen<br />
künftiger Handlungen, sofern <strong>die</strong>se frei genannt werden dürfen.<br />
Heidegger stellt einen negativ formulierten Zusammenhang zwischen dem<br />
Ich <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption <strong>und</strong> dem Ich <strong>der</strong> personalitas<br />
moralis her (p. 205): Heidegger behauptet, daß Kant nicht zu zeigen<br />
vermocht hätte, daß das »Ich handle« selbst »nicht so, wie es sich gibt, in<br />
<strong>die</strong>ser sich bek<strong>und</strong>enden ontologischen Verfassung interpretiert werden<br />
kann.« (p. 206) — Eben zuvor hat Heidegger selbst in Gestalt eines<br />
Vorwurfes an Kant Anlaß gegeben zu zeigen, weshalb Kant <strong>die</strong><br />
Anwendung <strong>der</strong> Kategorien von Naturgegenständen nicht für das Dasein<br />
des Ichs für geeignet erklärt hat. Nun erwartet sich Heidegger von <strong>der</strong><br />
Tradition <strong>der</strong> Ontologie, in welcher sich Kant Heideggers Auffassung nach<br />
trotzdem noch bewegt, weitere Hinweise, wie <strong>die</strong>se ontologisch,<br />
wenngleich negative, doch präzise Bestimmung einer Seinsweise noch<br />
weitere Hinweise hergibt, welche eine ontologische Interpretation des Ichs<br />
nach den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen noch erlauben können soll.<br />
Seine Überlegung beruht darauf, daß Kant <strong>der</strong> Vorstellung des praktischen<br />
Gegenstandes eines Zweckes zwar im teleologischen Urteil eine<br />
intentionale Form geben kann, aber <strong>die</strong> transzendentale Differenz<br />
zwischen causa finalis <strong>und</strong> finis in <strong>der</strong> praktischen Philosophie für<br />
bedeutungslos erklärt. Inwiefern <strong>die</strong>se Öffnung des Horizontes des<br />
theoretischen Interesses an <strong>der</strong> »Ganzheit <strong>der</strong> Erfahrung« von einem<br />
bestimmten Objekt zum Horizont <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Reich <strong>der</strong><br />
Zwecke) ausgerechnet mit <strong>der</strong> von Heidegger referierten scholastischnaturontologischen<br />
Seite Kants zu tun haben könnte, bleibt mir allerdings<br />
verborgen. Es wird in <strong>die</strong>ser Fragestellung schließlich auch von Heidegger<br />
ein Neuansatz versucht: Die Mängel <strong>der</strong> dogmatischen Sittlichkeit
-— 234 —<br />
(insbeson<strong>der</strong>e hinsichtlich des Freiheitsbegriffes im Rahmen einer<br />
substantialen Sittlichkeit) lassen bei <strong>der</strong> ontischen Behandlung des Ichs <strong>der</strong><br />
personalitas moralis Zweifel zu, ob nicht <strong>der</strong> ontologischen Fragestellung<br />
ein ihriges zu tun übrig bleibe. (p. 207) — Das mag ja eben durchaus sein,<br />
aber warum wie<strong>der</strong>um unmittelbar nach dem Vorbild <strong>der</strong> Naturontologie?<br />
Außerdem wird hier nur <strong>die</strong> rationale metaphysische Argumentation in<br />
ihrer schlichten Gegenüberstellung von Intellection <strong>und</strong> Pathologie des<br />
Begehrens herangezogen, ohne auf <strong>die</strong> Geglie<strong>der</strong>theit <strong>der</strong> Maximenlehre<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> inten<strong>die</strong>rten Verknüpfung des Gefühls <strong>der</strong> Achtung mit dem<br />
Begriff <strong>der</strong> Pflicht als nicht-rein synthetischer Begriff a priori in <strong>der</strong><br />
zweiten Kritik zu achten. 233 — Schon das Erfahrungmachen in § 26 <strong>der</strong><br />
ersten Kritik (B 518) verlangte zur theoretischen Konstitution des<br />
transzendentalen Subjekts bereits nach dem Subjekt <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft, <strong>und</strong> gehört somit womöglich nicht mehr zur<br />
transzendentalanalytischen Methode, son<strong>der</strong>n zu <strong>der</strong> von Kant im<br />
Paralogismus entgegengesetzte Methode, das Bewußtsein synthetischmetaphysisch<br />
als Wesen vorauszusetzen. Insofern gewinnt Heideggers<br />
Darstellung des personalen Subjekts (in <strong>der</strong> Phänomenologie) bei Kant als<br />
unmittelbar an scholastische Traditionen anschließend, auch wie<strong>der</strong> an<br />
Gewicht. So würde auch ich eine Kritik an <strong>die</strong>ser Darstellung gegen Kant<br />
selbst aufrecht halten: Der Paralogismus <strong>der</strong> psychologischen Idee ist mit<br />
<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Mendelsohnschen Seelenlehre im Rahmen einer<br />
ontologischen Erörterung des Daseins nicht erschöpft, <strong>und</strong> auch nicht<br />
durch eine (selbst durchaus mögliche) synthetische Metaphysik <strong>der</strong><br />
Psychologie in <strong>der</strong> theoretischen o<strong>der</strong> praktischen Vernunft ersatzlos außer<br />
Kraft zu setzen. Diese kritische Haltung wird meines Erachtens durch <strong>die</strong><br />
psychologischen Abschnitte in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Gefühl<br />
<strong>der</strong> Achtung nach dem Vorbild des Erhabenen aus <strong>der</strong> dritten Kritik<br />
gegenüber <strong>der</strong> Psychologie von Engeln in <strong>der</strong> Dialektik) einerseits wie<br />
durch eine kritische Untersuchung <strong>der</strong> Maximenlehre insbeson<strong>der</strong>e<br />
hinsichtlich des kategorischen Imperativs <strong>und</strong> dessen Beziehung <strong>der</strong><br />
Allgemeinheit <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>ten Geltung zum schlichten Wollenkönnen<br />
nach dem Vorbild Cusanus an<strong>der</strong>erseits von Kant selbst unterstützt. — Die<br />
Frage nach <strong>der</strong> ontologischen Methode überhaupt, <strong>die</strong> verschiedenen<br />
Naturen des Subjekts (personalitas transcendentalis, psychologica,<br />
moralis) in ein einheitliches Verhältnis <strong>der</strong> dadurch bestimmten<br />
233 Vgl. Konrad Cramer, Metaphysik <strong>und</strong> Erfahrung in Kants Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Ethik, in:<br />
Schönrich <strong>und</strong> Kato (Hrsg.),Kant in <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, Suhrkamp<br />
Frankfurt/Main 2 1997, p. 280 - 325
-— 235 —<br />
Seinsweisen zu bringen, wirft Heidegger allerdings zu Recht auf.<br />
Gegenüber Husserls f<strong>und</strong>ierenden Zuordnungen von Regionalontologie<br />
<strong>und</strong> Wissenschaftsbereichen hat Heidegger eine systematische Lehre <strong>der</strong><br />
Intentionalitätsarten wie<strong>der</strong>um verworfen. Kant aber hat um das<br />
transzendentale Subjekt in nuce durchaus ein System von<br />
Regionalontologien entworfen, ohne damit ein bestimmtes System <strong>der</strong><br />
Wissenssoziologie impliziert zu haben: Es handelt sich eben nur um <strong>die</strong><br />
Einteilung in theoretische <strong>und</strong> in praktische Vernunft, <strong>der</strong>en innere<br />
Verflochtenheit als offenbar unteilbarer Rest <strong>der</strong> Diaresis allerdings nach<br />
wie vor nur vor sich her geschoben wird. Die Aufgabe, <strong>die</strong> ich mir in<br />
<strong>die</strong>ser Arbeit gestellt habe, ist aber nicht vorrangig <strong>die</strong> Erklärung, wie das<br />
Subjekt des Daseins zu Bewußtsein <strong>und</strong> zu einem Ich kommt, son<strong>der</strong>n<br />
eben wie <strong>die</strong> von Kant behauptete Apriorität von Kategorien zu<br />
deduzieren sei <strong>und</strong> bleibt so im Wesentlichen auf <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong><br />
Doktrin <strong>der</strong> Urteilskraft konzentriert.<br />
17) Gegenstand, Schema, Sprache<br />
Die seit Sein <strong>und</strong> Zeit (§ 39) vorbereitete Kehre, welche jede<br />
anthropologische Reflexion aus dem F<strong>und</strong>ament des Daseins bei Bedarf<br />
wie<strong>der</strong> zu entfernen erlaubt, beruht im Wesentlichen auf <strong>die</strong><br />
naturontologische Beschränktheit <strong>der</strong> hermeneutischen Methode<br />
Heideggers. Heidegger unterstellt offenbar dem Sein als sich<br />
differenzierendes Seiendes unabhängig vom transzendentalen Subjekt des<br />
Daseins eine gr<strong>und</strong>sätzlich hermeneutische Verfaßtheit. Nun hat sich<br />
schon in <strong>der</strong> Scholastik eine Informationslehre etabliert, welche <strong>die</strong><br />
Formen <strong>der</strong> Materie als bereits im göttlichen Verstand vorausgedacht<br />
betrachtet hat. Im Rahmen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaftsentwicklung zeigt<br />
sich zwischen Systemtheorie <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Gleichgewichtsbedingungen <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Kybernetik ebenfalls eine Idee von einer Information, <strong>die</strong> als solche<br />
unabhängig von einem Bewußtsein nicht nur existiert, son<strong>der</strong>n auch als<br />
Information wirksam werden soll. 234 — In <strong>der</strong> Wahrheitsfrage kann aber<br />
auch Heidegger nicht umhin, von <strong>der</strong> Intentionalität auszugehen, auch<br />
wenn er das Dasein selbst als Lichtung des Seins an <strong>der</strong> Grenze von Ontik<br />
<strong>und</strong> Ontologie zum F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong> Wahrheit macht, in welcher erst das<br />
Seiende sich ankündigt <strong>und</strong> damit <strong>die</strong> Gerichtetheit <strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />
234 So auch in <strong>der</strong> Deutung <strong>der</strong> Quantenphysik nach <strong>der</strong> Kopenhagener Schule. Vgl.<br />
Gerhard Grössing, Quantum Cybernetics, Springer New York 2000
-— 236 —<br />
als intentionale Verfaßtheit des Bewußtseins ontologisch wie<strong>der</strong> als<br />
Gerichtetheit des Seins in Stellung bringt. Die Einsicht, daß das<br />
Bewußtsein nicht nur durch ein Geflecht aktuell orientierter<br />
Intentionalitäten charakterisiert ist, <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Weise <strong>der</strong> wechselseitigen<br />
Verfremdung des Daseins ins Sein <strong>und</strong> des Seins ins Dasein in <strong>die</strong><br />
Diskussion <strong>der</strong> Struktur des Bewußtseins einzubringen, ist zweifellos ein<br />
Ver<strong>die</strong>nst Heideggers, doch bleibt <strong>der</strong> Verlust des individuellen Subjekts<br />
in <strong>der</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie Heideggers noch eigens für <strong>die</strong><br />
Wahrheitsfrage zu überlegen. Da zeigt sich nämlich, daß mit <strong>der</strong><br />
Auffassung Heideggers von <strong>der</strong> hermeneutischen Methode <strong>der</strong><br />
Wahrheitsfrage schließlich jede Basis entzogen wird, indem letztlich dem<br />
klassischen Adequationsprinzip des ens tamquam verum wie<strong>der</strong>um das<br />
Prinzip <strong>der</strong> Identität von Dasein <strong>und</strong> Seiendheit (<strong>und</strong> eben nicht von<br />
Dasein <strong>und</strong> Sein, wie es für Heideggers Konzeption konsequent wäre)<br />
schon vor jedem eigentlichen Urteilsakt voraussetzungsvoll zu Gr<strong>und</strong>e<br />
gelegt worden ist. Erkennbarkeit wird vorausgesetzt, nur Irrtum ist<br />
individuell möglich. Das Kompossibilitätsproblem wie <strong>die</strong> Diskussion um<br />
den formalen <strong>und</strong> auch qualitativen Charakter <strong>der</strong> Bedingungen <strong>der</strong><br />
Durchbestimmbarkeit des disjunktiven Urteils bleiben so weitgehend<br />
ausgeblendet. 235<br />
a) Heideggers Kritik an Husserls Intentionalitätsanalyse<br />
Der hermeneutische Ansatzpunkt ist von Kant zweifellos in <strong>der</strong> Erörterung<br />
<strong>der</strong> Übergänge des Substanzbegriffes zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt we<strong>der</strong><br />
in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> ersten Kritik (hier anhand den metaphysischen<br />
Abschnitten des synthetischen Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Substanzkategorie) noch<br />
in den Paralogismen (hier anhand <strong>der</strong> ersten Fassung A behandelt)<br />
entsprechend berücksichtigt worden, obwohl das »ich denke« im Denken<br />
eine wie auch immer hermeneutisch faßbare Funktion besitzen muß. 236<br />
Zwar wären einige Ansatzpunkte nicht nur in <strong>der</strong> ersten Kritik zu finden:<br />
so das »wie ich bin« in <strong>der</strong> Reihe von »daß ich bin«, »wie ich bin« <strong>und</strong><br />
235 Das disjunktive Urteil als nicht auschließendes „o<strong>der</strong>“ (p, o<strong>der</strong> q, o<strong>der</strong> r ... o<strong>der</strong> n) ist<br />
<strong>die</strong> logische Form <strong>der</strong> Totalität alles Existierenden; im Kompossibilitätsproblem<br />
werden <strong>die</strong> Bedingungen des gleichzeitigen Zusammenseins von Verschiedenem<br />
untersucht <strong>und</strong> führt im Falle <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Kompossibilität<br />
(Zusammensetzbarkeit) zum ausschließenden „o<strong>der</strong>“ (entwe<strong>der</strong> p, o<strong>der</strong> q, o<strong>der</strong> r ...<br />
o<strong>der</strong> n) <strong>und</strong> zum Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch<br />
236 Wie in <strong>der</strong> Gegenüberstellung von compositio <strong>und</strong> nexus einerseits <strong>und</strong> Intuition<br />
<strong>und</strong> Diskursivität an<strong>der</strong>erseits abzulesen ist (K.r.V., B 201/A 161). Vgl hier im dritten<br />
Abschnitt das dritte Kapitel, § 16
-— 237 —<br />
»wie ich mir erscheine« im § 25 <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion; auch <strong>die</strong><br />
Unterscheidung in Beschreiben <strong>und</strong> Darstellen o<strong>der</strong> aber auch <strong>die</strong><br />
sprachphilosophisch relevanten Partien <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft, wo<br />
Kant sich mit <strong>der</strong> metaphorischen Funktion <strong>der</strong> Sprache beschäftigt, bieten<br />
Ausblicke auf eine sprachphilosophische Position Kantens. 237<br />
Betreffs des intentionalen Charakters des Bewußtseins zeigt wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong><br />
Umstand, daß im Rahmen <strong>der</strong> Psychologie des transzendentalen Subjekts<br />
(also zwischen rationaler Psychologie des »ich denke« <strong>und</strong> <strong>der</strong> rationalen<br />
Physiologie des inneren Sinnes) <strong>die</strong> Spontaneität schon gegenüber dem<br />
inneren Sinn mit Einbildungskraft begabt ist, <strong>und</strong> insofern eine Basis zu<br />
einer intentionalen Interpretation von Vorstellungsinhalt, intentionale<br />
Gegenständlichkeit im Urteil <strong>und</strong> davon zu unterscheidendes Ding liefert,<br />
sodaß <strong>die</strong> Intentionalität selbst eben nicht als ein von Kant vernachlässigter<br />
Ansatz zur Behandlung <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Beschaffenheit des<br />
Bewußtseins abgetan werden kann. Daß in <strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong><br />
Antizipationskategorie durchaus <strong>die</strong> scholastische Spannung, wie sie<br />
zwischen Thomas <strong>und</strong> Duns Scotus gemäß <strong>der</strong> Gewichtung <strong>der</strong><br />
aristotelischen <strong>und</strong> augustinischen Traditionen hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> intentionalen Verfaßtheit des Bewußtseins zum Ausdruck<br />
kommt, kann wohl nicht bestritten werden; zumal, wenn man Kants<br />
Unterscheidung in theoretische <strong>und</strong> praktische Vernunft vor <strong>die</strong>sem<br />
scholastischen Hintergr<strong>und</strong> ernst nimmt. 238 — So halte ich <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong><br />
Intentionalität, so wie sie Heidegger von Brentano <strong>und</strong> Husserl sowohl<br />
übernommen, aber auch abgewandelt hat, für eine ausgezeichnete<br />
Gelegenheit, <strong>die</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Sprachphilosophie überhaupt weitgehend<br />
237 K.d.U., vor allem § 59: »Unsere Sprache ist voll von <strong>der</strong>gleichen <strong>und</strong> indirekten<br />
Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch <strong>der</strong> Ausdruck nicht das eigentliche<br />
Schema für den Begriff, son<strong>der</strong>n bloß ein Symbol für <strong>die</strong> Reflexion enthält.«<br />
238 Dieter Henrich, Der Begriff <strong>der</strong> sittlichen Einsicht <strong>und</strong> Kants Lehre vom Faktum <strong>der</strong><br />
Vernunft, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen <strong>und</strong> Handeln, Hrsg.<br />
Gerold Prauss, Neue Wissenschaftliche Bibliothek: Philosophie, Kiepenheuer <strong>und</strong><br />
Witsch, Köln 1973, p. 223 ff.. H. zeigt, daß Kant sich <strong>der</strong> Schwierigkeit bewußt war,<br />
daß <strong>der</strong> Wille nicht selbst aus den Erkenntnisvermögen entspringen kann, <strong>und</strong><br />
versucht hat, zwischen zwischen Positionen <strong>der</strong> rationalen Ethik (Clarke, Wollaston,<br />
Wolff) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Philosophie des „moral sense« (Shaftesbury, Hutchenson, Butler)<br />
(p. 233) zu vermitteln. Historisch betrachtet, übernimmt Kant von Crusius <strong>die</strong> Kritik<br />
am Wolffschen Rationalismus (Der Wille ist nicht aus dem Erkenntnisvermögen<br />
abzuleiten) <strong>und</strong> fügt hier <strong>die</strong> genauere Formulierung des Problems von Hutchenson<br />
hinzu. Als Ergebnis <strong>die</strong>ser Operation ist folgendes Verhältnis zu denken: <strong>die</strong><br />
theoretische Vernunft läßt zwar <strong>die</strong> Richtigkeit einer Handlung einleuchten, ist aber<br />
nicht <strong>die</strong> Quelle <strong>der</strong> Billigung <strong>und</strong> des Antriebes zur Handlung. Das Gute selbst<br />
wird nicht erkannt, son<strong>der</strong>n gebilligt. Allerdings ist unsere Billigung nicht <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong> des Guten, gut zu sein.
-— 238 —<br />
unterbelichtete Bedeutung <strong>der</strong> Anschauung für <strong>die</strong> Wahrheitsfunktion von<br />
empirischen Aussagen herauszustellen; allerdings ohne behaupten zu<br />
wollen, <strong>die</strong> Wahrheit liege überhaupt o<strong>der</strong> auch nur für Kant in <strong>der</strong> bloßen<br />
Anschauung selbst. Vorrangig soll aber gezeigt werden, wie Heideggers<br />
Ansatz <strong>der</strong> Hermeneutik als Methode <strong>der</strong> Regelbildung des Aussagens<br />
von Wahrheit <strong>die</strong> Basis <strong>der</strong> Erörterung des Wahrheitsproblems von<br />
Aussagesystemen hinsichtlich des (nach Heideggers Subjektivismus bloß<br />
innerweltlich f<strong>und</strong>iertem) Seienden verfehlt. Diese Verfehlung <strong>der</strong><br />
ontologischen Basis des Seienden ist im Rahmen des Heideggerschen<br />
Gedankengangs schon in <strong>der</strong> Vernachlässigung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seinsmodi<br />
des Daseins (also solche, <strong>die</strong> nicht vom Seinsmodus des<br />
Selbstverständnisses als In-<strong>der</strong>-Welt-Seiendes erfaßt sind) in Sein <strong>und</strong> Zeit<br />
gr<strong>und</strong>gelegt. Abgesehen vom Problem Heideggers, mit seiner<br />
F<strong>und</strong>amentalontologie sowohl den Begriff <strong>der</strong> Geschichte ursurpatorisch<br />
verfehlt wie auch naturontologisch nur eine Halbwelt zustande gebracht<br />
zu haben, bleibt allerdings <strong>der</strong> Mangel seiner Daseinshermeneutik<br />
hinsichtlich einer transzendentalanalytischen Kritik <strong>der</strong><br />
Gesellschaftsontologie das Hauptärgernis. 239 Auf eine vollständige Kritik<br />
Heideggers kann ich mich hier aber nicht einlassen, 240 son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />
Fragestellung beschränkt sich auf <strong>die</strong> Frage, ob Heideggers<br />
Wahrheitskonzeptionen überhaupt geeignet sind, <strong>die</strong> logische<br />
Wahrheitsfrage, also <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Wahrheitsfähigkeit von Aussagen,<br />
einer Beantwortung näher zu bringen. — Ich verwende dazu <strong>die</strong> Arbeit<br />
von Carl Friedrich Gethmann, Heideggers Wahrheitskonzept in seinen<br />
Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von Sein <strong>und</strong> Zeit (§ 44) denn dort<br />
wird <strong>die</strong> Kritik Heideggers an Husserls Anti-Psychologismus zum<br />
Ausgangspunkt genommen. In § 44a von Sein <strong>und</strong> Zeit bleibe Heidegger<br />
unscharf: »Die Kritik am ontologischen Konzept <strong>der</strong> Substanzialität<br />
(Wahrheit als Beständigkeit <strong>und</strong> Anwesenheit) erscheint textlich<br />
unentwirrbar verknäult mit einer distanzierten Stellungnahme zu Husserls<br />
Psychologismus-Kritik. Die Definition <strong>der</strong> Wahrheit als Übereinstimmung<br />
wird zunächst kritisiert, dann im Sinne eines „So-Wie“ reformuliert,<br />
schließlich verschwindet sie in <strong>der</strong> abschließenden Definition völlig.«<br />
(S. 104)<br />
239 Vgl. auch Michael Benedikt, Anthropozidee, Turia <strong>und</strong> Kant 1995, p. 43 ff.<br />
240 Vgl. dazu weiters: Michael Benedikt, Heideggers Halbwelten: Vom Expressionismus<br />
<strong>der</strong> Lebenswelt zum Postmo<strong>der</strong>nismus des Ereignisses, Turia <strong>und</strong> Kant Wien 1991.
-— 239 —<br />
Der fragliche Text in Sein <strong>und</strong> Zeit umfaßt gerade ca. 5 Druckseiten, <strong>der</strong><br />
Text <strong>der</strong> Marburger Vorlesung 1925/26, <strong>der</strong> sich etwa in <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong><br />
Paragraphen mit dem Wahrheitsthema befaßt, umfaßt etwa 94<br />
Druckseiten. Dort wird in den §§ 6-10 das Problem in § 44a im Kontext <strong>der</strong><br />
zeitgenössischen Diskussion ausführlicher behandelt. Heidegger gibt<br />
Husserls Kritik am Psychologismus in <strong>der</strong> Logik recht, Husserl habe aber<br />
„einen zu hohen Preis bezahlt“. »Husserl habe gegen den Psychologismus<br />
zu Recht auf den Unterschied von Urteilsvollzug <strong>und</strong> -gehalt hingewiesen,<br />
er habe jedoch <strong>die</strong> methodische Unterscheidung mit einer ontologischen<br />
Unterscheidung kof<strong>und</strong>iert, nämlich <strong>der</strong>jenigen von idealer <strong>und</strong> realer<br />
Seinssphäre. Husserl habe — so läßt sich Heideggers Kritik<br />
zusammenfassen — unbemerkt <strong>und</strong> darum ungerechtfertigt unterstellt,<br />
daß <strong>der</strong> Anti-Psychologismus (<strong>die</strong> Unterscheidung von Vollzug/Gehalt)<br />
nur als Idealismus (durch <strong>die</strong> Unterscheidung von real/ideal) zu haben<br />
sei. Das entspricht <strong>der</strong> tentativen Selbstkritik an den Prämissen seiner<br />
Psychologismus-Kritik, wie sie in seinen späteren logischen Schriften,<br />
nämlich in „Formale <strong>und</strong> transzendentale Logik“, <strong>und</strong> in den von Ludwig<br />
Landgrebe redigierten Texten, <strong>die</strong> unter dem Titel „Erfahrung <strong>und</strong> Urteil“<br />
erschienen sind, durchgeführt wird. [...] Husserl problematisiert in <strong>die</strong>sen<br />
Spätschriften ansatzweise <strong>die</strong> Hauptprämissen <strong>der</strong> „Logischen<br />
Untersuchungen“, wonach »<strong>die</strong> Logik sich auf das Denken <strong>und</strong> nicht auf<br />
<strong>die</strong> Sprache beziehe (Mentalismus) <strong>und</strong> wonach <strong>die</strong> Logik primär nicht<br />
Regeln vorschreibt, son<strong>der</strong>n Gesetze einer eigenen Seinssphäre beschreibt<br />
(Idealismus). Gegen den Mentalismus erwägt Husserl in <strong>der</strong> Schrift<br />
„Formale <strong>und</strong> transzendentale Logik“, ob nicht <strong>die</strong> Logik primär auf <strong>die</strong><br />
Sprache zu beziehen sei, wobei dann aber im Interesse <strong>der</strong> Vermeidung<br />
eines neuen Psychologismus zwischen Rede-Vorkommnis <strong>und</strong> Sprach-<br />
Schema zu unterscheiden ist« (S. 105). Bis dahin kann ich durchaus folgen,<br />
doch halte ich <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen Rede-Vorkommnis <strong>und</strong><br />
Sprach-Schema schon in den Logischen Untersuchungen (LU I)<br />
vorgebildet, wenn Husserl zwischen den inneren Monolog <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Ausdrucksintention (<strong>der</strong> kommunikativen, nicht <strong>der</strong> darstellenden<br />
Funktion) unterscheidet. Gethmanns Problemaufstellung ist meines<br />
Erachten nach gerade anhand des Husserlschen Textes aus <strong>der</strong> Britannica<br />
auch zwischen LU I <strong>und</strong> LU IV zu diskutieren möglich. 241 Meines<br />
Erachtens setzt <strong>die</strong> Unterscheidung in innerem Monolog <strong>und</strong><br />
241 Und zwar anhand des Konzeptes <strong>der</strong> reinen Grammatik, <strong>die</strong> Husserls allerdings in<br />
LU IV noch ungebrochen als Teil <strong>der</strong> idealen Sphäre ansieht; <strong>und</strong> zwar ausdrücklich<br />
als Erörterung <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Prädikatenlogik.
-— 240 —<br />
Ausdrucksfunktion <strong>der</strong> Sprache in LU I 242 bereits sogar implizite <strong>die</strong><br />
Möglichkeit einer transzendentalen Differenz voraus. Dies ist vielleicht<br />
deshalb so schwierig zu ersehen, da <strong>die</strong> Kriterien <strong>der</strong> Geltung (Evidenz) im<br />
Abschnitt <strong>der</strong> Untersuchung des inneren Monologes we<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />
sinnerfüllende Intention in <strong>der</strong> äußeren Anschauung voraussetzt noch <strong>die</strong><br />
Erfüllung <strong>der</strong> kommunikativen Intention, son<strong>der</strong>n allein <strong>der</strong> einsamen<br />
Rede im inneren Monolog <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Kriterien nach logischer<br />
Wi<strong>der</strong>spruchsfreiheit <strong>und</strong> Gebbarkeit in innerer Aschauung überantwortet<br />
bleibt. Nach <strong>die</strong>ser Reduktion kann von einer transzendentalen Differenz<br />
nicht <strong>die</strong> Rede sein. Jedoch bleibt systematisch betrachtet <strong>die</strong> Möglichkeit<br />
zu erwägen, nicht nur anhand <strong>der</strong> darstellenden Funktion son<strong>der</strong>n auch<br />
anhand <strong>der</strong> kommunikativen Funktion <strong>der</strong> Intentionalität eine<br />
transzendentale Differenz anzusetzen. Und das ist noch schwieriger zu<br />
verstehen, weil Kant das Verhältnis <strong>der</strong> Individuuen innerhalb <strong>der</strong><br />
Gattung nicht mit einer transzendentalen Differenz belegen wollte, da ihm<br />
sonst <strong>der</strong> Gemeinsinn <strong>und</strong> <strong>die</strong> unmittelbare Mitteilbarkeit des Gefühls<br />
abhanden gekommen wäre. 243 Husserl hat später in den Cartesianischen<br />
Medidationen versucht, <strong>die</strong>ses Problem durch den sogenannten<br />
Intermonadologismus zu entschärfen. Es reicht für hier aber allein <strong>die</strong><br />
darstellende Funktion <strong>der</strong> Intentionalität zu betrachten. Husserl entwickelt<br />
in den LU I rudimentär <strong>und</strong> ausführlicher in LU VI 244 das Konzept <strong>der</strong><br />
sinnerfüllenden Intention ausdrücklich in dem Spielraum, daß <strong>die</strong><br />
Sinnerfüllung zwar an <strong>der</strong> Anschauung gebildet wird, aber auch gerade<br />
aus <strong>der</strong> Abhebung vom Anschaulichen gedacht werden können muß. Das<br />
entspricht im Kantschen Gedankengang <strong>der</strong>jenigen Differenz, <strong>die</strong> mit dem<br />
Unterschied von Wahrnehmungsurteil <strong>und</strong> Erfahrungsurteil<br />
gekennzeichnet wird. Husserls Konzept ist aber noch unbestimmter als<br />
Kants systematisch getroffene Unterscheidung in Anschauung <strong>und</strong><br />
Erfahrung, <strong>die</strong> ihre größere Stringenz <strong>der</strong> Beschränkung auf sinnliche<br />
Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong>en impliziten Immanenz mit den Naturprozessen<br />
(Physik) verdankt, während Husserl gezielt den Begriff <strong>der</strong> Erfahrung vom<br />
Anfang an weiter steckt <strong>und</strong> gleich das Symbolische <strong>und</strong> Zeichenhafte<br />
miteinbezieht. Trotzdem bleibt hier sowohl für <strong>die</strong> Konstruktion in reiner<br />
242 Edm<strong>und</strong> Husserl, Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie<br />
<strong>und</strong> Theorie des Erkennens (LU I-VI), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 21913, hier<br />
LU I (Ausdruck <strong>und</strong> Bedeutung), § 8<br />
243 K.d.U., u.a. B 66 f.<br />
244 Edm<strong>und</strong> Husserl,, Logische Untersuchungen VI, Elemente einer<br />
Phänomenologischen Aufklärung <strong>der</strong> Erkenntnis, Max Niemeyer Verlag, Tübingen<br />
2 1921
-— 241 —<br />
Anschauung Kantens wie für <strong>die</strong> unvollständige Definition <strong>der</strong><br />
sinnerfüllenden Intentionen Husserls eine Differenz zwischen Denken,<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Konstrukt einerseits <strong>und</strong> zwischen Konstrukt <strong>und</strong><br />
sinnerfüllen<strong>der</strong> Intention in transzendental-objektiver Geltung<br />
an<strong>der</strong>erseits. 245 Die Selbstinterpretation Husserls, <strong>die</strong> hier von Gethmann<br />
herangezogen wurde, geht also vermutlich an sich selbst vorbei, sollte sie<br />
in <strong>der</strong> Tat das Problem <strong>der</strong> sinnerfüllenden Intention innersprachlich <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong>art zum grammatikalischen Problem spezifiziert bewußtseinsimmanent<br />
lösen wollen. Es wird hiebei übersehen, daß für unser Bewußtsein nicht<br />
nur empirische Unabweislichkeiten son<strong>der</strong>n auch ideelle<br />
Unabweislichkeiten das F<strong>und</strong>ament des Faktischen (Evidenz) abgeben,<br />
was gerade hinsichtlich <strong>der</strong> Schwierigkeit, <strong>der</strong> Intentionalität des inneren<br />
Monologs ohne kommunikative Ausdrucksintention <strong>und</strong> ohne aktuell<br />
relevante äußere erfüllende Anschauung noch eine Formbestimmung<br />
geben zu können, von Bedeutung sein wird. Das Problem <strong>der</strong><br />
Formbestimmung <strong>der</strong> Intention besteht im inneren Monolog auf einer<br />
gr<strong>und</strong>sätzlichen Weise, da auch nach <strong>der</strong> transzendentalen Reduktion z. B.<br />
<strong>die</strong> Erscheinungen <strong>der</strong> Objekte als solche erkennbar sind, <strong>und</strong> nur <strong>die</strong><br />
Transzenden<strong>die</strong>rung zu wirklichen Gegenständen ausgeklammert worden<br />
ist. Im inneren Monolog wird <strong>die</strong> Ausschließlichkeit <strong>der</strong> Orientierung <strong>der</strong><br />
Intentionalität auf Kategorialität <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Ordnung <strong>der</strong><br />
Erfüllungssynthesen allerdings in Frage gestellt. Diese Frage ist dreigeteilt:<br />
Zuerst sind einerseits verschiedene Arten von Erfüllungssynthesen <strong>und</strong><br />
auch verschiedene Kategoriensysteme anzunehmen, an<strong>der</strong>erseits muß<br />
danach <strong>die</strong> Frage gestellt werden, ob überhaupt aus den verschiedenen<br />
Arten von Erfüllungssynthesen ein System entsprechen<strong>der</strong> Kategoriearten<br />
mechanisch folgen muß. 246 Schließlich ist aber <strong>die</strong> Frage unabweislich, ob<br />
es eine Form <strong>der</strong> Intention gibt, <strong>die</strong> nicht kategorial bestimmt ist. Kant hat<br />
das nach Berücksichtigung aller relevanten Umstände in <strong>der</strong> Tat<br />
behauptet. — Wie noch weitere Kriterien gef<strong>und</strong>en könnten, will ich hier<br />
nicht weiter erörtern, son<strong>der</strong>n nur so viel sagen: Keinesfalls ist von selbst<br />
verständlich, daß das gesuchte Kriterium für <strong>die</strong> Formbestimmung <strong>der</strong><br />
Intentionalität im einsamen inneren Monolog abseits von empirischer<br />
Anschauung <strong>und</strong> kommunikativer Ausdrucksintention in <strong>der</strong> schlichten<br />
Bewußtseinsimmanenz des subjektiv vereinzelten Bewußtseins gef<strong>und</strong>en<br />
245 LU VI, cit. op., insbeson<strong>der</strong>e §§ 13-15<br />
246 Heidegger folgt nicht <strong>der</strong> von Husserl geäußerten Absicht, aus dem System von<br />
Regionalontologien (sei ein solches überhaupt möglich o<strong>der</strong> auch nur sinnvoll) noch<br />
das System <strong>der</strong> Einzelwissenschaften ableiten zu wollen. Dem schließe ich mich an.
-— 242 —<br />
werden muß, zumal man ja imstand ist, an abwesende Objekte <strong>der</strong><br />
Außenwelt zu denken. Ebenso vermag man in einsamer innerer Rede an<br />
mathematische o<strong>der</strong> grammatikalische Gegenstände zu denken, <strong>die</strong><br />
keineswegs aus <strong>der</strong> Immanenz (d. h. aus <strong>der</strong> Struktur des Bewußtseins)<br />
allein zu erklären sind. — Das Phänomen des Bewußtseins, insbeson<strong>der</strong>e<br />
des Selbstbewußtseins, ist bestenfalls als Problem erfaßt worden, aber von<br />
einer Aufklärung so weit entfernt wie ehedem. Was zum Bewußtsein zu<br />
sagen ist, hat Husserl in <strong>der</strong> Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins<br />
gr<strong>und</strong>gelegt, später hat Husserl versucht, <strong>die</strong> Immanenz <strong>der</strong><br />
transzendentalen Phänomenologie unabhängig von einem subjektiven<br />
(soll wohl wechselweise heißen, individuellen o<strong>der</strong> empirisch-konkreten)<br />
Bewußtsein zu f<strong>und</strong>ieren.<br />
So will mir allerdings nicht einleuchten, weshalb <strong>die</strong> sprachanalytische<br />
Reduktion auf <strong>die</strong> Differenz von Redevorkommnis <strong>und</strong> Sprach-Schema im<br />
Britannica-Artikel etwas an <strong>der</strong> Idealität <strong>der</strong> Grammatik aus den LU IV<br />
än<strong>der</strong>n sollte. Ich vermag <strong>die</strong> Äußerungen des mittleren Husserl also auch<br />
nicht als Aufhebung o<strong>der</strong> Lockerung <strong>der</strong> Unterscheidung von Idealität<br />
<strong>und</strong> Realität eindeutig festzumachen. — Trotzdem ist <strong>der</strong> Kritik<br />
Heideggers am Antipsychologismus Husserls gerade wegen <strong>der</strong><br />
inkriminierten Konf<strong>und</strong>ierung von idealer <strong>und</strong> realer Seinsspäre recht zu<br />
geben; allerdings bleibt <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong>se Kritik zwingend zu den<br />
Konsequenzen führen muß, auf <strong>die</strong> Heidegger verfallen ist. Der Kritik an<br />
<strong>der</strong> Idealität des Gehaltes gegenüber dem Vollzug ist aber noch aus einem<br />
an<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich zuzustimmen: Die Erörterung <strong>der</strong><br />
Phänomenologie erscheint idealiter Ich-los zu sein; das wurde in <strong>der</strong><br />
Literatur auch als Faktum behandelt, während ich auch Husserls spätere<br />
Rückkehr zur Erörterung des logischen Ich in den Cartesianischen<br />
Meditationen eher als Ergänzung denn als in Wi<strong>der</strong>spruch zur Ideenlehre<br />
stehend auffasse: Denn <strong>die</strong> Quelle <strong>der</strong> Konzentration kann nun nicht im<br />
Gegenstandsbereich <strong>der</strong> Phänomenologie selbst liegen; keineswegs darf<br />
geglaubt werden, daß mit <strong>der</strong> systematischen Unterscheidung in Noetik<br />
<strong>und</strong> Noematik <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Zusammenführung in <strong>der</strong> Noesis das selbst<br />
intellektuelle Ich völlig in <strong>die</strong> phänomenologische Haltung überführen<br />
werden könnte. Offenbar muß zwischen <strong>der</strong> Spontaneität <strong>der</strong><br />
Aufmerksamkeit <strong>der</strong> reinen interesselosen Betrachtung, welche sich von<br />
<strong>der</strong> Struktur des Materials reflexartig leiten läßt, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Spontaneität, <strong>die</strong><br />
von einem bestimmbaren Interesse o<strong>der</strong> Absicht geleitet wird, im<br />
weitesten Sinne unterschieden werden, wobei letztere auch den Fall
-— 243 —<br />
einschließen sollte, daß <strong>die</strong> Spontaneität eine bestimmte Vorstellung dem<br />
gebotenen Material zielgerichtet aufprägen will (produktive<br />
Einbildungskraft). Insofern muß <strong>die</strong> volle Betrachtung <strong>der</strong> eidetischen<br />
Variation bei Husserl <strong>die</strong> Retention <strong>und</strong> Protention miteinschließen, womit<br />
eben auch <strong>die</strong> Erinnerung ins Spiel kommt. Die Idealität <strong>der</strong><br />
transzendentalen Phänomenologie <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Reduktion kann sich somit<br />
nur auf <strong>die</strong> Prinzipien <strong>der</strong> Verfahren <strong>und</strong> <strong>der</strong>en geordnete Verhältnisse<br />
beziehen, aber we<strong>der</strong> auf den Vollzug selbst noch auf den Inhalt. Die Frage<br />
nach <strong>der</strong> Idealität des Inhalts ist eine davon geson<strong>der</strong>t zu untersuchende<br />
Problemstellung.<br />
Ich behaupte <strong>die</strong> Eigenständigkeit <strong>und</strong> Selbstständigkeit mathematischer<br />
Gegenstände, doch selbst im Reich mathematischer Gegenstände gibt es<br />
nur weniges, was näher überlegt als „ideal“ bezeichnet werden kann.<br />
Abgesehen davon, daß ein Großteil <strong>der</strong> Mathematik aus<br />
Annäherungsverfahren besteht, kann zwar <strong>die</strong> Tradition platonischer<br />
Körper ein Beispiel von Idealität in <strong>der</strong> Mathematik abgeben (sieht man<br />
weiters von <strong>der</strong> arithmetischen Irrationalität <strong>der</strong> Diagonalen ab),<br />
mitnichten aber ist das Problem des Infinitesimalen von Leibniz <strong>und</strong><br />
Newton auf eine Weise gelöst worden, <strong>die</strong> im philosophischen <strong>und</strong><br />
strengem Sinne „ideal“ genannt werden könnte. Das war auch Brentano<br />
bewußt <strong>und</strong> hat <strong>die</strong>s gegen Husserls erste Logischen Untersuchungen<br />
eingewandt. (Franz Brentano: Wahrheit <strong>und</strong> Evidenz, Hrsg. Oskar Kraus,<br />
Hamburg 1930. Vgl. den Brief aus Florenz vom 9. Januar 1905 an Husserl.<br />
Der Herausgeber hat <strong>die</strong>sen Brief mit einer Überschrift versehen: »Über <strong>die</strong><br />
Allgemeingültigkeit <strong>der</strong> Wahrheit <strong>und</strong> den Gr<strong>und</strong>fehler einer sogenannten<br />
Phänomenologie«, S. 153 ff.). Demnach wäre <strong>die</strong> Eigenständigkeit <strong>und</strong><br />
Selbstständigkeit <strong>der</strong> Mathematik selbst nicht ideal zu nennen, wie Husserl<br />
im Anschluß an Bolzano glaubt, aber doch nicht <strong>die</strong>se Eigenständigkeit<br />
<strong>und</strong> relative Selbstständigkeit des Gehalts des Urteilsvollzuges in einem<br />
wi<strong>der</strong>legt worden, wie Brentano, <strong>und</strong> offenbar im Anschluß an Brentano<br />
auch Heidegger glaubt. Damit bliebe auch nach <strong>die</strong>ser Kritik <strong>die</strong> von<br />
Husserl inten<strong>die</strong>rte ontologische Differenz zwischen Immanenz <strong>der</strong><br />
transzendentalen Phänomenologie nach <strong>der</strong> Reduktion <strong>und</strong> Transzendenz<br />
<strong>der</strong> natürlichen Einstellung unserer Welterfahrung vor <strong>der</strong><br />
transzendentalen Reduktion unbestimmt-allgemein gerechtfertigt; <strong>und</strong><br />
zwar auch ohne anhand <strong>der</strong> Unterscheidung von Gehalt <strong>und</strong> Vollzug auf<br />
<strong>die</strong> Differenz von Idealität <strong>und</strong> Realität zurückkommen zu müssen <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong>se Unterscheidung damit auch zu überanspruchen.
-— 244 —<br />
Darüberhinaus bleibt das Problem, den Gehalt eines jeden Urteils als ein<br />
vom Sein des Soseienden aussagen<strong>der</strong> Satz (zuerst eben bloß, ob <strong>die</strong><br />
ausgesagte Washeit existiert o<strong>der</strong> nicht) vom Gehalt eines Urteils, das ein<br />
mathematisches o<strong>der</strong> logisches Gesetz aussagt, inhaltlich <strong>und</strong> prinzipiell<br />
<strong>der</strong> Geltung nach überhaupt unterscheiden zu können. Das Motiv,<br />
weshalb <strong>der</strong> Gehalt einer Aussage <strong>der</strong> letzteren Gattung überhaupt eigens<br />
ursprünglich genannt werden sollte, bezieht sich aber auf <strong>die</strong> Apophantik<br />
von Mathematik <strong>und</strong> Logik <strong>und</strong> nicht unmittelbar auf »Existenz« o<strong>der</strong><br />
»Dasein«. Vielleicht wäre es eine Verbesserung gewesen, Husserl den<br />
Begriff „Reinheit“ an Stelle von Idealität vorzuschlagen, doch auch <strong>die</strong>se<br />
Reinheit ist nicht einmal <strong>der</strong> Apophantik <strong>der</strong> Formalwissenschaft in je<strong>der</strong><br />
Hinsicht zu sichern, um etwa von hier aus einen Gr<strong>und</strong> zur Behauptung<br />
<strong>und</strong> Prägung des Begriffs von Idealität zu finden (vgl. Konrad Cramer<br />
1985, Ist ein nicht-rein synthetisches Urteil a priori möglich?). Hier besteht<br />
offensichtlich das Problem weiter, daß ohne <strong>die</strong> F<strong>und</strong>ierung <strong>und</strong><br />
Rechtfertigung einer Kategorienlehre an <strong>der</strong> offenen Grenze apriorischer<br />
Geltung von Urteilsgehalte als Sätze in einem System des Sprachspieles<br />
überhaupt (also nicht mehr nur mathematische <strong>und</strong> logische Aussagen<br />
betreffend) sich <strong>die</strong> Sinngebung (das Kriterium <strong>der</strong> sinnerfüllenden<br />
Intentionsform) spekulativ zu verselbstständigen droht. Als einziger<br />
Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Behauptung einer Idealität von Urteilsgehalten überhaupt<br />
bleibt demnach nur mehr <strong>die</strong> Unabhängigkeit von <strong>der</strong> Zeit; <strong>die</strong>se<br />
»Reinheit« wird jedoch in <strong>der</strong> Transzendentalphilosophie zweimal als<br />
nicht entscheidendes Argument in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage erkannt. 247 — Es ist<br />
nun bei Heidegger gerade nicht <strong>die</strong> Mathematik o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Logik <strong>die</strong><br />
Leitwissenschaft, um <strong>der</strong> Wahrheitsfrage ein Ideal zu verschaffen:<br />
»[...], daß ein sogenanntes schlichtes Da-haben <strong>und</strong> Erfassen wie: <strong>die</strong>se<br />
Kreide hier, <strong>die</strong> Tafel, <strong>die</strong> Tür, strukturgemäß gesehen gar nicht ein<br />
direktes Erfassen von etwas ist, daß ich, strukturgemäß genommen, nicht<br />
direkt auf das schlicht Genommene zugehe, son<strong>der</strong>n ich erfasse es so, daß<br />
ich es gleichsam im vorneherein schon umgangen habe, ich verstehe es<br />
247 Wenngleich doch als unbedingter Moment in <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Akteinheit des<br />
urteilenden Bewußtseins (also des Selbstbewußtsein in <strong>der</strong> Apperzeption)<br />
verstanden. Vgl. zur relativen Zeitlosigkeit des reinen Bewußtseins das System von<br />
Retention <strong>und</strong> Protention aus Husserls Phänomenologie des inneren<br />
Zeitbewußtseins (hier zweiter Abschnitt, zweiter Teil „Substanz <strong>und</strong> Beharrlichkeit“,<br />
elftes Kapitel „Die Dialektik <strong>der</strong> Beharrlichkeit“).Vgl. aber auch hier im dritten<br />
Abschnitt, 4. Kap. (Die Schematen <strong>der</strong> Einbildungskraft) den doppeldeutigen<br />
Zeitcharakter <strong>der</strong> synthesis intellectualis gegenüber dem inneren Sinn <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
definitiven Zeitlosigkeit <strong>der</strong> reinen Verstandesbegriffe bei Kant.
-— 245 —<br />
von dem her, wozu es <strong>die</strong>nt.« (GA, Bd. 21, p. 146 f., Vgl. den Paralleltext in<br />
Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 149)<br />
Gethmann ersieht daraus wohl zu Recht eine Absage von Heidegger an <strong>die</strong><br />
Anschauung als entscheidendes Moment <strong>der</strong> Wahrheitsfrage (S. 115). Der<br />
Umgang mit dem Soseienden als Zuhandenes macht jenes mit uns<br />
bekannt, das bloß Vorhandene aber wäre demnach noch gar nicht eigens in<br />
den Kreis des theoretischen Interesses gelangt. — Ob damit <strong>die</strong><br />
Anschauung für <strong>die</strong> Wahrheitsfrage in <strong>der</strong> Naturwissenschaft wie in <strong>der</strong><br />
Wahrnehmung <strong>der</strong> inneren Regung des an<strong>der</strong>en an seiner äußeren Gestalt<br />
(ästhetisches Ideal) in <strong>der</strong> Tat für <strong>die</strong> Wahrheitsfrage irrelevant sein sollte,<br />
ist aber noch eigens zu untersuchen nötig, <strong>und</strong> geht aus einer<br />
Argumentation <strong>der</strong> von Heidegger vorgeführten Art keineswegs hervor.<br />
b) Das Allgemeine <strong>und</strong> das Schematische<br />
Heidegger streift <strong>die</strong> hier vertretene Auffassung <strong>der</strong> Problematik zwischen<br />
idealem Sein <strong>und</strong> bloßen Sein des Urteilsgehalts, wenn er schreibt: »Der<br />
Urteilsgehalt ist zwar nichts Reales <strong>und</strong> insofern ideal; aber er ist nicht<br />
ideal im Sinne <strong>der</strong> Idee, als wäre <strong>der</strong> Urteilsgehalt das Allgemeine, das<br />
γενσ, <strong>die</strong> Gattung zu den Urteilsakten.« (GA, Bd. 21, p. 61) In <strong>der</strong><br />
Konfusion <strong>der</strong> Konf<strong>und</strong>ierung von Ontologie <strong>und</strong> Ideal in <strong>der</strong><br />
Charakterisierung des Urteilsgehalts im Zuge des Anti-Psychologismus<br />
Husserl spiegelt sich nach Heidegger aber <strong>die</strong> Beschränktheit, daß in <strong>der</strong><br />
Philosophie seit Plato <strong>die</strong> Wahrheit nur im Horizont von Anwesenheit <strong>und</strong><br />
Verfügbarkeit gedacht worden ist. Der Fehler Husserls liege in <strong>der</strong><br />
Konf<strong>und</strong>ierung zweier jeweils für sich berechtigter Fragen:<br />
»(i)Wie verhält sich das generisch Allgemeine zum Speziellen <strong>und</strong><br />
Beson<strong>der</strong>en? (ii) Wie verhält sich <strong>der</strong> Urteilsgehalt zum Urteilsvollzug?«<br />
(Gehtmann, S. 108)<br />
Der Urteilsgehalt selbst muß nicht identisch, subsistent o<strong>der</strong> universiell<br />
gültig sein, er könne auch bloß okkasionell sein. Nur das letztere ist an <strong>und</strong><br />
für sich für den bloßen Urteilsgehalt in<br />
transzendentalphänomenologischer Betrachtung von Bedeutung, wie<br />
schon oben in meinen eingeschobenen Exkurs über <strong>die</strong> vermeintliche<br />
Idealität eines Urteilsgehalts in Rechnung gestellt wurde. Zweifellos muß<br />
ein Urteilsgehalt (Aussage <strong>und</strong> nicht Vorstellungsinhalt) mit sich identisch<br />
sein, <strong>und</strong> wenn er über Existierendes Wahres aussagt, besitzt <strong>der</strong><br />
Urteilgehalt auch eine Beziehung zur Subsistenz. Von <strong>die</strong>sen Fragen ist
-— 246 —<br />
nun deutlich <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> Frage hinsichtlich <strong>der</strong> universiellen Geltung<br />
<strong>die</strong>ser Quidditas (für sich je auch ohne logische Allgemeinheit real<br />
mögliche realitas) vom Umfang <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> allgemeinen Geltung<br />
des Gattungsbegriffes des Objekts (eben nicht mehr nur für <strong>die</strong>ses<br />
Individuum) zu unterscheiden. So ist aber auch <strong>die</strong> Okkasionalität we<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Garant für <strong>die</strong> individual-spezifische Bestimmung eines Substrates<br />
einer Aussage noch notwendigerweise frei von allgemeingültigen<br />
Bestimmungen. Die Frage, wie sich das generisch Allgemeine zum<br />
Speziellen <strong>und</strong> Beson<strong>der</strong>en verhalte, beantwortet Gethmann mit<br />
Heidegger aber nur traditionell, daß das Allgemeine im Beson<strong>der</strong>en<br />
enthalten sei (wohl: <strong>der</strong> Begriff des ersteren im Begriff des zweiteren).<br />
Diese intensional-logische Feststellung sagt aber noch gar nichts über <strong>die</strong><br />
Regel <strong>und</strong> Bedingung, mit <strong>der</strong> ein im Begriff des Beson<strong>der</strong>en mitgemeinte<br />
Allgemeinere auch im Begriff des Subsi<strong>die</strong>renden eigens heraushebbar<br />
wird, son<strong>der</strong>n gibt bloß ein formelles logisches Kriterium <strong>der</strong><br />
Diskutierbarkeit überhaupt an. 248 Husserl hat eben <strong>die</strong>selben von<br />
Heidegger nur implizit bedachten Strukturen <strong>der</strong> Reflexion in <strong>der</strong><br />
eidetischen Variation, später nur mehr als eidetische Reduktion<br />
vorkommend, durchaus als Problem <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Phänomenologie gesehen: Das Verhältnis vom in seiner Wesentlichkeit als<br />
singulär zu verstehenden Einzelfall zum Wesen des Allgemeinen bleibt für<br />
Husserl auch in <strong>der</strong> Ideenlehre ein zentrales Problem.<br />
Gethmanns Darstellung arbeitet schön heraus, daß <strong>die</strong> Unterscheidung in<br />
Genus <strong>und</strong> Spezies eine Funktion für <strong>die</strong> Festlegung <strong>der</strong><br />
Bedeutungsgrenzen (termini) <strong>der</strong> verwendeten Ausdrücke besitzt, <strong>und</strong><br />
insofern nicht nur eine formelle son<strong>der</strong>n auch eine semantische Beziehung<br />
darstellt. — Er vergißt dabei aber allem Anschein nach darauf, daß auch<br />
<strong>die</strong> nicht mittels Allgemeinheit des Genus ausgezeichnete Bedeutung zu<br />
an<strong>der</strong>en gleichermaßen kontigenten Bedeutungen ebenfalls syntaktische<br />
heraushebbare semantische Beziehungen besitzen wird, ohne damit einen<br />
als logisch allgemeingültig eigens ausgezeichneten Wahrheitsanspruch zu<br />
verbinden, geschweige denn daß er <strong>die</strong> kollektiven Bedeutungen<br />
berücksichtigt, denen man noch mit einigem Recht ebenfalls Allgemeinheit<br />
zugestehen muß, auch wenn <strong>die</strong>se nicht <strong>die</strong> Gattung des Subsi<strong>die</strong>renden<br />
bezeichnen. — Hingegen vermag Gethmanns Darstellung schließlich doch<br />
248 Nach den logischen Kriterien <strong>der</strong> vierten metaphysischen Erörterung des Raumes<br />
alleine betrachtet (d. h. ohne Kontinuitätsbedingung <strong>der</strong> Sinnlichkeit), müßten <strong>die</strong>se<br />
ausschließlich intensionallogischen Verhältnisse von logischen Vorstellungen als<br />
Anschauung qualifiziert werden.
-— 247 —<br />
den Unterschied von Allgemeinem <strong>und</strong> Beson<strong>der</strong>em von <strong>der</strong><br />
Unterscheidung von Akt <strong>und</strong> Gehalt festzuhalten: Letztere besage <strong>die</strong><br />
»Beziehung zwischen einem Ereignis <strong>und</strong> demjenigen Schema, als dessen<br />
Realisierung das Ereignis gedeutet wird. Sie entspricht daher <strong>der</strong><br />
Unterscheidung zwischen dem Vorkommnis einer Handlung <strong>und</strong> dem<br />
Schema, das <strong>der</strong> Ausführung <strong>der</strong> Handlung zugr<strong>und</strong>e liegt.« (S. 109).<br />
Dieses Schema muß allerdings Eigenschaften besitzen, <strong>die</strong> allgemein<br />
behauptet werden können.<br />
Diese Unterscheidung gelte unterschiedslos für kognitive Handlungen wie<br />
Urteilen <strong>und</strong> Behaupten, wie auch für sonstige Handlungen. Allerdings<br />
beinhaltet das Schematische durchaus das Problem des Allgemeinen im<br />
Beson<strong>der</strong>en auch im pragmatisch ausgerichteten Gang <strong>der</strong> Überlegung.<br />
Eben <strong>die</strong>se Schwierigkeit des Schematischen hat Kant sowohl im<br />
Duisburger Nachlaß für das sprachliche Schema wie in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong><br />
ersten Kritik auch für das Schema <strong>der</strong> Einbildungskraft zureichend<br />
bedacht. Kant hat auch das Problem, das zwischen Individualität <strong>und</strong><br />
Allgemeinheit besteht, in mehreren Fassungen behandelt <strong>und</strong> schließlich<br />
im transzendentalen Ideal zwischen Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft <strong>und</strong><br />
prototypon transcendentale diagnostiziert. — Hier werden <strong>die</strong><br />
gr<strong>und</strong>sätzlichen Schwierigkeiten zwischen singulärer Individualität <strong>und</strong><br />
dem Beson<strong>der</strong>en eines Einzelnen anhand <strong>der</strong> Unterscheidung <strong>der</strong><br />
allgemeinen Bestimmung eines begrifflichen o<strong>der</strong> auch versinnlichenden<br />
Schemas anscheinend sowohl von Heidegger wie von Gethmann<br />
unterdrückt. 249<br />
c) Eidos <strong>und</strong> Genus<br />
Heideggers Kritik an Husserls Idealismus soll nun nach Gethmanns<br />
Darstellung eigentlich Lotzes Rezeption <strong>der</strong> Ideenlehre Platons treffen.<br />
Heidegger schreibt: »So beruht also <strong>der</strong> Irrtum Husserls, auf einen Schluß<br />
249 Edm<strong>und</strong> Husserl hat hierzu1907-1913 bereits eine deutliche Unterscheidung<br />
entwickelt. Paul Jansen formuliert <strong>die</strong>s folgen<strong>der</strong>maßen: »Vielleicht läßt sich für 1907<br />
bereits sagen: Die Differenz zwischen erkennendem Erleben (cogitatio) <strong>und</strong> dem ihm<br />
reell Immanenten einerseits <strong>und</strong> nicht-reell Immanenten Gegebenen an<strong>der</strong>erseits ist<br />
nicht mit <strong>der</strong> Differenz von Singulärem <strong>und</strong> Allgemeinen identisch. Im intentionalen<br />
Charakter des Subjektiven sind <strong>die</strong> reellen Eigentümlichkeiten des Erlebens <strong>und</strong><br />
seine nicht-reellen Gegenstandsbezugseigentümlichkeiten zusammengespannt zu<br />
einer unlösbaren Einheit, <strong>der</strong> sowohl singuläre wie allgemeine schaubare<br />
Gegebenheiten zugehören..« In:Paul Jansen, in <strong>der</strong> Einleitung zu: Edm<strong>und</strong> Husserl,<br />
Die Idee <strong>der</strong> Phänmenologie. Fünf Vorlesungen 1907. Nach dem Text <strong>der</strong><br />
Husserliana, Bd. II herausgegeben <strong>und</strong> eingeleitet von Paul Jansen, Meiner,<br />
Hamburg 1986,. p. XXII
-— 248 —<br />
gebracht, einfach darin, daß er so vorging: Idee gleich Geltung gleich Satz.<br />
Das ist <strong>die</strong> erste These. Der Untersatz: Idee gleich Allgemeines gleich<br />
Gestalt gleich Gattung. Schluß: Satz gleich Allgemeines, identisch mit Idee,<br />
<strong>und</strong> daraus: Satz gleich Gattung zu den Setzungen.« 250<br />
Schon <strong>der</strong> Obersatz ist zu diskutieren. Inwiefern soll für Husserl gelten:<br />
Idee gleich Geltung gleich Satz, <strong>und</strong> nicht: Idee gleich Satz gleich Geltung,<br />
wenn Husserl in den Logischen Untersuchungen <strong>die</strong> sinnerfüllende<br />
Intention für <strong>die</strong> Geltung des transzen<strong>die</strong>renden (empirisch) wie für <strong>die</strong><br />
Geltung des nicht-transzen<strong>die</strong>renden Bewußtseinsinhaltes (freilich nur<br />
vermeintlich ideal), <strong>und</strong> zwar in <strong>der</strong> Definition des Urteilsgehalts, selbst<br />
durchwegs vorausgesetzt hat? Heidegger bezieht sich offenbar auf den<br />
Husserl in <strong>der</strong> Wendung zur Transzendentalphilosophie zwischen 1907<br />
<strong>und</strong> 1913. Genau <strong>die</strong>ses Immanenzproblem bei <strong>der</strong> bloßen Betrachtung <strong>der</strong><br />
Bewußtseinsinhalte, gleich ob <strong>die</strong>se empirisch gewonnen o<strong>der</strong> nur in<br />
innerer Anschauung gegeben werden, wird in <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Phänomenologie zum Problem. Jedoch übersieht Heidegger, daß <strong>die</strong>se<br />
Immanenz <strong>der</strong> transzendentalen Phänomenologie gegenüber den<br />
Naturwissenschaften wie auch gegenüber <strong>der</strong> Lebenswelt gerade ihre<br />
Selbstständigkeit sichern soll, <strong>und</strong> Husserl mit <strong>der</strong> Unterscheidung in<br />
reelle <strong>und</strong> nicht-reelle Inhalte <strong>der</strong> Immanenz <strong>die</strong> Welthaltigkeit offen<br />
gelassen hat. Wie <strong>der</strong> Obersatz des von Heidegger vorgestellten<br />
Syllogismus auch immer formuliert wird, beide Varianten kranken daran,<br />
daß nicht klar wird, was hier unter einer Idee verstanden wird. Heidegger<br />
bezieht sich vermutlich darauf, daß Husserl den Urteilsakt selbst nicht<br />
primär logisch gefaßt hat, <strong>und</strong> so vermutlich geglaubt hat, den<br />
Urteilssinhalt ohne Erfüllungssynthese o<strong>der</strong> einem Kriterium <strong>der</strong><br />
eidetischen Reduktion mit <strong>der</strong> Idee des einfachen Vorstellungsinhaltes<br />
identifizieren zu können, übersieht aber, daß <strong>der</strong> allein zur logischen<br />
Wahrheitsentscheidung fähige Satz schließlich als <strong>die</strong> Idee selbst (dann<br />
aber bei Husserl schon als Immanenz des Wesens in<br />
transzendentalphänomenologischer Betrachtung) herausspringt, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
geeigneten Art <strong>der</strong> Erfüllungssynthese erst analytisch gegenüberzustellen<br />
wäre. Der Übergang von <strong>der</strong> Idee zum Satz hat nur <strong>die</strong> Bedingungen des<br />
Horizontes <strong>der</strong> Wahrheit eingeschränkt, aber nicht das Problem <strong>der</strong><br />
Erfüllungssynthesen (Schematismusproblem) gelöst. Ideen sind aber auch<br />
für Husserl nur <strong>die</strong> obersten Gattungsbegriffe <strong>und</strong> nicht sofort je<strong>der</strong><br />
Urteilsinhalt ist ein oberster Gattungsbegriff, <strong>und</strong> schon gar nicht<br />
250 Martin Heidegger, GA, Bd. 21, p. 61
-— 249 —<br />
unbedingt selbst solche Urteilsinhalte, <strong>der</strong>en transzen<strong>die</strong>ren zur<br />
»Wirklichkeit« man ihren Ideen gegenüberstellen kann <strong>und</strong> zu einem<br />
konkreten empirischen Gegenstand führen. Heidegger verwechselt<br />
zwischendurch den Vorstellungsinhalt mit dem Urteilsinhalt; eine<br />
Unterscheidung, <strong>die</strong> sowohl Bolzano wie Brentano deutlich genug zu<br />
treffen imstande waren. — Somit ist <strong>die</strong> Rede von Gestalt im Untersatz<br />
durchaus als verfehlt zu betrachten, denn für Husserl ist <strong>der</strong><br />
Zusammenhang zwischen natürlicher Erkenntniseinstellung, welche ihre<br />
Gegenstände naiv transzen<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> <strong>der</strong> transzendentalen<br />
Phänomenologie, welche ihre Gegenstände in reiner Immanenz besitzt,<br />
<strong>und</strong> gerade von jedem Transzen<strong>die</strong>ren freihält, einer systematischen<br />
Unterscheidung, also eines topos fähig, aber bleibt ein ungelöstes, wenn<br />
nicht gar ein unlösbares Problem. 251<br />
Der Untersatz aus dem Zitat von Heidegger ist also gar kein geeigneter<br />
Untersatz für <strong>die</strong>sen Obersatz, da erstens <strong>die</strong> Rede von Gestalten allein auf<br />
<strong>die</strong> sinnliche Anschauung verweist <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong><br />
Wesensschau nicht zwingend zur Allgemeinheit führt, son<strong>der</strong>n gerade <strong>die</strong><br />
Immanenz des Allgemeinen des Wesens auch in <strong>der</strong> immer singulären<br />
Gegebenheit des Schauens als nicht-reelle Immanenz von Husserl<br />
problematisiert wird. Die eidetische Variation führt in <strong>der</strong> eidetischen<br />
Reduktion eben nicht zum Allgemeinen des Gattungsbegriffes des<br />
Subsi<strong>die</strong>renden, vielmehr ist ein Allgemeinbegriff des betrachteten<br />
Individuums samt dessen Variationen in innerer Anschauung das Ergebnis<br />
<strong>der</strong> eidetischen Reduktion. Schließlich muß noch eingesehen werden, daß<br />
<strong>die</strong> Hierarchie solcher Allgemeinbegriffe nach Gattung <strong>und</strong> Art gar nicht<br />
für den Erkenntnisgang entscheidend sind son<strong>der</strong>n nur in <strong>der</strong> analytischen<br />
Darstellung <strong>die</strong> Bedeutung erlangen, <strong>die</strong> ihnen insgesamt oftmals<br />
251 »Es sei daran erinnert, daß Husserl im Spätwerk das phänomenologisch Psychische<br />
vom transzendental Subjektiven unterscheidet. Vom phänomenologisch Psychischen<br />
kann dem Husserlsche Spätwerk zufolge gesagt werden, daß in ihm <strong>und</strong> in seiner<br />
wissenschaftlichen Thematisierung <strong>die</strong> transzendentalphilosophische Entscheidung,<br />
daß <strong>die</strong> Welt — <strong>der</strong> Mensch eingeschlossen — sich im Subjektiven bildet, noch nicht<br />
gefallen ist. Das gilt, selbst wenn das phänomenologisch Psychische schon als ein an<br />
nichts An<strong>der</strong>sgeartetes stoßendes Universum eigener Art gefaßt ist. Die<br />
Beschränktheit <strong>der</strong> phänomenologischen Psychologie hängt damit zusammen, daß<br />
das phänomenologisch Psychische noch nicht als ein Subjektives aufgefaßt ist, das<br />
auch dem Menschen in <strong>der</strong> Welt gegenüber vorgängig konstitutiv ist. Der Titel<br />
Mensch bezeichnet, auch aus <strong>der</strong> Perspektive einer reinen phänomenologischen<br />
Psychologie, noch den Ort des Umschlages einer m<strong>und</strong>anen Wissenschaft, <strong>die</strong> es mit<br />
einem Weltbestandteil zu tun hat, zu einer präm<strong>und</strong>anen Universalwissenschaft, für<br />
<strong>die</strong> Menschen schon Konstitutionsprodukte eines vorgängigen absolut seienden<br />
Subjektiven sind.« P. Jansen, cit. op., p. XV
-— 250 —<br />
zugesprochen worden ist. Insofern ist <strong>der</strong> ganze Syllogismus als Leitfaden<br />
für eine Erkenntnistheorie hinfällig. Zieht man aber <strong>die</strong> vorgeschlagene<br />
Umformulierung des Obersatzes heran, wie sie zu den Logischen<br />
Untersuchungen Husserls besser passen würde, ergibt sich folgendes<br />
Problem: Der Untersatz soll nun — wohl gegen Husserls Idealität gerichtet<br />
— <strong>die</strong> Idee <strong>und</strong> ihr Allgemeines über das Allgemeine am Schematischen<br />
an einer Gestalt (Eidos) mit dem Allgemeinen <strong>der</strong> Gattung (Genus) des<br />
erscheinenden Gegenstandes verbinden. Gerade <strong>die</strong> Beanspruchung <strong>die</strong>ser<br />
Art vom Schematischen führt doch auch zur sinnlichen Anschauung als<br />
Entscheidungskriterium, ob nun wirklich von <strong>der</strong> Hypothese <strong>der</strong><br />
Vermutung über dem Gattungsnamen als Begriff <strong>die</strong>ser jeweils<br />
bestimmbaren Gestalt von <strong>der</strong> Einbildungskraft in <strong>der</strong> Erfahrung jene<br />
Merkmale vorgebildet worden ist, <strong>die</strong> mittels den Merkmalen <strong>der</strong><br />
Anschauung auch wirklich angebbar geworden sind. Diese analytische<br />
Darstellung setzt aber <strong>die</strong>jenige ursprüngliche Synthesis bereits voraus,<br />
<strong>der</strong> erst zu klären wäre, welche Ursprünge Idee, Schema <strong>und</strong><br />
Gattungsbegriff (genus des Gegenstandes) besitzen <strong>und</strong> wie <strong>die</strong>se<br />
f<strong>und</strong>ierend zusammenhängen. Heidegger bringt nicht ganz zu Unrecht an<br />
<strong>die</strong>ser Stelle <strong>der</strong> Überlegung <strong>die</strong> teleologische Reflexion ein, welche <strong>die</strong><br />
bereits konstituierte Anschauung erst als Anschauung eines praktischen<br />
Gegenstandes (bei Heidegger eben immer nur als Zuhandenes) zu denken<br />
erlaubt (also nicht als nur auf sinnliche Anschauung beruhend), obgleich<br />
damit <strong>die</strong> ausgebildeten Differenzen im Gebrauch von Allgemeinheit nur<br />
nochmals kompliziert werden.<br />
Der Schlußsatz, bei Heidegger bemerkenswerterweise gleich in doppelter<br />
Ausfertigung vorgestellt (»Satz gleich Allgemeines, identisch mit Idee, <strong>und</strong><br />
daraus: Satz gleich Gattung zu den Setzungen«) ist schon im ersten Glied<br />
kritisierbar: Wohl vermag über das Gemeinte eines sprachlichen Gebildes,<br />
eines Ausdrucks, <strong>der</strong> eine Aussage über etwas als Urteil o<strong>der</strong> bloß als<br />
Behauptung bedeutet, zu Recht gesagt werden, es beinhalte als Satz ein<br />
Allgemeines (hier noch eine weitere Konnotation zum möglichen<br />
Gebrauch des Allgemeinen: <strong>die</strong> Kollektivität, ansonsten <strong>die</strong><br />
Kommunizierbarkeit überhaupt in Frage gestellt sein würde); es kann<br />
weiters auch von einem jeden solchen Satz behauptet werden, er sage über<br />
eine Idee aus; keinesfalls aber wird mir von selbst verständlich, woher<br />
Heidegger den Gr<strong>und</strong> hernimmt, auch wenn <strong>der</strong> Satz Allgemeines<br />
allgemein aussagen sollte (also mit <strong>der</strong> Aussage auch Gesetzmäßiges vom<br />
immanent Gegenständlichen <strong>der</strong> Intention behauptet wird), zu behaupten,
-— 251 —<br />
<strong>die</strong>ses im Satz ausgesprochene Allgemeine sei notwendigerweise identisch<br />
mit einer Idee des Gemeinten als Individuelles <strong>und</strong> Vereinzeltes <strong>der</strong><br />
Setzungen. Das kann trotz <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> (nicht durchwegs auf gleiche<br />
Weise von Husserl behaupteten) Idealität <strong>der</strong> Gegenständlichkeit <strong>der</strong><br />
intentionalsimmanenten Form als sinnerfüllendes Kriterium eben nicht<br />
mehr behauptet werden. 252<br />
So schreibt Smail Rapic in <strong>der</strong> Einleitung von »Ding <strong>und</strong> Raum«: »Das<br />
Ergebnis <strong>der</strong> Vermittlung <strong>der</strong> phänomenologischen <strong>und</strong> transzendentalen<br />
Gegenstandsanalyse kann folgen<strong>der</strong>maßen zusammengefaßt werden: Der<br />
transzendental-phänomenologische Begriff <strong>der</strong> Intentionalität bestimmt<br />
den Gegenstand <strong>der</strong> Erfahrung als synthetische Einheit einer<br />
„Erscheinungsmannigfaltigkeit ... von einem bestimmten ideellen,<br />
unendlichen Typus“. Der vermeintliche Bezug unserer Erfahrung auf eine<br />
schlechthin transzendente, vom Bewußtsein unabhängige<br />
Gegenständlichkeit — innerhalb <strong>der</strong> „natürlichen Einstellung“ — gründet<br />
darin, daß in <strong>der</strong> Synthesis einer sinnlich gegebenen<br />
„Erscheinungsmannigfaltigkeit“ zur Einheit eines Gegenstandes ein<br />
Horizont bewährbarer Abschattungsmöglichkeiten „mitgemeint“ ist. Der<br />
Gegenstand <strong>der</strong> Erfahrung wird „als an sich [seien<strong>der</strong>] konstituiert“, d. h.<br />
als ein solcher, <strong>der</strong> nicht darin aufgeht, von mir vorgestellt zu werden, <strong>und</strong><br />
zugleich an<strong>der</strong>s bestimmt sein kann, als er mir erscheint (XI 214). Der<br />
Gedanke <strong>der</strong> ‚Konstitution an sich´ klärt den den transzendentalphänomenologischen<br />
Gr<strong>und</strong>begriff <strong>der</strong> „Transzendenz in <strong>der</strong> Immanenz“.<br />
Die „Transzendenz in <strong>der</strong> Immanenz“ erweist sich als <strong>der</strong> ursprüngliche<br />
Sinn <strong>der</strong> Transzendenz von Gegenständen überhaupt. „Transzendenz ist<br />
ein immanenter, innerhalb des Ego sich konstituieren<strong>der</strong> Seinscharakter“<br />
(I 32).« 253<br />
252 »Husserl dürfte <strong>die</strong>se kritisch monierte Sachlage so sehen, als ob Singulärsein <strong>und</strong><br />
Zeitlichsein zum erschaubaren Wesen eines Individuums gehörten, wogegen es<br />
an<strong>der</strong>en Wesen zukäme, <strong>die</strong>se Züge nicht aufzuweisen. In <strong>die</strong>ser Sicht <strong>der</strong> Sachlage<br />
kommen Singulärsein <strong>und</strong> Zeitlichsein nur als Allgemein-Gegenständliches in den<br />
Blick. Ihre Differenz zum Wesen bleibt für sie unwesentlich. Und Wesen besagt dann<br />
etwas, was sich einheitlich über Zeitliches/Singuläres <strong>und</strong> Zeitfreies/Allgemeines<br />
erstreckt, ohne daß <strong>die</strong>ser Unterschied an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> Bedingtheit durch den<br />
einheitlichen Wesensbegriff Rechnung getragen würde — was besagt, daß <strong>die</strong>ser<br />
Unterschied (phänomenologisch gesprochen) nicht als er selber zur Sprache<br />
kommt.«, cit. op., p. XXXVII.<br />
253 in: Edm<strong>und</strong> Husserl, Ding <strong>und</strong> Raum. Vorlesungen 1907., Hrsg. Karl-Heinz<br />
Hahnengress <strong>und</strong> Smail Rapic, Text nach Husserliana XVI, Hamburg: Meiner 1991.<br />
Die römischen Ziffern im Zitat beziehen sich auf <strong>die</strong> Bände <strong>der</strong> Gesammelten Werke<br />
Edm<strong>und</strong> Husserls, 1950 ff. (Husserliana).
-— 252 —<br />
Gethmann sagt zum syllogistischen Beispiel, mit welchem Heidegger<br />
Husserls Idealismus kritisieren wollte: »In <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />
kritisiert Heidegger beson<strong>der</strong>s eingehend Lotzes Gleichsetzung von<br />
Geltung mit Bejahung, Wirklichkeit <strong>und</strong> Sein.« (S. 109) Rudolph Hermann<br />
Lotze vertrat in <strong>der</strong> Metaphysik einen teleologischen Idealismus: In einer<br />
Theorie <strong>der</strong> Einfühlung soll <strong>die</strong> Phantasie <strong>der</strong> schaffenden Weltseele als<br />
Quelle aller Schönheit dem unmittelbar anschaulichen Hervortreten <strong>der</strong><br />
Einheit von allgemeinen Gesetzen, <strong>der</strong> Stoffe <strong>und</strong> Kräfte wie des<br />
bestimmten Planes <strong>der</strong> Welt entsprechen. 254 Ich vermag mir noch<br />
vorzustellen, daß Heidegger mit Lotze auf einem ganz an<strong>der</strong>en Felde<br />
durchaus in Konflikt gekommen ist, <strong>der</strong> Zusammenhang mit Husserl ist<br />
mir allerdings rätselhaft. Glaubt Heidegger etwa, Husserl konkretisiert<br />
<strong>und</strong> ontologisiert <strong>die</strong> Epoché <strong>der</strong> transzendentalen Reduktion selbst zur<br />
Weltseele o<strong>der</strong> zur Ur<strong>substanz</strong>? — Gethmann erklärt für den gebotenen<br />
Zusammenhang aber den Vorrang <strong>der</strong> Kritik an Lotzes Geltungsbegriff<br />
<strong>und</strong> Husserls Rezeption desselben mit den Angriffen auf <strong>die</strong> bedeutsame<br />
Stellung des Konzepts <strong>der</strong> Anwesenheit seit Plato. (S. 110) Gerade <strong>die</strong><br />
Gleichsetzung von Bejahung <strong>und</strong> Wirklichkeit kann meines Erachtens<br />
Husserl aber trotz <strong>der</strong> Kritik auch an <strong>der</strong> Idealität <strong>der</strong><br />
Wesenszusammenhänge des Bewußtseins noch weniger unterstellt<br />
werden. Bemerkenswerterweise kann aber dem Programm <strong>der</strong><br />
existenzialontologischen Hermeneutik Heideggers in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage<br />
gerade nämliche Ineinssetzung von Wahrheit, Sein <strong>und</strong> Seiendem im<br />
Dasein gef<strong>und</strong>en werden: Allerdings zeigt Heidegger dort, wo er <strong>die</strong><br />
Ganzheit des Horizontes des Daseins nicht mehr über <strong>die</strong> Sorge (also<br />
schließlich als Verfallenheit) bestimmt, noch eines auf: nämlich, daß <strong>die</strong><br />
Sphäre <strong>der</strong> Potentialität <strong>der</strong> möglichen Seiendheit erst durch das in den<br />
Horizont des Bewußtseins eintretende Seiende indirekt sichtbar wird. So<br />
kann Heidegger zurecht sagen, <strong>die</strong> Lichtung ist seynsverbergend, indem<br />
das Seiende in <strong>der</strong> Lichtung <strong>die</strong> Potentialität des Seyns verbirgt, indem das<br />
Seiende ist, was es ist, <strong>und</strong> nicht, was es sein könnte, noch was überhaupt<br />
sein könnte. Das Unverborgene des Seienden selbst ist jedoch nur abermals<br />
das Substratum <strong>der</strong> Koordination <strong>der</strong> Fragen nach Wahrheit, Sein <strong>und</strong><br />
Seiendem. Und so wird immerhin ein Schema skizziert, in welchem das<br />
Sein nicht wegzudenken ist, aber im Anwesen doch nur in <strong>der</strong> Negation<br />
»verborgen« liegt. Die f<strong>und</strong>amentalontologische Ursprung <strong>der</strong> Wahrheit<br />
254 Eine umfassende Darstellung seiner Philosophie gibt Lotze im berühmt gewordenen<br />
„Mikrokosmus“ (Leipzig 1856-64)
-— 253 —<br />
liegt demnach in <strong>der</strong> Erscheinung selbst (ein hegelianisches Residuum).<br />
Das mag man in <strong>der</strong> Erkenntnisfrage als F<strong>und</strong>ament überhaupt ausgeben<br />
wollen o<strong>der</strong> nicht, es reicht aber we<strong>der</strong> zu einer ontologischen noch zu<br />
einer transzendentalanalytischen Fassung <strong>der</strong> Wahrheitsfrage, wenn<br />
Urteilen zu einer »logischen« Aussage, einem Satz, führen soll — wenn es<br />
sich also schlichtweg um ein Verstandesurteil im Sinne einer theoretischen<br />
Idee <strong>der</strong> Erkenntnis handelt. Heidegger aber ersetzt nun im ersten Schritt<br />
<strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Anschauung im Verstandesurteil durch seinen<br />
Pragmatismus anhand des unbestrittenen genetischen Vorranges des<br />
Zuhandenen hinsichtlich <strong>der</strong> Reihenfolge des Sich-Zugänglich-Machens.<br />
Im zweiten Schritt wird das Verstandesurteil vom teleologischen Urteil<br />
ersetzt, sodaß <strong>die</strong> Apophantik des Aussagens erweitert wird, bevor <strong>die</strong>se<br />
noch transzendentalanalytisch geklärt worden konnte. Allerdings läuft ein<br />
solches Vorhaben abermals in Gefahr, zwischen Erkenntnisgr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Seinsgr<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Begründbarkeit <strong>der</strong> Wahrheit nicht länger<br />
unterscheiden zu können. In einem dritten Schritt führt <strong>die</strong>s insofern<br />
folgerichtig zur Ersetzung des verstandesgemäß kategorialen<br />
Erkenntnisurteils in <strong>der</strong> logischen Aussage durch <strong>die</strong> Auslegung <strong>der</strong> Rede.<br />
Das aber mag eine ontogenetische wie phylogenetische (also auch<br />
»historische«) Vorstellung sein, aber keine Begründung einer<br />
Wahrheitstheorie.<br />
❆<br />
Im § 10 <strong>der</strong> Vorlesung besinnt sich Heidegger auf das<br />
Gründungsprogramm <strong>der</strong> Phänomenologie von Brentano, <strong>und</strong> durch<br />
Brentano, auf Aristoteles. Brentanos Einsicht des »Psychischen als<br />
Intentionalität« betrachte <strong>die</strong> Intentionalität gerade nicht als Beziehung<br />
zwischen zwei Seinsregionen, wie in <strong>der</strong> Unterscheidung in real <strong>und</strong> ideal.<br />
— Ich habe vorhin schon gezeigt, daß <strong>der</strong> Versuch einer Fixierung des<br />
Urteilsgehalts überhaupt als idealer Inhalt durch Husserl (in Nachfolge des<br />
Versuches Bolzanos <strong>der</strong> Exponation <strong>der</strong> Selbstständigkeit des Urteils- <strong>und</strong><br />
Vorstellungsinhaltes vom subjektiven Urteilsakt in <strong>der</strong> Elementarlehre <strong>der</strong><br />
Wissenschaftslehre) aus dem gleichen Gr<strong>und</strong> scheitern mußte, weshalb<br />
Brentano <strong>die</strong> mathematische Lösung des mathematischen<br />
Infinitesimalproblems aus guten Gründen nicht auch als philosophisch<br />
ideale Lösung ansehen konnte. Aber ich glaube auch gezeigt zu haben, daß<br />
erstens <strong>die</strong> Kritik an <strong>der</strong> prinzipiellen Idealität des Urteilsgehalts nichts an<br />
<strong>der</strong> Selbstständigkeit desselben im innersubjektiven wie auch im
-— 254 —<br />
intersubjektiven Gebrauch än<strong>der</strong>t; <strong>und</strong> daß zweitens auch Husserl selbst<br />
von <strong>der</strong> Idealisierung des nicht-reell immanenten Gegenstandes <strong>der</strong><br />
Intention durchaus Abstand genommen hat. Im Übrigen ist hier Brentano<br />
inkonsequent, da er an an<strong>der</strong>en Stelle auch im empirischen<br />
Wahrheitsurteil <strong>die</strong> nicht allgemeinen Partikel des Schemas im Bemerken<br />
mit anerzuerkennen vermag. Was in <strong>die</strong>sem Zusammenhang interessiert,<br />
ist <strong>die</strong> Unterscheidung in Geltung <strong>und</strong> Allgemeinheit.<br />
Gerade <strong>der</strong> Untersuchungsgang Husserls in den Logischen<br />
Untersuchungen hatte methodisch sein F<strong>und</strong>ament ursprünglich in <strong>der</strong><br />
Phänomenologie des Benennens, welches im logischen Gegenstand einer<br />
Vorstellung im Rahmen <strong>der</strong> Sprachphilosophie <strong>die</strong> ontologische<br />
Fragestellung gewissermaßen als Artefakt <strong>der</strong> Methode schon vor dem<br />
kategorialen Verstandesurteil unbefragt weiter transportiert. 255 Es ist aber<br />
auch außerhalb des anscheinend schon von Anfang an parallelisierten<br />
Verhältnisses von Genus (als Gegenstandsgattung) <strong>und</strong> Eidos (als<br />
konkretisierbare Anschauungsform o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Schema) im Rahmen <strong>der</strong><br />
phänomenologischen Untersuchung <strong>der</strong> nicht-reellen Immanenz des<br />
intentional verfaßten Bewußtseinslebens nach <strong>der</strong> eidetischen Reduktion<br />
noch <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Erfüllungssynthesis zu stellen, <strong>die</strong> nicht mit dem<br />
Schema <strong>der</strong> eidetischen Reduktion <strong>der</strong> Variationen zu einen individuell in<br />
<strong>der</strong> Vorstellung gegebenen Gegenstand ident sein kann. Kant hat <strong>die</strong>s im<br />
Zuge seiner Kategorienlehre für ein ausgezeichnetes Gebiet <strong>der</strong><br />
transzendentalen Phänomenologie des inneren Sinnes als<br />
Erfahrungsbedingung anhand <strong>der</strong> Sinnlichkeit vorzustellen versucht.<br />
Diese Kategorien gelten nicht allgemein distributiv wie<br />
Gattungsbestimmungen, noch kollektiv wie <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong><br />
Anschauungsformen, noch sind sie abstrakt. Insofern interpretieren sie <strong>die</strong><br />
255 Beachte das Prädikat einer Substanz als Wirkung <strong>der</strong> Substanz in Kantens<br />
analytischer Metaphysik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Interpretation des zureichenden Gr<strong>und</strong>es bei<br />
Leibniz als Gr<strong>und</strong>, ein Prädikat einem äußeren Gegenstand zuzusprechen. Vgl. aber<br />
das Schreiben von Leibniz an den Grafen von Hessen Rheinfels vom 14. Juli 1686:<br />
»Es ist immer nötig, daß es für den Nexus <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> eines Urteils eine Gr<strong>und</strong>lage<br />
gibt, <strong>die</strong> sich in den Begriffen <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> finden lassen muß (Benedikt: also<br />
zunächst nicht in <strong>der</strong> Symploke <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Wesen). Und das ist eben mein großes<br />
Prinzip, von dem ich meine, daß alle Philosophen es zugeben müssen, wovon auch<br />
das gewöhnliche Axiom, daß nichts ohne einen Gr<strong>und</strong> geschieht, <strong>der</strong> immer<br />
zurückgeführt werden kann <strong>und</strong> wovon <strong>die</strong> Tatsache (...), warum nämlich <strong>die</strong> Sache<br />
viel eher so als an<strong>der</strong>s verlaufen ist, nur einer <strong>der</strong> Folgesätze bleibt.« (Gerhardt, II,<br />
p. 62)<br />
Vgl. hier zweiter Abschnitt, erster Teil, drittes Kapitel (Die aussagenlogische<br />
Erörterung). Vgl. weiters dritter Abschnitt, zweites Kapitel, § 14 (Ursprüngliche<br />
Unterscheidungen in <strong>der</strong> Relation des Enthaltenseins.
-— 255 —<br />
Bedingungen einer bestimmten Art von techne im Rahmen eines Konzeptes<br />
von Wahrnehmung, wo nur <strong>die</strong>jenige Erfahrung vollgültig zählt, <strong>die</strong> sich<br />
auch machen läßt. Die Kantschen Kategorien betreffen also per<br />
definitionem nicht Wesensbestimmungen, <strong>die</strong> bestimmte konkrete<br />
Gegenstände in individuo betreffen könnten, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong>en<br />
Erfahrungsbedingungen. — Daß <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Objektwelt eben <strong>die</strong>se<br />
Bedingungen mitverursachend erfüllen muß, liegt im Rücken <strong>der</strong> Doktrin<br />
<strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft <strong>und</strong> jedenfalls auch in <strong>der</strong> vollständigen<br />
transzendentalen Reflexion nur in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Bedingungen von je<br />
aktueller objektiver Realität (bei Kant: kosmologische Ideen). Die<br />
Ausschaltung des »Ich« aber zieht schließlich in Husserls Phänomenologie<br />
wie in Heideggers existenzialontologische Hermeneutik das Problem nach<br />
sich, wie es rechtzeitig zum Verstandesurteil wie<strong>der</strong> einzuführen sei. —<br />
Offenbar ein problematisches Erbe <strong>der</strong> antiken griechischen Philosophie,<br />
wie nous <strong>und</strong> logos ursprünglich zusammenhängen.<br />
d) Die Inkonsequenz in <strong>der</strong> Husserl-Kritik: <strong>die</strong> Anschauung<br />
Sowohl nach <strong>der</strong> vorhin diskutierten Kritik Heideggers an Lotze <strong>und</strong><br />
dessen überschätzten Wirkung auf Husserl, 256 wie auch schon nach <strong>der</strong><br />
Rasanz, mit welcher <strong>der</strong> Leser von Sein <strong>und</strong> Zeit in den fälschlicherweise<br />
allein als sinnstiftend angesehenen Pragmatismus des alltäglichen<br />
Besorgens als F<strong>und</strong>ament des hermeneutischen Vorverständnisses<br />
(hermeneutisches »Als«) eingewiesen wird, nehmen sich folgende Stellen<br />
aus den behandelten Vorlesungen eigentümlich aus:<br />
»Anschauung gibt <strong>die</strong> Fülle, im Unterschied zur Leere des bloßen<br />
Vorstellens <strong>und</strong> überhaupt nur Meinens.« 257<br />
»Im Ausweisen werden Leervorgestelltes <strong>und</strong> Angeschautes zur Deckung<br />
gebracht.« 258<br />
256 Offenbar unterschätzt Heidegger <strong>die</strong> Relevanz von Bernard Bolzano für Husserl.<br />
257 Martin Heidegger, GA, Bd. 21, p. 105<br />
258 cit. op., p. 107. Vergleiche dazu auch Robert Zimmermanns Ästhetik, worin<br />
Zimmermann zwischen Herbart <strong>und</strong> Bolzano den Ausgleich sucht, um in einer<br />
»Ästhetik als Formwissenschaft« (Wien 1865) <strong>die</strong> Ästhetik als<br />
Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft des Geistesleben zu finden. Georg Jäger befindet über<br />
Zimmermanns Ansatz (in: Die Herbartianische Ästhetik - ein österreichischer Weg in<br />
<strong>die</strong> Mo<strong>der</strong>ne, in: Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer<br />
literarhistorischen Entwicklung. Ihr Profil im19.Jahrh<strong>und</strong>ert (1830-1880), Hrsg.<br />
Herbert Zeman, Graz 1982, S. 195-220): »Der Formalismus scheint vor allem in <strong>der</strong><br />
Lage, <strong>die</strong> realhistorische Dissoziation des klassisch-idealistischen Kunstcharakters zu<br />
reflektieren: <strong>die</strong> Freisetzung <strong>der</strong> Form ebenso wie des Inhalts in den Stilrichtungen
-— 256 —<br />
»Wahrheit ist <strong>die</strong> Selbigkeit des Gemeinten <strong>und</strong> Angeschauten.« 259<br />
Heidegger leugnet also nicht durchwegs <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Anschauung<br />
in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage, hält aber an<strong>der</strong>s als Tugendhat <strong>die</strong> Husserlsche<br />
Erklärung <strong>der</strong> sinnerfüllenden Intention allein mittels Anschauung (ein<br />
Irrtum Tugendhats, aber offenbar in gewissen Maße auch Heideggers) für<br />
nicht ausreichend, allerdings nur, weil <strong>die</strong>se bloß als Übergang von idealer<br />
Geltung zu realer Geltung (also einfach mittels sinnlicher Anschauung) zu<br />
denken sei (das entspäche zumindest noch strategisch <strong>der</strong> selbst nichtkategorialen<br />
Unterscheidung von noumenon <strong>und</strong> phaenomenon durch<br />
Kant): Für Heidegger bleibt offen, wie das Ableitungsverhältnis von<br />
Anschauung zu Aussage (<strong>und</strong> Gemeinten) zu verstehen ist <strong>und</strong> was dabei<br />
mit »Anschauung« <strong>und</strong> »Aussage« in einem formalisierbaren Sinn genauer<br />
gemeint ist. (Gethmann, S. 111)<br />
Zu <strong>die</strong>ser Einschätzung wurde schon oben auch hinsichtlich des<br />
Verhältnisses von »Auslegung« <strong>und</strong> »Aussage« das Nötigste angemerkt,<br />
jedoch bleibt noch zu sagen: Husserl wie Heidegger übersehen, daß Kant<br />
selbst schon <strong>die</strong>se Differenz von sinnlicher Anschauung <strong>und</strong> Erscheinung<br />
zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Erfahrung für das Soseiende (das Substrat<br />
<strong>der</strong> Washeit) sowohl als bloß innerweltlich Vorhandenes allein anhand <strong>der</strong><br />
(sinnlichen) Anschauung <strong>und</strong> <strong>der</strong>en weiter ausgreifenden Thesen- <strong>und</strong><br />
Hypothesenbildung in <strong>der</strong> Erfahrung (erste Kritik), wie auch als<br />
Zuhandenes <strong>der</strong> selbst innerweltlichen Besorgungsstruktur des »man«<br />
(zweite Kritik) zwischen ästhetisch-pathologischer <strong>und</strong> ästhetischpraktischer<br />
Reflexion auf <strong>die</strong> Vorstellung (dritte Kritik) behandelt <strong>und</strong><br />
damit <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Argumentation vorgezeichnet hat. Heidegger<br />
verabsäumt also nicht nur in den zentralen Teilen des Buches »Kant <strong>und</strong><br />
Problem <strong>der</strong> Metaphysik« son<strong>der</strong>n auch in den Vorlesungen 1925/26 <strong>die</strong><br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>die</strong> sich nach (im außerdeutschen Bereich schon gleichzeitig mit) dem<br />
Realimus entwickeln.«(S. 209) Anhand des Begriffpaares von »Leerstellen des<br />
Gemeinbildes« <strong>und</strong> »Concretionen durch Einzelanschauungen« (ZIMMERMANN 1865,<br />
§ 280) zieht Jäger eine Verbindung zum tschechischen Strukturalismus (Artefakt <strong>und</strong><br />
Konkretisation bei Mukarovsky) <strong>und</strong> zum polnischen Ästhetiker Ingarden, <strong>der</strong><br />
nachzugehen wertvoll wäre (S. 214).<br />
Daß <strong>die</strong> Wirkungsgeschichte Zimmermanns sich über Twardowsky auf <strong>die</strong> polnische<br />
Logik <strong>und</strong> den Schülerkreis Brentanos hinaus auch auf Husserl zu erstrecken scheint,<br />
siehe in: G.W. Cernoch, Zimmermanns Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Herbartschen Ästhetik. Eine<br />
Brücke zwischen Bolzano <strong>und</strong> Brentano, in: Verdrängter Humanismus <strong>und</strong><br />
verzögerte Aufklärung, in: Verdrängter Humanismus - verzögerte Aufklärung, Bd. 3,<br />
Bildung <strong>und</strong> Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus.<br />
Philosophie in Österreich (1820-1880), Hrsg. Michael Benedikt, Reinhold Knoll,<br />
Verlag Edituria Triade, Klausen-Leopoldsdorf, Ludwigsburg, Klausenburg 1995<br />
259 cit. op., p. 109
-— 257 —<br />
Fragestellung nach dem Gehalt eines Urteils gemäß <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
nach reflektieren<strong>der</strong> <strong>und</strong> bestimmen<strong>der</strong> Urteilskraft ausdrücklich<br />
einzurichten. Das aber heißt a fortiori, Husserl wie Heidegger übersehen<br />
auch, daß <strong>die</strong> Differenz zwischen theoretischer <strong>und</strong> praktischer Vernunft<br />
nicht allein zwischen Verstand (Physik) <strong>und</strong> Begehrungsvermögen (Ethik)<br />
aufzulösen ist. 260 Eine solche Differenz hat sich nicht nur auf verschiedene<br />
»Gegenstandsbereiche« <strong>der</strong> Intentionalität son<strong>der</strong>n auch auf verschiedene<br />
Methoden zu beziehen, soll aber dabei womöglich gerade dadurch noch<br />
<strong>die</strong> Synthesis <strong>der</strong> Akteinheit als eine <strong>der</strong> kategorialen Synthesis vorgängige<br />
Synthesis im Anschluß an <strong>die</strong> transzendentale Reflexion (wovon <strong>die</strong><br />
transzendentale Analytik ein Teilstück wäre) vorstellen. Damit wäre aber<br />
vielmehr <strong>die</strong> Vorstellung einer ursprünglichen Einheit <strong>der</strong> theoretischen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> praktischen Vernunft, allerdings auch nicht unbedingt selbst als<br />
Vernunft, gegeben <strong>und</strong> nicht eine nachvollziehbare Akteinheit des<br />
ursprünglich vorausgesetzten Selbstbewußtseins, woraus alles weitere<br />
analytisch folgt: Dazu wäre offenbar doch eine synthetische Metaphysik<br />
nötig, <strong>die</strong> über eine »transzendentale Psychologie«, <strong>die</strong> zwischen rationaler<br />
Psychologie <strong>und</strong> rationaler Physiologie das innere Seelenleben<br />
konstituieren (rekonstruieren) soll, noch hinausgeht <strong>und</strong><br />
weltkonstituierend sein will.<br />
e) Insuffizienz <strong>der</strong> pragmatischen Reflexion des Urteils<br />
(Dienlichkeit als Ausweis <strong>der</strong> Erschlossenheit. Heideggers Pragmatismus<br />
in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Wahrheitskriterien, Gethmann, S. 111 f.)<br />
Heideggers pragmatischer Ansatz in <strong>der</strong> Logik ist in § 44 von Sein <strong>und</strong><br />
Zeit, genauer in <strong>der</strong> Vorlesung vom Wintersemester 1925/26, §§ 12-14, von<br />
Aristoteles ausgehend zu verfolgen. »Heidegger stellt sich am Beginn des<br />
§ 11 <strong>der</strong> Vorlesung ausdrücklich <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong> Aussagewahrheit, wie<br />
260 Dieter Henrich, hat im bekannten Aufsatz: Der Begriff <strong>der</strong> sittlichen Einsicht <strong>und</strong><br />
Kants Lehre vom Faktum <strong>der</strong> Vernunft, (in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von<br />
Erkennen <strong>und</strong> Handeln, Hrsg. Gerold Prauss, Neue Wissenschaftliche Bibliothek:<br />
Philosophie, Kiepenheuer <strong>und</strong> Witsch, Köln 1973, p. 223 ff.) vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Auffassung von Hutchinson, das Gute <strong>und</strong> das Schöne sei nicht allein<br />
Angelegenheit rationalen Schlußfolgerns, son<strong>der</strong>n wäre durchaus traditionell gemäß<br />
<strong>der</strong> vis repraesentatio zu denken, welche das Interesse von <strong>der</strong> Methode <strong>der</strong><br />
Versicherung in <strong>der</strong> Erkenntnis trennt <strong>und</strong> doch einer gemeinsamen Wurzel<br />
zuzusprechen wäre, Kant als einen Denker skizziert, <strong>der</strong> zunächst entgegen<br />
Hutchinson bis in Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten einen rein rationalen<br />
Gr<strong>und</strong> für das Gute annimmt, <strong>und</strong> dann erst allmählich in verschiedenen Versuchen,<br />
<strong>die</strong> freilich systematisch aufeinan<strong>der</strong> bezogen werden, den Begriff <strong>der</strong> Vernunft von<br />
den Vorstellungen in <strong>der</strong> rationalen Metaphysik zu emanzipieren beginnt.
-— 258 —<br />
sie von Aristoteles expliziert wird, mit <strong>der</strong> „pragmatischen“<br />
Gr<strong>und</strong>struktur in Zusammenhang zu bringen, welche als „erfüllende“<br />
Anschauung gemäß Husserl <strong>der</strong> Aussage vorausliegen soll« (S. 112).<br />
Dieser Verweis auf »Pragmatik« vermengt nicht nur <strong>die</strong> rethorischen<br />
Wurzeln <strong>der</strong> Aussageformen, welcher <strong>der</strong> aristotelischen Logik von<br />
platonisch-akademischer Seite her zu Gr<strong>und</strong>e liegen, mit <strong>der</strong> bloßen Doxa:<br />
Die freilich hinsichtlich den Naturwissenschaften wie den<br />
Formalwissenschaften verschieden anzusetzenden Wahrheitsfragen sind<br />
mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> spezifischen Aussageform über ethisch relevante<br />
Verhältnisse zu sich selbst <strong>und</strong> zu an<strong>der</strong>en zu konfrontieren. Das Konzept<br />
<strong>der</strong> »Ausweisung« <strong>der</strong> Richtigkeit <strong>der</strong> Intentionalität ist nun nach<br />
Heidegger selbst kein Akt des Schauens, son<strong>der</strong>n ein Akt des Sich-<br />
Verstehens-auf-etwas. Insofern würde sich <strong>die</strong>ser Ausweg für das<br />
Problem, wie könnte <strong>der</strong> Ethik in <strong>der</strong> erkenntnistheoretischen Reflexion<br />
ein eigener Gegenstand gef<strong>und</strong>en werden, ebenso anbieten, 261 wie <strong>der</strong><br />
vielfach beschrittene Weg, <strong>die</strong> Ethik methodisch als ein Problem <strong>der</strong><br />
Ästhetik zu behandeln. Letzteres wäre in <strong>die</strong>ser Form allerdings nichts als<br />
<strong>die</strong> Reduktion <strong>der</strong> Akteinheit auf ein an<strong>der</strong>es Moment <strong>der</strong>selben, sollte <strong>die</strong><br />
Definition <strong>der</strong> »Ausweisung« bloß zur klassifikatorischen Unterscheidung<br />
<strong>der</strong> Erfüllungssynthesen <strong>die</strong>nen. — Kants Argumentationsgang scheint<br />
davon gar nicht mehr betroffen, da er schon in <strong>der</strong> ersten Kritik nicht nur<br />
Anschauungsform, Begriffe <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätze für den Gebrauch <strong>der</strong><br />
Verstandesbegriffe in <strong>der</strong> Erfahrung deutlich genug auseinan<strong>der</strong> gehalten<br />
hat, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> ersten Kritik auch das Feld <strong>der</strong> Phänomenologie nicht<br />
nur implizite zureichend eingeschränkt hat. In <strong>der</strong> praktischen Vernunft<br />
wird (obgleich <strong>die</strong>se in <strong>der</strong> Maximenlehre in zwei Teile zerfällt) abermals<br />
schon das bloße Einleuchten des Richtigen (geschweige denn <strong>die</strong><br />
pragmatische Ausweisung des Richtigen) nachhaltig durch <strong>die</strong><br />
ursprüngliche Billigung des Guten distanziert, was <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />
Stellung des Universalisierungsprinzips in den Interpretationen des<br />
kategorischen Imperativs neu aufwirft. 262 — Heideggers Kritik an Husserl<br />
findet jedoch etwas Meinbares bzw. etwas Treffbares im Gemeinten,<br />
gerade weil sowohl von Seiten <strong>der</strong> Logik als Wahrheitsfähigkeit im Sinne<br />
<strong>der</strong> Einheit von Geltungs- <strong>und</strong> Existenzbehauptung (also auch ohne<br />
261 Eben <strong>die</strong> Unterscheidung betreffend, <strong>die</strong> eine mögliche theoretische Erkenntnis des<br />
Richtigen in sittlicher Hinsicht <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihrerseits als usprünglich angesetzten<br />
Billigung des Guten auseinan<strong>der</strong>zuhalten vermag.<br />
262 Ein solcher Gegenzug ist aus dem Verhältnis von Anschauung <strong>und</strong> Antizipation in<br />
<strong>der</strong> konstitutiven Kategorie schon bekannt.
-— 259 —<br />
Bedingung <strong>der</strong> aktuellen Anwesenheit — wenngleich auch immer für<br />
<strong>die</strong>se Bedingung paßfähig) wie von Seiten <strong>der</strong> praktischen Vernunft an<br />
Husserls Evidenzauffassung bereits Kritik geübt worden ist; <strong>und</strong> zwar<br />
obwohl Heidegger selbst eben <strong>die</strong>ser schon an Brentanos<br />
Evidenzauffassung zu übende Kritik zum Opfer fallen droht. Hingegen<br />
besitzt <strong>die</strong> Anschauung bei Kant noch in A für einen Moment <strong>der</strong> Analyse<br />
<strong>die</strong> einfache Doppeltheit zwischen Wahrnehmung bloßer Sinnlichkeit <strong>und</strong><br />
Wahrnehmung als <strong>die</strong> Mitteilung wirklicher Verhältnisse. 263 Das »Sich-<br />
Verstehen-auf etwas« Heideggers <strong>der</strong>angiert allerdings <strong>die</strong> zur<br />
Unterscheidung <strong>der</strong> Urteilsarten mühsam aufrecht erhaltene<br />
Unterscheidung von Anschauung <strong>und</strong> Erfahrung Kantens zugunsten des<br />
vermeintlichen Primats <strong>der</strong> praktischen Zwecksetzung im alltäglichen<br />
Umgang mit dem Vorhandenen als Zuhandenem. Das mag genetisch (o<strong>der</strong><br />
eher doch nur genealogisch) Geltung beanspruchen, in <strong>der</strong> Erkenntnisfrage<br />
verdeckt ein solcher Zugang mehr, als <strong>die</strong> Einsicht in <strong>die</strong> Einbettung<br />
konkret gesellschaftlicher Umstände zur Erhellung da noch beitragen<br />
kann. 264<br />
In <strong>der</strong> ersten Unbestimmtheit <strong>der</strong> Formulierung Heideggers scheint also in<br />
<strong>der</strong> Tat eine Erweiterung gegenüber Kant zu liegen, wenn man Kant nur<br />
aus <strong>der</strong> ersten Kritik heraus zu verstehen vermag. Heidegger bringt aber<br />
zur Unterscheidung <strong>der</strong> »Ausweisung« <strong>der</strong> Anschauung nur das haptische<br />
Element als Erweiterung in Spiel, als würde <strong>die</strong> Anschauung Husserls<br />
(<strong>und</strong> auch Kantens) nur visuell <strong>und</strong> optisch verstehbar sein, <strong>und</strong> vermag<br />
so erst recht nicht <strong>die</strong> Akteinheit <strong>der</strong> Intentionalität als den eigentlich<br />
gesuchten Formbegriff des darstellenden Schemas zu erfassen. 265<br />
263 Und zwar in <strong>der</strong> »absoluten Einheit« aus dem Kapitel »Von <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong><br />
Apprehension in <strong>der</strong> Anschauung« (A 99)<br />
264 Zur Erinnerung: »Für Heidegger ist daher <strong>der</strong> Übergang vom f<strong>und</strong>ierenden Modus<br />
<strong>der</strong> Anschauung zum f<strong>und</strong>ierten Modus <strong>der</strong> Aussagewahrheit umzuinterpretieren<br />
als „Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken“. (Sein <strong>und</strong><br />
Zeit, S. 360) Dieser Umschlag ist das entscheidende Moment <strong>der</strong> „ontologischen<br />
Genesis“ <strong>der</strong> Aussage, <strong>die</strong> Heidegger Husserls „Genealogie <strong>der</strong> Logik“<br />
entgegenstellt. Diese ontologische Genesis verläuft — wie bei Heidegger allgemein<br />
— als methodische Bewegung von einem eminenten zu einem defizienten Modus.«<br />
(Gethmann, cit. op., S. 113)<br />
265 Meiner Auffassung nach ist <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> intentionalen Verflechtung von<br />
einem transzendentalen Phänomen wie <strong>der</strong> »Akteinheit« nicht in einem Schritt zu<br />
entsprechen. Einer <strong>der</strong> möglichen Ansätze zur weiteren Untersuchung des<br />
Bewußtseins als Akteinheit sehe ich etwa in: Werner Flach, Thesen zum Begriff <strong>der</strong><br />
Wissenschaftstheorie, Bouvier Verlag, Bonn 1979. Das korrelative Verhältnis <strong>der</strong><br />
Wissensmomente <strong>der</strong> Intention, <strong>der</strong> Aufgabe, <strong>der</strong> Leistung, des Gehalts<br />
untereinan<strong>der</strong> sei als eine Bedingungsreihe <strong>und</strong> das Wissen so als eine in <strong>und</strong> bei<br />
ihrer unbedingten (generellen) Geltungsstruktur verän<strong>der</strong>liche Aussage zu
-— 260 —<br />
Heidegger will dann nicht einmal ein Anschauungskonzept mehr gelten<br />
lassen, obwohl <strong>die</strong>ses zwar nicht unmittelbar zur Bedeutungs- <strong>und</strong><br />
Sinnstiftung selbst mehr notwendig erscheint, aber doch sowohl für <strong>die</strong><br />
eidetische Reduktion wie erst überhaupt zur Überprüfung von<br />
Hypothesen zureicht, son<strong>der</strong>n er versucht überhaupt <strong>die</strong> Anschauung im<br />
Rahmen einer Untersuchung <strong>der</strong> Modalität zu umgehen. Heidegger<br />
übersieht hier <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> sinnlichen Anschauung (<strong>und</strong> wie sie<br />
exakt in Stellung zu bringen ist) für den Umschlag vom umsichtigen<br />
Umgang mit den Dingen zur theoretischen Erkenntnis. Heidegger geht<br />
von einer primären Erschlossenheit des Soseienden als Zuhandenen aus,<br />
was noch sinnvoll erscheinen könnte, doch er hält <strong>die</strong>se Erschlossenheit<br />
auch im Rahmen <strong>der</strong> methodischen Wahrheitsfrage ernsthaft für<br />
eminenter als den für ihn defizienten Modus theoretischer Erkenntnis.<br />
Damit verkennt Heidegger nicht nur den Unterschied von genetischem<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> zureichendem Gr<strong>und</strong>, son<strong>der</strong>n er leugnet noch den<br />
aufklärenden Charakter <strong>der</strong> Wissenschaft.<br />
Trotzdem ist nicht nur für Heidegger <strong>der</strong> eminente Modus <strong>der</strong> primären<br />
Erschlossenheit selbst zu Recht kein rein kognitiver Akt im Sinne eines<br />
Urteilens über Geltung <strong>und</strong> Existenz. Erst gegenüber dem Verstehen als<br />
<strong>die</strong>se primäre Erschlossenheit zwischen <strong>der</strong> Ekstase <strong>der</strong> Zukunft <strong>und</strong> dem<br />
Vorlauf zum Tode erfolge <strong>die</strong> Auslegung als intentionaler <strong>und</strong><br />
thematisieren<strong>der</strong> Akt <strong>der</strong> Selbstexplikation (Hermeneutik als Verständnis<br />
<strong>der</strong> eigenen Stellung) (S. 113). Heidegger präsentiert nicht nur <strong>die</strong><br />
hermeneutischen Selbstauslegung als alleiniges F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong><br />
Intentionalität (was u. U. richtig verstanden noch zu recht erfolgt sein<br />
könnte), son<strong>der</strong>n noch dazu <strong>die</strong>se Selbstauslegung als den eigentlichen<br />
Gr<strong>und</strong> des „theoretischen Entdeckens“. Letzteres ist angesichts <strong>der</strong><br />
zentralen Bedeutung <strong>der</strong> primären Intentionalität auf ein sinnlich<br />
gegebenes Objekt für <strong>die</strong> Struktur des Bewußtseins im Urteilsakt in dem<br />
von Heidegger hergestellten Zusammenhang mit <strong>der</strong> Wahrheitsfrage<br />
allerdings völlig aus <strong>der</strong> Luft gegriffen; ersteres kann zumindest auf den<br />
f<strong>und</strong>ierenden Aspekt des »Hinzusetzens« o<strong>der</strong> des »Zusammennehmens«<br />
im Rahmen <strong>der</strong> transzendentalphilosophischen Reflexion auf das »ich<br />
denke« verweisen, obwohl das »ich denke« Kantens (§ 16 <strong>der</strong><br />
transzendentalen Deduktion) gerade nicht <strong>die</strong> Selbstauslegung des<br />
begreifen. Das ist <strong>der</strong> allgemeine Methodenbegriff (<strong>die</strong> erste Einsicht in das<br />
geltungsdifferent aufgebaute Wissen). (p. 44)
-— 261 —<br />
Denkens im Rahmen <strong>der</strong> um <strong>die</strong> Pragmatik erweiterten »natürlichen<br />
Einstellung« ausmacht. Heidegger inszeniert aber ein Doppelspiel:<br />
»Gegenüber <strong>der</strong> Auslegung ist <strong>die</strong> „Aussage“ ein Akt, <strong>der</strong> dadurch<br />
entsteht, daß von <strong>der</strong> Zweck-Mittel-Einbettung abgesehen wird, welche<br />
<strong>die</strong> Auslegung zum Thema hat. Der defiziente Modus <strong>der</strong> Aussage<br />
gegenüber <strong>der</strong> Auslegung liegt also in <strong>der</strong> Abgehobenheit <strong>der</strong> Aussage<br />
vom unmittelbaren situativen Kontext. Auf <strong>die</strong>se Weise entsteht <strong>die</strong><br />
Struktur <strong>der</strong> logischen Elementarsätze; das „apophantische Als“ ist im<br />
„hermeneutischen Als“ genetisch-methodisch f<strong>und</strong>iert.« (S. 114)<br />
Derart wird <strong>der</strong> Aussage, <strong>die</strong> doch Ergebnis eines Urteils, <strong>und</strong> somit<br />
eigentlich auch nach Heideggers Überlegungen erst damit von aus sich<br />
selbst bestimmbaren intentionalem Charakter sein soll, <strong>die</strong> besorgende<br />
Auslegung als Material des vorgängigen Verstehens selbst vorangestellt,<br />
das allerdings ihrerseits bei aller Eminentheit ihrer subjektiv genetischen<br />
Vorgängigkeit erst <strong>der</strong> Auslegung zur Apophantik einer Aussage bedürfte,<br />
um <strong>die</strong> logische Bedingung eines wahrheitsfähigen Urteils überhaupt zu<br />
erfüllen — ohne <strong>die</strong>se aber stünde <strong>die</strong> Bestimmbarkeit <strong>der</strong> Form <strong>der</strong><br />
Intentionalität in Frage, <strong>die</strong> doch auch zur Auslegung gehören sollte. Nun<br />
ist <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Überlegung insofern trotz aller Doppeldeutigkeit <strong>der</strong><br />
Verwendung des Begriffes <strong>der</strong> Intentionalität insofern klar, als daß<br />
Heidegger für uns als Seinsgr<strong>und</strong> des Erkenntnisstrebens zuerst <strong>die</strong><br />
praktische Orientiertheit in <strong>der</strong> Welt anspricht. Nur sofern <strong>die</strong> praktische<br />
Orientierung zu einer Frage <strong>der</strong> Vernunft wird, wird auch das theoretische<br />
Urteilsvermögen konf<strong>und</strong>ierend (ohne deshalb allein ideale Urteilsinhalte<br />
betreffen zu müssen), um das, was Heidegger schließlich gegenüber <strong>der</strong><br />
Auslegung (als würde <strong>die</strong>se sprachlos erfolgen) als Aussage bezeichnet<br />
hat, überhaupt im logischen Sinne als Aussage (Proposition, Urteil)<br />
exponieren zu können. Heideggers Strategie ist also nur zweierlei<br />
vorzuwerfen: Erstens exponiert er den Begriff »Aussage« zuerst<br />
traditionell als logischen Terminus mit einen geregelten Bezug zur<br />
Wahrheit, um dann aus <strong>die</strong>sem Begriff jede hermeneutisch verwendbare<br />
o<strong>der</strong> hermeneutisch verwendete Äußerung regressiv abzuleiten, <strong>der</strong><br />
angeblich als Auslegung, obgleich ursprünglicher im Bezug zur Wahrheit<br />
stehend, <strong>die</strong> Entscheidungsfähigkeit nach wahr <strong>und</strong> falsch völlig abgehen<br />
sollte. Zweitens unterstellt Heidegger <strong>der</strong> Eingebettetheit solcher<br />
Äußerungen (seien sie nun sprachlicher o<strong>der</strong> nicht sprachlicher Natur),<br />
nur weil <strong>die</strong>se in ihrer Zweckmäßigkeit für sich nur einem inneren,<br />
eigenem Zweck unterliegen können sollten, allein daraus auch schon, den
-— 262 —<br />
Ursprung <strong>der</strong> Vernunft als solche auszumachen, wovon <strong>die</strong> theoretische<br />
Vernunft ihrerseits nur als abgeleitet zu erscheinen hätte. Heidegger<br />
verwechselt hier angesichts einer geköpften praktischen Vernunft<br />
Erkenntnisgr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Seinsgr<strong>und</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong><br />
von Erkenntnis.<br />
Der Seinsgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis liegt erstens nicht allein in <strong>der</strong> letztlich<br />
praktischen Orientiertheit des erwachenden Bewußtseins <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />
narrativen Auslegung <strong>und</strong> Überhöhung, son<strong>der</strong>n m. E. immer schon in<br />
Prinzipien des reinen Bewußtseins, <strong>die</strong> historisch erst anlässlich zu<br />
entdecken waren <strong>und</strong> desweiteren auch für uns erst immer wie<strong>der</strong> neu zu<br />
entdecken sind, da in <strong>der</strong> Tat <strong>der</strong> Seinsgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis in einen<br />
materialen <strong>und</strong> in einen formalen Gr<strong>und</strong> zerfällt. Heidegger hat nun in<br />
einem entscheidenden Moment <strong>der</strong> Reflexion des Daseins nur den<br />
ureigensten materialen Gr<strong>und</strong> (eben schon <strong>die</strong> hermeneutische<br />
Gr<strong>und</strong>verfaßtheit in <strong>der</strong> Selbstauslegung des Daseins) bedacht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen<br />
als alleinigen Gr<strong>und</strong> ausgegeben; aber er hat noch dazu nach dem Wegfall<br />
<strong>der</strong> formalen Aspekte <strong>der</strong> Wahrheitsfähigkeit im vollständigen<br />
Verstandesurteil <strong>die</strong> formalen Aspekte einer bloß auslegenden Rede<br />
übersehen, <strong>die</strong> auch für eine mythische Rede gelten. Die schmale Basis, <strong>die</strong><br />
mir erlaubt, folgende Überlegung zu exponieren ohne meine Gründe alle<br />
selbst nennen zu müssen, liegt in den Gründen, z. B. auch in den Träumen<br />
in einer ursprünglich semantisch zu verstehenden Weise einen Sinn<br />
vermuten zu müssen (communio primavea), <strong>der</strong> nicht etwa allein<br />
gehirnphysiologisch als selbst völlig äußerlicher Prozess <strong>der</strong> inneren<br />
biophysikalisch-energetischen Ökonomie des Gehirns darstellbar ist. —<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage meiner These ist erstens <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amentalität eines<br />
Sinnhorizontes für jede Bedeutung <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong> Annahme, daß <strong>die</strong><br />
letzte einfache Idee <strong>der</strong> systematischen Durchgestaltung des<br />
Zusammenhanges von Bedeutung <strong>und</strong> Sinnhorizont als Ideal nicht nur für<br />
<strong>die</strong> aufsteigende Linie von empereia , phronesis <strong>und</strong> theoria <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong><br />
theoria ist. 266 Ich sehe also zunächst den Zusammenhang eines Traum-<br />
Themas, <strong>die</strong> Geschichten, <strong>die</strong> mit einem Bild o<strong>der</strong> einem offenen Text in<br />
Zusammenhang stehen (untereinan<strong>der</strong> aber nicht vollständig in<br />
Zusammenhang stehen), <strong>die</strong> Systematik einer Ideenlehre o<strong>der</strong><br />
266 altgriechisch empeireia: Objektkonstituierende Wahrnehmung mit<br />
Erfahrungskomponenten; phronesis: praktische Klugheit; erste<br />
Reflexionsgelegenheit <strong>der</strong> Erfahrung <strong>und</strong> insofern praktische Gelegenheit zur techne<br />
<strong>und</strong> zur theoria.
-— 263 —<br />
Regionalontologie, in einer Reihe mit <strong>der</strong> Idee von <strong>der</strong> Theorie als Prinzip<br />
des strengen systematischen Zusammenschlusses aller<br />
Bedeutungselemente. Insofern ist <strong>der</strong> Traum wie <strong>die</strong> theoretische Reflexion<br />
sowohl in Zusammenhang mit dem mehr o<strong>der</strong> weniger mit praktischer<br />
Sorge erfüllten Alltag stehend zu denken, demgegenüber bei<strong>der</strong>seits eine<br />
Weise <strong>der</strong> Exaltation zugesprochen werden muß, <strong>die</strong> sich nicht völlig wie<br />
Heideggers Ekstasen in <strong>die</strong> je als historisch bedachte Zeit zurückbiegen<br />
läßt. — Ich gehe also, mich darin von Heidegger unterscheidend, davon<br />
aus, daß nicht nur <strong>die</strong> mythische Rede für sich gleichfalls einen formalen<br />
Aspekt hat (etwa ein Grenzprinzip zwischen Kohärenz einerseits <strong>und</strong><br />
Verbindbarkeitserweiterung an<strong>der</strong>erseits), welche den Wahrheitsbezug<br />
regelt (wenn auch nicht in <strong>der</strong> eindeutigen Weise wie im Falle <strong>der</strong><br />
»Aussage« des theoretischen Erkenntnisinteresses), son<strong>der</strong>n daß <strong>die</strong>ser<br />
formale Aspekt auf eine Variation <strong>der</strong> gleichen hermeneutischen<br />
Prinzipien zurückzuführen ist, <strong>die</strong> sich im erkenntnistheoretischen<br />
Interesse (nunmehr als hermeneutisches Interesse unter an<strong>der</strong>en) in reiner<br />
Theorie als Dogma o<strong>der</strong> in den Erfahrungswissenschaften als Kanon<br />
zeigen. 267<br />
Heidegger aber besitzt keine logische Urteilstheorie, son<strong>der</strong>n erörtert das<br />
Urteilsvermögen historisch-genetisch, ohne zu einer systematischen<br />
Unterscheidung möglicher Urteilsweisen zwischen Glauben <strong>und</strong> Wissen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong>en spezifischen Bezug zur Wahrheit (wie noch Hegel) zu gelangen.<br />
Zu kritisieren ist daran, daß er dabei <strong>die</strong> Behandlung <strong>der</strong><br />
Wahrheitskriterien vernachläßigt hat, wie sie etwa in so verschiedene<br />
Ansätzen wie von Kant, Herbart, Bolzano <strong>und</strong> Brentano im Vergleich<br />
zwischen ästhetischen, theoretischen <strong>und</strong> praktischen Urteilen durchaus<br />
im Zentrum <strong>der</strong> Untersuchungen gestanden sind. In <strong>der</strong> Ablehnung <strong>die</strong>ser<br />
Untersuchungen geht Heideggers Anti-Psychologismus zu weit. Wichtig<br />
an Heideggers Zugangsweise ist allerdings <strong>die</strong> Offenlegung, daß das<br />
Bewußtsein immer schon in Bezug zu Wahrheit <strong>und</strong> Irrtum steht, <strong>und</strong> daß<br />
er stärker als sein Lehrer Edm<strong>und</strong> Husserl den Schwerpunkt <strong>der</strong><br />
Darstellung daraufhin gelegt hat, daß <strong>die</strong> Entwicklung von<br />
Urteilsverfahren, <strong>die</strong> möglichst instantialisierbar hinsichtlich eines<br />
267 Karl Mannheim mißt insofern konsequent <strong>der</strong> theoretisch-konstruktiven<br />
»Einstellung« zwar durchaus eine beson<strong>der</strong>e Stellung zu, doch wird unter dem<br />
Druck <strong>der</strong> verschieden möglichen Zuordnungen von »Einstellungen« zu<br />
soziologisch relevanten Formationen <strong>die</strong> inhaltliche, aber auch <strong>die</strong> formale Identität<br />
für Mannheim offenbar nochmals fragwürdig. Karl Mannheim, Strukturen des<br />
Denkens, Hrsg.: David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr, Frankfurt/Main 1980, stw<br />
298, Einleitung
-— 264 —<br />
geschlossenen Theoriensystems sind, das Feld <strong>der</strong> Bewußtseinsleistungen<br />
auch in philosophisch-anthropologischer Hinsicht verfehlen. In <strong>die</strong>ser<br />
Haltung befindlich hat Heidegger, so könnte man sagen, befangen von <strong>der</strong><br />
Einsicht des ursprünglich existenziell zwischen Wahrheit <strong>und</strong> Irrtum<br />
Stehens des (individuellen) Daseins, offenbar dem Urteil hinsichtlich des<br />
erkenntnistheoretischen <strong>und</strong> logischen Anspruchs nicht <strong>die</strong> nötige<br />
Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, wenn er das Urteilen <strong>und</strong> den<br />
Ursprung <strong>der</strong> Vernunft zumal letzlich nahezu völlig dem »man« des<br />
kollektiven Besorgens überantwortet.<br />
f) Die Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Falschheit<br />
Gethmann sieht in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> möglichen Falschheit eine Parallele von<br />
Kant zu Heidegger: es scheint bei beiden plötzlich zum Problem zu<br />
werden, daß <strong>die</strong> Falschheit bei Befolgung <strong>der</strong> vorgeschriebenen<br />
Reflexionsregeln gar nicht mehr möglich sei. Das ergibt sich auch aus <strong>der</strong><br />
(falschen) Umkehrung des Übergangs von einer empirisch-subjektiven<br />
Aussage zu einer »Ausage an sich« als präexistente Wahrheit, <strong>der</strong> sich<br />
Heidegger bei Lotze gegenübersieht (Gethmann S. 121/122). 268 Hier wäre<br />
auch an <strong>die</strong> Differenzen zwischen Bolzano <strong>und</strong> Brentano in <strong>der</strong> Frage des<br />
»Ist-Sagens« zu erinnern, <strong>die</strong> im Falle einer reellen Unterscheidung <strong>der</strong><br />
semientia in entia rationis sine f<strong>und</strong>amentum in re <strong>und</strong> enti rationis cum<br />
f<strong>und</strong>amentum in re weiterhin einer Erklärung harrt. 269 Einstweilen reicht<br />
zwischen Existenz <strong>und</strong> Geltung im Erkenntnisurteil <strong>die</strong> Frage: Inwiefern<br />
hat <strong>die</strong> Rede als Aussage ohne vollständigen Urteilsvollzug eine<br />
Beziehung zum gemeinten Sachverhalt? Dazu ist zu erinnern, daß <strong>der</strong><br />
Urteilsvollzug letztlich existenzial immer schon als Aneignung <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit zu verstehen ist <strong>und</strong> insofern mit dem ens tamquam verum<br />
im Zielpunkt übereinkommt. Das schließt freilich den pragmatischen<br />
Standpunkt mit ein. In Frage steht dabei immer, was unter »Wirklichkeit«<br />
nun genau zu verstehen sei, <strong>und</strong> welche Kriterien man <strong>die</strong>sen<br />
Verständnisweisen beibringen kann. Gethmann sieht drei<br />
268 Eine solche Umkehrung scheint Bolzano nur in seiner Elementarlehre zu beför<strong>der</strong>n,<br />
wenn er zu bedenken gibt, daß auch ein empirisches Ereignis im Nachhinein als<br />
logisch wie kausal begründetes Ereignis im als ideal zu denkenden Gedächtnis<br />
aufbewahrt ist.<br />
269 Hier wird offenbar nicht nur Bolzanos Beitrag zur Logik <strong>und</strong> zur Wissenschaftslehre<br />
unterschlagen, son<strong>der</strong>n auch dessen clandestine Wirkungsgeschichte über Robert<br />
Zimmermann in Richtung polnische Philosophie (Twardowsky in <strong>der</strong> Logik,<br />
Ingarden in <strong>der</strong> Ästhetik) <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Schüler Franz Brentanos: neben Höfler, Marty<br />
<strong>und</strong> Meinong ist hier eben insbeson<strong>der</strong>e Edm<strong>und</strong> Husserl zu nennen.
-— 265 —<br />
Strukturmomente <strong>der</strong> Falschheit in den Vorlesungen Heideggers vom<br />
Wintersemester 1925/26 (§ 13c):<br />
Erste Strukturbedingung. Geht auf <strong>die</strong> bloße Konstatierung eines<br />
Vorstellungsinhaltes <strong>und</strong> noch nicht auf ein kategoriales Urteil. Hat formal<br />
Ähnlichkeit mit dem Gr<strong>und</strong>urteil Kants, unterscheidet sich davon aber<br />
darin, daß das Gr<strong>und</strong>urteil immer schon über nicht-subjektive Fakten<br />
urteilt. Wäre aber schon durch das bloße Mitbemerktsein in einer<br />
Vorstellung von Etwas bei Brentano hinsichtlich <strong>der</strong> Existenz- o<strong>der</strong><br />
Geltungsfrage eines evidenten Urteiles über <strong>die</strong>ses Etwas als einzelner<br />
Gegenstand überinterpretiert. — Daraufhin interpretiert Husserl:<br />
Vermeinen, Heidegger: Entdeckend-sein als Gr<strong>und</strong>charakterisierung <strong>der</strong><br />
Intentionalität. (S. 123) Das Vermeinen ist jene Formulierung, <strong>die</strong> von<br />
einen vorweg bestimmbaren Inhalt <strong>der</strong> Vorstellung ausgeht; das<br />
Entdeckend-sein beschreibt für sich allein einen bestimmten Aspekt einer<br />
Intentionalität, <strong>die</strong> selbst sich einen Inhalt erst verschaffen muß. Im ersten<br />
Fall hat Husserl <strong>die</strong> Möglichkeiten des Zusammenwirkens von sinnlicher<br />
Täuschung <strong>und</strong> Irrtum im Vermeinen deutlich gezeigt, im zweiten Fall<br />
wird zwar auf eine Charakteristik <strong>der</strong> Intentionalität verwiesen, <strong>die</strong> in <strong>der</strong><br />
Phänomenologie des öfteren übersehen worden zu sein scheint — nämlich<br />
in <strong>der</strong> ersten Kritik Kantens (Ergänzung in <strong>der</strong> zweiten <strong>und</strong> vorallem in<br />
<strong>der</strong> dritten Kritik) o<strong>der</strong> in den Logischen Untersuchungen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Ideenlehre Husserls (Ergänzung durch das System von Retention <strong>und</strong><br />
Protention im inneren Zeitbewußtsein) — , doch aber selbst alleine nicht<br />
zwischen Gerichtetheit auf Etwas <strong>und</strong> <strong>der</strong> völligen Unbekanntheit des<br />
Etwas <strong>die</strong> ursprüngliche Definition <strong>der</strong> Intentionalität ausmachen kann.<br />
Desweiteren ist das Entdeckend-sein nicht eine Eigenschaft des<br />
Intentionalen, welche eine Charakteristik <strong>der</strong> Intentionalität in relativer<br />
Selbstständigkeit von <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> genetisch wie deskriptiv primären<br />
Intentionalität als eigener Formbegriff zu entwerfen erlaubt, wie das z. B.<br />
in <strong>der</strong> Geometrie <strong>und</strong> Arithmetik als Formalwissenschaften möglich ist.<br />
Die Frage nach dem Wesen <strong>der</strong> Aufmerksamkeit läßt sich nicht einseitig<br />
auf <strong>die</strong> Erk<strong>und</strong>ung des Unbekannten <strong>und</strong> Zukünftigen ausrichten,<br />
wenngleich psychologisch mit <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong> selbst zuerst noch<br />
zwecklosen Neugier eine spezifische Art <strong>der</strong> Intentionalität erschlossen<br />
werden kann, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Fragestellung nach <strong>der</strong> Charakteristik <strong>der</strong><br />
Intentionalität, <strong>die</strong> von einer Rede als Aussage <strong>und</strong> Satz (logisches Urteil)<br />
ausgehend erschlossen werden kann, hinausgeht. — Es bleibt <strong>die</strong> Frage,<br />
inwiefern mit <strong>die</strong>sen Charakteren des Vermeinens <strong>und</strong> des Entdeckend-
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seins <strong>die</strong> Erfüllbarkeit <strong>der</strong> Intentionalität schon analytisch als verb<strong>und</strong>en<br />
zu denken möglich wäre; das »Entdeckend-sein« als Charakteristik <strong>der</strong><br />
Intention reicht jedenfalls nicht zu, zur Wahrheitsfrage in <strong>der</strong> letztlich auch<br />
von Heidegger beanspruchten Weise des Aussagens als logisches Urteilen<br />
etwas Entscheidendes beizutragen.<br />
Zweite Strukturbedingung. »Das Woraufhin <strong>der</strong> Leerintention ist nicht selbst<br />
<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Erfüllung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Entäuschung.« (S. 123) — Das ist<br />
zweifelos für alle genannten Autoren von Kant bis Husserl richtig.<br />
Allerdings übersieht Gethmann allem Anschein nach <strong>die</strong> Defizienz<br />
Heideggers in <strong>der</strong> Intention des »Entdeckend-sein« zum »Woraufhin«:<br />
Letzteres geht bereits notwendigerweise von einer bestimmbaren<br />
Vorstellung aus <strong>und</strong> steht so bereits im Feld des »Vermeinens«, ersteres ist<br />
aber eben nicht notwendigerweise mit einer bestimmbaren Vorstellung<br />
verb<strong>und</strong>en. Vgl. dazu einerseits Lockes allgemeines Dreieck <strong>und</strong> den<br />
Begriff von einem Zentauren, aber an<strong>der</strong>erseits <strong>die</strong> Leerintention des<br />
Entdeckend-seins ohne gerichtete Aufmerksamkeit. — Geht aber das<br />
Entdeckend-sein womöglich von einer bestimmbaren Vorstellung aus,<br />
ohne daß von <strong>die</strong>ser bereits als erfüllte Intention <strong>die</strong> Rede sein kann,<br />
würde das »Entdeckend-sein« gegenüber <strong>der</strong> obigen Darstellung bloß <strong>die</strong><br />
Suche nach dem Vorkommnis (Ereignis), das <strong>die</strong> Intention zu erfüllen<br />
vermag, bedeuten.<br />
Dritte Strukturbedingung. Leibniz würde <strong>die</strong>se für das<br />
Kompossibilitätsprinzip halten, allein würde er es nicht auf den Horizont<br />
des Beisammen-sein-könnens im Sinne des exhibitionistischen »Sehenlassens<br />
vom an<strong>der</strong>en her« 270 beschränken wollen. Diese Formulierung läßt<br />
bloß <strong>die</strong> parasitäre Wechselseitigkeit des Im-an<strong>der</strong>n-bei-sich-seins<br />
vermuten, <strong>die</strong> schon Hegels Überlegungen zwischen<br />
staatsphilosophischen <strong>und</strong> religionsphilosophischen Zusammenhängen<br />
vergiftet haben. Heidegger setzt hier aber <strong>die</strong> Auslegung doch wie<strong>der</strong><br />
völlig von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Wahrnehmung her an (S. 124): Die Zuhandenheit<br />
des innerweltlichen Seienden soll nach Heidegger über <strong>die</strong> bloße<br />
Vorhandenheit mittels <strong>der</strong> erst über das Verständnis des Zuhandenen<br />
möglich werdenden Bestimmbarkeit <strong>der</strong>en Washeit (also dann doch<br />
wie<strong>der</strong> in aller Eigentlichkeit auch als Vorhandenes) in <strong>der</strong> pragmatischen<br />
Auslegung das Übergewicht in <strong>der</strong> Formanalyse <strong>der</strong> Intentionalität<br />
bekommen. Insofern ist auch <strong>die</strong> Unterschätzung <strong>der</strong> formalen<br />
Anschauung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anschauungsform Kantens im Sinne des<br />
270 Martin Heidegger, GA, Bd. 21, S. 105
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Heideggerschen Gedankenganges konsequent motiviert gewesen, auch<br />
wenn Heidegger entgegen <strong>die</strong>ser Systematik letztlich auf den Rückgriff auf<br />
Anschauung nicht verzichten konnte. Zur Falschheit o<strong>der</strong> zum Irrtum<br />
kommt es, da »<strong>die</strong> Auslegung das anfänglich entdeckte Seiende auch<br />
verdecken« kann (S. 124). —Man hat sich zu fragen, ob Heidegger <strong>die</strong>ses<br />
»anfänglich entdeckte Seiende« sowohl gegenüber <strong>der</strong> »Auslegung« wie<br />
gegenüber <strong>der</strong> »logischen Aussage« entsprechend in Stellung gebracht hat.<br />
Kant hingegen denkt noch daran, <strong>die</strong>se Möglichkeit <strong>der</strong> Falschheit mit <strong>der</strong><br />
For<strong>der</strong>ung nach lückenloser Anwendung <strong>der</strong> Schematen <strong>der</strong> Kategorien<br />
auszuschließen, sodaß ein Irrtum entwe<strong>der</strong> auf eine sinnliche Täuschung<br />
o<strong>der</strong> auf einen Fehler in <strong>der</strong> lückenlosen Argumentation zurückzuführen<br />
sein müßte; auf den Rückgang zu <strong>der</strong> Hermeneutik des bloßen Auslegens<br />
verfällt Kant freilich in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage nicht. Insofern sollen <strong>die</strong><br />
Kategorien dazu <strong>die</strong>nen, Täuschung <strong>und</strong> Irrtum im Gebrauch <strong>der</strong><br />
Verstandesbegriffe auszuschließen. Im Rahmen <strong>die</strong>ser Reflexion vermag<br />
auch eine Verstellung nur mehr hinsichtlich <strong>der</strong> Bedingungen ihrer<br />
Möglichkeit betrachtet werden. Zur Verdeckung des Seienden durch <strong>die</strong><br />
Auslegung kann es im Zuge <strong>der</strong> kategorialen Reflexion Kants schon<br />
deshalb nicht kommen, weil eben von <strong>der</strong> lückenlosen Anwendbarkeit <strong>der</strong><br />
Kategorien gerade <strong>die</strong> Entdeckung des Allgemeinen des Seienden vor<br />
je<strong>der</strong> Bestimmung des allgemeinen Wesens des Einzelnen versprochen<br />
worden ist. Dieses Allgemeine des Seienden ist aber nicht ident mit dem<br />
Allgemeinen des Genus. Man muß eher sagen, das Allgemeine <strong>der</strong><br />
Kategorien liege insofern im Schema des Erfüllenden <strong>der</strong> Intention, als<br />
man sagen könnte, das Allgemeine des Schemas ließe sich mit <strong>der</strong><br />
Allgemeinheit des Genus des Gegenstandes ident setzen. — Diese<br />
Allgemeinheit des Schemas aber ist in <strong>der</strong> transzendentalen Reflexion<br />
unmittelbar gebbar <strong>und</strong> nur <strong>die</strong> Allgemeinheit des Genus kann trotz<br />
Befolgung <strong>der</strong> Regeln des Schematismus auch falsch sein. Heidegger<br />
vermag nun <strong>die</strong> Unterscheidung in das Allgemeine <strong>der</strong> Anschauung, des<br />
Zweckes <strong>und</strong> des Genus nicht mit <strong>der</strong> nötigen Schärfe zu treffen, noch <strong>die</strong><br />
verschiedenen Schematen in ihrem Zusammenwirken im Rahmen einer<br />
Untersuchung <strong>der</strong> Urteilskraft vorstellig zu machen. Heideggers Beitrag<br />
bleibt aber, <strong>die</strong> intentionale Struktur des Bewußtseins auf den<br />
Grenzzustand des »Entdeckend-seins« einerseits <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ausrichtung <strong>der</strong><br />
Aufmerksamkeit auf den Horizont des Daseins an<strong>der</strong>erseits erweitert zu<br />
haben, auch wenn er sowohl in deskriptiver wie in genetischer Hinsicht
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das Ursprüngliche des Bewußtseins mit seinem möglichen Horizont des<br />
Ganzen vertauscht hat.<br />
Abschließend konstatiert auch Gethmann eher lapidar, daß Heidegger<br />
trotz <strong>der</strong> zwischendurch auch schon von ihm ausgeschlossenen<br />
Anschauung mittels <strong>der</strong> Differenz von hier Sorgestruktur <strong>und</strong> da<br />
Verfallenheit einerseits <strong>und</strong> (gewaltsamer) Wie<strong>der</strong>eintritt in das<br />
Sonnenlicht selbst gestalteter Geschichte an<strong>der</strong>erseits mittelbar doch an<br />
den Wahrheitsdifferenzen zwischen Vorstellung <strong>und</strong> Anschauung<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Verstellung als Vermittlung von Aktualität festhält <strong>und</strong><br />
insofern am Geschäft <strong>der</strong> Aufklärung teilnimmt. Heideggers<br />
Untersuchungen haben zwar <strong>die</strong> subjektiv-metaphysische Seite des<br />
Wahrheitsproblems bereichert, konnten selbst aber we<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> logischen<br />
Bedingung <strong>der</strong> Erkenntnis noch zu <strong>der</strong>en Stellung im Reflexionsgang<br />
etwas beitragen: Daß <strong>die</strong> wissenschaftliche Wahrheit als Depotenzierung<br />
betrachtet werden kann, wird allerdings von mir nur insofern ausdrücklich<br />
angegriffen, als daß<br />
1. Soziologisch <strong>die</strong> Freiheit <strong>der</strong> Wissenschaft, aus verschiedensten<br />
Interessen heraus unterstützt, eine wesentliche Rolle in <strong>der</strong> Aufklärung<br />
gespielt hat,<br />
2. Hermeneutisch Heidegger <strong>die</strong> Potenz des Daseins schließlich selbst<br />
mit <strong>der</strong> zukünftig erwarteten Eigentlichkeit <strong>der</strong> Gegenwart als<br />
Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> Vergangenheit heillos depotenziert hat (Die zwei —<br />
vertanen — Öffnungen des Daseins: Physik <strong>und</strong> Geschichte), <strong>und</strong><br />
3. Logisch <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong> wissenschaftlichen Wahrheit (Logik), <strong>die</strong><br />
zweifelos am Ende <strong>der</strong> Urgeschichte <strong>der</strong> Philosophie selbst ursprünglich<br />
wesentlich geworden ist, von Heidegger ernsthaft versucht wird, aus <strong>der</strong><br />
Ontik des Daseins abzuleiten.<br />
Das reine Bewußtsein des Verstandesgebrauches (Vernunft — als oberes<br />
Begehrungsvermögen — unter Verstand) ist keine wie auch immer<br />
geartete Ableitung aus einem wie auch immer potenten Bewußtsein,<br />
son<strong>der</strong>n ist eine Fulguration, <strong>die</strong> we<strong>der</strong> logisch, physikalisch, chemisch,<br />
biologisch, verhaltenstheoretisch o<strong>der</strong> evolutionstheoretisch ableitbar ist.<br />
Dem wie auch immer gearteten vorgängigen (ursprünglichen) Bewußtsein<br />
aber kann nun je nach Bedarf ein soziales, ökonomisches, politisches o<strong>der</strong><br />
auch archaisches, triebhaftes, schließlich auch ein mythisches Urwesen als<br />
Substrat unterschoben werden.