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analytik und die dialektik der substanz

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Zweiter Abschnitt<br />

METAPHYSIK ALS AUSGANGSPUNKT UND GRENZE<br />

DER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE:<br />

ANALYTIK UND DIE DIALEKTIK DER SUBSTANZ


-— 80 —


-— 81 —<br />

I. PRINCIPIUM CONTRADICTIONIS UND<br />

ZUGLEICHSEIN:<br />

DIE LOGISCHEN UND DIE METAPHYSISCHEN<br />

BEDINGUNGEN DER WAHRHEIT<br />

1) Principium contradictionis <strong>und</strong> Zugleichsein als<br />

Bestimmungsstücke des Horizontes <strong>der</strong> Wahrheit<br />

Ich möchte <strong>die</strong> Idee von <strong>der</strong> Totalität nochmals anhand eines Seitenstückes<br />

zur Monadologie hinsichtlich <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Vorstellung einer mit<br />

Strebung begabten Seinsweise <strong>der</strong> Möglichkeit ergebenden<br />

Gesichtspunktes darstellen. In verschiedener Hinsicht hat Leibniz in den<br />

Generales Inquistitiones ausgehend von Aristoteles <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

untersucht; das bemerkenswerteste Ergebnis für <strong>die</strong> Logik ist <strong>die</strong><br />

Unterscheidung <strong>der</strong> Modalität von Begriffen <strong>und</strong> von Aussagen. 1 Hier soll<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit des Zugleichseins einerseits vom existierenden Conatus,<br />

an<strong>der</strong>erseits von einer hypostasierten Strebung nicht verwirklichter<br />

Möglichkeiten im schöpferischen (gottähnlichen) Verstand unterschieden<br />

werden. Im Rahmen <strong>der</strong> sogenannten »24 Sätze« zeigt sich, daß <strong>der</strong> Satz<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch ohne dem Begriff <strong>der</strong> Folge nicht zureichend mit <strong>der</strong><br />

Kompossibilität des Zugleichseienden in Verbindung gebracht werden<br />

kann. Überhaupt wird eine Zeitorientierung über das Zugleichsein <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> andauernden Gegenwart hinausreichend entwickelt, <strong>die</strong> Kant erst<br />

später in den Antinomien <strong>der</strong> kosmologischen Ideen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Auflösung<br />

anspricht.<br />

Zu <strong>die</strong>ser Einteilung <strong>der</strong> Horizonte des Möglichen kommt im<br />

Paralogismus eine weiterere Art von Horizonten hinzu: Die Subreption <strong>der</strong><br />

Bestimmungen des Daseins zu Bestimmungen <strong>der</strong> Substanz insbeson<strong>der</strong>e<br />

in <strong>der</strong> ersten Fassung des zweiten Paralogismus bringt <strong>die</strong> bewußte Seele<br />

in Zusammenhang mit dem Konzept des Conatus als Strebung einer<br />

Substanz. Die Wi<strong>der</strong>legung des Paralogismus reicht nicht zu, <strong>die</strong> Strebung<br />

1 G. W. Leibniz, Generales inquisitiones de analysi notionum et veritatum, 1686,<br />

ertmals veröffentlicht von L. Couturat, Paris 1903, p. 356-399 Allgemeine<br />

Untersuchungen über <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong> Begriffe <strong>und</strong> Wahrheiten. Hrsg, von Franz<br />

Schupp, Hamburg 1982 (Meiners Phil. Bibl. 338), im Kommentar von Schupp p. 227 f.:<br />

Und zwar anhand <strong>der</strong> Schwierigkeit im Begriffskalkül, wo »möglich« gleich mit<br />

»wahr« gilt, ohne notwendigerweise »existierend« bedeuten zu müssen, während im<br />

Aussagenkalkül gilt: möglich=wahr=existierend


-— 82 —<br />

<strong>der</strong> bewußten Seele auszuschalten, doch soll <strong>die</strong>se Strebung unterschieden<br />

sein vom Conatus <strong>der</strong> pathologischen Begierden. Zwischen <strong>der</strong><br />

intelligiblen Ursächlichkeit <strong>der</strong> Strebung <strong>der</strong> bewußten Seele in <strong>der</strong><br />

rationalen Psychologie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ursächlichkeit des Conatus <strong>der</strong><br />

pathologischen Begierden gibt erst <strong>die</strong> transzendentale Freiheit des<br />

transzendentalen Subjektes dem Willen eine Schar von Horizonten des<br />

Möglichen zur weiteren Bestimmung (Vgl. den Interpretationsspielraum<br />

des »Reiches <strong>der</strong> Zwecke« zwischen dem Menschen als »Zweck an sich«<br />

<strong>und</strong> einem von technisch-praktischen Zwecken bis zu rein praktischen<br />

Zwecken aufgestuften System <strong>der</strong> Zwecke).<br />

Die Bestimmung <strong>der</strong> Substanz zur Materie <strong>der</strong> Erfahrungsobjekte kehrt<br />

dann wie<strong>der</strong> zum Horizont des Zugleichseins zurück (Anwesen),<br />

allerdings wird in <strong>der</strong> durchlaufenden Gegenwart eines series rerum<br />

betrachtet <strong>der</strong> Horizont <strong>der</strong> Gegenwart einerseits in Richtung des<br />

Regressus erweitert wie auch schon zu metaphysische Anfangsgründe <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften als komparative Allgemeinbegriffe in <strong>die</strong> endgültige<br />

Form gebracht, indem <strong>die</strong>se als aus <strong>der</strong> fiktivien Position des Endes <strong>der</strong><br />

Zeit vergangen gesetzten Zeit gerechtfertigt gesetzt werden. Hier<br />

unterscheidet Kant ganz deutliche transzendentale Deduktion <strong>und</strong><br />

metaphysische Deduktion. Nach einem Versuch zur Idealität des<br />

Zugleichseins als reine Anschauungsform wende ich mich <strong>der</strong><br />

f<strong>und</strong>amentalontologischen Untersuchung <strong>der</strong> Temporalität des<br />

Daseinshorizontes zu, <strong>der</strong>en Öffnung zu den Formen <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong><br />

Geschichte Heidegger mit <strong>der</strong> bloß subjektivistischen Zeitigung<br />

verabsäumt, <strong>und</strong> so nur zu einem unzureichenden Wahrheitsbegriff<br />

gelangt. Die Horizontbestimmung des Möglichen wird auch bei Heidegger<br />

fortgesetzt, wenn auch in <strong>der</strong> Form einer transzendentalsubjektivistischen<br />

Umstülpung des Idealismus <strong>der</strong> reinen Intelligibilität des »ich denke« zu<br />

einer Art von F<strong>und</strong>amentalontologie des Daseins: Das Anwesen wird<br />

gegenüber dem für sich selbst als mögliche Anschauungsform je nur<br />

punktuell <strong>und</strong> nur Schritt für Schritt als Kontinuität bestimmbaren<br />

Zugleichsein schließlich zur Ankündigung des angeblich<br />

geschichtsmächtigen »Seyns« überhöht. Der Anwendungskreis des Satzes<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch bleibt zwischen Seinshermeneutik <strong>und</strong> Urteilslehre<br />

unterbestimmt, was von <strong>der</strong> Verbindung des principium contradictionis<br />

sowohl zur Kompossibilität des Zugleichseins wie mit den Folgen im<br />

jeweils Zukünftigen, wie Leibniz, <strong>und</strong> in Dialektik <strong>der</strong> Vernunftbegriffe


-— 83 —<br />

auch Kant vorstellig machen, nicht behauptet werden kann (Vgl. hier <strong>die</strong><br />

übernächsten Kapitel).<br />

Der Ausschnitt aus dem Seitenstück zur Monadologie (24 Sätze) gerät<br />

einmal im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Theodizee zur analytischen<br />

Herausstellung <strong>der</strong> Vernünftigkeit als praktische Vernunft (das Maximum<br />

ist nicht immer das Bestmögliche), ein an<strong>der</strong>mal im Zusammenhang mit<br />

<strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Existenz nach dem Kompatibilitätsprinzip aus den<br />

Generales Inquisitiones zum naturphilosophisch den Schöpfergott beinahe<br />

zum Demiurgen depotenzierenden Selektionsprozess <strong>der</strong> Möglichkeiten.<br />

Allerdings bleibt von Ideen vor ihrer Verwirklichung als Vorstellungen<br />

des Verstandes nur als Strebungen in Form des Conatus zu denken übrig.<br />

Im schöpferischen Verstand hingegen wird gemäß den notwendigen<br />

Wahrheiten, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Verstand wegen <strong>der</strong> Regelmäßigkeit (wahlweise<br />

wegen <strong>der</strong>en Maximierungseigenschaften) aus <strong>der</strong> Indifferenz des<br />

Unvordenklichen heraushebt, <strong>die</strong> Vernunft praktisch; doch aber noch nicht<br />

im Sinne des entwickelten Kants, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Sittlichkeit das Ideal <strong>der</strong> reinen<br />

praktischen Vernunft gesehen hat — Insofern läge hier mit Leibniz <strong>die</strong><br />

ontotheologische F<strong>und</strong>ierung einer praktischen Willensphilosophie vor,<br />

<strong>die</strong> Kant wie Hegel als transzendentale Freiheit unabhängig von<br />

Folgebetrachtung o<strong>der</strong> Maximenbetrachtung ihren Überlegungen zu<br />

Gr<strong>und</strong>e legen.<br />

Nach dem Ausblick auf <strong>die</strong> Horizonte <strong>der</strong> Naturphilosophie ausgehend<br />

vom Drang nach Verwirklichung (existiturire) <strong>und</strong> <strong>der</strong> progressiv ersten<br />

bzw. regressiv letzten Ursache <strong>der</strong> Verwirklichung (existificans), <strong>die</strong> ihren<br />

Ausgang unabhängig vom Horizont des Regressus o<strong>der</strong> des Zugleichseins<br />

besitzen (<strong>die</strong>se aber nicht völlig unabhängig von jenen), beginnen <strong>die</strong><br />

Untersuchungen <strong>der</strong> transzendentalen Analytik <strong>der</strong> Verstandesbegriffe<br />

<strong>und</strong> synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze als Situierung eines neuen <strong>und</strong> eigenen<br />

Horizontes <strong>der</strong> Erfahrung an den sinnlich gegebenen Gegenständen, <strong>die</strong><br />

ihre Kontinuität mit <strong>der</strong> Sinnlichkeit »transzendentalpsychologisch«<br />

bereits mitbringen.<br />

Die Untersuchung <strong>der</strong> transzendentalen Analytik <strong>der</strong> ersten Kritik schließt<br />

an <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong> logischen Voraussetzungen <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Ästhetik insofern an, als daß <strong>die</strong>se nunmehr nach Teilung, Einschränkung<br />

<strong>und</strong> Einteilung mit dem Obersten Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> analytischen Urteile<br />

beginnt. Schließlich beginnt in <strong>die</strong>sem Abschnitt <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong><br />

formalen Dimensionen <strong>der</strong> dynamischen Kategorien, <strong>die</strong> komplementär<br />

zum (synthetisch-)metaphysischen Kompossibiltätsgr<strong>und</strong>satz Leibnizens


-— 84 —<br />

transzendentalidealistisch <strong>und</strong> transzendentalanalytisch erfolgt, während<br />

<strong>die</strong> Bedingungen des principium contradictionis in <strong>der</strong> modallogischen<br />

Überlegung nunmehr <strong>die</strong> Setzung von Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Folgen<br />

vorausgesetzt hat, wonach a posteriori o<strong>der</strong> in Kenntnis des Naturgesetzes<br />

Sätze, <strong>die</strong> über Dinge o<strong>der</strong> Umstände Entscheidbares aussagen, dann<br />

einan<strong>der</strong> logisch wi<strong>der</strong>sprechen (nicht in <strong>der</strong> Natur), wenn <strong>die</strong> Folgen<br />

verschieden wären, wenn den wahren Sätzen kontradiktorisch<br />

entgegengesetzte Sätze mit an<strong>der</strong>en Dingen <strong>und</strong> Umständen als<br />

Satzaussage wahr wären, als sie sind. — Daß <strong>die</strong>se Verbindung zwischen<br />

principium contradictionis, Kompossibilität im Zugleichsein <strong>und</strong><br />

Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Folgen überhaupt besteht, muß ihrerseits den Satz<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch zu Gr<strong>und</strong>e liegen haben (manche nennen das eine<br />

rationale metaphysische Begründung). Die Untersuchung Kants, <strong>die</strong><br />

anhand <strong>der</strong> von <strong>der</strong> sinnlichen Wahrnehmung ausgehenden Erfahrung in<br />

<strong>der</strong> ersten Kritik (primäre Intentionalität) stattfindet, benötigt also (von<br />

woher auch immer) einen logischen Leitfaden, dessen systematische<br />

Rechtfertigung seinerseits ohne transzendentalphilosophischen Ansatz<br />

nicht möglich ist. Es ist festzuhalten, daß Kant systematisch versucht, <strong>die</strong><br />

rationale Metaphysik Leibnizens mit dem transzendentalsubjektivistischen<br />

Argument des frühen Descartes einerseits zu kritisieren <strong>und</strong> zu<br />

präzisieren, an<strong>der</strong>erseits das fehlende durchgehende ontologische<br />

Argument in <strong>der</strong> Architektonik des Entwurfes Leibnizens<br />

transzendentalsubjektivistisch im intelligiblen Subjekt zu ref<strong>und</strong>ieren,<br />

ohne den transzendentalanalytischen Ansatz, <strong>der</strong> zum transzendentalen<br />

Subjekt führt, selbst völlig zu transzendentieren: das hieße, das Subjekt<br />

völlig von <strong>der</strong> Totalität trennen zu können. Spinozistisch mag <strong>die</strong>se<br />

Unterscheidung von allgemein-abstrakt inhaltlich gefaßter<br />

Wi<strong>der</strong>spruchsbedingung <strong>und</strong> Unterschied (Gegensatz dazu: disparat) auch<br />

eine Frage <strong>der</strong> Infinitesimalität <strong>der</strong> inhaltlichen Dimension sein, welche<br />

erst den mittelbaren Durchblick auf <strong>die</strong> eigentliche (sek<strong>und</strong>äre) Substanz<br />

<strong>der</strong> forma als Akzidenz erlaubt, 2 für Leibniz hätte man den aus <strong>der</strong> Sicht<br />

<strong>der</strong> praktischen Vernunft Kants zu kurz gegriffenen Freiheitsbegriff <strong>der</strong> im<br />

Umrissen bereits naturphilosophisch zwischen Physis, Bios <strong>und</strong><br />

Gesellschaft verorteten beseelten Monade allererst von <strong>der</strong> prästabilierten<br />

Harmonie zu befreien, um zum transzendentalen Freiheitsbegriff des<br />

deutschen Idealismus (<strong>und</strong> hierin gehört Kant in <strong>die</strong>ser Frage<br />

2 Vgl. Avicienna <strong>und</strong> Thomas von Aquin in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Unterscheidung von<br />

Akzidenz <strong>und</strong> Unterschied im Rahmen <strong>der</strong> Interpretation nach forma <strong>und</strong> materia.


-— 85 —<br />

unausweichlich), also letztlich zum Freiheitsbegriff Schellings zwischen<br />

gut <strong>und</strong> böse zu gelangen. 3<br />

Allerdings muß Kant nicht nur Metaphysische Anfangsgründe <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften akzeptieren, son<strong>der</strong>n benötigt noch eine rationale<br />

Physiologie zur Rechtfertigung des in seiner Leiblichkeit <strong>und</strong> sinnlichen<br />

Organisation empirischen Subjekts; erst dessen gesetzte Gleichrangigkeit<br />

mit Fragen <strong>der</strong> Soziologie <strong>und</strong> Geschichte umfaßt <strong>die</strong> von Kant<br />

eingeschlagenen Grenzpflöcke <strong>der</strong> Vernunft zwischen <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong><br />

Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft, <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten einerseits <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> transzendentaler Kritik aller Seelenvermögen an<strong>der</strong>erseits. In <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>idee umfaßt <strong>die</strong>s bereits <strong>die</strong> psychologische Idee mit <strong>der</strong> Differenz<br />

von personaler <strong>und</strong> formaler Identität zwischen erster <strong>und</strong> zweiter<br />

Fassung <strong>der</strong> Paralogismen, was freilich <strong>die</strong> Idee von einer reinen <strong>und</strong><br />

einfachen Substanz nicht nur für den Seelenbegriff vor dem Gerichtshof<br />

<strong>der</strong> Vernunft ein erstes Mal zwischen Dasein <strong>und</strong> Subjekt in Frage stellt.<br />

Ich werde versuchen zu zeigen, daß Kant sowohl in <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Analytik des Verstandesgebrauches (reine Verstandesbegriffe <strong>und</strong><br />

synthetische Gr<strong>und</strong>sätze a priori) wie in <strong>der</strong> Ideenlehre (transzendentale<br />

Analytik <strong>der</strong> reinen Dialektik <strong>der</strong> reinen Vernunft) auf <strong>die</strong><br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> Leibnizianischen Metaphysik (wie teilweise auch auf<br />

<strong>die</strong> Philosophie von Christian Wolff) nicht völlig verzichten konnte. M. a.<br />

W., Kant vermag Leibniz, auch dort wo Leibniz für Kant relevant ist, nicht<br />

vollständig zu transformieren, weil Leibniz schließlich selbst das<br />

Bestmögliche als Leitidee <strong>der</strong> Entscheidungsgründe Gottes in <strong>der</strong><br />

Schöpfungsgeschichte <strong>der</strong> Theozidee <strong>der</strong> Gefährdung durch den bloßen<br />

Ästhetizismus <strong>der</strong> prästabilierten Harmonie aussetzt, <strong>und</strong> so den Schritt<br />

zur Willensphilosophie in seinem transzendentalphilosophischen Ansatz<br />

<strong>der</strong> Zusammenfügung <strong>der</strong> verschiedenen Naturen im Inneren wie im<br />

Äußeren <strong>der</strong> beseelten Monade gerade nicht machen kann. Für Leibniz<br />

kann letztenendes we<strong>der</strong> <strong>die</strong> Zentralmonade noch <strong>die</strong> beseelte Monade zur<br />

transzendentalen Freiheit gelangen — eben eine Folge <strong>der</strong> prästabilisierten<br />

Harmonie als oberste Leitidee.<br />

3 Von Kants Schrift »Von <strong>der</strong> Religion in den Grenzen <strong>der</strong> Vernunft« zu Schellings<br />

transzendentaler Freiheitschrift.


-— 86 —<br />

2. Die ontotheologische Lösung des Problems bei Leibniz.<br />

O<strong>der</strong>:<br />

Der Gr<strong>und</strong>, warum eher das existiert, als etwas an<strong>der</strong>es<br />

a) Die Beziehung zur Transzendentalphilosophie<br />

Zum exponierten Konzept <strong>der</strong> verschiedenen Horizonte <strong>der</strong> Wahrheit<br />

gehört offenbar immer eine formal mehr o<strong>der</strong> weniger darstellbare<br />

Zeitbedingung, welche den Horizont <strong>der</strong> inhaltlichen Bestimmbarkeit vor<br />

je<strong>der</strong> Kausalität o<strong>der</strong> inhaltlichen Begründung einer Regel o<strong>der</strong> einens<br />

Gesetzes erst festlegt. In den sogenannten »Vier<strong>und</strong>zwanzig Sätzen« 4 stellt<br />

Leibniz einen Versuch vor, zwischen <strong>der</strong> Idee des aristotelischen ersten<br />

unbewegten Bewegers <strong>und</strong> <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> creatio ex nihilo zu vermitteln. Im<br />

Vergleich mit den Untersuchungen in <strong>der</strong> Theozidee wird <strong>die</strong> Gottheit als<br />

Demiurg gegenüber dem Unvordenklichen auf eine Weise in Stellung<br />

gebracht, <strong>die</strong> erstens ebenfalls nicht von einer creatio ex nihilo zu sprechen<br />

erlaubt, zweitens aber dennoch entgegen Plato <strong>und</strong> Aristoteles einen<br />

Anfang <strong>der</strong> Schöpfung denken läßt. Drittens bleibt Gott in <strong>die</strong>sem Entwurf<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Schöpfung erste Ursache, nach Bayle aber nicht<br />

hinsichtlich seiner eigenen Existenz. In den »Vier<strong>und</strong>zwanzig Sätzen«, <strong>die</strong><br />

als Seitenstück <strong>der</strong> Monadologie-Schrift gelten, <strong>die</strong> vermutlich noch später<br />

als <strong>die</strong>se abgefaßt worden ist, wird meiner Auffassung nach eben <strong>die</strong>se<br />

Differenz als Differenz von »existificans« als seinsvermitteln<strong>der</strong><br />

Schöpfergott o<strong>der</strong> bloß als Demiurg (erste Ursache) <strong>und</strong> »existiturire«<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Strebung bloßer Möglichkeiten (Ideen) behandelt, <strong>die</strong> für<br />

sich noch nicht an Realität <strong>und</strong> verwirklichter Existenz geb<strong>und</strong>en sind,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> selbst vom göttlichen Verstand unabhängige Gr<strong>und</strong>lagen vor dem<br />

»existiturire« besitzen. Im Zuge <strong>der</strong> Darstellungen <strong>der</strong> Prinzipien, <strong>die</strong> erst<br />

aus dem Unvordenklichen herauszuhebenden notwendigen Wahrheiten<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten überhaupt im göttlichen Verstand zur Verwirklichung<br />

im Sinne <strong>der</strong> »Schöpfung« als Anfang von Raum <strong>und</strong> Zeit geführt haben<br />

sollen, findet Leibniz ab dem siebten Satz <strong>die</strong> Bestimmung des letzten<br />

Abschnitts des Werdens zur Schöpfung, <strong>die</strong> zugleich <strong>der</strong>en<br />

charakteristische Zeitlichkeit selbst als series rerum ist, jedoch von Leibniz<br />

komplementär mit <strong>der</strong> Bedingung des Zugleichsein verb<strong>und</strong>en wird.<br />

Anhand <strong>der</strong> Aussagen zur Kompossibilität in den Generales Inquisitiones<br />

4 Gerhardt, Bd. VII, Kap. VIII, p. 289 ff.. Dr. Wolfgang W. Priglinger hat mir<br />

fre<strong>und</strong>licherweise seine Übersetzung zur Verfügung gestellt.


-— 87 —<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Berücksichtigung <strong>der</strong> weiteren Sätze bis zum elften Satz werde ich<br />

zeigen, daß <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch auf zweifache Weise indirekt mit<br />

<strong>der</strong> Bedingung des Zugleichseins, wie Leibniz sie im siebten Satz einführt,<br />

<strong>und</strong> in den anschließenden Sätzen weiterentwickelt, verb<strong>und</strong>en ist. Das<br />

fehlende Zwischenglied ist aber we<strong>der</strong> causa finalis noch causa efficiens;<br />

also we<strong>der</strong> teleologisch verstandene Kausalität aus dem Begriff noch<br />

einfach mit <strong>der</strong> Kausalitätskategorie aus <strong>der</strong> Analytik des<br />

Verstandesgebrauches in <strong>der</strong> Erfahrung darstellbar. Vielmehr wird <strong>der</strong><br />

Folgebegriff, in engerem, wenngleich auch sich logisch voneinan<strong>der</strong><br />

abesetzenden Verhältnis mit einer allgemeineren Idee von Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung verb<strong>und</strong>en sein, <strong>der</strong> im Gesetzesbegriff doch über <strong>die</strong><br />

theoretische <strong>und</strong> praktische Bewältigung <strong>der</strong> Welt zwischen monde <strong>und</strong><br />

l’universe hinausgehend den Anspruch an ein den Erkenntnisgründen<br />

vorgängiges F<strong>und</strong>ament im transzendentalanalytischen Verfahren<br />

beansprucht. In <strong>die</strong>sem Abschnitt soll unter an<strong>der</strong>em gezeigt werden,<br />

inwieweit Kant <strong>die</strong>ser modallogischen Vorgabe gerecht wird. Jetzt aber<br />

soll unter dem absoluten Standpunkt nicht <strong>die</strong> primäre Intentionalität auf<br />

einen äußeren Gegenstand (ohne metrische Bedingungen) verstanden<br />

werden, son<strong>der</strong>n eine rationale Untersuchung <strong>der</strong> metaphysischen<br />

Gr<strong>und</strong>legung des Satzes vom Wi<strong>der</strong>spruch versucht werden, da das<br />

Bündel <strong>der</strong> Übergänge von <strong>der</strong> rationalen Metaphysik zur<br />

transzendentalanalytischen Untersuchung am nämlichen Punkt — dem<br />

obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile: also dem principium<br />

contradictionis — ins Zentrum <strong>der</strong> theoretischen Aufmerksamkeit rückt.<br />

b) Existificans <strong>und</strong> Existiturire<br />

Setzt man am Gr<strong>und</strong>gedanken des ersten Abschnittes fort, so hat sich<br />

unabhängig von den Aufgängen <strong>der</strong> Kontinua von Raum <strong>und</strong> Zeit in <strong>der</strong><br />

Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Totalisierung ihrer Darstellungs- <strong>und</strong><br />

Beschreibungsfunktionen, aber eben auch als Themenkreis relativ<br />

unabhängig von <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> transzendentalen Freiheit, zwei<br />

freilich äquipollente Sphären des Geltungsbereiches von realer <strong>und</strong> idealer<br />

Möglichkeit herausgestellt, <strong>der</strong>en Koordinierung gewissermaßen zum<br />

notwendigen Merkmal möglicher Existenz werden konnte. Auch in <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht ist es beson<strong>der</strong>s bemerkenswert, was Leibniz darlegt. Im siebten


-— 88 —<br />

Satz behauptet Leibniz: Alles Mögliche ist nicht zugleich möglich. 5 Dieser<br />

Satz scheint mir we<strong>der</strong> ein Gegenstand <strong>der</strong> transzendentalen Freiheit noch<br />

<strong>der</strong> göttlichen Willkür im Sinne <strong>der</strong> Theozidee zu sein <strong>und</strong> auch nicht ein<br />

rein moralisches Prinzip <strong>der</strong> praktischen Vernunft zur Bestimmung des<br />

freien Willens. Dieser Satz ist zuerst eine Wahrheit über <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

innerhalb einer series rerum überhaupt.<br />

Er ist aber eine Bedingung <strong>der</strong> Verwirklichung wie an<strong>der</strong>e Wahrheiten, <strong>die</strong><br />

Notwendigkeiten (als Gegenteil negierter Möglichkeiten) für alle<br />

möglichen Welten sind. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang gewinnt <strong>der</strong> Begriff<br />

vom metaphysischen Vernunftgr<strong>und</strong> o<strong>der</strong> metaphysischer Notwendigkeit<br />

eine erweiterte Bedeutung: Damit meint Leibniz in <strong>der</strong> Theozidee zuerst<br />

mathematische <strong>und</strong> logische Wahrheiten <strong>und</strong> nicht das absolut<br />

notwendige Sein als erste Ursache wie in den 24 Sätzen. Leibniz vergleicht<br />

nun in <strong>der</strong> Theozidee <strong>die</strong> Gewissheit <strong>der</strong> logischen <strong>und</strong> mathematischen<br />

Wahrheiten mit <strong>der</strong> Gewissheit seiner philosophischen Begriffe, wie <strong>der</strong><br />

Satz vom zureichenden Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> dem Satz vom ununterscheidbaren<br />

Unterschied o<strong>der</strong> nunmehr auch <strong>der</strong> Satz »Alles Mögliche ist nicht<br />

gleichzeitig möglich«. Auf den Status <strong>die</strong>ser Vernunftideen gegenüber<br />

dem absolut notwendigen Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Existenz (<strong>der</strong> philosophisch<br />

allerdings eine Folge des ersten großen Vernunftprinzipes ist: des Satzes<br />

vom zureichenden Gr<strong>und</strong>) ist eigens hinzuweisen: <strong>die</strong>se würden eben<br />

wie<strong>der</strong>um ohne erste Existenz bedeutungslos bleiben. Aber nicht alle<br />

Notwendigkeiten sind in <strong>der</strong> Verwirklichung als Bedingung auf gleiche<br />

Weise <strong>und</strong> an <strong>der</strong> gleichen Stelle des Werdens beteiligt.<br />

Aus <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Existenz in den Generales Inquisitiones kann unter<br />

<strong>der</strong> Voraussetzung einer series rerum eine einfachere Definition des<br />

Zugleichseins abgeleitet werden. Die von Leibniz gegebene Definition<br />

lautet: »„Existierendes“ [könnte] definiert werden [....] als „das, was mit<br />

mehr Dingen kompatibel ist als irgendein an<strong>der</strong>es Ding, daß mit ihm<br />

inkompatibel ist“.« 6<br />

Die Kompatibilität schließt das Zugleichsein mit ein. Diese Definition setzt<br />

nun den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch mittelbar voraus: Zunächst wird <strong>die</strong><br />

Kompatibilität des existierenden Dinges mit <strong>der</strong> Kompatibilität eines zwar<br />

5 7. Satz: Aber daraus folgt nicht, daß alles Mögliche wirklich wird: das könnte<br />

vernünftigerweise nur folgen, wenn alles Mögliche zugleich möglich wäre<br />

(=miteinan<strong>der</strong> zur gleichen Zeit wirklich sein könne),<br />

Verum hinc non sequitur omnia possibilia existere: sequeretur sane si omnia<br />

possibilia essent compossibilia.<br />

6 In den Generales inquisitiones, Zeile 170-74, in Meiner Phil. Bibl. Bd. 338. p. 14/15


-— 89 —<br />

möglichen, aber nicht existierenden Dinges verglichen, das mit dem ersten<br />

inkompatibel ist. Erst <strong>die</strong> vergleichende Analyse <strong>der</strong> Kompatibilität als<br />

solche führt auf den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch. Es stellt sich nun <strong>die</strong> Frage, ob<br />

<strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein vom Satz des Wi<strong>der</strong>spruches abhängt o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Satz vom Wi<strong>der</strong>spruches vom Satz des Zugleichseins. Um sagen zu<br />

können, »Alles Mögliche drängt zur Verwirklichung« (existiturire), 7 muß<br />

<strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein innerhalb einer series rerum unter <strong>der</strong> Form <strong>der</strong><br />

bloßen Möglichkeit vor ihrer Verwirklichung außer Kraft gesetzt werden.<br />

Allerdings heißt das nicht, daß für <strong>die</strong> Erörterung metaphysischer<br />

Prinzipien <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch seine Geltung verloren hätte:<br />

Vielmehr <strong>die</strong>nt <strong>die</strong>ses logische Prinzip dazu, im Rahmen <strong>der</strong><br />

Untersuchung des Conatus, <strong>der</strong> ohne dem Satz vom zureichenden Gr<strong>und</strong><br />

in <strong>der</strong> Indifferenz des Satzes des ununterscheidbaren Unterschiedes zu<br />

verschwinden drohte, aus seiner Stellung in <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong><br />

Charakteristik <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>die</strong> Seinsweise des selbst schöpferischen<br />

Verstandes abzulesen. Ohne den Versuch einer brauchbaren Charakteristik<br />

ist <strong>der</strong> Existenzcharakter des Möglichen nicht selbstständig von <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit unterscheidbar <strong>und</strong> droht mit dem Möglichkeitscharakter <strong>der</strong><br />

gewordenen Wirklichkeit insofern zusammenzufallen, indem <strong>die</strong> Frage<br />

nach dem Gr<strong>und</strong>, warum eher das existiert als etwas an<strong>der</strong>es, sowohl<br />

innerhalb einer series rerum wie außerhalb in Betrachtung von Alternativen<br />

gestellt werden muß, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein selbst sowenig wie<br />

das principium contradictionis einen Gr<strong>und</strong> angeben kann, weshalb eher<br />

<strong>die</strong>se Welt <strong>und</strong> nicht eine an<strong>der</strong>e existiert.<br />

Wendet man nun den Satz des Zugleichseins auf den Satz »Alles Mögliche<br />

drängt zur Verwirklichung« (existiturire) an, so ist <strong>die</strong>ses »zugleich«<br />

trotzdem an Existenz notwendig geb<strong>und</strong>en, jedoch nicht distributiv<br />

geordnet <strong>und</strong> ohne Verhältnisse, in <strong>der</strong> Vielheit einen zeitlichen <strong>und</strong><br />

räumlichen Unterschied zu bestimmen. Um also <strong>die</strong> Deutlichkeit zu<br />

steigern, geht es nicht um <strong>die</strong> Steigerung <strong>der</strong> Kraft <strong>der</strong> ersten Ursache,<br />

son<strong>der</strong>n darum, daß nicht alles Mögliche zugleich möglich (d.h. eben in<br />

Folge, als Wirkliches nicht nur zugleich) sein kann. Diese<br />

Existenzbedingung gibt erst den Ansatzpunkt, den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch<br />

in <strong>der</strong> Erfahrung anzuwenden. Der Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch allerdings<br />

7 6. Satz: Daher kann man sagen „Alles Mögliche drängt zur Verwirklichung“, sowie<br />

es offenbar in einem notwendigen Sein in <strong>der</strong> Wirklichkeit begründet ist, ohne das es<br />

keinen Weg gäbe, auf dem das Mögliche zur Verwirklichung gelangen könne.<br />

Itaque dici potest Omne possibile Existiturire, prout scilicet f<strong>und</strong>atur in Ente<br />

necessario actu existente, sine quo nulla est via qua possibibile perveniret ad actum.


-— 90 —<br />

bezieht sich unter <strong>der</strong> Voraussetzung <strong>die</strong>ser Anwendungsbedingung —<br />

nun das Zugleichsein negierend — auf Existenz im Sinne einer Bedingung<br />

von Folge sein <strong>und</strong> Folgen haben, weil eben ursprünglich <strong>die</strong> Frage nach<br />

<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsfreiheit in Hinblick darauf, ob das Gegenteil des<br />

Seienden an Stelle desselben möglich sei (warum eher <strong>die</strong>ses als jenes), als<br />

Frage nach <strong>der</strong> Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Folgen gegenüber <strong>die</strong>ser Ersetzung zu<br />

stellen ist. Ist <strong>die</strong>se Ersetzung überhaupt ohne Wi<strong>der</strong>spruch in den Folgen<br />

möglich, dann gibt es keinen Gr<strong>und</strong>, nach dem gefragt werden könnte,<br />

warum eher <strong>die</strong>ses ist <strong>und</strong> nicht an<strong>der</strong>es. 8 Jedoch bedeutete <strong>die</strong><br />

verneinende Antwort auf <strong>die</strong> Frage, ob in <strong>der</strong> Folge ein Wi<strong>der</strong>spruch<br />

durch <strong>die</strong> Ersetzung von etwas durch sein Gegenteil auftritt, allein noch<br />

nicht <strong>die</strong> Behauptung <strong>der</strong> Notwendigkeit als Wirklichkeit ihres<br />

Zusammenseins im Zugleichsein in irgendeiner bestimmten Epoche <strong>die</strong>ser<br />

series rerum, sowenig ein reales Zusammensein im Zugleichsein (immer<br />

<strong>der</strong> Nachweis von Kompossibilität trotz realer Antagonismen: eine Folge<br />

<strong>der</strong> prästabilierten Harmonie als Leitidee) <strong>die</strong> Notwendigkeit desselben für<br />

ein bestimmtes Zugleichsein des series rerum zwingend nach sich zieht.<br />

Legt man <strong>der</strong> ontologischen Untersuchung des Satzes vom Wi<strong>der</strong>spruch<br />

<strong>die</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong>, warum eher etwas als nichts ist, zugr<strong>und</strong>e,<br />

dann gilt <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch nur, wenn etwas ist, das Folgen hat.<br />

Aber das Nichts kann keine Folgen haben, folglich ist auch nichts<br />

wi<strong>der</strong>sprüchlich, aber eben auch nicht wi<strong>der</strong>spruchsfrei, son<strong>der</strong>n eben<br />

indifferent. Der Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch setzt also logisch den Satz vom<br />

zureichenden Gr<strong>und</strong> voraus, hat aber erst in etwas, dessen Existenz Folgen<br />

hat, seine ontologische Bedingung. Dieses aber hat für uns <strong>die</strong><br />

Bedingungen des Satzes vom Zugleichsein im Sinne in einem series rerum<br />

sein an sich. Hingegen: Daß nicht alles Mögliche zugleich möglich sein<br />

könne, zeigt am Gebrauch des »möglich sein könnens« als negative<br />

Charakteristik von Wirklichkeit abermals, daß <strong>die</strong> im siebten Satz<br />

enthaltenen Prinzipien sowohl auf Alternativität möglicher Welten wie auf<br />

Alternativität in einer series rerum hin auszulegen sind. Damit wird aber<br />

nur nochmals deutlich, daß das Prinzip vom Wi<strong>der</strong>spruch nicht selbst <strong>die</strong><br />

zureichende Bedingung des Satzes vom Zugleichsein sein kann, da <strong>die</strong><br />

möglichen Welten einan<strong>der</strong> nicht selbst als Möglichkeiten, son<strong>der</strong>n erst als<br />

8 Vgl. <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong> Aussage Kants, daß das, was zusammen nicht wi<strong>der</strong>spruchsfrei<br />

möglich, nacheinan<strong>der</strong> möglich sein kann. Vgl. hier Zweiter Abschnitt, Logische <strong>und</strong><br />

metaphysische Bedingung <strong>der</strong> Wahrheit, Die Zeitbedingung <strong>der</strong> Wahrheit, Die<br />

modallogische Erörterung.


-— 91 —<br />

verschiedene Reihen <strong>der</strong> Erscheinungsgesetze verschiedener Welten in<br />

einer Welt ausschließen. Der Satz vom Zugleichsein legt also nur <strong>die</strong><br />

Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Frage, warum eher das als etwas<br />

an<strong>der</strong>es existiert, klar, entscheidet aber noch nicht <strong>die</strong> Frage für je eine<br />

mögliche Welt o<strong>der</strong> innerhalb einer möglichen Welt selbst. Insofern<br />

verlangt <strong>der</strong> siebte Satz im Satz vom Zugleichsein noch komplementär <strong>die</strong><br />

Bezugnahme auf <strong>die</strong> Unterscheidung in conatus (Strebung des<br />

Existierenden) <strong>und</strong> existiturire (Strebung des bloß Möglichen im<br />

schöpferischen Verstand nach Verwirklichung) zur Horizontbestimmung<br />

<strong>der</strong> Zeitlichkeit, bevor <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch seinen Horizont<br />

angewiesen bekommen kann.<br />

Im achten Satz wird das Zugleichsein in Hinblick auf <strong>die</strong> in den<br />

Bedingungen desselben weiterhin enthaltene Beziehung auf das<br />

Zukünftige zur Gegenwart bestimmt: Nicht nur in Bezug auf <strong>die</strong><br />

Gleichzeitigkeit <strong>der</strong> Verwirklichung son<strong>der</strong>n auch, weil <strong>der</strong> »gegenwärtige<br />

Zustand Zukünftiges mitbestimmt« (als Hinweis auf <strong>die</strong> zeitlich<br />

exponierte Einheit einer series rerum) hat <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein<br />

ontologische Geltung. 9 Oben konnte gezeigt werden, daß zur Bestimmung<br />

einer series rerum bereits sowohl <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein wie <strong>der</strong> Satz<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch benötigt wird — Leibnizens Darstellung macht hier<br />

nochmals deutlich, daß <strong>der</strong> Satz vom Zugleichsein wie <strong>der</strong> Satz vom<br />

Wi<strong>der</strong>spruch erst im Rahmen <strong>der</strong> jeweils immer nur einen möglichen Welt<br />

auftreten, <strong>und</strong> nur deshalb zusammen gelten.<br />

Im neunten Satz wird nun <strong>die</strong>jenige Bedingung genannt, <strong>die</strong> zugleich eine<br />

Vernunftwahrheit, wie eine Form <strong>der</strong> Möglichkeit(en) selbst ist. Die Reihe<br />

<strong>der</strong> Tatsachen soll so beschaffen sein, daß »möglichst viele (Dinge)<br />

existieren o<strong>der</strong> also eine möglichst große Reihe von Tatsachen aller<br />

möglichen Dinge«. 10<br />

9 8. Satz: Aber weil manches mit an<strong>der</strong>em unvereinbar ist, folgt, daß gewisse<br />

Möglichkeiten nicht zur Verwirklichung gelangen, <strong>und</strong> es ist also manches Mögliche<br />

mit an<strong>der</strong>en (mit an<strong>der</strong>em Möglichen) unvereinbar — nicht nur in Bezug auf <strong>die</strong><br />

Gleichzeitigkeit (=auf ihre gleichzeitige Verwirklichung), son<strong>der</strong>n generell, weil<br />

durch den gegenwärtigen Zustand (sc. <strong>der</strong> Dinge) Zukünftiges mitbestimmt wird.<br />

Sed quia alia aliis incompatibilia sunt, sequuitur quaedam possibilia non pervenire<br />

ad existendum, suntque alia aliis incompatibilia, non tantum respectu ejusdem<br />

temporis, sed et in universum, quia in praesentibus futura involvuntur.<br />

10 9. Satz: Jedenfalls folgt aus dem Wettstreit aller möglichen (sc. Dinge), <strong>die</strong> zur<br />

Verwirklichung drängen, wenigstens das, daß eine solche Reihe von Tatsachen<br />

existiert, <strong>die</strong> so beschaffen ist, daß möglichst viele (Dinge) existieren o<strong>der</strong> also eine<br />

möglichst große Reihe von Tatsachen aller möglichen Dinge. {Series rerum, <strong>die</strong> Reihe<br />

<strong>der</strong> Tatsachen ist im weiteren Gebrauch mit dem Begriff m<strong>und</strong>us (Welt)


-— 92 —<br />

Nochmals ist <strong>die</strong> Frage zu stellen, ob nun in einer möglichen Welt mehrere<br />

Reihen von Tatsachen zugleich möglich sind, o<strong>der</strong> ob möglichst viele<br />

Welten existieren sollen; m. a. W. ob eine eigentliche, universale<br />

Kompossibilität unabhängig von <strong>der</strong> einer schon näher bestimmten series<br />

rerum möglich ist. Wohl meint Leibniz nur das erstere, da er im zehnten<br />

Satz mit seiner Darstellung fortfährt, daß <strong>die</strong>se Reihe, welche dem Prinzip<br />

des Maximums an Verwirklichung folgt, das größte Fassungsvermögen<br />

erzeugt, allerdings ohne <strong>die</strong>ses Extremum des Fassungsvermögens durch<br />

<strong>die</strong> Beispiele aus Geometrie <strong>und</strong> Physik in seiner Charakteristik<br />

vollständig festgelegt zu haben. 11 Die Gerade ist nämlich unter den Linien<br />

das Minimum, also <strong>die</strong> kürzest mögliche Strecke nach <strong>der</strong> archimedischen<br />

Definition von Geraden (allerdings Euklid: Nach einer Art zu liegen, d.i.<br />

regelmäßig, was mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung Leibnizens in <strong>der</strong> Theodizee besser<br />

übereinstimmt). Der rechte Winkel ist das Mittere zwischen allen<br />

spitzwinkeligen <strong>und</strong> stumpfwinkeligen Winkeln <strong>und</strong> nicht das Maximum,<br />

da je<strong>der</strong> spitze Winkel komplementär als stumpfwinkeliger Winkel<br />

angeschaut werden kann, geht man von <strong>der</strong> Gerade als gestreckten Winkel<br />

aus. Nur <strong>der</strong> Kreis <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kugel sind wirklich Ausdruck des Prinzipes<br />

des größten Fassungsvermögens (wie <strong>der</strong> größten Regelmäßigkeit;<br />

allerdings höchst irrational). Insofern trifft sich gerade da <strong>die</strong> in § 189 des<br />

II. Teiles des Versuches <strong>der</strong> Theodizee genannte<br />

Hervorhebungswürdigkeit <strong>der</strong> Regelmäßigkeit mit dem Prinzip des<br />

größten Fassungsvermögens. 12 Nur dann ist <strong>der</strong> elfte Satz verständlich,<br />

wenn er auch <strong>die</strong>, gegenüber dem Prinzip des Maximums womöglich<br />

defizienten Formen des Prinzips, das Regelmäßige vorzuziehen, bereits<br />

gleichzusetzen. Vgl. Gerhardt VII. 302: De rerum originatione radicali (1697): „Nam<br />

non tantum in nullo singulorum, sed nec in toto aggregato serieque rerum inveniri<br />

potest sufficiens ratio existendi.“ (Denn nicht nur kann in keinem einzelnen, son<strong>der</strong>n<br />

ebensowenig im ganzen Zusammengesetzten <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Tatsachen ein<br />

zureichen<strong>der</strong> Existenzgr<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en werden). Ad series vgl. auch Grua, p. 526:<br />

„Eine Reihe ist eine mit gewissen Ordnungsregeln ausgestattete Vielheit.“}<br />

Interim ex conflictu omnium possibilium existentiam exigentium hoc saltem<br />

sequitur, ut Existat ea rerum series, per quam plurimum existit, seu series omnium<br />

possibilium maxima.<br />

11 10. Satz: Diese Reihe allein nämlich unterliegt <strong>der</strong> Bestimmung, wie von den Linien<br />

<strong>die</strong> Gerade, von den Winkeln <strong>der</strong> Rechte <strong>und</strong> von den geometrischen Figuren <strong>die</strong><br />

mit dem größten Fassungsvermögen, nämlich <strong>der</strong> Kreis <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kugel. <strong>und</strong> wie wir<br />

sehen, daß sich <strong>die</strong> Flüssigkeit von Natur aus in kugelförmigen Tropfen sammelt, so<br />

verwirklicht sich <strong>der</strong> Natur des Universums <strong>die</strong>jenige Reihe mit dem größten<br />

Fassungsvermögen.<br />

Haec etiam series sola est determinata, ut ex lineis recta, ex angulis rectus, ex figuris<br />

maxima capax, nempe circulus vel sphaera, ita in natura universi series maxime<br />

capax existit.<br />

12 Generales inquisitiones, Zeile 170-74, in Meiner Phil. Bibl. Bd. 338. p. 14/15:


-— 93 —<br />

mit beinhaltet: »Es verwirklicht sich also das Vollkommenste, da<br />

Vollkommenheit nichts an<strong>der</strong>es ist als <strong>die</strong> Fülle (Quantität) <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit (Realität)«. 13<br />

Bevor das nächste Prinzip <strong>der</strong> Formen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vielfalt als selbst Formen<br />

produzierendes in seiner Beziehung zur Vollkommenheit als Quantum<br />

behandelt werden soll, möchte ich noch darauf zurückkommen, daß das<br />

Prinzip, nach dem unter den möglichen Welten gerade jene mit den<br />

größten Fassungsvermögen ausgewählt werden soll, keinen moralischen<br />

Gr<strong>und</strong> von vorneherein für sich hat, son<strong>der</strong>n, wird es auch analytisch als<br />

ein oberstes Prinzip <strong>der</strong> phänomenologischen Darstellung <strong>der</strong><br />

Ideenentwicklung aufgefaßt, bloß dem Drängen, daß womöglich alle<br />

Möglichkeiten verwirklicht werden, so weit wie möglich nachgibt. Das<br />

Sein als absolut notwendige Existenz soll so auch als metaphysische blinde<br />

Notwendigkeit als Gr<strong>und</strong>, warum eher etwas existiert als nichts, weil es<br />

eine Folge <strong>der</strong> Vernunftwahrheit des großen Prinzips ist, schon ein<br />

höchstes Gut vorstellen, deshalb ist viel Seiendes auch gut, <strong>und</strong> weil viel<br />

Seiendes mit einer Zukunft, in <strong>der</strong> sich das Seiende größtmöglich vermehrt<br />

hat, besser ist, ist <strong>die</strong> Fülle <strong>der</strong> Wirklichkeit nicht nur das eines<br />

Zugleichseins in <strong>der</strong> Gegenwart innerhalb <strong>der</strong> series rerum, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />

Fülle in <strong>der</strong> ganzen Zeit <strong>der</strong>selben. So ist möglicherweise auch eine<br />

zeitweilige Vermin<strong>der</strong>ung des Quantums an Seienden dem Prinzip des<br />

neunten <strong>und</strong> zehnten Satzes nicht unbedingt wi<strong>der</strong>sprechend, wenn in <strong>der</strong><br />

Zukunft deshalb ein sonst nicht erreichbares Maximum möglich wird. Dies<br />

aber nur unter <strong>der</strong> Bedingung, daß <strong>die</strong> Vermin<strong>der</strong>ung nicht so<br />

einschneidend verläuft, daß in <strong>der</strong> Summe durch <strong>die</strong> Zeit das gesamte<br />

Quantum an Seienden trotz <strong>der</strong> in Aussicht gestellten Vermin<strong>der</strong>ung <strong>die</strong><br />

daraus erwartete Steigerung <strong>die</strong> Summe <strong>der</strong> Seienden durch alle Zeiten bei<br />

Annahme einer gleichmäßigen Steigerung übertreffen wird.<br />

Das Prinzip des siebten Satzes, daß alles Mögliche nicht zugleich möglich<br />

sein könne, schränkt <strong>die</strong> Denkmöglichkeit des Alles in Folge auf<br />

Verbindungsbegriffe wie auf <strong>die</strong> Unterscheidung in komplementär<br />

mögliche <strong>und</strong> überhaupt unmögliche Verbindungen im Sinne des Satzes<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch (in <strong>der</strong> Anwendung als formales Prinzip <strong>der</strong><br />

Kompossibilität) ein. Die Umfänge des Denkmöglichen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Totalität<br />

des Seienden (dann schon als Produkt <strong>der</strong> ersten Ursache (existificans) des<br />

13 11. Satz: Es verwirklicht sich also das Vollkommenste, da Vollkommenheit nichts<br />

an<strong>der</strong>es ist als <strong>die</strong> Fülle (Quantität) <strong>der</strong> Wirklichkeit (Realität).<br />

Existit ergo perfectissimum, cum nihil aliud sit quam quantitas realitatis.


-— 94 —<br />

existiturire <strong>der</strong> Möglichkeiten im Rahmen einer möglichen series rerum sind<br />

also darauf hin zu untersuchen, ob <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> deutlichen<br />

Möglichkeiten immer größer sein muß, als <strong>die</strong> Möglichkeiten an <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit. Für Gott schon, lautet <strong>die</strong> Antwort; wir schwanken zwischen<br />

zwei an<strong>der</strong>en Extreme: Entwe<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> Denkmöglichkeit(en)<br />

viel zu gering, um <strong>die</strong> Möglichkeit(en) an <strong>der</strong> Wirklichkeit innerhalb einer<br />

möglichen Welt im Wesen zu erfassen, o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Bedingungen möglicher<br />

Welten wi<strong>der</strong>stehen den Prinzipien bloßer Vernunftmöglichkeit. Ersteres<br />

beschränkt <strong>die</strong> Freiheit des Willens gegenüber dem Seienden, zweiteres<br />

beschränkt den Willen im Verstande.<br />

Zwischen <strong>die</strong>sen Extreme soll das Maximum <strong>der</strong> Fülle an Realität zustande<br />

kommen <strong>und</strong> dabei den Gottesbegriff womöglich so weit entwickeln, daß<br />

nicht <strong>die</strong> Gutheit des bloßen Seins gegenüber dem Nichtsein <strong>die</strong><br />

Vollkommenheit ausmacht. Allerdings kann <strong>die</strong> Nachgiebigkeit des<br />

göttlichen Verstandes gegenüber dem Drängen <strong>der</strong> Möglichkeiten auch als<br />

Güte verstanden werden, <strong>die</strong> sich darin ausdrückt, auch das<br />

Unregelmäßige zuzulassen. Leibniz versucht aus dem Prinzip <strong>der</strong><br />

Vielfältigung <strong>der</strong> Formen <strong>der</strong> Materie aus dem elften Satz ab dem<br />

vierzehnten Satz das Prinzip abzuleiten, daß <strong>die</strong> Vervielfältigungstendenz<br />

<strong>der</strong> Materie <strong>die</strong> Möglichkeit zur Harmonie, <strong>und</strong> so insgesamt auch das<br />

Regelmäßige beför<strong>der</strong>e. — Letztlich bleibt von da aus offen, ob Leibniz <strong>die</strong><br />

entscheidende Qualifizierung des göttlichen Verstandes zur Apperzeption<br />

anhand <strong>der</strong> Wahl des Bestmöglichen in <strong>der</strong> Theozidee hier als mit<br />

eingeschlossen vorstellen will, o<strong>der</strong> doch über <strong>die</strong> Identifikation von<br />

bonum <strong>und</strong> pulchrum im transzendentalen Ideal nicht hinausgeht.<br />

❆<br />

Kant behandelt nun ebenfalls eine Verknüpfung des principiums<br />

contradictionis mit einer Zeitbedingung, allerdings nicht ontotheologisch<br />

wie Leibniz in <strong>der</strong> behandelten Überlegung, son<strong>der</strong>n bereits unter <strong>der</strong><br />

Voraussetzung des erkennenden Subjekts mit dem Vermögen logisch zu<br />

urteilen, also im Stand <strong>der</strong> transzendentalen Freiheit.


-— 95 —<br />

3) Die wesenslogische Erörterung: Die Zeitbedingung im<br />

Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile ist synthetisch<br />

a) Die Charakteristik des analytischen <strong>und</strong> des synthetischen Urteils im<br />

Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile<br />

Kant behauptet im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile, daß <strong>der</strong> Satz<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch keinerlei Zeitbedingung voraussetzt. Um ein<br />

analytisches Urteil handele es sich genau dann, wenn das Prädikat ein<br />

notwendiges Merkmal des Subjekts ist, nicht aber, wenn man ein Prädikat<br />

eines Dinges zuerst vom Begriff desselben abson<strong>der</strong>t <strong>und</strong> dann sein<br />

Gegenteil mit <strong>die</strong>sem Prädikat verknüpft, denn dann gibt es keinen<br />

Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Subjekt <strong>und</strong> Prädikat son<strong>der</strong>n nur mit dem<br />

Prädikat <strong>und</strong> seinem synthetisch hinzugefügten Gegenteil, was <strong>die</strong><br />

Bedingung des Zugleichseins sehr wohl erfor<strong>der</strong>lich mache. 14<br />

»Sage ich, ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt, so muß <strong>die</strong><br />

Bedingung: zugleich, dabei stehen; denn <strong>der</strong> so zu einer Zeit ungelehrt ist,<br />

kann zu einer an<strong>der</strong>en gar wohl gelehrt sein. Sage ich aber, kein<br />

ungelehrter Mensch ist gelehrt, so ist <strong>der</strong> Satz analytisch, weil das<br />

Merkmal (<strong>der</strong> Ungelahrtheit) nunmehr den Begriff des Subjekts mit<br />

ausmacht, <strong>und</strong> alsdenn erhellet <strong>der</strong> verneinende Satz unmittelbar aus dem<br />

Satze des Wi<strong>der</strong>spruchs, ohne daß <strong>die</strong> Bedingung: zugleich, hinzu<br />

kommen darf.« 15<br />

Die Abson<strong>der</strong>ung eines Prädikates vom Begriff eines Dinges kann so nur<br />

mehr noch grammatikalisch mit dem Satzteil <strong>der</strong> ungelehrt ist im Satz: »Ein<br />

Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt« identifiziert werden. Im Satz:<br />

»Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt« ist das Attribut ungelehrt das<br />

Merkmal, was nunmehr den Begriff des Subjekts mit ausmacht. Es bleibt<br />

<strong>die</strong> Beobachtung, daß Kant in <strong>der</strong> Demonstration des Satzes vom<br />

Wi<strong>der</strong>spruch seine Beispiele von Sätzen, <strong>die</strong> nur mit <strong>der</strong> Bedingung des<br />

Zugleichseins gelten, <strong>und</strong> von Sätzen, <strong>die</strong> ohne <strong>die</strong>sselbe gelten, nur durch<br />

<strong>die</strong> Stellung <strong>der</strong> Merkmalsbegriffe im Satz unterscheidet. Während im<br />

ersten Beispiel das Merkmal <strong>der</strong> Ungelehrtheit nicht mit analytischer<br />

Notwendigkeit dem Satzsubjekt zugeschrieben werden kann, wird <strong>der</strong><br />

14 K.r.V., B 192. Dazu muß noch bemerkt werden, daß das synthetisch hinzugefügte<br />

Gegenteil eines Prädikates auch als Nachweis verstanden werden kann, daß das<br />

Gegenteil des Prädikates nicht notwendig nicht gilt. Vielmehr ist es dann möglich,<br />

daß entwe<strong>der</strong> ein Prädikat gilt o<strong>der</strong> sein Gegenteil.<br />

15 l.c.


-— 96 —<br />

Stellung als Attribut <strong>die</strong> Bedeutung eingeräumt, ein notwendiges Merkmal<br />

für <strong>die</strong> analytische Heraushebung eines Merkmalbegriffes aus dem<br />

Subjektbegriff zu bezeichnen. Solche Merkmale sollen dem Subjektbegriff<br />

notwendig sein o<strong>der</strong> ihn mit konstituieren. Damit wird aber womöglich<br />

zweierlei verlangt. Denn einen Subjektbegriff zu konstituieren kann im<br />

Zuge fortschreiten<strong>der</strong> Bestimmung des Individuellen bedeuten, Merkmale<br />

zur Konstitution aufzunehmen, <strong>die</strong> nicht notwendigerweise am<br />

Gegenstand zu finden sind, son<strong>der</strong>n ihm gerade nur zu einem<br />

ausgezeichneten Zeitpunkt zukommen. Im Zuge <strong>der</strong> fortschreitenden<br />

Bestimmung des Allgemeinen kann das Konstituieren eines<br />

Subjektbegriffes auch bedeuten, eine vorläufige Bestimmung<br />

vorzunehmen, <strong>die</strong> späterhin erst auf ihre notwendigen <strong>und</strong> ihre zufälligen<br />

Teile befragt werden kann. In beiden Fällen wird von <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

eines Merkmals des Subjektbegriffes auf eine Weise Gebrauch gemacht, <strong>die</strong><br />

anzeigt, daß sie noch etwas an<strong>der</strong>es bedeutet, als daß Merkmale nötig sind,<br />

um das Individuelle o<strong>der</strong> aber auch das Allgemeine im Subjektbegriff zu<br />

supponieren. — Es ist <strong>die</strong> Notwendigkeit im Sinne von Essentialität<br />

angezeigt, <strong>die</strong> we<strong>der</strong> das Individuelle als Idee <strong>der</strong> Bestimmbarkeit von<br />

Existenz noch das Allgemeine als Idee <strong>der</strong> Bestimmbarkeit nach Gesetzen<br />

ohne weitere Begründung als F<strong>und</strong>ament beanspruchen darf. Insofern<br />

aber auch vom Wesen des Individuellen <strong>und</strong> vom Wesen des Allgemeinen<br />

gesprochen werden mag, handelt es sich also in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit des analytischen Urteils eigentlich um <strong>die</strong> Frage nach dem<br />

logischen Wesen. 16<br />

Die wesenslogische Einteilung <strong>der</strong> Logik <strong>und</strong> Grammatik, <strong>die</strong> Kant in<br />

seiner Antwort auf <strong>die</strong> Angriffe Eberhards 17 gibt, beginnt mit einer<br />

Unterscheidung <strong>der</strong> Begriffsmerkmale: in solche, <strong>die</strong> unabtrennlich <strong>und</strong><br />

notwendig mit dem Wesen des darin gedachten Gegenstandes verb<strong>und</strong>en<br />

sind, <strong>und</strong> solchen, <strong>die</strong> unbeschadet des Begriffes abgetrennt werden<br />

können. Gemeinhin nannte man Aussagen mit den ersteren als Prädikat<br />

16 Willard Q. Quine, Gr<strong>und</strong>züge <strong>der</strong> Logik, Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 3 1969.<br />

Titel <strong>der</strong> Originalausgabe: Methods of Logik. Revised Edition 1964 by Holt, Rinehart<br />

and Wilson, New York, Chicago, San Francisco, Toronto. Quine bezweifelt in <strong>der</strong><br />

Einleitung wie Bolzano <strong>die</strong> Möglichkeit einer ursprünglichen Definition des<br />

analytischen Urteils. Das analytische Urteil bleibt Angelegenheit einer<br />

konventionalistisch vorgehenden Darstellung des Stoffes <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Wissenschaft. Alle echten Urteile seien synthetisch; allerdings niemals von einer<br />

Geltung a priori.<br />

17 Über eine Entdeckung, nach <strong>der</strong> alle neue Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft durch eine<br />

ältere entbehrlich gemacht werden soll, Königsberg 1790, BA 83


-— 97 —<br />

analytische Urteile, Aussagen mit den zweiteren als Prädikat synthetische<br />

Urteile:<br />

»Doch ist, um des Herrn Eberhards willen, hier nicht überflüssig<br />

anzumerken: daß ein Prädikat, welches durch einen Satz a priori einem<br />

Subjekte beigelegt wird, eben dadurch als dem letzteren notwendig<br />

angehörig (von den Begriffen desselben unabtrennlich) ausgesagt wird.<br />

Solche Prädikate werden auch zum Wesen (<strong>der</strong> inneren Möglichkeit des<br />

Begriffs) gehörige (ad essentiam pertinenta) Prädikate genannt,<br />

<strong>der</strong>gleichen folglich alle Sätze, <strong>die</strong> a priori gelten, enthalten müssen; <strong>die</strong><br />

übrigen, <strong>die</strong> nämlich vom Begriffe (unbeschadet desselben) abtrennlichen,<br />

heißen außerwesentliche Merkmale (extra essentialia). Die ersteren<br />

gehören nun zum Wesen entwe<strong>der</strong> als Bestandstücke desselben (ut<br />

constitutiva), o<strong>der</strong> als darin zureichend gegründete Folgen desselben (ut<br />

rationata). Die ersteren heißen wesentliche Stücke (essentialia), <strong>die</strong> also<br />

kein Prädikat enthalten, welches aus an<strong>der</strong>en in dem selben Begriffe<br />

enthaltenen abgeleitet werden könnte, <strong>und</strong> ihr Inbegriff macht das logische<br />

Wesen (essentia) aus; <strong>die</strong> zweiten werden Eigenschaften (attributa)<br />

genannt. Die außerordentlichen Merkmale sind entwe<strong>der</strong> innere (modi),<br />

o<strong>der</strong> Verhältnismerkmale (relationes), <strong>und</strong> können in Sätzen a priori nicht<br />

zu Prädikaten <strong>die</strong>nen, weil sie vom Begriffe des Subjektes abtrennlich <strong>und</strong><br />

also nicht notwendig mit ihm verb<strong>und</strong>en sind.« 18<br />

Unzweifelhaft trifft Kant hier im Schlußsatz eine Feststellung, <strong>die</strong> <strong>der</strong><br />

Bedeutung <strong>der</strong> attributiellen Stellung des Merkmalbegriffes im Obersten<br />

Gr<strong>und</strong>satz aller analytischer Urteile genau wi<strong>der</strong>spricht, denn dort sollte das<br />

Attribut <strong>die</strong> konstitutive Bedeutung des Merkmalbegriffes für den<br />

Subjektbegriff ausweisen. Die Darstellung in <strong>der</strong> Schrift gegen Eberhard<br />

hat nun einmal <strong>die</strong> äußerliche Schwierigkeit, daß Kant hier zweimal eine<br />

Aufzählung mit <strong>die</strong> ersteren beginnt, was eine gewisse Doppeldeutigkeit<br />

zur Folge hat. Für <strong>die</strong> erste Verwendung <strong>der</strong> Aufzählung ist klar: <strong>die</strong><br />

Prädikate a priori sind entwe<strong>der</strong> solche von Bestandstücke des Wesens<br />

(ut constitutiva) o<strong>der</strong> sind zureichend gegründete Folgen aus dem Wesen<br />

(ut rationata). In <strong>der</strong> zweite Aufzählung scheint es nur so, als wollte Kant<br />

nur das selbe mit an<strong>der</strong>en Worten wie<strong>der</strong>holen: Die ersten heißen<br />

wesentliche Stücke <strong>und</strong> sind essentialia, <strong>die</strong> zweiten werden Attribute<br />

genannt. Anfangs wird im dritten Satz des Zitats das Prädikat a priori den<br />

übrigen Merkmalen (extraessentialia) gegenübergestellt, <strong>die</strong> nichts an<strong>der</strong>es<br />

18 l.c.


-— 98 —<br />

bedeuten können als <strong>die</strong> Attribute im vierten Satz, zumal darauffolgend<br />

im fünften Satz gleich nochmals von außerordentlichen (Akad.:<br />

außerwesentlichen) Merkmalen <strong>die</strong> Rede ist.<br />

Allerdings benennt Kant im vierten Satz, wo er <strong>die</strong> zweite Aufzählung<br />

beginnt, das Satzsubjekt mit einem vom dritten Satz her bekannten<br />

Begriff: nur heißt es hier anstatt Bestandstücke nun wesentliche Stücke. Aber<br />

Kant gibt auch <strong>die</strong> entscheidende Definition dazu. Ich wie<strong>der</strong>hole <strong>die</strong><br />

Stelle: »Die ersteren heißen wesentliche Stücke (essentialia), <strong>die</strong> also kein<br />

Prädikat enthalten, welches aus an<strong>der</strong>en in demselben Begriffe enthaltenen<br />

abgeleitet werden könnte.« 19 Damit stellt sich <strong>die</strong> Frage, welche Folgen<br />

Kant im Sinn hatte, als er im dritten Satz <strong>die</strong> zureichend begründeten<br />

Folgen (ut rationata ) den notwendigen Merkmalen des Begriffes<br />

zugerechnet hat.<br />

Im ersten Satz schwankt <strong>die</strong> Auslegung, ob von einem Begriff o<strong>der</strong> von<br />

einer Mehrzahl von Begriffen auszugehen sei: Während Kant <strong>die</strong><br />

Notwendigkeit, mit <strong>der</strong> ein Prädikat a priori einem Subjekte beigelegt wird,<br />

im Klammerausdruck mit den Worten »von den Begriffen desselben<br />

unabtrennlich« weiter ausführt, wählt <strong>die</strong> Akademieausgabe <strong>die</strong> Einzahl<br />

(von dem Begriffe desselben). Der zweite Satz wird im Plural gehalten; es<br />

bleibt offen, ob Kant nun <strong>die</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> Prädikate a priori, <strong>die</strong> in den<br />

Sätzen a priori einem Subjekt beigelegt werden können, einem<br />

bestimmten Subjekt o<strong>der</strong> einer Mehrzahl von Subjekten zuspricht. In<br />

jedem Fall aber kann einem Subjekt mehrere Prädikate a priori beigelegt<br />

werden. Daß <strong>die</strong>se dann sich bereits im Begriff des Subjekts befinden, kann<br />

man aus <strong>der</strong> Erklärung des Wesens als <strong>die</strong> innere Möglichkeit des Begriffes<br />

folgern. 20 Der Begriff vom Subjekt enthält also mehrere Prädikate a priori,<br />

darf aber als Inbegriff o<strong>der</strong> logisches Wesen (essentia ) kein aus <strong>die</strong>sen<br />

Prädikaten abgeleitetes Prädikat enthalten. Kant stellt <strong>die</strong> zureichend<br />

gegründeten Folgen im dritten Satz zwar nun eindeutig so dar, daß sie<br />

nicht aus irgend einem <strong>der</strong> Prädikate a priori abgeleitet erscheinen, doch<br />

sagt er eben, daß auch <strong>die</strong> Folgen ut rationata Prädikate a priori<br />

ausmachen: »Die ersteren gehören nun zum Wesen entwe<strong>der</strong> als<br />

Bestandstücke desselben (ut constitutiva), o<strong>der</strong> als darin zureichend<br />

gegründete Folgen aus demselben (ut rationta).« 21 Die Folgen werden also<br />

nicht aus den Bestandstücken gezogen, son<strong>der</strong>n aus dem Wesen; sie<br />

19 l.c.<br />

20 Die Auswahl <strong>der</strong> Akademieausgabe unterstützt <strong>die</strong>se Auffassung.<br />

21 Über eine Entdeckung ..., BA 83


-— 99 —<br />

müssen allerdings in den Bestandstücken gegründet sein, um eine<br />

zureichende Schlußfolgerung zu sein. Sie können also zum logischen<br />

Wesen (essentia) gezählt werden, obgleich sie insofern weniger<br />

ursprünglich sind, als daß sie bereits Bestandstücke benötigen, um<br />

zureichend gegründet zu sein. Identifiziert man <strong>die</strong> Bestandstücke mit den<br />

Prädikaten a priori, so sind <strong>die</strong>se Folgen nicht aus <strong>die</strong>sen abgeleitet,<br />

son<strong>der</strong>n mit ihnen nur zureichend begründet. Kant hat somit einen<br />

Folgebegriff vor Augen, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> logischen Ableitung verschieden ist.<br />

Dieser Folgebegriff kann im synthetischen Urteil a priori <strong>der</strong> Geometrie<br />

gef<strong>und</strong>en werden, als daß etwa <strong>der</strong> Satz: »Zwei Katheten eines Dreiecks<br />

sind zusammen größer als <strong>die</strong> Hypotenuse« nicht aus dem einfachen<br />

philosophischen Begriff des Dreiecks stammt, son<strong>der</strong>n eine Folge <strong>der</strong><br />

Konstruktion des Dreiecks aus dem Begriff 22 , <strong>und</strong> so ein geometrischer <strong>und</strong><br />

kein philosophischer Satz ist. Für das geometrische synthetische Urteil a<br />

priori gehören <strong>die</strong> Folgen zweifelsfrei zu den essentialia, da sie nicht aus<br />

einem Prädikat a priori des Begriffes vom Dreieck abgeleitet worden sind.<br />

— Die hier schon in <strong>der</strong> Einleitung angeführte Anzweiflung <strong>der</strong> Dauer<br />

<strong>die</strong>ses Arguments hin<strong>der</strong>t nicht, ein tauglicheres Argument <strong>der</strong> Geometrie<br />

in Stellung zu bringen (d. i. <strong>die</strong> Symmetrie), welches dann als<br />

geometrisches Unterpfand für <strong>die</strong> transzendentalphilosophische<br />

Erörterung <strong>der</strong> Geometrie zur Rechtfertigung des synthetischen Urteil a<br />

priori in <strong>der</strong> reinen Anschauung <strong>die</strong>nen könnte.<br />

Daß Eberhard ausgerechnet das mit Außerwesentlichkeit identifizierte<br />

Attribut als grammatikalisches Merkmal eines synthetischen Urteiles a<br />

priori ausfindig macht, besitzt angesichts <strong>der</strong> Auffassung Kants im<br />

Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile eine gewisse Bedeutung. Kant<br />

hält hier aber zu recht nicht nur aus Gründen wesenslogischer<br />

Begriffsbestimmungen das Attribut für völlig ungeeignet, eine<br />

grammatikalische Begründung für ein synthetisches Urteil a priori<br />

aufbringen zu können:<br />

»Denn dadurch, daß es ein Attribut genannt wird, wird weiter nichts<br />

gesagt, als daß es, als notwendige Folge, vom Wesen abgeleitet werden<br />

könne: ob analytisch, nach dem Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch, o<strong>der</strong> synthetisch,<br />

nach irgend einem an<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>satze, das bleibt dabei gänzlich<br />

unbestimmt« 23 Dabei wird Eberhard noch <strong>die</strong> Freiheit eingeräumt, vom<br />

22 K.r.V., §2, aber auch B 744/A 716<br />

23 Über eine Entdeckung ..., BA 83


-— 100 —<br />

Attribut als notwendige Folge des Wesens zu reden <strong>und</strong> Kant verwendet<br />

in seinem Beispiel 24 selbst <strong>die</strong>se Redewendung. Das ist ihm möglich, da <strong>die</strong><br />

attributielle Stellung eines Merkmalbegriffes nicht nur gar nichts darüber<br />

aussagt, ob <strong>die</strong>ser dem Subjektbegriff analytisch gewonnen wurde o<strong>der</strong><br />

synthetisch hinzugefügt, son<strong>der</strong>n auch nicht ein Gr<strong>und</strong> zur Entscheidung<br />

sein kann, ob <strong>die</strong>ses Attribut eine notwendige Folge des Wesens ist: es ist<br />

immerhin möglich (nicht ausgeschlossen). Nur insofern kann im Obersten<br />

Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile <strong>die</strong> attributielle Stellung <strong>der</strong><br />

Ungelahrtheit kein Argument für <strong>die</strong> Konstitutivität <strong>die</strong>ses Merkmals für<br />

den Wesensbegriff des Menschen abgeben.<br />

Kant besitzt also kein logisches Argument für <strong>die</strong> Behauptung, daß <strong>der</strong><br />

Merkmalsbegriff an <strong>der</strong> Stelle des Attributs im untersuchten Satz ein das<br />

Wesen des im Subjektbegriff gedachten Gegenstandes konstituierendes<br />

Bestandstück sei. Allerdings wird <strong>die</strong> Definition des analytischen Urteils<br />

im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischer Urteile 25 durch <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong><br />

relevanten Aussagen in <strong>der</strong> Schrift gegen Eberhard erst verständlich.<br />

Genau das, was unter analytisch im logischen Sinne gemeinhin verstanden<br />

wird, nämlich <strong>die</strong> Ableitung von Begriffen aus Begriffe (von Aussagen aus<br />

Aussagen) macht für Kant nicht den obersten Gr<strong>und</strong>satz aus. Der oberste<br />

Gr<strong>und</strong>satz heißt deshalb analytisch, weil er hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Bestandsstücke ut constitutiva ein metaphysischer Gr<strong>und</strong>satz ist, insofern<br />

also in rein transzendentalanalytischer Hinsicht keine Bedingungen <strong>der</strong><br />

Möglichkeit einer Erkenntnis aus Erfahrung besitzt. 26<br />

b) Zum Modalitätsproblem in einer sprachphilosophisch zentrierten<br />

Logik<br />

Ich kann mich insofern mit <strong>der</strong> Darstellung <strong>die</strong>ser Stelle durch Rainer<br />

Stuhlmann-Laeisz nicht einverstanden erklären, da er das logische Wesen<br />

strikte <strong>und</strong> von vorne herein als reine logische Idee behandelt. So halte ich<br />

sein Zitat aus <strong>der</strong> Wiener Logik nicht für den geeigneten Beleg, meine<br />

Interpretation zu wi<strong>der</strong>legen: »[...] eßentiales, d. i. <strong>die</strong> im Begriffe nicht als<br />

24 l.c., <strong>die</strong> analytische Teilbarkeit des Körpers <strong>und</strong> <strong>die</strong> synthetische Beharrlichkeit <strong>der</strong><br />

Substanz<br />

25 K.r.V., B 192. Um ein analytisches Urteil handelt es sich dann, wenn das Prädikat ein<br />

notwendiges Merkmal des Subjekts aussagt, nicht, wenn man ein Prädikat eines<br />

Dinges vom Begriff desselben abson<strong>der</strong>t.<br />

26 Über eine Entdeckung..., BA 90


-— 101 —<br />

Folgen, son<strong>der</strong>n als Gr<strong>und</strong> liegen, <strong>die</strong>, <strong>die</strong> ad eßentiam ut rationata<br />

pertinent, sind attributa, <strong>die</strong>se müssen aus den eßentiellen abgeleitet<br />

werden.« 27<br />

In <strong>der</strong> Wiener Logik werden <strong>die</strong> Attribute offensichtlich so verwendet, wie<br />

im zweiten Beispiel im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile (Kein<br />

ungelehrter Mensch ist gelehrt). Ich interpretiere hingegen <strong>die</strong> Einteilung<br />

in »eßentiales« <strong>und</strong> »attributa« in <strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhard nicht<br />

dahingehend, daß <strong>die</strong> Ableitung <strong>der</strong> attributa aus einem grammatikalisch<br />

verwertbaren Gr<strong>und</strong> notwendigerweise wesentliche Prädikate ergeben,<br />

wie <strong>die</strong> abgeleiteten Prädikate, <strong>die</strong> ut rationata nach <strong>der</strong> Ableitung aus<br />

dem existierenden Wesen des Begriffes (ad essentiam) nur ihre<br />

Rechtfertigung erfahren können (rationata pertinent). Zwar ist erkenntlich<br />

(vor allem vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Obersten Gr<strong>und</strong>satzes aller<br />

analytischen Urteile), daß Kant <strong>die</strong> wesentliche Verwendung <strong>der</strong><br />

grammatikalisch als Formbegriff gewonnenen Begriff <strong>der</strong> »attributa« kennt<br />

<strong>und</strong> z. T. in abgekürzten Redeweise verwendet, aber auch, daß er doch<br />

dabei bleibt, was er in <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Wesenslogik in <strong>der</strong> Streitschrift<br />

gegen Eberhard letztlich zu den »attributa« sagt: daß sie eben auch<br />

außerwesentliche Merkmale seien können, <strong>die</strong> auch nicht durch ein »ut<br />

rationata« <strong>der</strong> als Prinzipien genommenen »eßentiellen« Prädikate<br />

gerechtfertigt werden könnten. Entgegen <strong>der</strong> Auffassung von Stuhlmann-<br />

Laeisz in <strong>die</strong>ser Frage behaupte ich, daß Kant in seiner Darstellung <strong>der</strong><br />

Wesenslogik in <strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhard selbst nicht nur einen<br />

Beweis <strong>der</strong> reinen Logik vor Augen gehabt hat, son<strong>der</strong>n eben in seiner<br />

ablesbaren Abweichung ein Kalkül skizziert hat, welches <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Prädikate zu vermehren imstand sein soll <strong>und</strong> als solches als das Urbild<br />

eines synthetischen Urteils apriori zu verzeichnen wäre. 28 Stuhlmann-<br />

Laeisz hält hingegen Kant in <strong>der</strong> Wiener Logik noch nicht für fähig, bereits<br />

eine Direktion zur transzendentalen Logik <strong>der</strong> ersten Kritik zu besitzen.<br />

27 Wiener Logik, AA XXIV, p. 838. Diese Darstellung erreicht hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Unterscheidung in Ableitung <strong>und</strong> Begründung nicht das Niveau <strong>der</strong> Darstellung in<br />

<strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhardt.<br />

28 Selbst in <strong>der</strong> Fassung des diskutierten Gedankengangs aus <strong>der</strong> Logik Busolt, <strong>die</strong><br />

einer Interpretation <strong>der</strong> Wesenslogik auf das synthetische Urteil a priori hin zu<br />

wi<strong>der</strong>sprechen scheint (<strong>und</strong> das in einer Logik mit mehr recht, da in <strong>der</strong> rein logischformalen<br />

Betrachtung <strong>die</strong> Erörterung des synthetischen Urteils a priori nicht am<br />

Platze wäre), steht hinter <strong>der</strong> beanspruchten »Ursprünglichkeit« <strong>der</strong> reinen Logik<br />

eine Frage, <strong>die</strong> nicht allein eine <strong>der</strong> formalen (analytischen) Logik sein kann. Das<br />

Zitat lautet: »Das logische Wesen ist complexus omnium conceptum primitiuorium.<br />

Primitiue Merkmahle sind essentialia«(AA XXIV, p. 643)


-— 102 —<br />

Das grammatikalische Argument, daß ein Merkmal als Attribut<br />

ausgedrückt werden kann, vermag nichts darüber zu unterscheiden, ob<br />

das damit verb<strong>und</strong>ene Urteil ein analytisch o<strong>der</strong> ein synthetisches Urteil a<br />

priori sei. Dies sagt Kant in <strong>der</strong> Streitschrift gegen Eberhard, <strong>und</strong> das zeigt<br />

Kant im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile anhand <strong>der</strong><br />

Verwendung des gleichen inhaltlichen Beispiels (<strong>die</strong> Ungelahrtheit des<br />

Menschen) sowohl zur Demonstration für Sätze mit möglicher<br />

Zeitbedingung (ein synthetisches Urteil: Ein unglehrter Mensch ist nicht<br />

zugleich gelehrt) wie für <strong>die</strong> Demonstration von Sätzen über<br />

klassenlogischen Verhältnissen, <strong>die</strong> notwendigerweise keine<br />

Zeitbedingungen grammatikalisch zulassen (ein analytisches Urteil: Kein<br />

ungelahrter Mensch ist gelehrt).<br />

Was <strong>die</strong> Konsequenzen aus den Überlegungen des Obersten Gr<strong>und</strong>satzes<br />

aller analytischer Urteile angeht, gibt es aber eine Annäherung <strong>der</strong><br />

Standpunkte: Obwohl <strong>die</strong> Demonstration <strong>der</strong> Überlegungen Kants im<br />

Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile nicht als geglückt bezeichnet<br />

werden kann, geht doch hervor, was seine Absicht war, darzustellen: Ein<br />

analytisches Urteil ist eines, daß ohne Zeitbedingung, d.h. ohne Beziehung<br />

auf ein an<strong>der</strong>es Dasein (o<strong>der</strong> auch ohne reine Anschauung!) möglich ist.<br />

Gerade <strong>die</strong> wesenslogisch unverständlich bleibende Verwendung des<br />

gleichen Begriffes <strong>der</strong> Ungelahrtheit in beiden Beispielssätzen kann nur<br />

bedeuten, daß Kant gar nicht in den Sinn gekommen ist, den obersten<br />

analytischen Gr<strong>und</strong>satz etwa wesenslogisch zu begründen, obwohl er<br />

<strong>der</strong>gleichen Argumente anführt. Vielmehr ist es für <strong>die</strong> formale Logik<br />

selbst als gleichgültig anzusehen, ob <strong>die</strong> Ungelahrtheit nun ein<br />

wesenskonstituierendes Merkmal ist o<strong>der</strong> nicht. Ich werde versuchen zu<br />

zeigen, daß Kant hier <strong>die</strong> Wesensfrage auf <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Logik beschränkt<br />

hat. Kant wi<strong>der</strong>spricht mit seiner Behandlung <strong>der</strong> Zeitbedingung des<br />

principiums contradictionis nicht so sehr Aristoteles, als daß er eine<br />

Unterscheidung interpretiert, <strong>die</strong> Aristoteles in einem an<strong>der</strong>en<br />

Zusammenhang selbst getroffen hat. Die verschiedenen Formulierungen<br />

von Aristoteles scheinen zu zeigen, daß in <strong>der</strong> Logik auf <strong>die</strong> Bedingung<br />

des Zugleichseins zur Formulierung des principium contradictionis unter<br />

bestimmten Umständen verzichtet werden kann:<br />

(1) »Dasselbe kann demselben unter demselben Gesichtspunkt nicht<br />

zugleich zukommen <strong>und</strong> nicht zukommen.«<br />

(2) »Gutsein sei A, nicht gut sein sei B ..., jedem wird dann entwe<strong>der</strong> A<br />

o<strong>der</strong> B zukommen <strong>und</strong> keinem <strong>die</strong> beiden.«


-— 103 —<br />

(3) »Es ist unmöglich daß sich wi<strong>der</strong>sprechende (Aussagen) zugleich wahr<br />

seien.«<br />

(4) »Es ist unmöglich, zugleich mit Wahrheit zu behaupten <strong>und</strong> zu<br />

verneinen.« 29<br />

Bochenskys Kommentar unterscheidet <strong>die</strong> ersten beiden Sätze von den<br />

folgenden dahingehend, daß sie in Objektsprache, <strong>die</strong> beiden letzten in<br />

Metasprache abgefaßt sind. Hier interessiert aber, daß das zweite Zitat von<br />

vornherein ohne <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins auskommt <strong>und</strong> das<br />

dritte Zitat, ganz wie Kant im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen<br />

Urteile zeigt, auf <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins verzichten kann, denn<br />

anstatt zu sagen: »Es ist unmöglich, daß sich wi<strong>der</strong>sprechende (Aussagen)<br />

zugleich wahr seien«, ist es ebenso möglich zu sagen, es sei unmöglich,<br />

eine Aussage mit Wahrheit sowohl zu behaupten wie zu verneinen, o<strong>der</strong><br />

kürzer, daß es unmöglich sei, daß von zwei sich wi<strong>der</strong>sprechenden<br />

Aussagen beide wahr sind. 30 Denn <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins ist mit<br />

<strong>der</strong> behaupteten Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit zweier Sätze we<strong>der</strong> implizite<br />

vorausgesetzt, noch eine notwendige synthetische Bedingung, werden <strong>die</strong><br />

Aussagen nicht schon als empirische Aussagen (Objektsprache) behandelt.<br />

Es war für Aristoteles sinnvoller, <strong>die</strong>se Bedingung als außerlogische<br />

Bedingung hervorzuheben, weshalb er das Zugleichsein hinzugefügt hat.<br />

Aristoteles formuliert das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in <strong>der</strong><br />

Hermeneia objektsprachlich mit, metasprachlich aber ohne jede<br />

Zeitbedingung: »Handelt es sich um das, was ist, <strong>und</strong> um das, was<br />

gewesen ist, so ist es notwendig, daß entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong> Bejahung o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Verneinung wahr o<strong>der</strong> falsch sei, <strong>und</strong> bei dem, was vom Allgemeinen<br />

allgemein [ausgesagt wird], daß eine immer wahr, das an<strong>der</strong>e [falsch]<br />

ist.« 31<br />

Kant behandelt nun <strong>die</strong> Zeitbedingung, <strong>die</strong> dem »zugleich« vorausgesetzt<br />

ist, ebenfalls als außerlogische Bedingung, <strong>und</strong> schließt im analytischen<br />

Gr<strong>und</strong>satz deshalb <strong>die</strong> Zeitbedingung aus <strong>der</strong> Formulierung aus. Die<br />

29 I. M. Bochensky, Formale Logik, Freiburg 1956: 12.19 (Met.VII 31005B 19 f.), 12.20<br />

(An.Pr. A 46, 51b 36-40), 12. 21(Met.VII 6, 1011b 16), 12. 22 (AaO. 20 f.)<br />

30 K.r.V., B 119 f..Vgl. auch Top. B 7, 113a25f.: „Es ist unmöglich, daß Konträre zugleich<br />

dem gleichen zukommen.“ Das Zugleichsein wäre demnach nicht mit<br />

Notwendigkeit für den kontradiktorischen Gegensatz hinzuzufügen, da das<br />

Zugleichsein aus dem Gegenteil von Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit für Aussagen über<br />

Wirkliches eine analytische Folge ist. Das gilt allerdings auch für parallele Prozesse:<br />

Gegenwart.<br />

31 Hermeneia, 9, 18a28-31


-— 104 —<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Aussage än<strong>der</strong>t sich mit <strong>der</strong> Wegnahme des »zugleich«<br />

nicht. 32 Insofern hat <strong>die</strong> bloß logische Reflexion ihre Zeitbedingung im<br />

Rücken, aber nicht zum Thema. So ist es logisch auch gleichgültig, ob ich<br />

das principium contradictionis mit o<strong>der</strong> ohne Zeitbedingung formuliere: Daß<br />

ein Mensch zu einer Zeit ungelehrt, zu einer an<strong>der</strong>en gelehrt sein kann, ist<br />

auch für das analytische Urteil »Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt« nicht<br />

falsch, es gibt bloß grammatikalisch keine Gelegenheit <strong>und</strong> keine<br />

Notwendigkeit, in <strong>die</strong>sem Satz <strong>die</strong> Zeitbedingung auszudrücken. Diese<br />

Möglichkeit besteht hingegen im ersten Satz: »Ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt<br />

ist, ist nicht gelehrt«, aber eben nur als Möglichkeit, nicht als<br />

Notwendigkeit, wie Kant glauben zu machen scheint. Die Hinzufügung<br />

<strong>der</strong> Bedingung des Zugleichseins ergibt sich erst, wenn <strong>die</strong> Aussage<br />

objektsprachlich zu verstehen ist, also erst dann, wenn <strong>die</strong> Objekte <strong>der</strong><br />

Aussage eine Zeitbedingung überhaupt erst mit sich bringen.<br />

Die einzige Information, <strong>die</strong> beide Sätze hergeben ist <strong>die</strong>, daß das ,nicht<br />

gelehrt‘ das gleiche bedeutet wie ,ungelehrt‘, also <strong>die</strong> Identität von »X ist<br />

nicht Y« <strong>und</strong> »X ist Nicht-Y« behauptet wird. Das ist aber offensichtlich<br />

eine Identsetzung, <strong>und</strong> nicht eine echte Aussage: ersteres behauptet <strong>die</strong><br />

Nichtgeltung eines Prädikats Y von X, zweiteres behauptet, daß alle<br />

Merkmale, <strong>die</strong> nicht X zukommen, einem fiktiven Gegenstand Y<br />

zukommen, <strong>und</strong> das sind sicherlich zwei völlig verschiedene<br />

Behauptungen. Beide Sätze setzen <strong>die</strong>se Festsetzung als<br />

sprachnormierende Feststellung voraus <strong>und</strong> sprechen sie nur mit <strong>und</strong><br />

ohne Zeitbedingung verneinend aus, doch aber bedeuten sie nicht das<br />

selbe. Der Satz: »Ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt« besagt<br />

soviel wie, es kann von X nicht sowohl Nicht-Y wie auch Y behauptet<br />

werden, hingegen drückt <strong>der</strong> Satz: »Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt«<br />

genau genommen aus, daß »X als Nicht-Y ist nicht Y«. Ersterer betrifft das<br />

principium contradictionis, zweiterer ist identitätslogisch ausgedrückt.<br />

An<strong>der</strong>s wie das ,kein‘ verhin<strong>der</strong>t nun im ersten Beispielsatz das<br />

eingefor<strong>der</strong>te ,zugleich‘ <strong>die</strong> Tautologie, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> konventionalistischen<br />

Festsetzung <strong>der</strong> Identät bei<strong>der</strong> Ausagen (X ist Nicht-Y, X ist nicht Y) droht:<br />

Während das ,kein‘ <strong>die</strong> semantische Normierung <strong>der</strong> Prädikate<br />

klassenlogisch ausdrückt <strong>und</strong> so keinerlei eigene Zeitbedingung besitzen<br />

32 Vgl. <strong>die</strong> »überfüllte Vorstellung« Bolzanos, in: Wissenschaftslehre. Versuch einer<br />

ausführlichen <strong>und</strong> größtenteils neuen Darstellung <strong>der</strong> Logik mit steter Rücksicht auf<br />

<strong>der</strong>en bisherigen Bearbeiter, Sulzbach 1837, § 69.


-— 105 —<br />

kann, erweitert <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Zeitbedingung <strong>die</strong><br />

Wahrheitskriterien auf <strong>die</strong> Erfahrung. Mit o<strong>der</strong> ohne <strong>die</strong>se Zeitbedingung<br />

ist <strong>der</strong> erste Beispielsatz ebenso immer wahr, wenn man <strong>die</strong><br />

Gleichbedeutung von ,ungelehrt‘ <strong>und</strong> ,nicht gelehrt‘ schon einmal<br />

voraussetzt, wie <strong>der</strong> zweite Beispielsatz, wie schon vorhin ausgeführt.<br />

Aber erst nach <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Zeitbedingung überhaupt kann im<br />

Gegenzug <strong>die</strong> Frage nach dem Zugleichsein gestellt werden: Das<br />

»Zugleichsein« setzt <strong>die</strong> Zeitbedingung als Verfließen <strong>der</strong> Zeit wie als<br />

Sukzessivität voraus; <strong>die</strong> Negation <strong>die</strong>ser Zeitbedingung ist dann als<br />

Limitation im scholastischen Grenzwertproblem <strong>die</strong> Bedingung des<br />

Zugleichseins. Die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Zeitbedingung im obersten<br />

Gr<strong>und</strong>satz des analytischen Urteils, als klassenlogische Aussage begriffen,<br />

kann nicht auf ähnliche Weise als bloße Negation <strong>der</strong> Zeitbedingung<br />

verstanden werden, es sei denn als — in einem bei Kant unüblichen Sinn<br />

aufgefaßte — transzendentale Negation, welche zumindest das intelligible<br />

Subjekt von <strong>der</strong> Aufhebung des Daseins ausnimmt.<br />

<br />

Es gibt aber neben den Bedingungen noch <strong>die</strong> Folgen des »Zugleichseins«<br />

zu bedenken, nämlich indem das »Zugleichsein« als Bedingung zur<br />

Teilung eines Kontinuums fungiert: Es ist offensichtlich, daß <strong>die</strong> Frage<br />

nach dem »Zugleichsein« nicht ohne dem Aspekt <strong>der</strong> Gegenwart<br />

behandelt werden kann. Die Gegenwart hat <strong>die</strong> Dauer im Verfließen <strong>der</strong><br />

Zeit zum Inhalt, sie setzt einerseits Substanz <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits <strong>die</strong><br />

Kontinuität <strong>der</strong> Phänomene voraus. Insofern <strong>die</strong> Gegenwart zur<br />

Feststellung <strong>der</strong>en objektiven Realität im Bewußtsein das »Zugleichsein«<br />

benötigt, ist doch auch <strong>die</strong> Kontinuität <strong>der</strong> verfließenden Zeit in <strong>der</strong><br />

subjektiven (inneren) Sinnlichkeit für <strong>die</strong> Konstitution des Horizontes <strong>der</strong><br />

Gegenwart notwendig — <strong>die</strong> Gegenwart aber umgreift den bloß<br />

intellektuellen Punkt <strong>der</strong> Teilung (»Jetzt«) im Moment des feststellenden<br />

Urteils als Teilung des Kontinuums in ein Vorangehendes <strong>und</strong> in ein<br />

Nachfolgendes. Die Dauer <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gegenwart ist <strong>die</strong> Voraussetzung, daß<br />

ein Kontinuum (<strong>die</strong> verfließende Zeit) geteilt werden kann. Daraus ist<br />

zunächst we<strong>der</strong> <strong>die</strong> Kausalität noch <strong>der</strong> bloße Wechsel mit <strong>der</strong><br />

Sukzessivität <strong>der</strong> Zeit bestimmt, son<strong>der</strong>n bloß <strong>die</strong> Teilung des Kontinuums<br />

in zwei Hälften, <strong>die</strong> bei <strong>der</strong> weiteren Voraussetzung <strong>der</strong> Unendlichkeit des<br />

Kontinuums bloß zu zwei entgegengesetzten Richtungen werden (vgl. <strong>die</strong><br />

Orientierung im Raum).


-— 106 —<br />

Das »Zugleichsein« ist also nur unter <strong>der</strong> Voraussetzung des Verfließen<br />

<strong>der</strong> Zeit, <strong>der</strong> transzendentalanalytischen Fassung desselben als Kontinuität<br />

des inneren Sinnes <strong>und</strong> <strong>der</strong> weiters <strong>die</strong> Dauer voraussetzende Gegenwart<br />

weiter bestimmbar (woraus in Folge <strong>die</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Idee von <strong>der</strong><br />

Substanz entspringt), führt aber selbst we<strong>der</strong> zur Bestimmung <strong>der</strong> Zeit zur<br />

Sukzessivität o<strong>der</strong> zur Kausalität. Der Erklärungsversuch des<br />

»Zugleichseins« zur »objektiven Realität« setzt in <strong>der</strong> Kategorie des<br />

Commerciums allerdings nicht nur <strong>die</strong> Gegenwart <strong>und</strong> <strong>die</strong> Substanz als<br />

Bedingung <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Teilung, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sukzessivität<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Kausalität <strong>der</strong> Zeit nach <strong>der</strong> Teilung, son<strong>der</strong>n noch <strong>die</strong><br />

Mannigfaltigkeit des Raumes voraus. Das »Zugleichsein« bleibt als bloße<br />

Negation <strong>der</strong> Zeitbedingung selbst ohne räumliche Eigenschaften son<strong>der</strong>n<br />

setzt zur Bestimmung seiner »objektiven Realität« <strong>die</strong> Realität des Raumes<br />

auch schon unabhängig von dessen Anschauungsform (<strong>und</strong> so<br />

unabhängig vom Problem <strong>der</strong> Teilung des Kontinuums)<br />

transzendentalsubjektivistisch mit <strong>der</strong> Intentionalität je<strong>der</strong> Art von<br />

Aufmerksamkeit voraus. Die Kriterien <strong>der</strong> objektiven Gültigkeit eines<br />

Urteils, <strong>die</strong> nach Kant selbst für <strong>die</strong> Geometrie auf objektive Realität<br />

beruhen, sind auch für das Zugleichsein allein mit <strong>der</strong> subjektiven<br />

Deduktion noch nicht gegeben.<br />

Es handelt sich hier bei <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Zeitbedingung aber<br />

wohlgemerkt nicht um eine psychologische For<strong>der</strong>ung an <strong>die</strong><br />

Phänomenologie des Subjekts, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zeitlichkeit des Urteilsaktes zur<br />

Begründung <strong>der</strong> Logik thematisierte <strong>und</strong> dabei etwa auf ein ideales<br />

Zugleichsein <strong>der</strong> Evidenz stößt. Obgleich also schon mit <strong>der</strong> Gegenwart<br />

<strong>die</strong> Individualität eines Standpunktes im Raum <strong>und</strong> somit auch <strong>die</strong><br />

Subjektivität angesprochen worden sind, wird ersichtlich, daß <strong>die</strong>ser<br />

Themenkreis in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> »objektiven Realität« des<br />

»Zugleichseins« nicht zur Lösung <strong>der</strong> Aufgabenstellung son<strong>der</strong>n bloß zur<br />

Exponation herangezogen wird, wenn auch <strong>die</strong> Subjektivität <strong>und</strong><br />

Individualität als Moment <strong>der</strong> Gegenwart in Stellung zu halten sind.


-— 107 —<br />

4) Die modallogische Erörterung: Zur Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />

Kategorien von den metaphysischen Anfangsgründen <strong>der</strong><br />

Substanz <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ursache<br />

Im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile ersetzt Kant <strong>die</strong><br />

Bedingung des Zugleichseins durch <strong>die</strong> Wesenslogik, indem <strong>die</strong> logische<br />

Subsumtion das Denken dazu führt, zuerst <strong>die</strong> qualitative Einheit eines<br />

obersten Begriffes zu denken. 33 Die Pointe Kants liegt also darin, daß er <strong>der</strong><br />

ersten Formulierung 34 <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins zugemutet hat, <strong>der</strong><br />

zweiten 35 aber nicht; ohne aber <strong>die</strong> außergrammatikalischen Gründe dafür<br />

befriedigend darstellen zu können.<br />

Daraus erhellt sich auch, daß Kant mit <strong>der</strong> Unterscheidung in<br />

hypothetische Urteile <strong>und</strong> kategorische Urteile im § 19 vermeint, <strong>die</strong><br />

ersteren <strong>der</strong> bloß subjektiven (synthetischen), <strong>die</strong> zweiteren aber <strong>der</strong><br />

objektiven (analytischen) Einheit des Bewußtseins zuordnen zu können.<br />

Die Zeitlichkeit des hypothetischen Urteils wird aber im synthetischen<br />

Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalität selbst in <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> Zeit verlegt: »das<br />

Verhältnis bleibt, wenn gleich keine Zeit verlaufen ist«. 36 Damit wird <strong>der</strong><br />

Prius des kategorischen Urteils betreffs <strong>der</strong> Apodiktizität, <strong>der</strong> noch im § 19<br />

ersichtlich war, auf das hypothetische Urteil übertragen. Jedoch würde<br />

man irren, glaubte man, Kant würde einfach annehmen, daß im Falle des<br />

Zugleichseins von Ursache <strong>und</strong> Wirkung keine Zeit verlaufen sei, denn es<br />

wird eine beschleunigte Bewegung o<strong>der</strong> <strong>die</strong> erzeugte Wärme immer <strong>die</strong><br />

Wirkung einer andauernden Ursache sein. Die beson<strong>der</strong>e Schwierigkeit<br />

liegt hier in <strong>der</strong> Frage, wie klein <strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> andauernden Ursache<br />

gedacht werden kann, um eine Wirkung zu erzielen, <strong>und</strong> unterscheidet<br />

sich vom Problem <strong>der</strong> Sollizitation im Stoß, <strong>die</strong> Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />

33 K.r.V., §12, zur qualitativen Einheit des Begriffes: „So ist das Kriterium <strong>der</strong><br />

Möglichkeit eines Begriffes (nicht des Objekt desselben) <strong>die</strong> Definition, in <strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Einheit des Begriffes, <strong>die</strong> Wahrheit alles dessen, was aus ihm abgeleitet werden<br />

mag, endlich <strong>die</strong> Vollständigkeit dessen, was aus ihm gezogen worden, zur<br />

Herstellung des ganzen Begriffs das Erfor<strong>der</strong>liche desselben ausmacht.“ (B 115)<br />

34 Ein Mensch, <strong>der</strong> ungelehrt ist, ist nicht gelehrt.<br />

35 Kein ungelehrter Mensch ist gelehrt.<br />

36 »Hier äußert sich aber noch eine Bedenklichkeit, <strong>die</strong> gehoben werden muß. Der Satz<br />

<strong>der</strong> Kausalverknüpfung unter den Erscheinungen ist in unserer Formel auf <strong>die</strong><br />

Reihenfolge eingeschränkt, da es sich doch bei dem Gebrauch desselben findet, daß<br />

er auch auf ihre Begleitung passe, <strong>und</strong> Ursache <strong>und</strong> Wirkung zugleich sein<br />

könne.«(B 247)<br />

»Hier muß man wohl bemerken, daß es auf <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> Zeit, <strong>und</strong> nicht den<br />

Ablauf <strong>der</strong>selben angesehen sei; das Verhältnis bleibt, wenn gleich keine Zeit<br />

verlaufen ist.“«(B 248)


-— 108 —<br />

auch <strong>der</strong> verlaufenden Zeit nach trennt <strong>und</strong> vor <strong>der</strong> Bewegungsän<strong>der</strong>ung<br />

des gestoßenen Körpers noch den Moment <strong>der</strong> Wirkung des anlaufenden<br />

Körpers auf <strong>die</strong> Elastizität des gestoßenen Körper untersucht.<br />

Es ist also festzuhalten, daß zwar in <strong>der</strong> Kategorie eine Zeitordnung<br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Beziehung von Ursache <strong>und</strong> Wirkung im reinen<br />

Verstandesbegriff gedacht wird <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Begriff selbst jedenfalls<br />

unzeitlich ist, doch aber in <strong>der</strong> Anwendung inhaltlich immer auf <strong>die</strong><br />

verlaufende Zeit bezogen bleibt. Darin unterscheidet sich <strong>die</strong> Kategorie<br />

von <strong>der</strong> bloß logischen Definition des Begriffes, daß alles, was in einem<br />

Begriff wi<strong>der</strong>spruchsfrei gedacht werden kann, denkmöglich ist, aber<br />

doch, da ihm ein Gr<strong>und</strong> we<strong>der</strong> a priori noch a posteriori gegeben werden<br />

kann, auch falsch o<strong>der</strong> zumindest gr<strong>und</strong>los sein kann. 37 Die Kategorie gibt<br />

hingegen <strong>die</strong> Bedingung, um von <strong>der</strong> bloßen Denkmöglichkeit zur<br />

Realmöglichkeit überzugehen. Daß <strong>der</strong> Satz: »Was nicht zugleich möglich<br />

ist, ist nacheinan<strong>der</strong> möglich« nach dem Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller<br />

analytischen Urteile ein synthetischer Satz ist 38 , ist nach <strong>der</strong> Vorüberlegung<br />

zum synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Kausalität dahingehend<br />

zu verstehen, daß <strong>die</strong> Möglichkeit in <strong>die</strong>sem Satz bereits als<br />

Realmöglichkeit betrachtet wird.<br />

❆<br />

Konrad Cramer 39 hat den entscheidenden Beitrag zur Erhellung des<br />

son<strong>der</strong>baren Umstandes geleistet, daß Kant <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

damit verknüpft, daß <strong>die</strong> Bestimmungen des Daseins, <strong>die</strong> nur<br />

nacheinan<strong>der</strong> an ein <strong>und</strong> demselben gelten können, kontradiktorisch<br />

entgegengesetzt sein sollen. Dies stellt Kant beson<strong>der</strong>s deutlich in <strong>der</strong><br />

Reflexion Refl. 5805 dar, was hinsichtlich <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong><br />

Zeitbedingung im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile mit zu<br />

bedenken ist: »Verän<strong>der</strong>ung ist <strong>die</strong> Verknüpfung kontradiktorisch<br />

einan<strong>der</strong> entgegengesetzter Bestimmungen in dem Dasein eines Dinges<br />

(<strong>die</strong> doch dem Begriffe des Dinges nicht wi<strong>der</strong>sprechen, son<strong>der</strong>n nur<br />

praedicatum praedicato, nicht subjecto oppositum). Was macht das<br />

möglich, was nach dem bloßen Begriff eines Dinges unmöglich ist? Die<br />

Zeit (determinationes oppositae können einan<strong>der</strong> bloß succe<strong>die</strong>ren.) Also<br />

37 B 190<br />

38 B 191<br />

39 Konrad CRAMER, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem <strong>der</strong><br />

Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, C. Winter Universitätsverlag,<br />

Heidelberg 1985


-— 109 —<br />

ist <strong>die</strong> Zeit nicht zu den Begriffen <strong>der</strong> Dinge an sich gehörig, son<strong>der</strong>n zu<br />

<strong>der</strong> Art, wie wir sie sie anschauen.« 40<br />

Kant erklärt den kontradiktorischen Gegensatz also damit, daß sich hier<br />

<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch nur zwischen den Prädikaten eines Dinges, nicht<br />

zwischen Prädikat <strong>und</strong> Subjektbegriff herstellt. 41 Zwar begründet Kant im<br />

synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalität <strong>die</strong> Möglichkeit eines Begriffes<br />

nicht mehr allein auf <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsfreiheit, son<strong>der</strong>n bereitet den<br />

Übergang von <strong>der</strong> bloßen Denkmöglichkeit zur Realmöglichkeit vor,<br />

jedoch hat er zuvor, sofern <strong>der</strong> Begriff nicht dem Dasein nach durchgängig<br />

determiniert ist (ein bloßes, aber doch transzendentales Ideal), <strong>die</strong> logische<br />

Zufälligkeit <strong>der</strong> Prädikatsverhältnisse eines Dinges wie <strong>die</strong> logische<br />

Zufälligkeit des an sich unbestimmten Dinges, schließlich noch <strong>die</strong><br />

logische Zufälligkeit von Existenz von etwas behauptet. 42 Offenbar ist hier<br />

vom Ding noch nicht im kategorialen Sinn <strong>die</strong> Rede. — Zufälligkeit ist aber<br />

selbst eine modale Kategorie <strong>und</strong> wird von Kant im folgenden Satz <strong>der</strong><br />

Anmerkung zur Thesis <strong>der</strong> vierten Antinomie am deutlichsten formuliert:<br />

»Zufällig, im reinen Sinne <strong>der</strong> Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches<br />

Gegenteil möglich ist.« 43<br />

Wenn Prädikatsverhältnisse eines Dinges ebenso wie das Ding logisch<br />

zufällig genannt werden müssen, verliert <strong>die</strong> behauptete Regel: Das, was<br />

nicht zugleich möglich, aber nacheinan<strong>der</strong> möglich ist, steht mit Notwendigkeit in<br />

einem kontradiktorischen Gegensatz zueinan<strong>der</strong>, ihre Kraft, eine nähere<br />

Bestimmung zu begründen. — Kant setzt im obigen Zitat fort: »[...] Was<br />

verän<strong>der</strong>t wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer an<strong>der</strong>en<br />

Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist <strong>die</strong>ses nicht das<br />

kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfor<strong>der</strong>t wird,<br />

daß in <strong>der</strong>selben Zeit, da <strong>der</strong> vorige Zustand war, an <strong>der</strong> selben Stelle<br />

40 Hervorhebungen von K.Cramer. Vgl. auch K.r.V.: »Verän<strong>der</strong>ung ist Verbindung<br />

kontradiktorisch einan<strong>der</strong> entgegengesetzten Bestimmungen im Dasein ein <strong>und</strong><br />

desselben Dinges.« (B 291), auch B 232, B 233, A 206 f./B 252 <strong>und</strong> A 459/B 487 f.. Daß<br />

<strong>die</strong>se Auffassung schon in <strong>der</strong> vorkritischen Zeit von Kant vertreten wurde, belegen<br />

<strong>die</strong> Refl. 3768, 3771, 3838, 4041, 4060, 4486, 5266.<br />

41 Vgl. auch K. r. V.,B 192<br />

42 CRAMER 1985: p. 168, Refl. 5796: »Alles Verän<strong>der</strong>liche ist durch seinen Begriff in<br />

Ansehung <strong>der</strong> praedicatorum oppositorum unbestimmt, also logisch zufällig.« Vgl.<br />

auch Refl. 3838: »Das Gegenteil eines Prädikats zu einer an<strong>der</strong>en Zeit beweiset, daß<br />

das Subjekt an <strong>und</strong> vor sich selbst in Ansehung <strong>der</strong>selben unbestimmt sei.« Dazu<br />

ergänzend Refl. 5794: »Alle Verän<strong>der</strong>lichkeit beweiset <strong>die</strong> Zufälligkeit des Dinges<br />

nach bloßen Begriffen des Verstandes, weil durch den Begriff es nicht dem Dasein<br />

nach, mithin durchgängig determiniert ist.«<br />

43 K. r. V., A 456/B 486 f.. Kant zitiert damit <strong>die</strong> Definition des Kontingenten <strong>der</strong><br />

Leibniz-Wolffschen Ontologie, vgl. CRAMER 1985, p. 39.


-— 110 —<br />

desselben sein Gegenteil hätte sein können, welches aus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

gar nicht geschlossen werden kann. [...] Also beweist <strong>die</strong> Sukzession<br />

entgegengesetzter Bestimmungen, d.i. <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung, keineswegs <strong>die</strong><br />

Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes.« 44<br />

Im ersten Abschnitt des Zitates fügt Kant <strong>die</strong> Bedingung eines bestimmten<br />

Zeitpunktes zum principium contradictionis hinzu, sodaß <strong>die</strong> Vorstellung,<br />

aufeinan<strong>der</strong>folgende Zustände eines Dinges (Arten, zu existieren) könnten<br />

sich in einem kontradiktorischen Gegensatz ausdrücken lassen, nach <strong>der</strong><br />

Erklärung am Anfang des Obersten Gr<strong>und</strong>satzes aller analytischer Urteile<br />

völlig unmöglich wird. 45 Im zweiten Abschnitt des Zitates wird <strong>die</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ung bereits als Sukzession <strong>der</strong> entgegengesetzten Bestimmungen<br />

angeführt, ohne anzugeben, in welchem Sinn <strong>die</strong> Entgegensetzung<br />

verstanden werden soll. Es wird <strong>die</strong> Behauptung <strong>der</strong> notwendigen<br />

Zufälligkeit des vorhergehenden Zustandes in Bezug auf den<br />

nachfolgenden Zustandes hinsichtlich ein <strong>und</strong> desselben Dinges wi<strong>der</strong>legt<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>se Entgegensetzung zwischen den vorhergehenden <strong>und</strong> dem<br />

nachfolgenden Zustand behauptet. Allein mit <strong>die</strong>ser letzten Behauptung<br />

könnte nur rein intellektuell aus dem Gegenteil geschlossen<br />

(„epagogisch“) dann auch schon <strong>die</strong> Folgerung gezogen werden, daß <strong>die</strong><br />

Sukzession keineswegs von <strong>der</strong> Zufälligkeit nach Begriffen des reinen<br />

Verstandes sei. Das schränkt <strong>die</strong> Unbestimmtheit <strong>der</strong> logischen<br />

Zufälligkeit ein <strong>und</strong> folgt <strong>der</strong> Unterscheidung in Denkmöglichkeit <strong>und</strong><br />

Realmöglichkeit, aber doch nur aufgr<strong>und</strong> des völlig unverstandenen<br />

Begriffes <strong>der</strong> Entgegensetzung. 46 Die einfache Feststellung, <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Entgegensetzung sei eben <strong>der</strong> durch <strong>die</strong> empirische Erfahrung gegebene<br />

allgemeine Begriff <strong>der</strong> Kraft, einmal als Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bewegung<br />

(Verän<strong>der</strong>ung) <strong>und</strong> einmal als Gr<strong>und</strong> des Wi<strong>der</strong>standes, mag in den<br />

M.A.d.N. zulässig sein, kann hier aber nicht befriedigen. 47 Was Kant<br />

44 l. c.<br />

45 B 192/A 153<br />

46 Kant scheint <strong>die</strong>s nicht im jeden Fall als Hin<strong>der</strong>nisgr<strong>und</strong> anzusehen, um<br />

Schlußfolgerungen zu erlauben: »In <strong>der</strong> Philosophie <strong>und</strong> namentlich in <strong>der</strong><br />

Metaphysik kann man oft sehr viel von einem Gegenstande deutlich <strong>und</strong> mit<br />

Gewißheit erkennen, auch sichere Folgerungen daraus ableiten, ehe man <strong>die</strong><br />

Definition desselben besitzt, auch selbst denn, wenn man es gar nicht unternimmt,<br />

sie zu geben.« (Nat.Theol. A 80)<br />

47 In den M. A. d. N. setzt sich <strong>die</strong>se Spaltung fort, besitzt aber eine überraschende<br />

Pointe. In <strong>der</strong> Zweiten Anmerkung <strong>der</strong> ersten Erklärung zur Phoronomie schreibt<br />

Kant: »Schließlich merke ich noch an: daß, da <strong>die</strong> Beweglichkeit eines Gegenstandes<br />

im Raum a priori <strong>und</strong> ohne Belehrung durch <strong>die</strong> Erfahrung nicht erkannt werden<br />

kann, sie von mir eben darum in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> r. V. auch nicht unter <strong>die</strong> reinen


-— 111 —<br />

behauptet, ohne dafür einen hinreichend deutlichen Gr<strong>und</strong> angeben zu<br />

können, ist: »Außer <strong>der</strong> Zufälligkeitgehört noch etwas mehr zur<br />

Verän<strong>der</strong>lichkeit. Die Sukzession <strong>der</strong> Zustände ist Verän<strong>der</strong>ung.« 48<br />

Es geht um den Gr<strong>und</strong>, weshalb Zufälligkeit allein nicht ausreicht, um <strong>die</strong><br />

Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit zu erfüllen. Zwar soll nach wie vor gelten,<br />

daß nur jene Prädikate kontradiktorisch entgegengesetzt sind, welche zu<br />

einem bestimmten Zeitpunkt am selben Substrat zugleich nicht sein<br />

konnten, doch ist damit für das allgemeinere Verhältnis des Prädikats, das<br />

vergeht, <strong>und</strong> jenem, das anhebt, auch gar nichts Näheres bestimmt<br />

worden: we<strong>der</strong> ob <strong>die</strong>se Abfolge <strong>der</strong> Prädikate einen kontradiktorischen<br />

Gegensatz, einen noch nicht näher spezifizierbaren empirischen Gegensatz<br />

o<strong>der</strong> gar keinen Gegensatz beinhaltet. Vielmehr scheint von hier aus alles<br />

möglich. — Wohl soll <strong>der</strong> reine Verstandesbegriff als Kategorie gegenüber<br />

<strong>der</strong> bloßen logischen Funktion bereits eine konstitutive Einschränkung des<br />

nach dem principium contradictionis schon eingeschränkten Denkmöglichen<br />

sein, doch kann er <strong>die</strong>s anscheinend bislang nur dann leisten, wenn <strong>die</strong><br />

Gültigkeit <strong>der</strong> Verstandesbegriffe als Kategorie allein auf den<br />

Metaphysischen Anfangsgründen von Substanz <strong>und</strong> Kausalität beruht.<br />

Was aber bleibt dann vom reinen Verstandesbegriff als das Schema <strong>der</strong><br />

Darstellung nach einem Prinzip a priori? Mit Rücksicht auf <strong>die</strong><br />

Schwierigkeit, was Entgegensetzung <strong>und</strong> Opposition für sich bedeuten<br />

können, soll noch eine Möglichkeit vorgeschlagen werden, um <strong>die</strong> Weisen,<br />

eine Entgegensetzung zu beschreiben, zu präzisieren:<br />

»Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist. Verän<strong>der</strong>lich:<br />

das in Verknüpfung mit seinem Gegenteil möglich ist. Bei aller<br />

Verän<strong>der</strong>ung sind: 1. oppositae determinationes, quatenus eidem<br />

Verstandesbegriffe gezählt werden konnte, <strong>und</strong> daß <strong>die</strong>ser Begriff als empirisch nur<br />

in einer Naturwissenschaft als angewandter Metaphysik, welche sich mit einem<br />

durch Erfahrung gegebenen Begriffe, obwohl nach Prinzipien a priori; beschäftigt,<br />

Platz finden könne.« (A 4)<br />

In <strong>der</strong> Anmerkung zur vierten Erklärung ist nun zu lesen: »Zur Konstruktion <strong>der</strong><br />

Begriffe wird erfo<strong>der</strong>t: daß <strong>die</strong> Bedingung ihrer Darstellung nicht von <strong>der</strong> Erfahrung<br />

entlehnt sei, also auch nicht gewisse Kräfte voraussetze, <strong>der</strong>en Existenz nur von <strong>der</strong><br />

Erfahrung abgeleitet werden kann, o<strong>der</strong> überhaupt, daß <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />

Konstruktion nicht selbst ein Begriff sein müsse, <strong>der</strong> gar nicht a priori in <strong>der</strong><br />

Anschauung gegeben werden kann, wie z.B. <strong>der</strong> von Ursache <strong>und</strong> Wirkung,<br />

Handlung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand etc.«(A 14). Die Prinzipien a priori zur Darstellung<br />

demonstriert Kant im Begriff einer zusammengesetzten Bewegung. Hier stehen den<br />

reinen Prinzipien a priori nach dem Vorbild <strong>der</strong> Geometrie <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong><br />

Natur (<strong>die</strong> metaphysischen Anfangsgründe: Ursache <strong>und</strong> Wirkung, Handlung <strong>und</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stand; zuvor <strong>die</strong> Beweglichkeit selbst) entgegen.<br />

48 Refl. 4816


-— 112 —<br />

competunt. 2. sucessio ear<strong>und</strong>em. Die Möglichkeit <strong>der</strong> Mutation ist nicht<br />

aus <strong>der</strong> bloßen Contingenz zu erkennen. Denn weil es möglich ist, daß<br />

anstatt eines Prädikats ein an<strong>der</strong>es sei, so ist daraus noch nicht zu<br />

erkennen, daß das Subjekt <strong>die</strong> opposita nach einan<strong>der</strong> habe.« 49 Diese<br />

Reflexion ist zunächst deshalb von Interesse, weil hier <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />

Entgegensetzung (»Gegenteil«) einmal in <strong>der</strong> Definition des Zufalls <strong>und</strong><br />

einmal in <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung auf eine Weise gebraucht wird,<br />

daß <strong>die</strong>se Definitionen zunächst beide ohne Zeitbedingung auf <strong>die</strong><br />

Unterscheidung in bloße Prädikatsverhältnisse <strong>und</strong> in Verhältnisse von<br />

Subjekt-<strong>und</strong> Prädikatsbegriffe bezogen bleiben.<br />

Der Satz: »Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist«<br />

behauptet keinerlei Zeitbedingungen son<strong>der</strong>n nur, daß es kein Mittleres<br />

gibt: entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong>s ist o<strong>der</strong> sein Gegenteil. Derart wird gerade nicht <strong>die</strong><br />

Bedingung des Zugleichseins eingefor<strong>der</strong>t, wohl aber <strong>die</strong> Angabe eines<br />

bestimmten Zeitpunktes o<strong>der</strong> einer bestimmten Dauer ohne Verän<strong>der</strong>ung.<br />

Vor allem ist hier <strong>die</strong> Verknüpfung mit dem Gegenteil ausgeschlossen,<br />

son<strong>der</strong>n nur eine Ersetzung möglich. Dieser Satz ist indifferent gegenüber<br />

<strong>der</strong> Alternative, daß das, was zufällig ist, entwe<strong>der</strong> ein Ding o<strong>der</strong> ein<br />

Prädikat <strong>die</strong>ses Dinges ist. So kann unter <strong>die</strong>sem Satz unmittelbar zu<br />

verstehen sein, daß an <strong>der</strong> Stelle eines bestimmten Dinges auch nichts<br />

möglich ist, daß also das Nichtsein des Dinges möglich sei. Das<br />

Existenzprädikat bezieht sich dann nicht transzendental auf an<strong>der</strong>e<br />

Prädikate son<strong>der</strong>n ontologisch auf das Dasein des im Satzsubjekt<br />

gedachten Gegenstandes <strong>der</strong> Erscheinung.<br />

Der zweite Satz: »Verän<strong>der</strong>lich (ist), das in Verknüpfung mit seinem<br />

Gegenteil möglich ist« sagt für sich keine Zeitbedingung aus, impliziert<br />

aber eine solche durch das Satzsubjekt. — Der zweite Satz kann nur so zu<br />

verstehen sein, daß das, was das Verän<strong>der</strong>liche genannt wird, <strong>die</strong><br />

Zustände eines Dinges sind <strong>und</strong> <strong>der</strong>art bereits Verän<strong>der</strong>ung als Wechsel<br />

von Zuständen eines Dinges aufzufassen ist. 50 Das Ding wird nur mittelbar<br />

vorausgesetzt, sodaß <strong>der</strong> Ausdruck verän<strong>der</strong>lich immer schon eine<br />

Eigenschaft bestimmter Prädikate <strong>die</strong>ses Dinges bedeuten muß, da auch<br />

nicht alle Prädikate wechseln. Die Verknüpfung in <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

49 Refl. 4041<br />

50 Vgl. aber K. r. V., B 230 f.: »Da <strong>die</strong>ser Wechsel also nur <strong>die</strong> Bestimmungen trifft, <strong>die</strong><br />

aufhören o<strong>der</strong> auch anheben können, so können wir, in einem etwas paradoxen<br />

Ausdruck, sagen: nur das Beharrliche (<strong>die</strong> Substanz) wird verän<strong>der</strong>t, das<br />

Wandelbare erleidet keine Verän<strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n einen Wechsel, da einige<br />

Bestimmungen aufhören, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e vergehen.«


-— 113 —<br />

geschieht also zwischen Prädikate des selben Dinges, aber nicht durch <strong>die</strong><br />

Verknüpfung aller möglichen Prädikate o<strong>der</strong> <strong>der</strong> notwendigen<br />

Verknüpfung von Prädikaten <strong>und</strong> dem Subjektbegriff. Zusätzlich wäre<br />

noch zu bestimmen, daß <strong>die</strong> Behauptung aller möglichen Prädikate<br />

überhaupt unmöglich ist. 51<br />

Nun behauptet Kant, daß aus <strong>der</strong> Contingenz nicht <strong>die</strong> Mutation erkannt<br />

werden kann; <strong>die</strong> Definition des Zufälligen aus dem Gegensatz nicht aus<br />

<strong>der</strong> Definition des Verän<strong>der</strong>lichen aus dem Gegensatz gefolgert werden<br />

kann. Der Satz: »Zufällig ist, dessen Gegenteil an seiner Stelle möglich ist«<br />

sagt nämlich mehr aus als <strong>die</strong> Definition des Zufälligen aus <strong>der</strong><br />

Anmerkung zur Antithesis <strong>der</strong> vierten Antinomie: »Zufällig, im reinen<br />

Sinne <strong>der</strong> Kategorie, ist das, dessen kontradiktorischer Gegensatz möglich<br />

ist« 52 . Nach <strong>die</strong>ser Definition könnte auch <strong>die</strong> Definition des<br />

Verän<strong>der</strong>lichen <strong>die</strong> Definition des Zufälligen erfüllen, da dann auch <strong>die</strong><br />

Verknüpfung mit einem kontradiktorischen Gegensatz möglich ist. 53 Beide<br />

Definitionen sagen mehr aus als <strong>die</strong> Definition des logisch Möglichen:<br />

logische Möglichkeit muß nur dem principium contradictionis genüge tun.<br />

Logische Zufälligkeit hingegen reflektiert <strong>die</strong> logische Möglichkeit: das<br />

(kontradiktorische) Gegenteil ist an <strong>und</strong> für sich logisch möglich. Aber erst<br />

mit <strong>der</strong> Gegenüberstellung von Ersetzen <strong>und</strong> Verknüpfen wird dem<br />

eigenen Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit eine systematische<br />

Stelle gegeben, <strong>die</strong> von <strong>der</strong> bloß logischen Zufälligkeit unterscheidbar ist<br />

— <strong>und</strong> zwar noch vor <strong>der</strong> Kantschen Selbstkritik an <strong>der</strong> Definition des<br />

Zufalls anhand <strong>der</strong> Ersetzung aus <strong>der</strong> Antinomie <strong>der</strong> kosmologischen Idee.<br />

Diese Kritik ersetzt das Kompossibilitätsprinzip in <strong>der</strong> Kantschen<br />

Definition des Zufalls, das bei Kant auf das Zugleichsein eingeschränkt ist,<br />

mit dem Kriterium <strong>der</strong> Indifferenz <strong>der</strong> Ersetzung in Hinblick auf <strong>die</strong><br />

Folgen. Dann erfolgt <strong>die</strong> Ableitung offenbar aus dem transzendentalen<br />

Kausalitätsprinzip, während hier zuvor mit dem »vorkritischen« Kant<br />

noch aus dem Leibnizianischen Kompossibilitätsprinzip abgeleitet wurde.<br />

Zwar impliziert <strong>die</strong> Definition des Verän<strong>der</strong>lichen im Gegensatz zum<br />

Wechsel eine kontinuierliche Zeitbedingung (das Beharrliche) relativ<br />

unabhängig von <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Sinnlichkeit, während <strong>die</strong> Definition<br />

des Zufalls anhand <strong>der</strong> Ersetzung we<strong>der</strong> den Wechsel von <strong>der</strong> Idee zur<br />

Realmöglichkeit noch <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung — auch nicht<br />

51 K. r. V., A 573 f./B 601 f.: »(...) so finden wir doch bei näherer Untersuchung, daß<br />

<strong>die</strong>se Idee, als Urbegriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, (...)«<br />

52 A 456/B 486 f.<br />

53 „das in Verknüpfung mit seinen Gegenteil möglich ist“, Refl. 4041


-— 114 —<br />

monadologisch als bloßer Wechsel <strong>der</strong> Zustände eines Dinges —<br />

beinhaltet. Daß aber auch <strong>die</strong> Verknüpfung ohne <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>lichkeit keine Zeitbedingung besitzt, geht aus einem Brief an<br />

Tieftrunk hervor: »Der Begriff des Zusammengesetzten überhaupt ist<br />

keine beson<strong>der</strong>e Kategorie, son<strong>der</strong>n in allen Kategorien (als synthetische<br />

Einheit <strong>der</strong> Apperzeption) enthalten. Das Zusammengesetzte nämlich<br />

kann, als ein solches, nicht angeschaut werden; son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Begriff o<strong>der</strong><br />

das Bewußtsein des Zusammengesetzens (einer Funktion <strong>die</strong> allen<br />

Kategorien als synthetische Einheit <strong>der</strong> Apperzeption zum Gr<strong>und</strong>e liegt)<br />

muß vorhergehen (...).« 54<br />

Hingegen bestimmt <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung auch als ein Begriff des sensitivums 55<br />

allein das Zusammensetzen keinesfalls selbst schon zur kategorialen<br />

Verknüpfung, son<strong>der</strong>n gibt (an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> Definition des Zufälligen)<br />

allererst <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> Kontinuität. Der eigentliche Fortschritt in <strong>der</strong><br />

Unterscheidung des Zufälligen vom Verän<strong>der</strong>lichen liegt nur unter <strong>die</strong>ser<br />

Voraussetzung <strong>der</strong> kontinuierlichen Zeit in <strong>der</strong> Unterscheidung <strong>der</strong> zur<br />

Darstellung des Ersetzens <strong>und</strong> des Verknüpfens erfor<strong>der</strong>lichen logischen<br />

Operationen, <strong>die</strong> für sich selbst eben nur logische Operationen ohne<br />

kategoriale Bedeutungskonstitution sind. Erst wird <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung vom<br />

logischen Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Formbestimmung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung aus als<br />

Prädikabilie verstanden, ist es auch gelungen, <strong>der</strong> Kategorie zwischen<br />

bloßer Denkmöglichkeit <strong>und</strong> Realmöglichkeit anhand <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

des Zufälligen vom Verän<strong>der</strong>lichen gegenüber den metaphysischen<br />

Anfangsgründen einen eigenen Gehalt nachzuweisen, 56 das beantwortet<br />

aber nicht <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Entgegensetzung <strong>der</strong> sukzessiven<br />

Zustände eines Dinges überhaupt. Von den beiden unten gegebenen<br />

54 vom 11.12.1797, AA XII, p. 222. So denkt übrigens auch Bolzano in <strong>der</strong><br />

Elementarlehre.<br />

55 CRAMER 1985, p. 43 ff.; Refl. 4306: »Der Schluß von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit auf <strong>die</strong><br />

Zufälligkeit ist metabasis eis allo genos, denn ich schließe von einem sensitivum aufs<br />

intellectuale.« Refl. 5266: »Es gibt keinen Übergang von den principiis <strong>der</strong><br />

Erscheinung zu den Begriffen <strong>der</strong> Vernunft, also auch nicht von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

auf <strong>die</strong> Zufälligkeit.« Vgl. auch K.r.V., A 41/B 58 das transzendental-ästhetische<br />

Argument.<br />

56 Die behauptete Kategorialität <strong>der</strong> Verknüpfung in <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung ist aber nur<br />

formal anhand <strong>der</strong> Reflexion des logischen Unterschiedes in den Modalkategorien<br />

von zufällig <strong>und</strong> möglich von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit des sensitivums unterscheidbar.<br />

K. r. V., §§ 9-10: Der Gegensatz Möglichkeit - Unmöglichkeit entspricht in den Tafeln<br />

<strong>der</strong> problematischen, <strong>der</strong> Gegensatz Notwendigkeit - Zufälligkeit <strong>der</strong> apodiktischen<br />

Modalität eines Urteils. Die gegebene logische Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung scheint<br />

aber nur dem Gegensatz Dasein - Nichtsein (assertorische Urteilsmodalität) zu<br />

entsprechen; sie handelt vielmehr von verschiedenen Arten zu existieren.


-— 115 —<br />

Einteilungen Kants, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung als Prädikabilie bezeichnen, ist<br />

<strong>die</strong> aus <strong>der</strong> Preisschrift <strong>die</strong> insgesamt befriedigen<strong>der</strong>e, allerdings wird da<br />

<strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung allein unter dem hier erörterten Gesichtspunkt<br />

betrachtet, also als Wechsel von non-B zu B. Solange <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ung nicht auf <strong>die</strong>se Definition eingeschränkt wird, gibt es gute<br />

Gründe, <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung als einen Begriff eines sensitivum zu betrachten,<br />

<strong>und</strong> ihn den reinen Verstandesbegriffen transzendentalästhetisch<br />

gegenüberzustellen.<br />

5) Die aussagenlogische Erörterung: Der zureichende Gr<strong>und</strong><br />

ist einmal logisch <strong>und</strong> einmal in <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung f<strong>und</strong>iert<br />

a) Der zureichende Gr<strong>und</strong> liegt in <strong>der</strong> Beziehung des Prädikats zum<br />

Ding<br />

Beachte das Prädikat einer Substanz als Wirkung <strong>der</strong> Substanz in Kantens<br />

analytischer Metaphysik <strong>und</strong> <strong>die</strong> nicht-logische Interpretation des<br />

zureichenden Gr<strong>und</strong>es bei Leibniz als Gr<strong>und</strong>, ein Prädikat einem äußeren<br />

Gegenstand zuzusprechen. Vgl. aber das Schreiben von Leibniz an den<br />

Grafen von Hessen Rheinfels vom 14. Juli 1686: »Es ist immer nötig, daß es<br />

für den Nexus <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> eines Urteils eine Gr<strong>und</strong>lage gibt, <strong>die</strong> sich in<br />

den Begriffen <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> finden lassen muß (Benedikt: also zunächst nicht<br />

in <strong>der</strong> Symploke <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Wesen). Und das ist eben mein großes Prinzip,<br />

von dem ich meine, daß alle Philosophen es zugeben müssen, wovon auch<br />

das gewöhnliche Axiom, daß nichts ohne einen Gr<strong>und</strong> geschieht, <strong>der</strong><br />

immer zurückgeführt werden kann <strong>und</strong> wovon <strong>die</strong> Tatsache (...), warum<br />

nämlich <strong>die</strong> Sache viel eher so als an<strong>der</strong>s verlaufen ist, nur einer <strong>der</strong><br />

Folgesätze bleibt« (Gerhardt, II, p. 62). 57<br />

Sind A <strong>und</strong> B Prädikate eines bleibenden Dinges E, so können <strong>der</strong>en<br />

Merkmale allein aus <strong>die</strong>ser Bestimmung sowohl zugleich wie auch<br />

nacheinan<strong>der</strong> gelten. Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, <strong>die</strong>se als kontradiktorisch<br />

entgegengesetzt zu behaupten, gleich ob sie zugleich o<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong><br />

gelten; sie sind bloß verschieden. Nun behandelt Kant in <strong>der</strong><br />

Untersuchung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung als Sukzession zuerst nicht beliebig<br />

57 dazu: Michael Benedikt, Anthropodizee, Turia <strong>und</strong> Kant, Wien 1995, S. 50


-— 116 —<br />

mögliche Prädikate eines Dinges, <strong>die</strong> wechseln o<strong>der</strong> andauern, son<strong>der</strong>n<br />

eben Zustände (Arten zu existieren) eines Dinges. Derart ist <strong>der</strong> Begriff<br />

vom Prädikat schon eingeschränkt worden auf eine ganz bestimmte Art<br />

von Begriffskomplexion, <strong>die</strong> imstande sein muß, einen Zustand eines<br />

Dinges zu beschreiben. Allerdings schließt Kant nirgends aus, daß mehrere<br />

Zustände eines Dinges nötig sind, um eine bestimmte Art eines Dinges zu<br />

existieren ausmachen können. Aber auch wenn man annimmt, daß jedes<br />

Ding zugleich nur einen Zustand besitzen kann, wird nicht so ohne<br />

weiteres dargelegt werden können, weshalb <strong>die</strong> verschiedenen<br />

aufeinan<strong>der</strong> folgenden Zustände alle kontradiktorisch entgegengesetzt zu<br />

sein haben. 58<br />

(1) So kann zu einem Zeitpunkt <strong>der</strong> Zustand A gelten <strong>und</strong> zu einem<br />

späteren Zeitpunkt ebenfalls, ohne das <strong>die</strong>ser Zustand zwischen den<br />

Zeitpunkten angedauert hätte.<br />

(2) Nun kann einmal A gelten <strong>und</strong> später B.<br />

(3) Betrachtet man hingegen <strong>die</strong> Aussagen »E ist A <strong>und</strong> nicht B« <strong>und</strong> » E ist<br />

B <strong>und</strong> nicht A«, stehen <strong>die</strong>se im kontradiktorischen Gegensatz, gleich ob A<br />

bzw. B als beliebiges Prädikat o<strong>der</strong> als Prädikat eines Zustandes aufgefaßt<br />

wird.<br />

(4) Schließlich ist noch <strong>die</strong> Kombination zu bedenken, daß zuerst A <strong>und</strong><br />

dann A <strong>und</strong> B zugleich gilt. Dann kann zwar behauptet werden, daß <strong>die</strong><br />

Zustände, <strong>die</strong> früher <strong>und</strong> später sind, verschieden sind, aber nur wegen<br />

des Nichtseins von B im früheren Zustand.<br />

Der Unterschied, <strong>der</strong> vom Wechsel <strong>der</strong> Zustände logisch bestimmt werden<br />

kann, ist also nicht <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bedeutung des Wechsels von A zu B, son<strong>der</strong>n<br />

das vorhergehende Nichtsein des hinzutretenden B wie schon im zweiten<br />

Satz. Das gibt den Ansatzpunkt, <strong>der</strong> Behauptung, aufeinan<strong>der</strong>folgende<br />

Zustände seien kontradiktorisch entgegengesetzt, eine formale Gr<strong>und</strong>lage<br />

zu verschaffen. Zwar sind <strong>die</strong> beiden möglichen Aussagen im vierten<br />

Punkt »E ist A <strong>und</strong> nicht B« <strong>und</strong> »E ist A <strong>und</strong> B« für sich nicht<br />

entgegengesetzt <strong>und</strong> nur verschieden, betrachtet man aber nur das<br />

Prädikat B in den beiden Sätzen, so läßt sich eine Aussage über <strong>die</strong><br />

Geltung des Prädikates treffen, <strong>die</strong> Punkt drei <strong>und</strong> vier betreffen, aber von<br />

ihnen unabhängig ist: nämlich ob es wahr ist o<strong>der</strong> nicht, daß B zutrifft.<br />

Dergestalt kann ich den kontradiktorischen Gegensatz zwischen zwei<br />

Aussagen finden, wovon <strong>die</strong> eine <strong>die</strong> Geltung (Existenz) von B behauptet<br />

58 K. r. V., A 456/B 486 f., vgl. Anmk.25


-— 117 —<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> an<strong>der</strong>e leugnet. Konrad Cramer folgert daraus, daß »beliebige<br />

Unterschiede von Zuständen eines <strong>und</strong> desselben Dings zu verschiedenen<br />

Zeiten in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> kontradiktorischen Entgegensetzung von<br />

Prädikaten dargestellt werden können.« 59 Nun handelt es sich in jedem<br />

Fall um den kontradiktorischen Gegensatz von Aussagen. K. Cramer<br />

scheint nicht übersehen, daß <strong>die</strong> vorgeschlagene Formulierungsweise <strong>der</strong><br />

Form »E ist x <strong>und</strong> E ist y « eben nur Verhältnisse zwischen Prädikate<br />

aussagt <strong>und</strong> E völlig unbestimmt läßt. 60 Das ist auch für <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

Bedingung des Zugleichseins im Kapitel des Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller<br />

analytischer Urteile entscheidend, denn dort ist <strong>die</strong>se als Zeitbedingung<br />

für Kant im synthetischen Satz unabdingbar. Aber wird auch <strong>die</strong><br />

Existenzbehauptung bzw. Leugnung von B alleine betrachtet, bleibt doch<br />

das B, gleich ob geleugnet o<strong>der</strong> behauptet, mit <strong>der</strong> letzten Formulierung<br />

auf A bezogen. 61. Damit ist aber ein eminenter Stellungswechsel<br />

angesprochen: In den vorangegangenen Formulierungsweisen hat das<br />

Ding nur von außerhalb <strong>der</strong> Aussage (Es gibt ein E) eine Stelle im Satz<br />

zugewiesen bekommen; nunmehr scheint es, als könne A <strong>die</strong> Position von<br />

E einnehmen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß, wie Kant sich an<strong>der</strong>swo<br />

ausdrückt, <strong>die</strong>ser Schein immer wie<strong>der</strong> aufs Neue kritisiert werden muß,<br />

gerade weil er unvermeidlich ist. An<strong>der</strong>nfalls sei <strong>die</strong>se Quelle des Scheins<br />

auszuschließen, da E einmal mit A <strong>und</strong> einmal mit B beschrieben wird.<br />

Aber dann mußte doch <strong>die</strong> Position des Dinges eigens in einer<br />

theoretischen Reflexion <strong>und</strong> im Satzbau <strong>der</strong> Aussage festgehalten werden,<br />

was auch erst <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Scheines eines Dinges im Falle, daß A <strong>und</strong> B<br />

auch zugleich gelten können, ist. Der Ursprung des Scheines liegt aber<br />

nicht im gedachten Positionswechsel des Prädikatbegriffes zum<br />

Subjektbegriff, son<strong>der</strong>n schon in <strong>der</strong> theoretischen Reflexion auf ein Ding<br />

überhaupt im Rahmen bloßer Prädikatsverhältnisse. Der nicht-kategoriale<br />

Begriff vom Ding hat also gar nicht das principium contradictionis<br />

notwendig son<strong>der</strong>n ist dessen Voraussetzung. 62<br />

In <strong>der</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Substanz gibt Kant zwischen 1790 <strong>und</strong><br />

1795 dazu einen Kommentar ab, <strong>der</strong> <strong>die</strong> Sukzession mittels des Satzes vom<br />

59 CRAMER 1985, p. 173<br />

60 Vgl. Refl. 5796 <strong>und</strong> K.r.V.,A 456/B 486 f.<br />

61 Vgl. Refl. 6403, u.<br />

62 Das Prinzip <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines Dinges setzt das principium<br />

contradicionis erst zur Selektion <strong>der</strong> möglichen Prädikate voraus — das<br />

«vorkategoriale Ding« heißt in <strong>der</strong> Untersuchung des prototypon transcendentale in<br />

<strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Allheit »transzendentale Materie«.


-— 118 —<br />

Wi<strong>der</strong>spruch als <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Identität im logischen Satz über <strong>die</strong><br />

Beharrlichkeit vorstellt: »In je<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung beharrt <strong>die</strong> Substanz, weil<br />

<strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>die</strong> Sukzession <strong>der</strong> Bestimmung eines <strong>und</strong> desselben<br />

Dinges ist. Dies ist ein bloß logischer Satz nach <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Identität. Er<br />

sagt aber nicht, daß überhaupt <strong>die</strong> Substanz nicht entstehe o<strong>der</strong> vergehe,<br />

son<strong>der</strong>n nur während <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung bleibe.« 63 Hält man <strong>die</strong>se<br />

Erklärung für <strong>die</strong> zutreffende Feststellung, so folgt daraus zunächst nicht,<br />

daß Kant etwa nunmehr seine Absicht aufgeben hat müssen, weil <strong>die</strong><br />

Entgegensetzung von Ausssagen o<strong>der</strong> von Prädikaten (<strong>die</strong>s bleibt zunächst<br />

unbestimmt) über sukzessive Zustände eines Dinges ohne über eine <strong>der</strong><br />

logischen Zufälligkeit hinausgehende Bestimmung bleibt (im Gegenteil:<br />

<strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung wird zur Wirkung, <strong>die</strong> zur Erscheinung Substanz<br />

voraussetzt), son<strong>der</strong>n Kant schränkt bloß <strong>die</strong> Dauer des Dinges daraufhin<br />

ein, daß <strong>die</strong> Beharrlichkeit des Dinges — aber damit auch <strong>die</strong> Identität des<br />

Dinges — nur solange behauptet werden darf, solange <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

andauert. Dabei ist erstens zu beachten, daß <strong>die</strong> Sukzession nicht nur<br />

zwischen wechselnden Zuständen (als Arten zu existieren) stattfindet 64<br />

<strong>und</strong> zweitens, daß <strong>die</strong> wechselnden Merkmale gemeinsam mit einem<br />

bleibenden Merkmal betrachtet werden müssen, ansonsten den<br />

wechselnden Zuständen <strong>die</strong> Substanz nur nach dem Satz <strong>der</strong> logischen<br />

Identität gedacht, nicht aber als Beharrlichkeit in <strong>der</strong> Erfahrung gegeben<br />

werden kann. Bevor <strong>die</strong> wechselnden Prädikate aussagenlogisch<br />

kontradiktorisch entgegengesetzt werden, muß also zuvor <strong>die</strong> bleibende<br />

Eigenschaft mit <strong>der</strong> wechselnden Eigenschaft verknüpft werden können.<br />

Die Bestimmung des kontradiktorischen Gegenteils aufgr<strong>und</strong><br />

semantischer Oppositionen (wie etwa »heiß« - »kalt« o<strong>der</strong> »sterblich« -<br />

»unsterblich«), was für sich keine Beziehung <strong>der</strong> ausgesagten<br />

Eigenschaften auf ein <strong>und</strong> dasselbe Ding benötigt, führt allein für sich,<br />

selbst wenn sie systematisch möglich wäre, in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong><br />

Weiterbestimmung des Ding an sichs zu nichts: <strong>die</strong> oppositionelle<br />

Glie<strong>der</strong>ung aller möglichen Prädikate überhaupt ist keine Folge <strong>der</strong> jeweils<br />

einfachen Zuschreibungen auf irgendwelche Dinge, son<strong>der</strong>n erst <strong>die</strong> Folge<br />

des Kriteriums vom Prinzip <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines<br />

bestimmten Dinges. 65<br />

63 Refl. 6403, man darf das aber nicht als Wi<strong>der</strong>spruch zum Satz <strong>der</strong><br />

Unverän<strong>der</strong>lichkeit des Quantums <strong>der</strong> Materie denken.<br />

64 Falls <strong>der</strong> »Zustand« als »Art zu existieren« eine Auszeichnung gewisser Prädikate<br />

gegenüber an<strong>der</strong>en möglichen Prädikaten sein soll.<br />

65 K. r. V., B 599-601/A 571-573; vgl. hier auch im dritten Abschnitt, 2., a, §§ 9-10


-— 119 —<br />

Es wird also nicht bloß nach dem Gr<strong>und</strong> des Wechsels von<br />

Erscheinungsprädikaten gefragt, son<strong>der</strong>n zuerst wird nach dem Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Erscheinungsprädikate gefragt (<strong>der</strong> zureichende Gr<strong>und</strong>). Erst dann geht es<br />

um <strong>die</strong> Entgegensetzung <strong>der</strong> Geltungsbehauptung von B <strong>und</strong> non-B ( bzw.<br />

von A <strong>und</strong> non-A). Zunächst ergeben sich terminologische Probleme: Wie<br />

kann <strong>die</strong> Nichtexistenz eines Merkmals, was mit non-B wohl angezeigt<br />

werden soll, angemessen ausgedrückt werden? Kant scheint <strong>die</strong>ses<br />

Problem mit seiner Umformung in <strong>die</strong> Frage wechseln<strong>der</strong> Zustände eines<br />

Dinges zu umgehen, indem er <strong>die</strong> Zustände als Arten eines Dinges zu<br />

existieren vorstellt. Non-B drückt also nicht Nichtexistenz aus, son<strong>der</strong>n nur<br />

eine an<strong>der</strong>e, noch unbekannte Art zu existieren von ein <strong>und</strong> demselben<br />

Ding. Kant will mit dem Ausdruck Zustand , was als Art eines Dinges zu<br />

existieren bestimmt worden ist, <strong>die</strong> Verknüpfung des Subjektbegriffes mit<br />

seinem Prädikat garantieren, setzt damit aber nur <strong>die</strong> Verknüpfung des<br />

bleibenden Merkmals mit dem wechselnden voraus. Nun aber soll<br />

einerseits jedes Prädikat, also auch solche, <strong>die</strong> nicht einen Zustand<br />

bezeichnen, immer schon auf ein Ding beziehbar sein, an<strong>der</strong>erseits ist <strong>der</strong><br />

aktualisierende Gr<strong>und</strong>, weshalb <strong>die</strong>ses Prädikat zu <strong>der</strong> einen Zeit gilt, <strong>und</strong><br />

zu <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zeit nicht, nicht mehr wie in <strong>der</strong> Monade Leibnizens nur<br />

im Gr<strong>und</strong> des Dinges zu finden. 66 Deshalb erfahren <strong>die</strong><br />

Prädikatsverhältnisse auch im Obersten Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen<br />

Urteile ihre Herabwürdigung zur bloßen Möglichkeit.<br />

Gleiches sollte wohl zunächst für Zustände eines Dinges nicht gelten: Hier<br />

wurde <strong>die</strong> Möglichkeit dahingehend eingeschränkt, daß das Mögliche in<br />

<strong>der</strong> sukzessiven Zeit mit seinem kontradiktorischen Gegenteil verknüpft<br />

werden kann. Daß <strong>die</strong>ses auch ohne <strong>der</strong> Bestimmung des Zustandes als<br />

Art eines Dinges zu existieren möglich ist, hat nicht zuletzt K. Cramer<br />

aufgezeigt. Allein weil mit Kant demonstriert worden ist, daß das<br />

Gegenteil sowohl in <strong>der</strong> Definition von Zufälligkeit wie in <strong>der</strong> Definition<br />

<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong> logischen Form nach als kontradiktorischer<br />

Gegensatz ausgedrückt werden kann, wird aber <strong>die</strong>se für <strong>die</strong><br />

Untersuchung <strong>der</strong> Kategorien überhaupt so wichtige reale<br />

Entgegensetzung nicht aus dem formal aufgestellten kontradiktorischen<br />

Gegensatz selbst erklärbar. — Die verschiedenen Definitionen des Zufalls<br />

66 Nova Dilucidatio, Prop. VI. Zugleichsein. Kant gestaltet hier <strong>die</strong> Leibnizsche Monade<br />

zum Atomismus um., <strong>die</strong> Strebung <strong>der</strong> abgeschlossenen Monade wird hier noch<br />

durch <strong>die</strong> göttliche Verstandes-tätigkeit, welche erst <strong>die</strong> isolierten Atome in<br />

Verbindung bringt, ersetzt.


-— 120 —<br />

(im Rahmen des Kompossibilitätsprinzips, im Rahmen des Prinzips <strong>der</strong><br />

Kausalität) vermögen transzendentalanalytisch nur höchst allgemein den<br />

transzendentallogisch nur ungefähr vorgestellten Gegensatz zu<br />

formulieren, wie ich glaube, zeigen zu können.<br />

Die Inkohärenz <strong>der</strong> Darstellungen, <strong>die</strong> zuerst <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung als<br />

Verknüpfung kontradiktorisch einan<strong>der</strong> entgegengesetzter Bestimmungen<br />

im Dasein ein <strong>und</strong> desselben Dinges bestimmt, dann <strong>die</strong> Entgegensetzung<br />

nur als eine rein logische behauptet, 67 schließlich aber <strong>die</strong> Entgegensetzung<br />

<strong>der</strong> Sukzessionen wie<strong>der</strong> als nicht logische Entgegensetzung zu denken<br />

aufgibt, 68 entspricht den weithin unaufgeklärten Verhältnissen von reinem<br />

Verstandesbegriff <strong>und</strong> Einbildungskraft im Schema <strong>der</strong> reinen<br />

Verstandesbegriffe. 69 Kant besitzt aber offensichtlich ein Bewußtsein über<br />

<strong>die</strong>se Problematik: »Wie nun überhaupt etwas verän<strong>der</strong>t werden könne,<br />

wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein<br />

entgegengesetzter im an<strong>der</strong>en folgen könne: davon haben wir a priori<br />

nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird <strong>die</strong> Kenntnis wirklicher Kräfte<br />

erfor<strong>der</strong>t, welche nur empirisch gegeben werden kann.« 70 Schon allein<br />

(wenn auch nicht nur) aus den Gründen <strong>der</strong> transzendentalen Ästhetik,<br />

hält Kant aber <strong>die</strong> Erörterung <strong>die</strong>ser Kräfte einer Behandlung nach<br />

Prinzipien a priori für fähig: »Aber <strong>die</strong> Form einer jeden Verän<strong>der</strong>ung, <strong>die</strong><br />

Bedingung, unter welcher sie, als Entstehen eines an<strong>der</strong>en Zustandes,<br />

allein vorgehen kann, (<strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong>selben, d. i. <strong>der</strong> Zustand, <strong>der</strong><br />

verän<strong>der</strong>t wird, mag sein, welcher er wolle), mithin <strong>die</strong> Sukzession <strong>der</strong><br />

67 »Man kann sich das Nichtsein <strong>der</strong> Materie leicht denken, aber <strong>die</strong> Alten folgerten<br />

daraus doch nicht ihre Zufälligkeit. Allein selbst <strong>der</strong> Wechsel des Seins <strong>und</strong> des<br />

Nichtseins eines gegebenen Zustandes eines Dinges, darin alle Verän<strong>der</strong>ung besteht<br />

,beweiset gar nicht <strong>die</strong> Zufälligkeit <strong>die</strong>ses Zustandes, gleichsam aus <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

seines Gegenteils. (...) Denn <strong>die</strong>ses Gegenteil ist hier nur logisch, nicht realiter dem<br />

an<strong>der</strong>en entgegengesetzt. Man müßte beweisen, daß anstatt <strong>der</strong> Bewegung im<br />

vorhergehenden Zeitpunkte, es möglich gewesen,daß <strong>der</strong> Körper damals geruhet<br />

hätte, um <strong>die</strong> Zufälligkeit seiner Bewegung zu beweisen, nicht daß er hernach ruhe;<br />

denn da können beide Gegenteile gar wohl miteinan<strong>der</strong> bestehen.« ( B 290)<br />

Hingegen in <strong>der</strong> Amphibolie <strong>der</strong> Verstandesbegriffe: »Wenn Realität nur durch den<br />

reinen Verstand vorgestellt wird (realitatis noumenon),so läßt sich zwischen den<br />

Realitäten kein Wi<strong>der</strong>streit denken. (...) Dagegen kann das Reale in <strong>der</strong> Erscheinung<br />

(realitas phaenomenon) unter einan<strong>der</strong> allerdings im Wi<strong>der</strong>streit sein, <strong>und</strong> vereint in<br />

demselben Subjekt, eines <strong>die</strong> Folge des an<strong>der</strong>en ganz o<strong>der</strong> zum Teil vernichten<br />

(...).«(B 320 f./A 264 f.)<br />

68 K.r.V., A 456/B 486 f.<br />

69 Vgl. hiezu im dritten Abschnitt <strong>die</strong> Behandlung des Duisburger Nachlasses, 3. Kap.,<br />

§§ 18-20<strong>und</strong> das vierte Kapitel.<br />

70 K. r.V., B 252/A 206


-— 121 —<br />

Zustände selbst (das Geschehene) kann doch nach dem Gesetze <strong>der</strong><br />

Kausalität <strong>und</strong> den Bedingungen <strong>der</strong> Zeit a priori erwogen werden.« 71<br />

b) Der zureichende Gr<strong>und</strong> liegt in <strong>der</strong> Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Folgen<br />

In <strong>der</strong> leibnizianisch-wolffschen Tradition wurden <strong>die</strong> kontingenten<br />

Prädikatsverhältnisse als logisch zufällige verstanden, 72 <strong>die</strong> modallogische<br />

Diskussion hat aber gezeigt, daß rein logisch definierten<br />

Prädikatsverhältnisse, welche <strong>die</strong> Sukzession beschreiben, unter <strong>der</strong><br />

Voraussetzung, sie beziehen sich erstens auf ein Ding <strong>und</strong> zweitens nur<br />

auf das Anheben <strong>und</strong> Vergehen von Eigenschaften desselben, nicht <strong>die</strong><br />

Definition des Zufalls erfüllen. 73 Den zwei Definitionen <strong>der</strong> verlaufenden<br />

Zeit: zuerst <strong>die</strong> <strong>der</strong> Dauer, <strong>der</strong> etwas Beharrliches vorausgesetzt ist <strong>und</strong><br />

dann <strong>die</strong> des Wechsels, dem das Anheben <strong>und</strong> Vergehen einer<br />

Bestimmung am Beharrlichen vorausgesetzt ist, gibt Kant also<br />

modallogische Definitionen anhand <strong>der</strong> Operationen von Ersetzen <strong>und</strong><br />

Verknüpfen im Satz vom modallogischen Zufall zur Seite, <strong>die</strong> einer<br />

transzendentalen Interpretation des Zufalls gegenüber invariant bleiben.<br />

Erst mit <strong>der</strong> kategorialen Definition des Zufalls in <strong>der</strong> vierten Antinomie<br />

wird <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> Deduktion des transzendentalen Prinzips <strong>der</strong> Kausalität<br />

geän<strong>der</strong>te Ausgangslage <strong>der</strong> Argumentation erkenntlich — Wie kann aber<br />

<strong>die</strong> schwierige modallogische Darstellung <strong>der</strong> Gesetzmäßigkeit des<br />

Wechsels als Sukzession aus <strong>der</strong> Thesis <strong>der</strong> vierten Antinomie verstanden<br />

werden? Ich betrachte nochmals <strong>die</strong> Kernaussage Kants: »[...] Was<br />

verän<strong>der</strong>t wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer an<strong>der</strong>en<br />

Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist <strong>die</strong>ses nicht das<br />

kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfor<strong>der</strong>t wird,<br />

daß in <strong>der</strong>selben Zeit, da <strong>der</strong> vorige Zustand war, an <strong>der</strong> selben Stelle<br />

desselben sein Gegenteil hätte sein können, welches aus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

gar nicht geschlossen werden kann. [...] Also beweist <strong>die</strong> Sukzession<br />

entgegengesetzter Bestimmungen, d.i. <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung, keineswegs <strong>die</strong><br />

Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes.« 74<br />

71 l. c.<br />

72 Refl. 3838, 5796, vgl. Anmk. 23<br />

73 Damit ist hier nicht <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> reinen Modalkategorie gemeint, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />

zusätzlichen Aus-führungen auf K.r.V., A 456/B 486 f. bzw. <strong>die</strong> ergänzend<br />

hinzugezogene Stelle aus <strong>der</strong> Refl. 4041 (Ersetzung durch das Gegenteil).<br />

74 K.r.V., A 456/B 486 f..


-— 122 —<br />

Der behandelte Gegensatz ist also nicht mehr logisch, son<strong>der</strong>n nur<br />

transzendentallogisch zu verstehen möglich: Die Folgen eines Zustandes<br />

eines Dinges sind als empirische gegeben, <strong>der</strong>en Gesetzmäßigkeit aber<br />

analytisch (da bereits als Folgen eingeführt) <strong>und</strong> so metaphysisch<br />

vorauszusetzen. Gerade das einfache analytische Enthaltensein kann aber<br />

nicht vom bloß komparativ Allgemeinen unterschieden werden. Kants<br />

Ansatz <strong>der</strong> modallogischen Reflexion geht nunmehr auf <strong>die</strong> allgemeine<br />

Bedingung <strong>der</strong> Erfahrung <strong>und</strong> nicht länger ausschließlich auf den Satz<br />

vom Wi<strong>der</strong>spruch zurück. Zufällig ist dann jene Ersetzung innerhalb <strong>der</strong><br />

Bedingungen im Antecedens, <strong>die</strong> nichts an <strong>der</strong> Folgenschar än<strong>der</strong>t. Das<br />

kehrt <strong>die</strong> Definition aus <strong>der</strong> Reflexion 4041 um: Die modalkategoriale<br />

Definition <strong>der</strong> Folge bestimmt nunmehr a posteriori <strong>die</strong> Anwendung des<br />

principium contradictionis auf <strong>die</strong> Definition des Zufalls. Das ist eine<br />

eminente Än<strong>der</strong>ung des Standpunktes gegenüber dem auf das<br />

Zugleichsein verkürzte Kompossibilitätsprinzip Kantens im Obersten<br />

Gr<strong>und</strong>satz aller analytischen Urteile. Die augenscheinlichste Än<strong>der</strong>ung ist<br />

<strong>die</strong> Dynamisierung <strong>der</strong> verfließenden Zeit, indem den Erscheinungen<br />

Kräfte zugeordnet werden können, <strong>der</strong>en Gesetzmäßigkeit auf <strong>der</strong><br />

Darstellung <strong>der</strong> verfließenden Zeit als Sukzessivität <strong>der</strong> Folgen beruht.<br />

Immerhin ließe sich das Kompossibilitätsprinzip auch auf verschiedenen<br />

Scharen von Folgen im Rahmen <strong>der</strong> allgemein kollektiv einheitlich<br />

gedachten Sukzessivität, welche <strong>die</strong> verfließende Zeit anhand des<br />

Wechsels einteilt, nochmals anwenden.<br />

Dabei wird <strong>die</strong> Determination <strong>der</strong> Folgen auch bei Kant metaphysisch<br />

vorausgesetzt, allerdings werden transzendentalanalytisch <strong>die</strong><br />

Erscheinungen als Wahrnehmungen in <strong>der</strong> Erfahrung mit Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung verknüpft. Auf <strong>die</strong>sem Wege soll zunächst <strong>die</strong> Regel a priori<br />

überhaupt mit den Regeln <strong>der</strong> reproduktiven Einbildungskraft in <strong>der</strong><br />

sinnlichen Empirie verb<strong>und</strong>en werden. Kant hat jedoch nicht nur einen<br />

logischen <strong>und</strong> phänomenologischen (transzendentalästhetischen) Gr<strong>und</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n auch einen kategorialen Gr<strong>und</strong>, wenn er behauptet: »Außer <strong>der</strong><br />

Zufälligkeit gehört noch etwas mehr zur Verän<strong>der</strong>ung. Die Sukzession <strong>der</strong><br />

Zustände ist Verän<strong>der</strong>ung.« 75 Was noch fehlt zum Abschluß <strong>der</strong><br />

transzendentalen Untersuchung ist <strong>der</strong> Beweis des vorausgesetzen<br />

Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Kausalität, ohne welchem <strong>die</strong> Rede von »Zufälligkeit«<br />

nicht nur ohne jede Relativität son<strong>der</strong>n auch ohne jeden inhaltlichen<br />

Gr<strong>und</strong> wäre.<br />

75 Refl. 4816


-— 123 —<br />

6) Die transzendentallogische Erörterung:<br />

Vom Schema zwischen rationaler Psychologie <strong>und</strong> rationalen<br />

Physiologie zum architektonischen Abschluß <strong>der</strong> Vernunft<br />

überhaupt<br />

Kant selbst vermeint im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalitätskategorie<br />

an einer Stelle schon mit dem Nachweis <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Sukzession<br />

sowohl <strong>der</strong> Apprehensionen wie <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>die</strong> Kausalität<br />

gewissermaßen mittels Rückführung aufs Dasein bewiesen zu haben. Die<br />

Lösung, <strong>die</strong> Kant in <strong>der</strong> Zweiten Analogie vorschlägt, kann aber<br />

offensichtlich nicht befriedigen: »Wenn es nun ein notwendiges Gesetz<br />

unserer Sinnlichkeit, mithin eine formale Bedingung aller Wahrnehmung<br />

ist: daß <strong>die</strong> vorige Zeit <strong>die</strong> folgende notwendig bestimmt (indem ich zur<br />

folgenden nicht an<strong>der</strong>s gelangen kann, als durch <strong>die</strong> vorhergehende); so ist<br />

es auch ein unentbehrliches Gesetz <strong>der</strong> empirischen Vorstellung <strong>der</strong><br />

Zeitreihe, daß <strong>die</strong> Erscheinungen <strong>der</strong> vergangenen Zeit jedes Daseins in<br />

<strong>der</strong> folgenden bestimmen, <strong>und</strong> daß <strong>die</strong>se, als Begebenheiten, nicht<br />

stattfinden, als so fern jene ihnen ihr Dasein in <strong>der</strong> Zeit bestimmen, d.i.<br />

nach einer Regel festsetzen.« 76<br />

Dieser Auffassung kann ich mich so nicht anschließen. 77 Zwar kann ich zur<br />

folgenden nur durch <strong>die</strong> vorige Zeit kommen, <strong>und</strong> das gilt sowohl für <strong>die</strong><br />

76 K.r.V., B 244/A 199<br />

77 Aus einer sachlich ganz an<strong>der</strong>en Perspektive betrachtet, zeigt sich das gleiche<br />

Problem auch in <strong>der</strong> wissenschaftstheoretischen Diskussion zur Nationalökonomie:<br />

»Die kausalen Beziehungen in Begriffen funktionaler Interdependenz zu<br />

formulieren, ist genau das Ziel <strong>der</strong> fortgeschrittenen Wissenschaften, <strong>die</strong> über <strong>die</strong><br />

unpräzisen Begriffe Ursache <strong>und</strong> Wirkung hinausgegangen sind.« (T. W. Hutchison,<br />

The Significance and Basis Postulates of Economic Theory, London 1938, p. 71).<br />

An<strong>der</strong>erseits meint Mario Bunge, daß »mit <strong>der</strong> Aufdeckung von<br />

Wechselbeziehungen <strong>die</strong> Probleme <strong>der</strong> Determination nicht immer erschöpfend<br />

behandelt sein müssen, es sei denn, eine extreme Symmetrie stünde auf dem Spiel«,<br />

<strong>und</strong> daß z. B. »<strong>die</strong> übliche Interpretation <strong>der</strong> Quantenmechanik Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung nicht aufhebt, sonden eher den starren kausalen Nexus zwischen ihnen (<strong>die</strong><br />

sogenannte »Quanten-Indeterminiertheit) [als] eine Konsequenz <strong>der</strong> dem mo<strong>der</strong>nen<br />

Positivismus innewohnenden idealistischen Hypothese« vorstellt. Es wird<br />

hinzugefügt, daß »eine kausale Interpretation einer mathematischen Form [...] nicht<br />

zu den mathematischen Symbolen gehört, son<strong>der</strong>n zu einem System von<br />

Beziehungen, das <strong>die</strong> Zeichen mit den betreffenden physikalischen, chemischen,<br />

biologischen [...] wirklichen Größen verbindet. Manchmal wird eine solche<br />

Interpretation nicht explizite gemacht, son<strong>der</strong>n als erwiesen vorausgesetzt.« (Mario<br />

Bunge, Cambridge, 1959; p. 14, 76-77, 164). (aus <strong>der</strong> Einleitung von Maurice Dobbs,<br />

Wert- <strong>und</strong> Verteilungstheorien seit Adam Smith. Eine nationalökonomische<br />

Dogmengeschichte, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1977, engl. Originalausg. Cambridge<br />

Univ. Press, London 1973, p. 15)


-— 124 —<br />

Zeitreihe <strong>der</strong> Vorstellungen als Produkte reiner Einbildungskraft wie für<br />

<strong>die</strong> Reihe <strong>der</strong> Apprehensionen wie für <strong>die</strong> Zeitreihe <strong>der</strong> Erscheinungen, 78<br />

allein kann aus <strong>die</strong>ser Gesetzmäßigkeit eben noch nicht auf gleiche Weise<br />

auf Kausalität geschlossen werden, wie das Beharrliche aus <strong>der</strong><br />

Anwendung <strong>der</strong> Regeln <strong>der</strong> Gleichgültigkeit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Signifikanz <strong>der</strong><br />

Reihenfolge <strong>der</strong> vorgenommenen Apprehension a posteriori <strong>und</strong> dennoch<br />

mit Notwendigkeit a priori entspringt. Ich setze hier <strong>die</strong> Auflösung einer<br />

Komplikation voraus, <strong>die</strong> Kant zwischen A <strong>und</strong> B nicht ausreichend<br />

thematisiert hat: nämlich, daß <strong>die</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>die</strong>se<br />

zu Vorstellungen macht, was nicht ohne produktive Einbildungskraft<br />

geschehen kann. Abgesehen, daß damit <strong>die</strong> Reflexion auf den subjektiven<br />

Standpunkt im Raume noch ausgespart bleibt, ist also <strong>die</strong> Frage, wie Kant<br />

etwa <strong>die</strong> Unterscheidung in »<strong>die</strong> subjektive Folge <strong>der</strong> Apprehension« von<br />

»<strong>der</strong> objektiven Folge <strong>der</strong> Erscheinungen« (B 238/A 193) verstanden haben<br />

will. Wie sollen Erscheinungen im Bewußtsein statthaben ohne<br />

Apprehension? Weshalb beschränkt Kant an <strong>die</strong>ser Stelle <strong>die</strong><br />

Apprehension auf <strong>die</strong> subjektive Folge? Kant findet in <strong>die</strong>ser Frage nur<br />

stellenweise zu einer akzeptabel interpretierbaren Formulierung; so in <strong>der</strong><br />

schon einmal herangezogenen Stelle: »Man siehet bald, daß, weil<br />

Übereinstimmung <strong>der</strong> Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist, hier nur<br />

nach den formalen Bedingungen <strong>der</strong> empirischen Wahrheit gefragt<br />

werden kann, <strong>und</strong> Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Apprehension, nur dadurch als das davon<br />

unterschiedene Objekt <strong>der</strong>selben könne vorgestellt werden, wenn sie unter<br />

einer Regel steht, welche sie von je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Apprehension<br />

unterscheidet.« 79<br />

Hier kann <strong>die</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinung schon als eine Reihe von bereits vom<br />

Verstandesbegriff determinierten Apprehensionen vorgestellt werden. Ich<br />

gehe in <strong>die</strong>ser Frage davon aus, daß erstens unter <strong>der</strong> »subjektiven Folge<br />

<strong>der</strong> Apprehension« <strong>die</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Erscheinungen zu verstehen ist,<br />

was eben <strong>die</strong> einzige Art ist, wie uns Erscheinungen gegeben werden<br />

78 K.r.V., B 240/A 195: »Wenn wir also erfahren, daß etwas geschiehet, so setzen wir<br />

dabei je<strong>der</strong>zeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, woraus es nach einer Regel<br />

folgt. Denn ohne <strong>die</strong>ses würde ich nicht von dem Objekte sagen, daß es folge, weil<br />

<strong>die</strong> bloße Folge in meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in<br />

Beziehung auf ein vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im Objekte berechtiget.«<br />

Ich vermag demgegenüber freilich <strong>die</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ausdrucksweise in<br />

B 244/A 199 im Sinne <strong>der</strong> Intellection <strong>der</strong> Kausalität Kants verstehen, vermag allein<br />

daraus aber kein weiteres Argument für <strong>der</strong>en Objektivität zu ersehen.<br />

79 K. r. V., B 236/A 192


-— 125 —<br />

können, davon unterschieden Kant mit dem Ausdruck <strong>der</strong> subjektiven<br />

Apprehension hier aber auch nur <strong>die</strong> bloße Bewußtmachung <strong>der</strong><br />

Assoziativität unserer Vorstellungen im Fluß <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>der</strong><br />

empirischen Apperzeption meinen könnte. Zweitens ist <strong>die</strong> »objektive<br />

Folge <strong>der</strong> Erscheinungen« dann schon als unter <strong>der</strong> reproduktiven Regel<br />

<strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Vorstellungen stehend zu denken, <strong>die</strong> zugleich als Produkte<br />

<strong>der</strong> Einbildungskraft unter den Verstandesbegriffen stehen können (in<br />

Nachfolge <strong>der</strong> bloßen Rekognition <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Reproduktion in A), <strong>die</strong><br />

allein Objekte <strong>und</strong> Kausalität zu denken erlauben. Das empirische<br />

Mannigfaltige wird also mittels Schematen <strong>der</strong> Verstandesbegriffe in eine<br />

Reihenfolge gebracht, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Vergleichung <strong>der</strong> Reihen <strong>der</strong><br />

reproduktiven Vorstellungen des Gegebenen (den apprehen<strong>die</strong>rten<br />

Erscheinungen) <strong>die</strong>jenige auszeichnet, welche mit <strong>der</strong> Regel des<br />

Verstandesbegriffes übereinstimmt — eben jene Regel, welche <strong>die</strong><br />

Apprehension (als <strong>die</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Erscheinungen beinhaltend) von<br />

an<strong>der</strong>en Apprehensionen (also an<strong>der</strong>en reproduzierten Reihen von<br />

Erscheinungen o<strong>der</strong> auch bloß assoziativen Vorstellungen) unterscheidet. 80<br />

Dem gegenüber scheint <strong>die</strong> modalogische Diskussion zweifellos ein<br />

bestimmteres Ergebnis aufweisen zu können: Die Möglichkeit wird nicht<br />

mehr allein als bloße Denkmöglichkeit durch das principium contradictionis<br />

definiert, son<strong>der</strong>n bereits einmal zum Zufall <strong>und</strong> einmal zur Verän<strong>der</strong>ung<br />

eingeschränkt. Nun könnte man sich ab <strong>der</strong> Feststellung, daß <strong>die</strong><br />

aussagenlogische Verknüpfung <strong>der</strong> Sukzession <strong>der</strong> Prädikate durch das<br />

kontradiktorische Gegenteil (ungeachtet <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong>en<br />

Entgegensetzung) nicht zufällig sei, damit begnügen, daraus analytisch zu<br />

schließen: Wenn nämlich <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung nicht das Zufällige ist, dann, so<br />

<strong>der</strong> analytische Schluß aus dem modalkategorialen Gegensatz von<br />

Notwendigkeit <strong>und</strong> Zufälligkeit, muß sie notwendig sein. Damit wäre man<br />

je<strong>der</strong> weiteren Untersuchung enthoben, ginge es allein um <strong>die</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> leibnizianisch-wolffschen Tradition <strong>der</strong><br />

rationalen Metaphysik, welche noch alles Kontingente als zufällig <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit eines Ideenreiches gegenübergestellt hat. Jedoch bleibt <strong>die</strong><br />

Natur <strong>der</strong> Entgegensetzung um so eher im Trüben, als daß es sich hier<br />

nicht um den Gegensatz von Existenz <strong>und</strong> Nichtexistenz handelt, son<strong>der</strong>n<br />

um den Gegensatz von Arten zu existieren. 81 Kant läuft hier in Gefahr, den<br />

Begriff <strong>der</strong> Kausalität aus dem Dasein ableiten zu wollen, obgleich er das<br />

80 Vgl. aber : G. Prauss, Erscheinung bei Kant, Berlin1971.<br />

81 K. r. V., B 602 f./A 574 f.


-— 126 —<br />

für <strong>die</strong> Vollständigkeit des Begriffes <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines<br />

Dinges untersagt: Mit dem Dasein ist zwar <strong>die</strong> durchgängige Bestimmung<br />

eines Dinges gegeben, aber nicht <strong>die</strong> durchgängige Bestimmung seines<br />

Begriffes. 82<br />

Die Notwendigkeit, eigens nach dem Gr<strong>und</strong> des Wechsels zu fragen, kann<br />

aber auch nicht zu <strong>der</strong> gleichen Definition <strong>der</strong> Relation von Ursache <strong>und</strong><br />

Dependenz führen wie im Satz »Je<strong>der</strong> Zufall hat eine Ursache«. 83 Zunächst<br />

entspricht <strong>die</strong> Verwendung des Begriffes vom Zufall nicht <strong>der</strong> oben<br />

verwendeten Definition, son<strong>der</strong>n in <strong>die</strong>sem Satz ist gerade vom Zufall <strong>der</strong><br />

Sukzession <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>die</strong> Rede: »Daß gleichwohl <strong>der</strong> Satz: alles<br />

Zufällige müsse eine Ursache haben, doch je<strong>der</strong>mann aus bloßen Begriffen<br />

klar einleuchte, ist nicht zu leugnen; aber alsdann ist <strong>der</strong> Begriff des<br />

Zufälligen schon so gefaßt, daß er nicht <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Modalität (als<br />

etwas, dessen Nichtsein sich denken läßt), son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> <strong>der</strong> Relation (als<br />

etwas, das nur als Folge von einem an<strong>der</strong>en existieren kann) enthält, <strong>und</strong><br />

da ist es freilich ein identischer Satz: was nur als Folge existieren kann, hat<br />

seine Ursache.« 84 Kant spricht damit den metaphysischen Gr<strong>und</strong>satz aus,<br />

daß alles, was in Wirklichkeit existiert (also alles Kontingente), eine<br />

Ursache hat. Diesen einmal vorausgesetzt, muß auch das zufällig<br />

Existierende immer schon analytisch eine Ursache besitzen. Derart verliert<br />

aber das Prinzip <strong>der</strong> Kausalität jede diskriminierende Kraft, was eben auch<br />

allen Versuchen, <strong>die</strong> Kausalität allein aus <strong>der</strong> logischen Notwendigkeit <strong>der</strong><br />

Sukzessivität (sowohl <strong>der</strong> Apprehensionen wie <strong>der</strong> Erscheinungen)<br />

abzuleiten, eigentümlich ist. Die Einschränkung <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong><br />

verlaufenden Zeit auf <strong>die</strong> Sukzession <strong>der</strong> Prädikate (<strong>und</strong> nicht auf den<br />

bloßen Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen) in <strong>der</strong> Form des kontradiktorischen<br />

Gegensatzes sollte aber zu einer strengeren Definition <strong>der</strong> Kausalität<br />

82 Metaphysik Pölitz, „Durch <strong>die</strong> Wirklichkeit wird dem Subjecte nichts mehr gegeben<br />

als durch <strong>die</strong> Möglichkeit; <strong>die</strong> Möglichkeit mit allen Prädikaten wird nur absolut<br />

gesetzt. (...) Alles, was existiert, ist zwar durchgängig bestimmt, allein bey <strong>der</strong><br />

Existenz wird das Ding mit allen seinen Prädikaten gesetzt, also durchgängig<br />

bestimmt. Die Existenz ist aber nicht <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung;<br />

denn <strong>die</strong>se kann ich nicht erkennen, <strong>und</strong> es gehört dazu Allwissenheit.“ (p. 40)<br />

83 K.r.V.: „Daher es auch niemals gelungen ist, aus bloßen reinen Verstandesbegriffen<br />

einen synthetischen Satz zu beweisen, z.B. den Satz: alles Zufällig-Existierende hat<br />

eine Ursache. Man konnte niemals weiter kommen, als zu beweisen, daß, ohne <strong>die</strong>se<br />

Beziehung, wir <strong>die</strong> Existenz des Zufälligen gar nicht begreifen, d.i. a priori durch<br />

den Verstand <strong>die</strong> Existenz eines solchen Dinges nicht erkennen könnten; woraus<br />

aber nicht folgt, daß eben <strong>die</strong>selbe auch <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Sachen<br />

selbst sei.“ (B 289)<br />

84 B 289 f.


-— 127 —<br />

führen können. Worin besteht <strong>die</strong> erwartete größere Strenge <strong>der</strong><br />

Definition? Allgemein gesagt, zweifellos darin, ein Kriterium angeben zu<br />

können, was Ursache von welcher Wirkung ist; etwas, was von dem Satz<br />

»Je<strong>der</strong> Zufall hat eine Ursache« jedenfalls nicht erwartet werden kann.<br />

Kant hält erst <strong>die</strong> logische Eigenschaft <strong>der</strong> Zeit, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Feststellung<br />

des bloßen Wechsels hinausgeht, also daß <strong>die</strong> Entgegensetzung in <strong>der</strong><br />

Definition des Verän<strong>der</strong>lichen als kontradiktorischer Gegensatz von non-B<br />

<strong>und</strong> B ausgedrückt werden kann, formal für ausreichend f<strong>und</strong>iert, um <strong>die</strong><br />

Frage nach einer äqivalenten Verbindung zur Relation von (unbekannter)<br />

Ursache <strong>und</strong> (bekannter) Dependenz, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinungen<br />

identifiziert werden können, überhaupt stellen zu können. Kant markiert<br />

zwischen dem logischen Zufall, dem nichts determiniert ist, <strong>und</strong> dem<br />

empirischen Zufall, <strong>der</strong> sich von vollständiger Determination nicht<br />

unterscheiden läßt, da je<strong>der</strong> Zufall eine Ursache hat, eine Grenze. Diesen<br />

von Kant vorgezeichneten Weg aus <strong>der</strong> wolffschen Scholastik heraus noch<br />

einen Schritt weiter zu verfolgen, sollte also eine lohnende Aufgabe sein.<br />

Die Wirkung einer Ursache (ein analytischer Satz) muß nicht nur in<br />

Hinblick auf <strong>die</strong> logische Definition <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung als Gegensatz <strong>der</strong><br />

Ursache verstanden werden. Jedoch: Unabhängig vom Ablauf <strong>der</strong> Zeit<br />

bleibt <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> Begriffe von Ursache <strong>und</strong> Dependenz gewahrt:<br />

Die Wirkung ist das Abhängige <strong>und</strong> setzt so <strong>die</strong> Ursache voraus; <strong>die</strong><br />

Ursache aber existiert unabhängig von <strong>der</strong> Wirkung, wenngleich für sich<br />

nicht allein als Ursache. Also: Nicht nur insofern <strong>der</strong> Verstandesbegriff <strong>der</strong><br />

Kausalitätskategorie analytisch eine eigene Zeitbedingung mit <strong>der</strong><br />

Zeitordnung ausdrückt, läßt sich <strong>die</strong>se selbst mit <strong>der</strong> kontradiktorischen<br />

Entgegensetzung von non-B <strong>und</strong> B (B eben als Ausdruck <strong>der</strong> Wirkung)<br />

beschreiben. Dann aber entspricht <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> Zeitordnung im<br />

reinen Verstandesbegriff 85 formal <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

als modallogische Regel <strong>und</strong> so auch als Weiterbestimmung des Wechsels<br />

<strong>der</strong> bloßen Zeitreihenfolge zur Sukzession. Nun stellt schon <strong>der</strong><br />

vorkritische Kant fest, daß es keine Steigerung von Notwendigkeit geben<br />

kann:<br />

»Wenn wir <strong>die</strong> hypothetische, insbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> moralische Notwendigkeit<br />

von <strong>der</strong> unbedingten unterscheiden, dann geht es hier nicht um <strong>die</strong> Kraft<br />

<strong>und</strong> Wirksamkeit <strong>der</strong> Notwendigkeit, ob nämlich eine Sache in dem einen<br />

85 K.r.V., B 248: „Das Verhältnis bleibt, wenn gleich keine Zeit verlaufen ist.“


-— 128 —<br />

Fall mehr o<strong>der</strong> weniger notwendig sei als in an<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n es wird<br />

nach dem <strong>die</strong> Notwendigkeit bewirkenden Gr<strong>und</strong> gefragt, nämlich woher<br />

<strong>die</strong> Sache notwendig sei.« 86<br />

Die Unbedingtheit <strong>der</strong> Zeitordnung des reinen Verstandesbegriffes <strong>der</strong><br />

Kausalitätskategorie ist völlig unabhängig von <strong>der</strong> Unbedingtheit <strong>der</strong><br />

sukzessiven Zeitreihe, den Wechsel als Anheben <strong>und</strong> Vergehen einer<br />

Eigenschaft in einem kontradiktorischen Gegensatz auszudrücken. Die<br />

selbst wie<strong>der</strong> nur formale Gleichheit bei<strong>der</strong> gegenüber dem logischen<br />

Gegensatz erhöht nicht <strong>der</strong>en Notwendigkeit, son<strong>der</strong>n vertieft im<br />

Gegensatz bloß das Verständnis, woher <strong>die</strong> Sache notwendig ist. Nämlich<br />

einerseits aus <strong>der</strong> Eigenschaft mancher Begriffe, eine Zeitbedingung bei<br />

sich zu führen, wie <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Dauer, <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Ursache. An<strong>der</strong>erseits erweist sich <strong>die</strong> Notwendigkeit, im Gang <strong>der</strong><br />

transzendentalen Untersuchung <strong>der</strong> verlaufenden Zeit anhand des<br />

Begriffes <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung mehrere Definitionen geben zu müssen, sodaß<br />

zwar <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> Sukzessivität als kontradiktorischer Gegensatz von<br />

non-B <strong>und</strong> B unbedingt gilt, aber nicht, daß es dabei um <strong>die</strong> Festlegung auf<br />

eine einzige empirische Interpretation <strong>der</strong> verlaufenden Zeit handelt:<br />

— <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung nur als Sukzessivität <strong>der</strong> sinnlichen Erscheinungen<br />

— <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Größe als Extension o<strong>der</strong> als Intensität<br />

— <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung des Ortes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Lage als Bewegung<br />

Festzuhalten ist, daß damit nicht notwendigerweise alle möglichen<br />

Bedeutungen von empirischer Zufälligkeit erfaßt sind. 87 Aber von den<br />

gemeinsam notwendigen Definitionen <strong>der</strong> verlaufenden Zeit sind alle zur<br />

logischen Darstellung des Wechsel geeignet, <strong>und</strong> besitzen <strong>die</strong> gleiche<br />

formale Eigenschaft <strong>der</strong> kontradiktorischen Entgegensetzung von non-B<br />

<strong>und</strong> B wie <strong>der</strong> reine Verstandesbegriff. Der bloß formalen Eigenschaft des<br />

kontradiktorischen Gegensatzes von non-B <strong>und</strong> B in den Definitionen <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ung soll <strong>die</strong> Art <strong>der</strong> Entgegensetzung vermittels <strong>der</strong> Zeitordnung<br />

im reinen Verstandesbegriff in <strong>der</strong> Kausalkategorie jeweils bestimmt<br />

86 Nova dilucidatio, hrsg.v. Weischedel, Bd.I, p. 451 (Hervorhebung vom Autor)<br />

87 »Erstlich ist <strong>die</strong> Zufälligkeit des Zustandes nicht mit <strong>der</strong> Zufälligkeit <strong>der</strong> Sache zu<br />

vermengen. Die Sache bleibt.<br />

Zweitens <strong>die</strong> Zufälligkeit des Zustandes nicht mit <strong>der</strong> Zufälligkeit des Zustandes.<br />

Drittens ist <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit ein Beweis einer sinnlichen Zufälligkeit des<br />

Zustandes.« (Refl. 4308, aus den frühen 70er Jahren). Vgl. hiezu Cramer 1985, Kap.<br />

2.5


-— 129 —<br />

werden können. Jedoch kann analytisch vielleicht allein aus dem Begriff<br />

<strong>der</strong> Ursache eine mögliche Verän<strong>der</strong>ung, hingegen aus dem bloßen<br />

Wechsel nicht <strong>die</strong> Ursache erschlossen werden, wie Kant allem Anschein<br />

nach doch auch den Versuch unternimmt. Zuvor muß <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong><br />

Kausalität selbst noch synthetisch bewiesen werden, bevor er <strong>die</strong><br />

Entgegensetzung in <strong>der</strong> logischen Definition des Wechsels (also <strong>die</strong><br />

Sukzessivität des Wechsels) überhaupt alls kausale Relation interpretieren<br />

kann. Der reinen Kausalität <strong>der</strong> Ursache muß eine objektive Realität<br />

entsprechen. 88 Der Dialektik <strong>der</strong> von sich selbst verunreinigten Vernunft<br />

liegt es nun nahe, <strong>die</strong> reine Kausalität <strong>der</strong> Ursache als ontologisches<br />

F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong> Kraft auszugeben; vielleicht auch deshalb, weil <strong>die</strong> Kraft<br />

nicht selbst zu den Erscheinungen gehört. 89 Denn von irgendeiner<br />

Anschauung <strong>der</strong> Kraft selbst kann auch dann nicht <strong>die</strong> Rede sein, wenn<br />

von ihr <strong>der</strong> äußere Sinn affiziert wird; außerdem wäre eine solche, weil als<br />

Folge <strong>der</strong> Kraft nur sinnliche Empfindung in Frage kommt, unmöglich<br />

reine Anschauung. Das synthetische Urteil a priori, welches <strong>die</strong> Ursache<br />

mit <strong>der</strong> Dependenz synthetisch mittels dem Begriff <strong>der</strong> Kraft zu<br />

verknüpfen hat, kann nun nicht deshalb rein genannt werden, weil eine<br />

reine Anschauung zugr<strong>und</strong>e liegt wie im geometrischen Urteil, son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr, weil <strong>die</strong>ser Relation selbst keine Anschauung in <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />

gegeben werden kann <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kraft als intensive Größe einer Wirkung nur<br />

subjektive Empfindung bleibt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se nur in <strong>der</strong> Bewegung im Raume<br />

als Folge objektiv darstellbar wird. Zur Darstellung <strong>der</strong> intensiven<br />

Eigenschaften <strong>der</strong> Materie ist gemäß <strong>der</strong> Antizipationskategorie <strong>die</strong><br />

Bewegung im Raume vorausgesetzt. D.h. zwar, <strong>die</strong> Bewegung ist <strong>die</strong><br />

Voraussetzung zur Beschreibung des Raumes, aber ihr ist wie<strong>der</strong>um<br />

einerseits Materie als Substrat des Beweglichen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits bereits<br />

<strong>die</strong> Geometrie vorausgesetzt, um <strong>die</strong> Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Darstellung<br />

88 CRAMER 1985, p. 246. Hier wird <strong>die</strong> Kausalität als konkrete Eigenschaft eines<br />

Objektes, <strong>die</strong> in einer beson<strong>der</strong>en Wahrnehmung enthalten ist, dem Prinzip <strong>der</strong><br />

Ursache gegenübergestellt. Vgl. Chr. Wolff, Ontologia, § 884<br />

89 Vgl. demgegenüber aber R. Heinrich, Kants Erfahrungsraum., , wo er <strong>die</strong> Kausalität<br />

von <strong>der</strong> Wirkung ausgehend als Inhalt eines Gr<strong>und</strong>urteiles vorstellt: »In dem<br />

„Versuch den Begriff <strong>der</strong> negativen Größen in <strong>der</strong> Weltweisheit einzuführen“ (1763),<br />

beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> allgemeinen Schlußanmerkung, behandelt Kant <strong>die</strong> Kausalität<br />

(Realgr<strong>und</strong>) als einen unauflöslichen Begriff.« (p. 50) Heinrich bezieht sich auf<br />

folgende Stelle: »[...] findet sich, daß <strong>die</strong> Beziehung eines Realgr<strong>und</strong>es auf etwas, das<br />

dadurch gesetzt o<strong>der</strong> aufgehoben wird, gar nicht durch ein Urteil son<strong>der</strong>n bloß<br />

durch einen Begriff könne ausgedrückt werden, den man wohl durch Auflösung zu<br />

einfacheren Begriffen von Realgründen bringen kann, so doch, daß zuletzt alle<br />

unsere Erkenntnisse von <strong>die</strong>ser Beziehung sich in einfachen <strong>und</strong> unauflöslichen<br />

Bgriffen <strong>der</strong> Realgründe endiget [...]« (Neg. Größ. A 71)


-— 130 —<br />

festlegen zu können. Die Diskussion von Raum, Zeit <strong>und</strong> Materie setzt hier<br />

<strong>die</strong> Geometrie voraus. Erst nach dem Abschluß <strong>die</strong>ser phoronomischen<br />

Diskussion kann <strong>die</strong> Kraft (in den M. A. d. N. als Dynamik) qualitativ wie<br />

quantitativ diskutiert werden.<br />

Derart gewinnt <strong>die</strong> logische Definition <strong>der</strong> Sukzessivität analog zur<br />

Geometrie für <strong>die</strong> Darstellbarkeit des Raumes <strong>die</strong> Bedeutung,<br />

Voraussetzung zur objektiven Darstellbarkeit <strong>der</strong> Kausalitätskategorie zu<br />

sein. Nicht mehr soll bloß gelten: wenn Kausalität, dann Verän<strong>der</strong>ung; <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> so eben nicht mehr zwingende Umkehrung: wenn Verän<strong>der</strong>ung, dann<br />

Kausalität; son<strong>der</strong>n: Kausalität ist nur dann als objektiver Begriff möglich,<br />

wenn <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung eine logische Definition besitzt. 90 Da nun alle<br />

möglichen Arten von Verän<strong>der</strong>ung <strong>die</strong> logische Definition <strong>der</strong><br />

Sukzessivität zu erfüllen vermögen, ist für eine jede <strong>die</strong>ser Verän<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Ursache möglich. Jedoch: Die Zeitordnung des reinen<br />

Verstandesbegriffes, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> wechselseitigen analytischen Beziehung<br />

zwischen <strong>der</strong> Ursache <strong>und</strong> <strong>der</strong> Dependenz gleich in beiden Zeitrichtungen<br />

ausgedrückt werden kann, 91 sagt selbst über <strong>die</strong> Zeitreihenfolge nichts aus;<br />

weiters können Ursache <strong>und</strong> Wirkung sowohl zugleich wie auch<br />

nacheinan<strong>der</strong> existieren. Kant geht an an<strong>der</strong>er Stelle so weit, <strong>der</strong> reinen<br />

Kategorie sogar <strong>die</strong> Orientierung ihrer Zeitordnung abzusprechen, was<br />

wohl gleichbedeutend damit ist, <strong>die</strong> Zeitordnung selbst aufzuheben:<br />

»Vom Begriffe <strong>der</strong> Ursache würde ich (wenn ich <strong>die</strong> Zeit weglasse, in <strong>der</strong><br />

etwas auf etwas an<strong>der</strong>es nach einer Regel folgt,) in <strong>der</strong> reinen Kategorie<br />

nichts weiter finden, als daß es so etwas sei, woraus sich auf das Dasein<br />

eines an<strong>der</strong>en schließen läßt, <strong>und</strong> es würde dadurch (...) Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung gar nicht voneinan<strong>der</strong> unterschieden werden können.« 92<br />

Erst <strong>der</strong> kontradiktorische Gegensatz von non-B <strong>und</strong> B, also u. U. auch <strong>die</strong><br />

Identifizierung <strong>der</strong> Ursache als etwas (non-B), das erst dann Ursache<br />

90 CRAMER 1985, p. 205. Nach dem Ergebnis <strong>der</strong> nochmaligen Analyse <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

als Prädikabilie <strong>der</strong> Modalität des Daseins, daß aus <strong>der</strong> reinen Mannigfaltigkeit ohne<br />

empirische Mindestbedingung dem Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung kein »logischer« (wie<br />

K. Cramer sich ausdrückt) Inhalt gegeben werden könne, geht auch er auf <strong>die</strong><br />

logische Regel <strong>der</strong> Sukzessivität zurück, <strong>die</strong> allerding ebenfalls schon ein Substrat<br />

<strong>der</strong> gegebenen empirischen Mannigfaltigkeit voraussetzt. Er verweist dabei auf J.<br />

Vuillemin, Physique et Métaphysique Kantiennes, Paris 1955, p. 21.<br />

91 Die Ursache hat <strong>die</strong> Dependenz als analytisches Prädikat, weil eine Folge zu haben<br />

zum Begriff <strong>der</strong> Ursache gehört; gleiches gilt umgekehrt für <strong>die</strong> Dependenz. Vgl.<br />

CRAMER 1985, p. 55<br />

92 K.r.V., A 243/B 301


-— 131 —<br />

genannt werden kann (B), wenn bereits <strong>die</strong> Wirkung existiert, drückt also<br />

<strong>die</strong> Zeitordnung <strong>der</strong> Kategorie logisch aus. Es scheint, als könne es eine<br />

reine Kategorie (d. i. ohne Zeitbedingung) <strong>der</strong> Kausalität gar nicht geben.<br />

Hingegen sollte mit <strong>der</strong> Definition des Wechsels zur Sukzession <strong>die</strong><br />

verlaufende empirische Zeit erst logisch bestimmbar gemacht werden. 93<br />

Die Zeitreihenfolge hat ihre Regel, <strong>der</strong> aber, wie gezeigt, nicht analytisch<br />

<strong>die</strong> Zeitordnung <strong>der</strong> Kausalitätskategorie präzi<strong>die</strong>rt werden kann. Das<br />

synthetische Urteil a priori als synthetischer Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kategorie muß<br />

nun <strong>die</strong> Zeitreihenfolge mit <strong>der</strong> Zeitordnung notwendig verknüpfen<br />

können. Der einzige Gr<strong>und</strong>, <strong>der</strong> nicht neuerlich erst in <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />

Erfahrung als metaphysischer Anfangsgr<strong>und</strong> gesucht werden muß, ist, daß<br />

ohne <strong>der</strong> Kausalitätskategorie, also daß <strong>die</strong> Ursache für <strong>die</strong> Dependenz<br />

Kausalität hat, nicht aber <strong>die</strong> Dependenz für <strong>die</strong> Ursache, gar kein Objekt<br />

<strong>der</strong> Erfahrung gedacht werden könnte. Somit wird auch schon eine<br />

eindeutig orientierbare Zeitordnung ausgedrückt, wenn auch allein damit<br />

noch keine konkrete Regel einer Zeitreihenfolge über <strong>die</strong> logische Regel<br />

<strong>der</strong> sukzessiven Verän<strong>der</strong>ung hinaus gegeben ist.<br />

Um aus den gegebenen Erscheinungen auf Gegenstände <strong>der</strong> Erfahrung zu<br />

schließen, ist nicht allein <strong>die</strong> Substanzkategorie, son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong><br />

Kausalitätskategorie vorausgesetzt. Und zwar nicht deshalb, weil <strong>der</strong><br />

gegebene Gegenstand <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> unserer sinnlichen Empfindungen ist,<br />

son<strong>der</strong>n weil ohne Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Verknüpfung <strong>der</strong> Erscheinungen<br />

über <strong>die</strong> bloße Zeitreihenfolge hinaus gar keine Erfahrung möglich ist, <strong>die</strong><br />

schlechterdings eine Erkenntnis genannt werden könnte, <strong>und</strong> auf an<strong>der</strong>e<br />

Situationen heuristisch gezielt übertragbar wäre. 94 Die Formulierung von<br />

Gesetzmäßigkeiten bedarf bloß <strong>der</strong> Regelmäßigkeit in den Erscheinungen,<br />

aber <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Regelmäßigkeit in den Erscheinungen kann nur kausal<br />

gedacht werden. Nicht wird behauptet, daß <strong>der</strong> Erfahrung dann keine<br />

Regeln a priori gegeben wären <strong>und</strong> immer a posteriori verfahren werden<br />

müßte (immerhin bliebe <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Sukzessivität aller Erscheinungen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong>en Apprehension in Geltung), son<strong>der</strong>n daß schlechterdings <strong>die</strong><br />

bloß raphsodisch zusammenfassende Erfahrung als gr<strong>und</strong>los eigentlich<br />

keine Erkenntnis genannt werden könnte. Es sollte aber <strong>die</strong> Gewißheit,<br />

Erfahrungen bereits gemacht zu haben, auch wenn <strong>die</strong>se selbst nicht in ein<br />

vollständiges wissenschaftliches System nach Prinzipien gebracht worden<br />

93 K.r.V., §24, B 155<br />

94 Also eine gegenüber <strong>der</strong> Intersubjektivität <strong>der</strong> Allgemeingültigkeit selbständige<br />

Feststellung.


-— 132 —<br />

sind, doch ausreichen können, <strong>der</strong> Erfahrung vorausgesetzte Prinzipien<br />

des Vergleichens <strong>und</strong> des Verknüpfens anzunehmen. Nach Newton dürfe<br />

kein Zweifel an <strong>der</strong> Möglichkeit von Naturerkenntnis mehr gelten, <strong>der</strong>en<br />

subjektive Bedingungen in <strong>der</strong> Mathematik <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Physik Kant<br />

offenzulegen sich anstellt.<br />

Das synthetische Urteil a priori, das, so meine Umformulierung <strong>der</strong><br />

Problemstellung, <strong>die</strong> Zeitreihe des Wechsels mit <strong>der</strong> Zeitordnung des<br />

reinen Begriffs von Ursache <strong>und</strong> Dependenz a priori mittels <strong>der</strong> logischen<br />

Bestimmung des Wechsels zur Sukzessivität zu verknüpfen hat, erhält<br />

seine Notwendigkeit nicht allein aus <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> modallogischen<br />

Verhältnisse vom Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> vom Begriff <strong>der</strong> Ursache,<br />

also nicht nur aus <strong>der</strong> Verschiebbarkeit des Begriffs <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung,<br />

einmal als Begriff eines sensitivums <strong>und</strong> einmal als Prädikabilie <strong>der</strong><br />

Ursache aufgefaßt werden zu können, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>se Analyse ergibt selbst<br />

nichts als eine <strong>der</strong> selbst zwar notwendigen Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit,<br />

den Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen mit dem Satz von <strong>der</strong> Ursache <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Dependenz überhaupt verbinden zu können. Die Notwendigkeit<br />

entspringt vielmehr einem architektonischen Argument, da <strong>die</strong> Annahme<br />

des Gegenteils nicht nur den Prinzipien a priori <strong>der</strong> Erkenntnis, son<strong>der</strong>n<br />

gleich <strong>der</strong> Möglichkeit je<strong>der</strong> zusammenhängenden Erfahrung<br />

wi<strong>der</strong>sprechen würde: »Der Beweis zeigt nämlich nicht, daß <strong>der</strong> gegebene<br />

Begriff (z. B. von dem, was geschieht) geradezu auf einen an<strong>der</strong>en Begriff<br />

(den einer Ursache) führe; denn <strong>der</strong>gleichen Übergang wäre ein Sprung,<br />

<strong>der</strong> sich gar nicht verantworten ließe; son<strong>der</strong>n er zeigt, daß <strong>die</strong> Erfahrung<br />

selbst, mithin das Objekt <strong>der</strong> Erfahrung, ohne eine solche Verknüpfung<br />

unmöglich wäre.« 95 Damit hat Kant einen vollständig<br />

transzendentalsubjektivistischen Standpunkt eingenommen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

transzendentale Analyse kraft idealer Identitätsetzung von Erfahrung <strong>und</strong><br />

Erkenntnis im Verstandesurteil abgeschlossen.<br />

In <strong>der</strong> Vorrede zur zweiten Auflage <strong>der</strong> K.r.V. gibt Kant ein cartesianisch<br />

anmutendes Argument, mit dem er sein Vertrauen in seine<br />

Transzendentalphilosophie begründet: »Nicht Eigendünkel, son<strong>der</strong>n bloß<br />

<strong>die</strong> Evidenz, welche das Experiment <strong>der</strong> Gleichheit des Resultats im<br />

Ausgange von den mindesten Elementen bis zum Ganzen <strong>der</strong> reinen<br />

Vernunft <strong>und</strong> im Rückgange vom Ganzen (denn auch <strong>die</strong>ses ist für sich<br />

durch <strong>die</strong> Endabsicht <strong>der</strong>selben im Praktischen gegeben) zu jedem Teile<br />

95 K.r.V.,B 811/A 783


-— 133 —<br />

bewirkt, indem <strong>der</strong> Versuch, auch nur den kleinsten Teil abzuän<strong>der</strong>n,<br />

sofort Wi<strong>der</strong>sprüche, nicht bloß des Systems, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Menschenvernunft herbeiführt, berechtigt mich zu <strong>die</strong>sem Vertrauen.« 96<br />

Die Notwendigkeit des synthetischen Urteils a priori in den dynamischen<br />

Kategorien insgesamt wird architektonisch also von sehr verschiedenen<br />

Stellen gefor<strong>der</strong>t: Zu oberst ein praktischer Gr<strong>und</strong>, weil es uns zuträglich<br />

ist, dann ein Vernunftgr<strong>und</strong>, weil ansonsten keine systematische<br />

Erkenntnis möglich wäre, schließlich ein naturphilosophischer <strong>und</strong><br />

ontologischer Gr<strong>und</strong>, ohne dem nicht nur Naturwissenschaft, son<strong>der</strong>n<br />

zuletzt auch <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> objektiven Realität unseres Daseins nicht<br />

möglich wäre. 97 Keinesfalls ist aber mit <strong>die</strong>sem transzendentalen Prinzip<br />

<strong>der</strong> Erkenntnis anschauen<strong>der</strong> Intelligenzen garantiert, daß empirisch auch<br />

immer Ursachen gef<strong>und</strong>en werden:<br />

»Der Begriff <strong>der</strong> Ursache enthält eine Regel, nach <strong>der</strong> ein Zustand ein<br />

an<strong>der</strong>er notwendiger Weise folgt; aber <strong>die</strong> Erfahrung kann uns nur zeigen,<br />

daß oft, <strong>und</strong>, wenn es hochkommt, gemeiniglich auf einen Zustand <strong>der</strong><br />

Dinge ein an<strong>der</strong>er folge, <strong>und</strong> kann also we<strong>der</strong> strenge Allgemeinheit, noch<br />

Notwendigkeit verschaffen etc.. Daher scheinen Verstandesbegriffe viel<br />

mehr Bedeutung <strong>und</strong> Inhalt zu haben, als daß <strong>der</strong> bloße<br />

Erfahrungsgebrauch ihre ganze Bestimmung erschöpfte [...].« 98<br />

Kant meint offenbar aber nicht nur, daß dann, wenn Erkenntnisse möglich<br />

sind, <strong>die</strong>se nur nach <strong>der</strong> Kausalitätskategorie möglich sind, son<strong>der</strong>n<br />

96 B XXXVIII<br />

97 Vgl. hiezu <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus, beson<strong>der</strong>s aber <strong>die</strong> Paralogismen:<br />

»Nehmen wir nun unsere obigen Sätze, wie sie auch für alle denkenden Wesen<br />

gültig, in <strong>der</strong> rationalen Psychologie als System genommen werden müssen, in<br />

synthetischem Zusammenhange, <strong>und</strong> gehen, von <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Relation, mit<br />

dem Satze: alle denkenden Wesen sind, als solche, Substanzen, rückwärts <strong>die</strong> Reihe<br />

<strong>der</strong>selben, bis sich <strong>der</strong> Zirkel schließt, durch, so stoßen wir zuletzt auf <strong>die</strong> Existenz<br />

<strong>der</strong>selben [...]. Hieraus folgt aber,daß <strong>der</strong> Idealism in eben demselben rationalistische<br />

System unvermeidlich sei, wenigstens <strong>der</strong> problematische, <strong>und</strong>, wenn das Dasein<br />

äußerer Dinge zu Bestimmung seines eigenen in <strong>der</strong> Zeit gar nicht erfor<strong>der</strong>lich ist,<br />

jenes auch nur ganz umsonst angenommen werde, ohne jemals einen Beweis davon<br />

angeben zu können. Befolgen wir dagegen das analytische Verfahren, da das Ich<br />

denke, als ein Satz, <strong>der</strong> schon ein Dasein in sich schließt, als gegeben, mithin <strong>die</strong><br />

Modalität, zum Gr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> zerglie<strong>der</strong>n ihn, um seinen Inhalt, ob <strong>und</strong> wie<br />

nämlich <strong>die</strong>ses Ich im Raum o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit bloß dadurch sein Dasein bestimmt, zu<br />

erkennen, so würden <strong>die</strong> Sätze <strong>der</strong> rationalen Seelenlehre nicht vom Begriffe eines<br />

denkenden Wesens überhaupt, son<strong>der</strong>n von einer Wirklichkeit überhaupt anfangen,<br />

<strong>und</strong> aus <strong>der</strong> Art, wie <strong>die</strong>se gedacht wird, nachdem alles, was dabei empirisch ist,<br />

abgeson<strong>der</strong>t worden, das was einem denkenden Wesen überhaupt zukommt<br />

gefolgert werden [...].« (K.r.V., B 416 ff.)<br />

98 Prolegomena, A 106


-— 134 —<br />

vielmehr, daß auch dann, wenn noch keine Ursachen für einen Wechsel in<br />

den Erscheinungen gef<strong>und</strong>en werden konnte, weitere Nachforschung<br />

niemals zu <strong>der</strong> Überzeugung kommen könnte, <strong>die</strong>ser Wechsel hätte ohne<br />

Ursache stattgef<strong>und</strong>en. Es soll also gegenüber <strong>der</strong> Anschauung nicht nur<br />

abstrakt <strong>die</strong> Wirkung aus <strong>der</strong> Ursache behauptet werden können, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>die</strong> Kausalkategorie soll <strong>die</strong> Ursache mit ihrer Wirkung empirisch in <strong>der</strong><br />

Anschauung auffinden lassen, was erst <strong>die</strong> Verknüpfung einer bestimmten<br />

Ursache mit einer bestimmten Wirkung in <strong>der</strong> Zeit erlaubt. Das aber ist <strong>die</strong><br />

Bedingung <strong>der</strong> Demonstrierbarkeit des reinen Verstandesbegriffes in <strong>der</strong><br />

anschauenden Erfahrung. Diese Demonstrierbarkeit beruht hier aber<br />

ausschließlich auf <strong>die</strong> Kontinuität <strong>der</strong> äußeren Sinnlichkeit im inneren<br />

Sinn, was Erweiterungsmöglichkeiten in Hinblick auf den<br />

wissenschaftstheoretischen Status mo<strong>der</strong>ner mathematischer<br />

naturwissenschaftlicher Theorien erwarten läßt.<br />

7) Conclusio<br />

Ich habe es für am geeignetsten gef<strong>und</strong>en, Realität zunächst als Ergebnis<br />

bloßer Anerkenntnis eines So-seins (also zuerst nicht als normative Frage)<br />

anzusehen, während ich den deutschen Ausdruck »Wirklichkeit« für <strong>die</strong><br />

Bedeutung »objektiver« Realität reserviert habe, weil damit <strong>die</strong> Kausalität<br />

als feststellbar gedacht wird, welche eben <strong>die</strong> Selbstständigkeit des Realen<br />

gegenüber <strong>der</strong> bloßen subjektiv bleibenden Evidenz des Realen<br />

auszudrücken vermag. Dazu ist durchaus nochmals <strong>die</strong> Schwierigkeit zu<br />

bedenken, daß wir heute (an<strong>der</strong>s als Kant es gedacht hat) auch<br />

naturwissenschaftliche Theorien als solche akzeptieren, <strong>die</strong> keineswegs<br />

alle kausalen Wechselwirkungen theoretisch darzustellen imstande sind.<br />

— Das transzendentale Prinzip <strong>der</strong> Kausalität, welche in den<br />

Erscheinungen noch dasjenige zu identifizieren hat, was Ursache <strong>und</strong> was<br />

Wirkung ist (Schematismusproblem <strong>der</strong> K. r. V.), ist also in formaler <strong>und</strong><br />

methodischer Hinsicht nicht <strong>die</strong> allein entscheidende Voraussetzung (<strong>der</strong><br />

zureichende Gr<strong>und</strong>) zur naturwissenschaftlichen Theoriebildung, son<strong>der</strong>n<br />

wird abermals (wie schon zuvor <strong>der</strong> Satz vom zureichenden Gr<strong>und</strong> in <strong>der</strong><br />

bloß rationalen Metaphysik) von mir nur als Ideal eines allgemeinen<br />

Prinzips gebraucht, daß <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Mathesis gegenüberzustellen ist.<br />

Als logisches Prinzip scheint <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch nach obigen<br />

Erörterungen keine Zeitbedingung zu benötigen, doch wird <strong>der</strong>


-— 135 —<br />

wesenslogische Gr<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Metaphysik transzendentallogisch<br />

zum Rechtfertigungsprinzip <strong>der</strong> begrifflichen Synthesis umgestaltet. Die<br />

eigentlich transzendentale Untersuchung geschieht durch eine<br />

Doppelstrategie: Einerseits wird mit <strong>der</strong> Darlegung <strong>der</strong><br />

Aufeinan<strong>der</strong>bezogenheit von Reproduktion <strong>und</strong> Produktion in <strong>der</strong><br />

transzendentalen Apprehension <strong>die</strong> Interpretation des einen Abschnittes<br />

des Schematismus <strong>der</strong> reinen Verstandesbegriffe vorgelegt 99 (was zur<br />

Erscheinung <strong>der</strong> Beharrlichkeit gegenüber dem rein intellektuellen<br />

Begriffes des Dinges in <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik führt). An<strong>der</strong>erseits<br />

werden <strong>die</strong> Modalbegriffe <strong>der</strong> Leibnizianisch-Wolffschen Schule<br />

dahingehend kritisch analysiert, inwieweit sie — anstatt metaphysische<br />

Bedingungen <strong>der</strong> Wahrheit — transzendentale Bedingungen <strong>der</strong><br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung sein können, was zum Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong><br />

Kausalität gegenüber dem allgemeinen epistemologischen Gr<strong>und</strong>satz vom<br />

zureichenden Gr<strong>und</strong> führt: Nunmehr wird <strong>der</strong> Begriff vom Zufall nicht<br />

mehr durch den Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch son<strong>der</strong>n durch <strong>die</strong> kausale<br />

Beziehung in den aneinan<strong>der</strong>liegenden Zeitteilen kategorial interpretiert:<br />

Zufällig sind jene Dinge (Prädikate) <strong>der</strong>en Wegnahme nichts an den<br />

Folgen än<strong>der</strong>t. Die logische Funktion des Verstandes aber ist zwar nicht<br />

<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Zeit (<strong>und</strong> vom Raum), jedoch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> je<strong>der</strong> Einteilung.<br />

Dazu wäre noch zu bemerken, daß <strong>die</strong>s Kant nur für <strong>die</strong> kontinuierlich<br />

verlaufende Zeit vollständig behandelt hat, nicht für <strong>die</strong> Teilung <strong>der</strong> Zeit<br />

in Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft. Die Behandlung des Regressus<br />

<strong>und</strong> des Progressus in den Antinomien zeigt deutlich, daß <strong>die</strong>se<br />

Zeitvorstellungen im Rahmen <strong>der</strong> kosmologischen Idee nicht als formale<br />

Zeitbedingung verstanden werden, wie es <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>legung von<br />

Bedingungen historischer Erfahrung erfor<strong>der</strong>n würde, son<strong>der</strong>n als<br />

Erfahrungsbedingungen auf <strong>die</strong> jeweilige Mitte von Regressus <strong>und</strong><br />

Progressus bezogen bleibt.<br />

Wahrheit aber benötigt <strong>die</strong> Bedingung des Zugleichseins, da <strong>die</strong> objektive<br />

Realität als Commercium <strong>die</strong> von den Objekten <strong>der</strong> Erfahrung verursachte<br />

sinnliche Empfindung <strong>der</strong> objektiven Erkenntnis analytisch voraussetzt.<br />

Jedoch ist das nicht schlicht adequationstheoretisch zu verstehen, da auch<br />

99 K.r.V., B 236: »Man siehet bald, daß, weil Übereinstimmung <strong>der</strong> Erkenntnis mit dem<br />

Objekt Wahrheit ist, hier nur nach den formalen Bedingungen <strong>der</strong> empirischen<br />

Wahrheit gefragt werden kann, <strong>und</strong> Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Apprehension, nur dadurch als das davon unterschiedene Objekt<br />

<strong>der</strong>selben könne vorgestellt werden, wenn sie unter einer Regel steht, welche sie von<br />

je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Apprehension unterscheidet.«


-— 136 —<br />

<strong>der</strong> Zusammenhang aller Kategorien 100 gefor<strong>der</strong>t wird. Es wird noch vor<br />

<strong>der</strong> systematischen Einteilung <strong>der</strong> Erkenntnisse zu einer Wissenschaft nach<br />

Prinzipien ein kohärenztheoretisches Kriterium <strong>der</strong> Wahrheit gefor<strong>der</strong>t.<br />

Obgleich man nun <strong>der</strong> Teile <strong>der</strong> Konzepte in <strong>der</strong> Reflexion gewärtig sein<br />

<strong>und</strong> sich im Zusammenhang <strong>der</strong> Theorie zu orientieren fähig sein muß<br />

(vgl. ursprünglich <strong>die</strong> transzendentale Reflexion), kann dann hier im Zuge<br />

<strong>der</strong> Einschränkung <strong>der</strong> Reflexion auf sich selbst von Zugleichsein o<strong>der</strong><br />

Gegenwart im Sinne objektiver Realität nicht mehr <strong>die</strong> Rede sein. Das<br />

Reale <strong>der</strong> Apperzeption aber ist das Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart. 101 — Der<br />

perennierende Augenblick ist als Augenblick eher als Idee <strong>der</strong> Ewigkeit in <strong>der</strong><br />

Vorstellung des Raumes <strong>und</strong> bloß als Sinnbild des Gefühls <strong>der</strong><br />

Allgegenwart zu denken <strong>und</strong> von da her meiner Meinung nach wenig<br />

geeignet, dem Zugleichsein als Koexistenz eine subjektiv-empirische Basis<br />

im Sinne einer reinen Innenerfahrung bieten zu können. Und zwar nicht,<br />

weil etwa <strong>der</strong> perennierende Augenblick, so wie ich ihn aufzufassen<br />

imstand bin, <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Koexistenz aufhebt, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

weil <strong>die</strong>se in ihm gemeinsam mit nicht mehr, noch nicht o<strong>der</strong> auch niemals<br />

existierenden Dingen gedacht werden. Es ist nicht möglich, aus <strong>die</strong>ser Idee<br />

<strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Koexistenz als Zugleichsein herauszuheben, obwohl<br />

in einem uneigentlichen Sinne alles das, was vom Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart<br />

affiziert ist, als zugleich behauptet wird. In <strong>der</strong> Tat stellt sich das Gefühl<br />

<strong>der</strong> Allgegenwart auch als ästhetischer Überschuß <strong>der</strong> Vorstellung des<br />

Zugleichseins vor (<strong>und</strong> zwar als Erhabenheit <strong>der</strong> mathematischen Größe).<br />

Schließlich ist <strong>der</strong> Augenblick als Momentum o<strong>der</strong> als Jetzt selbst nicht das<br />

Zugleichsein <strong>der</strong> Gegenwart. Erst <strong>die</strong> Gegenwart (bereits als<br />

Commercium) mindestens zweier Gegenstände gibt den Begriff vom<br />

Zugleichsein mit <strong>der</strong> Bedingung seiner empirischen Bestimmbarkeit. Das<br />

Jetzt hingegen hat keinerlei eigene Bedingungen empirischer<br />

Darstellbarkeit, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Dauer des Zugleichseins in <strong>der</strong> Gegenwart als<br />

Kontinuum zur Voraussetzung, worin es eine willkürliche Grenze als<br />

Teilung <strong>der</strong> Gegenwart in Vergangenes <strong>und</strong> in Zukünftiges setzt. Als<br />

Grenze setzt das Jetzt eben <strong>die</strong> Kontinuität (<strong>die</strong> Dauer) <strong>der</strong> Zeit als<br />

Gegenwart voraus, gleich ob <strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> Zeit selbst als Substratum<br />

gedacht wird 102 o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Beharrlichkeit als synthetisches Urteil a priori aus<br />

100 K.r.V., Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus: »In m<strong>und</strong>o non datur hiatus, non datur saltus,<br />

non datur casus, non datur fatum.« (B 282/A 229)<br />

101 Vgl. AA. XVII, p. 450<br />

102 K.r.V.,: »Die Zeit also, in <strong>der</strong> aller Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen gedacht werden soll,<br />

bleibt <strong>und</strong> wechselt nicht; weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinan<strong>der</strong>- o<strong>der</strong>


-— 137 —<br />

dem Vergleich <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihenfolge<br />

<strong>der</strong> Vorstellungen (transzendentale Apprehension) eines empirischen<br />

Substratum erst den Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Dauer ausmacht. 103 Im ersten Fall ist es das<br />

Bewußtsein, das <strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> Zeit ausmacht, im zweiten Fall <strong>die</strong><br />

Substanz <strong>der</strong> Erscheinung. Die Substanz <strong>der</strong> Erscheinung scheint<br />

allerdings indifferent gegenüber <strong>der</strong> Frage zu sein, ob sie sich auf <strong>die</strong><br />

Physiologie des inneren Sinnes o<strong>der</strong> auf <strong>die</strong> Physik <strong>der</strong> wirklichen<br />

Gegenstände (Materie) bezieht.<br />

Deshalb drückt erst <strong>die</strong> Kausalitätskategorie <strong>die</strong> ausgezeichnete<br />

Bedingung aus, daß von objektiver Realität, <strong>die</strong> schon für <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>sätze<br />

<strong>der</strong> Geometrie allererst <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage objektiver Gültigkeit ist, <strong>die</strong> Rede<br />

sein kann. 104 Diese Bedingung ist aber we<strong>der</strong> im Jetzt noch im<br />

perennierenden Augenblick auszumachen: Im Jetzt nicht, weil gar nicht<br />

enthalten son<strong>der</strong>n letztlich mit vorausgesetzt; im perennierenden<br />

Augenblick nicht, weil, obgleich enthalten, nicht heraushebbar. Das Gefühl<br />

<strong>der</strong> Allgegenwart ist demnach das Produkt einer ästhetischen Idee <strong>und</strong><br />

nicht selbst objektive Erkenntnis.<br />

8) Ideales <strong>und</strong> reales Zugleichsein<br />

In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Anmerkung am Ende <strong>der</strong> Systematischen Vorstellung<br />

aller synthetischer Gr<strong>und</strong>sätze spricht Kant vom Zugleichseinals einem<br />

»bloß idealen Verhältnis«, von dem man ohne den »insgeheim<br />

angenommenen Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Gemeinschaft aller Substanzen« nicht auf<br />

ein reales Zugleichsein schließen könne, obwohl schon anfangs das<br />

Zugleichsein nur im Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Gemeinschaft aller Substanzen<br />

bestimmt werden können sollte. 105<br />

Daraus, daß Kant das Zugleichsein nicht nur als Folge des Commerciums<br />

auffaßt, ist ohne weiters zu verstehen, daß das Zugleichsein <strong>der</strong> Begriff<br />

Zugleichsein nur als Bestimmung <strong>der</strong>selben vorgestellt werden können.«<br />

(B 225/A 182)<br />

103 B 236/A 191, vgl. Anmk. 63<br />

104 Zum Schluß des Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz verweist Kant selbst<br />

auf <strong>die</strong> zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Kausalitätskategorie: »Was aber das empirische<br />

Kriterium <strong>die</strong>ser notwendigen Beharrlichkeit <strong>und</strong> mit ihr <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong><br />

Erscheinungen sei, davon wird uns <strong>die</strong> Folge Gelegenheit geben das Nötige<br />

anzumerken.« (B 232/A 189)<br />

105 B 265/A 218


-— 138 —<br />

von einer Anschauungsform sein könnte, <strong>der</strong>en objektive Gültigkeit bloß<br />

nicht ohne den synthetischen Gr<strong>und</strong>satz des Commerciums erwiesen<br />

werden kann. Hier interessiert zuerst also unabhängig von <strong>der</strong><br />

Überlegung, <strong>der</strong> Raum sei zunächst als ästhetische Idee zu fassen (als<br />

Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart), <strong>die</strong> Frage, ob das Zugleichsein vor <strong>der</strong><br />

Begründung seiner objektiven Gültigkeit in <strong>der</strong> Gemeinschaft aller<br />

Substanzen ideal als Anschaungsform behauptet werden kann. Kant zählt<br />

das Zugleichsein einmal zu den modi <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> einmal nicht. 106 Sofern<br />

<strong>die</strong> Beharrlichkeit (im übrigen alle Modi <strong>der</strong> Zeit) nicht zu den reinen<br />

Eigenschaften <strong>der</strong> Zeit als Anschauungsform zu zählen ist, 107 da sie nicht<br />

allein aus <strong>der</strong> Zeitlichkeit des inneren Sinnes abgeleitet sein kann, ist das<br />

Zugleichsein als reales Verhältnis ebenfalls nicht als reiner Zeitbegriff zu<br />

verstehen. Daraus ist also zu folgern, daß das Zugleichsein keine reine<br />

Anschauungsform sein kann. Allerdings ist noch ein an<strong>der</strong>es Argument zu<br />

bedenken: da auch das Zugleichsein <strong>der</strong> bloßen Raumteile überhaupt 108<br />

ausschließt, daß das Zugleichsein zu den modi <strong>der</strong> Zeit gehört, 109 ist wegen<br />

<strong>der</strong> möglichen Idealität des Raumes auch ein reines Argument gef<strong>und</strong>en,<br />

um das Zugleichsein nicht als ein Modus <strong>der</strong> Zeit anzuerkennen. 110 D.h.,<br />

zwischen dem realen <strong>und</strong> dem idealen Argument eröffnet sich <strong>die</strong><br />

Beson<strong>der</strong>heit des Zugleichseins, neben <strong>der</strong> Prädikabilie <strong>der</strong> Bewegung<br />

<strong>der</strong>jenige Begriff zu sein, <strong>der</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit vereinigt; 111 <strong>und</strong> zwar<br />

möglicherweise ohne auf etwas Empirisches in <strong>der</strong> Anschauungsform<br />

zurückkommen zu müssen, wie bei den Modi <strong>der</strong> Zeit o<strong>der</strong> im Begriff <strong>der</strong><br />

Bewegung.<br />

Nun ist <strong>der</strong> Nachweis, daß <strong>der</strong> Raum ohne etwas in ihm nicht darstellbar,<br />

somit für uns ohne dem Schema <strong>der</strong> Beharrlichkeit nichts wäre, nahezu<br />

trivial <strong>und</strong> führte nur zum Nachweis objektiver Gültigkeit des<br />

106 B 219/A 177: »Die drei modi <strong>der</strong> Zeit sind Beharrlichkeit, Folge <strong>und</strong> Zugleichsein.<br />

Daher werden drei Regeln aller Zeitverhältnisse <strong>der</strong> Erscheinungen, wonach je<strong>der</strong><br />

ihr Dasein in Ansehung <strong>der</strong> Einheit aller Zeit bestimmt werden, vor aller<br />

Erfahrung vorhergehen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se allererst möglich machen.« Vgl. auch<br />

B 225/A 182. Hingegen: »[...] <strong>der</strong> Wechsel trifft <strong>die</strong> Zeit selbst nicht, son<strong>der</strong>n nur <strong>die</strong><br />

Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit, (so wie das Zugleichsein nicht ein modus <strong>der</strong> Zeit selbst<br />

ist, als in welcher gar keine Teile zugleich, son<strong>der</strong>n alle nacheinan<strong>der</strong> sind).«<br />

(B 226/A 183)<br />

107 R.Aschenberg, Sprachanalyse <strong>und</strong> Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982, p. 219.<br />

Der Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen ist keine Prädikabilie.<br />

108 Vgl. <strong>die</strong> Unterscheidung in Zeitreihe <strong>und</strong> Zeitumfang (K.r.V., A 182)<br />

109 K.r.V., B 226/A 183<br />

110 B 43 f./A 27 f. Die Idealität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Realität des Raumes.<br />

111 B 58/A 41


-— 139 —<br />

Zugleichseins anhand des Commerciums. 112 Das Zugleichsein des Raumes<br />

kann also ohne den Gr<strong>und</strong>satz des Commerciums nicht objektiv erwiesen<br />

werden, da aber das Commercium seinerseits nicht vom von<br />

Gegenständen erfüllten Raum getrennt werden kann <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen doch<br />

zuallererst voraussetzt, gibt es einen eigenen Gr<strong>und</strong> von <strong>der</strong> Idealität des<br />

Raumes zu sprechen, <strong>der</strong> nichts mit <strong>der</strong> transzendentalen Idealität reiner<br />

Anschauung als Moment anschauen<strong>der</strong> Intelligenzen (o<strong>der</strong> gar bloß mit<br />

unserer spezifisch empirischen Organisationsform <strong>der</strong> Sinnlichkeit) zu tun<br />

hat. Diese Überlegungen gehen nun von <strong>der</strong> ontologischen Differenz<br />

zwischen idealem <strong>und</strong> realem Argument aus; im Rahmen <strong>der</strong> Erörterung<br />

<strong>der</strong> objektiven Gültigkeit <strong>der</strong> Geometrie führt <strong>die</strong> Beanspruchung des<br />

idealen Zugleichseins des Raumes allerdings zu Schwierigkeiten. Gerade<br />

für <strong>die</strong> Geometrie als reine Wissenschaft sollte doch, so war Kants<br />

Überlegungen, <strong>die</strong> Bewegung, <strong>und</strong> so doch wohl auch <strong>die</strong> Handlung <strong>der</strong><br />

Konstruktion 113 selbst ausgeschlossen werden, obgleich zur objektiven<br />

Gültigkeit <strong>der</strong> Geometrie <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung,<br />

mithin objektiver Realität notwendig sei. Außer <strong>die</strong> Stellen in <strong>der</strong><br />

Deduktion B, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong>sbezüglich auf <strong>die</strong> transzendentale Ästhetik selbst<br />

beziehen, ist komplementär dazu noch jene Stelle aus <strong>der</strong><br />

Schlußanmerkung des § 24 heranzuziehen, wo gesagt wird, daß, hat man<br />

erstens allein auf <strong>die</strong> Handlung des Verstandes während <strong>der</strong> Konstitution<br />

eines Objektes acht, <strong>und</strong> abstrahiert zweitens vom Raum, <strong>die</strong>se<br />

Verstandeshandlung allererst den inneren Sinn zur Sukzessivität<br />

bestimmt. Hier wurde <strong>der</strong> Raum ausgeschlossen, um zur Vorstellung <strong>der</strong><br />

reinen Sukzessivität zu kommen; zuvor wurde <strong>die</strong> Zeit ausgeschlossen,<br />

um zur reinen Anschauung des Raumes in <strong>der</strong> Geometrie zu kommen.<br />

Das Problem liegt aber noch tiefer: Vom beson<strong>der</strong>en empirischen Objekt<br />

wie vom Raum muß erst eigens abgesehen <strong>und</strong> abstrahiert werden, um<br />

den inneren Sinn zur bloßen Sukzessivität zu bestimmen. Umgekehrt soll<br />

von <strong>der</strong> Sukzessivität aber nur abgesehen werden, um zu einer reinen<br />

Vorstellung des Raumes zu gelangen. Zur Vorstellung eines Dinges in <strong>der</strong><br />

Anschauung aber ist nun zwar nicht Sukzessivität gemäß <strong>der</strong><br />

modallogischen Definition, aber doch <strong>der</strong> Wechsel vorausgesetzt,<br />

ansonsten Beharrliches nicht möglich wäre. Beharrlichkeit ist aber das<br />

Kennzeichnen eines Objekts <strong>der</strong> Erfahrung. — Die Aufhebung <strong>der</strong><br />

112 B 260/A 213: Ohne commercium könnte <strong>die</strong> communio spatii nicht erkannt werden.<br />

113 Diese Handlung gehört zwar zur Transzendentalphilosophie, aber deshalb noch<br />

nicht zwingend zur Geometrie selbst. Vgl. auch Cramer 1985, p. 360 f.


-— 140 —<br />

Sukzessivität selbst (als Gegenzug zur Aufhebung des Raumes) ist nicht<br />

schlicht auch schon <strong>die</strong> Aufhebung des Wechsels, somit auch nicht <strong>die</strong><br />

Aufhebung des Beharrlichen. Die Aufhebung des Raumes würde aber zur<br />

Aufhebung <strong>der</strong> Bedingungen des Beharrlichen in <strong>der</strong> Anschauung führen.<br />

So soll <strong>der</strong> Raum unabhängig von <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zeit unabhängig vom<br />

Raum gedacht werden können. Es ist jedoch an <strong>die</strong>ser Stelle noch nicht<br />

sinnvoll möglich, das systematische Verhältnis von progressivsynthetischer<br />

Vorgangsweise (von <strong>der</strong> Sukzessivität des inneren Sinnes zur<br />

Raum- <strong>und</strong> Gegenstandsvorstellung) 114 zur regressiv-analytischen<br />

Vorgangsweise <strong>der</strong> Einklammerung (<strong>die</strong> von <strong>der</strong> Erfahrung alles<br />

Empirische wegläßt) 115 zu diskutieren.<br />

An Stelle <strong>die</strong> Verschiedenheit von Raum <strong>und</strong> Zeit weiter hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Zeitordnung ihrer Begriffe zu untersuchen, soll hier das Problem ihrer<br />

doch mit vorausgesetzten Möglichkeit zur Einheit betrachtet werden:<br />

Einerseits ist das Ziehen einer Linie <strong>die</strong> sukzessive Verräumlichung <strong>der</strong><br />

Zeit (also <strong>die</strong> Demonstration <strong>der</strong> Darstellbarkeit <strong>der</strong> Zeit im Raume),<br />

an<strong>der</strong>erseits sollen alle Teile <strong>die</strong>ser Linie zugleich sein, ansonsten es keine<br />

Verräumlichung wäre: »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in<br />

Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben.« 116<br />

Hier geht es nicht mehr darum, <strong>die</strong> konstitutive Handlung in <strong>der</strong><br />

Darstellung des geometrischen Begriffes in erst dadurch rein zu nennen<strong>der</strong><br />

Anschauung rückwärts gewendet neuerlich auf <strong>die</strong> Formen <strong>der</strong><br />

Erscheinung zu beziehen, um allererst <strong>die</strong> reine Anschauung von bloßer<br />

Einbildung zu unterscheiden. Offensichtlich behauptet Kant, daß mit dem<br />

Denken — zumindest beim Denken geometrischer Begriffe — spontan <strong>die</strong><br />

Einbildungskraft gegenüber dem inneren Sinn tätig ist; <strong>und</strong> da<br />

geometrische Begriffe <strong>der</strong> Philosophie Konstruktionsanweisungen<br />

enthalten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> Apprehension gegebener<br />

Erscheinungen mit <strong>der</strong> Handlung des Verstandes bei <strong>der</strong> Konstruktion<br />

114 B 202/A 162: Die Apprehension erzeugt allererst <strong>die</strong> Vorstellungen von Raum <strong>und</strong><br />

Zeit, <strong>und</strong> B 225f./A 182 f.: »Unsere Apprehension des Mannigfaltigen <strong>der</strong><br />

Erscheinungen ist je<strong>der</strong>zeit sukzessiv, <strong>und</strong> ist also immer wechselnd. Wir können<br />

also dadurch allein niemals bestimmen, ob <strong>die</strong>ses Mannigfaltige, als Gegenstand <strong>der</strong><br />

Erfahrung, zugleich sei, o<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> folge, wo an ihr nicht etwas zum Gr<strong>und</strong>e<br />

liegt, was je<strong>der</strong>zeit ist, d.i. etwas Bleibendes <strong>und</strong> Beharrliches, von welchem aller<br />

Wechsel <strong>und</strong> Zugleichsein nichts, also so viel Arten (modi <strong>der</strong> Zeit) sind, wie das<br />

Beharrliche existiert.«<br />

115 B 416 f.: Die rationale Seelenlehre im analytischenVerfahren; vgl. in <strong>der</strong><br />

transzendentalen Deduktion etwa § 16 o<strong>der</strong> §§ 24-25.<br />

116 B 154


-— 141 —<br />

geometrischer Begriffe in reiner Anschauung ausmachen sollen, ist daraus<br />

zu schließen, daß <strong>die</strong> Anwendbarkeit auf Formen <strong>der</strong> empirisch gegebenen<br />

Erscheinungen zu einem bloß modalen Argument wird, um objektive<br />

Gültigkeit auf objektive Realität zu gründen. Allein, daß in <strong>der</strong> Geometrie<br />

<strong>die</strong> Darstellung in reiner Anschauung als Einbildung dann ausreicht, wenn<br />

eben <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Regeln <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong><br />

empirisch gegebenen Erscheinungen mit den Regeln <strong>der</strong> Einbildungskraft<br />

behauptet werden kann, <strong>die</strong> unter einem geometrischen Verstandesbegriff<br />

stehend, im inneren Sinn <strong>die</strong> reine Anschauung verzeichnen, verleiht <strong>der</strong><br />

reinen Anschauung eine eigene Dignität gegenüber dem empirisch<br />

gegebenen Mannigfaltigen <strong>der</strong> Anschauung überhaupt.<br />

Die Evidenz <strong>der</strong> geometrischen Sätze entstammt aber <strong>der</strong> Unmittelbarkeit,<br />

<strong>die</strong> in <strong>der</strong> Selbstgesetztheit <strong>der</strong> Geometrie als reine Anschauung liegen<br />

können soll. Das Argument <strong>der</strong> Unmittelbarkeit <strong>der</strong> Evidenz scheint<br />

gerade im Fall <strong>der</strong> reinen Anschauung damit gesichert, daß eben <strong>die</strong><br />

nachfolgende Beschreibung ident ist mit <strong>der</strong> vorhergehenden<br />

Konstruktionshandlung. Das Argument <strong>der</strong> Unmittelbarkeit besteht nun<br />

aus zwei verschiedenen Stufen: Einmal ist <strong>die</strong> Evidenz als selbst gegenüber<br />

dem Inhalt indifferente Selbstempfindung des Denkens gegenüber dem<br />

inneren Sinn (o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Ausprägungen des ursprünglichen<br />

Bewußtseins) zu verstehen, <strong>und</strong> einmal als Vollständigkeit o<strong>der</strong><br />

Notwendigkeit des Gegenstandsbezuges schon in <strong>der</strong> prädikativen<br />

Bestimmmung eines Phänomens o<strong>der</strong> einer Beobachtung zu behandeln. Es<br />

wird hier also nur jenes in <strong>der</strong> Beschreibung des in reiner Anschauung<br />

Konstruierten in Betracht gezogen, welches auch analytisch aus dem<br />

geometrischen Begriff zu entnehmen ist. — Das synthetische Urteil a priori<br />

in <strong>der</strong> Geometrie wird hier eingeklammert. 117<br />

Indem eine Linie denken zugleich heißt sie in Gedanken (in <strong>der</strong><br />

Einbildung) zu ziehen, handelt es sich hier um den gleichen Fall wie im<br />

Übergang von den Paralogismen zu den kosmologischen Ideen 118 : Dort ist<br />

<strong>die</strong> selbst immer empirische Selbstempfindung (als Selbstaffektation des<br />

117 Die Evidenz des synthetischen Urteils a priori in <strong>der</strong> Geometrie stellt sich demnach<br />

erst anhand <strong>der</strong> Rechtfertigung <strong>der</strong> Intuitionen aus dem Wesensbegriff an den schon<br />

gesicherten wesentlichen Prädikaten (ut rationata) her. Vgl. hier den zweiten<br />

Abschnitt, I.,1; <strong>die</strong> Diskussion <strong>der</strong> Wesenslogik von Kant anhand seiner Antwort auf<br />

Eberhard.<br />

118 K.r.V.,B 401: Die Selbstempfindung als empirische Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> rationalen<br />

Psychologie des 'ich denke'.


-— 142 —<br />

inneren Sinnes) <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> rationalen Psychologie des »ich denke«;<br />

hier ist <strong>der</strong> Akt des Denkens (synthesis intellectualis ) nicht ohne<br />

gleichzeitiges Ziehen <strong>der</strong> Linie (synthesis speciosa ) möglich. Aus <strong>die</strong>ser<br />

Analogie entspringt nun auch <strong>die</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Vollständigkeit <strong>und</strong><br />

Notwendigkeit des Gegenstandsbezuges. Allerdings steht Kant dann vor<br />

dem Problem, daß <strong>der</strong> Teil, mit welchem ich beginne eine Linie zu ziehen,<br />

eben immer schon Teil einer Linie sein muß. Jedoch soll, obgleich ich doch<br />

von Anfang an den Begriff einer Linie denke, erst im Fortgang des Ziehens<br />

(wenn auch nur in Gedanken), also erst wenn <strong>die</strong> gezogene Linie aus<br />

mehreren Teilen in <strong>der</strong> Einbildung (so auch <strong>der</strong> Akt aus mehreren<br />

Augenblicken) besteht, sich <strong>die</strong> reine Anschauung einer Linie für uns<br />

herstellen. So entgeht Kant hier zwar <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> bloß gesetzten<br />

Identität von transzendentalen <strong>und</strong> geometrischen Gr<strong>und</strong>sätzen in den<br />

Axiomen <strong>der</strong> Anschauung, muß aber <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong><br />

Verstandeshandlung als bloßes Denken eines Begriffes <strong>der</strong> Linie (in<br />

Gedanken) mit <strong>der</strong> Verstandeshandlung des Ziehens einer Linie (in <strong>der</strong><br />

Einbildung) als Herstellung <strong>der</strong> reinen Anschauung, aufgeben: Identität<br />

könnte bloß von <strong>der</strong> Regel behauptet werden.<br />

Unmittelbarkeit kann also nur von <strong>der</strong> selbst empirischen Selbstaffektation<br />

des inneren Sinnes im Denken behauptet werden; <strong>die</strong>se Unmittelbarkeit<br />

<strong>der</strong> Selbstempfindung ist jedoch jedem Inhalt gegenüber indifferent. Es<br />

wird also in <strong>die</strong>sem Rahmen nicht <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Handlung<br />

<strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Mannigfaltigkeit von empirisch gegebenen<br />

Erscheinungen mit <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Handlung <strong>der</strong> produktiven<br />

Einbildungskraft, <strong>die</strong> unter einem geometrischen Begriff steht, bestritten,<br />

son<strong>der</strong>n zuerst überhaupt <strong>der</strong> Nachweis <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> Handlung des<br />

reinen Verstandes (synthesis intellectualis ) mit <strong>der</strong> Handlung eben des<br />

selben Verstandes gegenüber dem inneren Sinn als Produkt <strong>der</strong> mit<br />

Einbildungskraft begabten Spontaneität (synthesis speciosa ) eingefor<strong>der</strong>t.<br />

Die reine Anschauung ist deshalb rein, weil sie allein aus einem Begriff<br />

konstruiert werden kann. Nun soll schon <strong>der</strong> philosophische Begriff einer<br />

geometrischen Figur zureichend bestimmt sein, <strong>die</strong>se in reiner<br />

Anschauung zu konstruieren. Die Konstruktivität <strong>der</strong> geometrischen<br />

Begriffe Kants, auch wenn sie bloß philosophische Begriffe sind, setzen für<br />

<strong>die</strong> Konstitution <strong>der</strong> reinen Geometrie <strong>die</strong> Zeit als Sukzessivität voraus,<br />

obgleich <strong>der</strong> Begriffsinhalt selbst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gründe für <strong>die</strong> Verhältnisse in<br />

<strong>der</strong> Geometrie nicht zeitlich sein können. Zweifelos muß, bevor mit einer<br />

Konstruktion begonnen werden kann, ein Begriff des zu Konstruierenden


-— 143 —<br />

vorliegen, <strong>und</strong> da reine Anschauung nur aus <strong>der</strong> Konstruktion aus<br />

Begriffen möglich ist, ist in <strong>der</strong> Geometrie vom Begriff einer geometrischen<br />

Figur auszugehen <strong>und</strong> nicht von einer in reiner Anschauung gegeben<br />

Figur. Die reine Anschauung für sich genommen ist gegenüber <strong>der</strong><br />

formalen Anschauung also nichts als <strong>die</strong> Sphäre <strong>der</strong> Möglichkeit, aus<br />

Begriffen zu konstruieren. Insofern kann <strong>der</strong> seltsame Stelle in <strong>der</strong><br />

transzendentalen Ästhetik, wo Kant <strong>die</strong> Figuren im Raum als durch<br />

Einschränkung desselben vorstellt, doch noch eine Bedeutung<br />

unterschoben werden: Eine bestimmte geometrische Figur ist als<br />

Einschränkung <strong>der</strong> Sphäre des zu konstruieren Möglichen zu betrachten. 119<br />

Doch erweist sich gerade in <strong>die</strong>ser Überlegung zugleich <strong>die</strong><br />

Selbstständigkeit des Raumes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anschauung, da eben <strong>die</strong><br />

geometrische Figur nicht <strong>die</strong> Einschränkung des Raumes ist, son<strong>der</strong>n eine<br />

Konstruktion in <strong>der</strong> Anschauung o<strong>der</strong> im Raum aus Elementen, <strong>die</strong> freilich<br />

erst durch <strong>die</strong> Einschränkungen des Raumes auf Dimensionen desselben<br />

möglich geworden sind. Der Möglichkeit <strong>der</strong> Konstruktion einer<br />

bestimmten Figur aus einem bestimmten Begriff, <strong>die</strong> aus <strong>der</strong><br />

Einschränkung des Konstruktionsbegriffes überhaupt entspringen soll,<br />

steht also <strong>die</strong> Einschränkung des Raumes nach Dimensionen gegenüber,<br />

was von Kant für <strong>die</strong> reine Anschauung über <strong>die</strong> Anschauung überhaupt<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> darin enthaltenen formalen Anschauung nicht vermittelt wird,<br />

son<strong>der</strong>n doch allererst vom realen Raum vorausgesetzt wird. Folgerichtig<br />

ist dann im Rahmen <strong>der</strong> hier vorgenommenen Verschärfung <strong>der</strong><br />

Argumentation <strong>die</strong> reine Anschauung als bloßes Produkt <strong>der</strong><br />

Einbildungskraft vom »realen« Raum darin zu unterscheiden, daß auch<br />

<strong>die</strong> weitere Einschränkung <strong>der</strong> Dimensionsbestimmung für <strong>die</strong> reine<br />

Anschauung immer schon vom Konstruktionsbegriff mitgebracht wird.<br />

Die Idealität des Raumes in <strong>der</strong> bloßen Definition des Zugleichseins <strong>der</strong><br />

Raumteile kann durch <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Substanzen <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong>en objektive Realität als objektiv gültig erwiesen werden, gleiches<br />

scheint für <strong>die</strong> reine Anschauung selbst aber nunmehr nicht möglich zu<br />

sein. Das Zugleichsein <strong>der</strong> Teile einer sukzessive gezogenen Linie im<br />

Übergang von <strong>der</strong> Zeitlosigkeit eines Begriffes (allerdings schon mit <strong>der</strong><br />

Zeitordnung, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Konstruktionsanweisung liegt) zur Zeitlosigkeit<br />

<strong>der</strong> geometrischen Figur (respektive <strong>der</strong> Selbstständigkeit des Produktes<br />

<strong>der</strong> Einbildung gegenüber <strong>der</strong> Verstandeshandlung) wird mit <strong>der</strong><br />

119 vgl. auch B 606/A 578


-— 144 —<br />

Beschränkung auf <strong>die</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong> Konstruktion als sukzessive<br />

Reihenfolge immer schon unterschlagen. Die Beharrlichkeit, <strong>die</strong> als Regel<br />

<strong>der</strong> Apprehension dem allgemeinen Vergleich <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong><br />

reproduzierten Erscheinungen mit <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> produzierten<br />

Vorstellungen als Indiz <strong>der</strong> Substanz entspringt, hat als Voraussetzung <strong>die</strong><br />

Einheit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kontinuität von Raum <strong>und</strong> Zeit (als Anschauungsform<br />

<strong>und</strong> nicht als Idee <strong>der</strong> Ausdehnung); <strong>der</strong> Raum, dessen Vorstellungen<br />

<strong>der</strong>selben transzendentalen Reflexion des totum ideale als Ursprung von<br />

Anschauung <strong>und</strong> Begriff entspringt, hat als Voraussetzung <strong>die</strong> Einheit <strong>und</strong><br />

Kontinuität von Beharrlichkeit <strong>und</strong> Zeit (als Dauer). Die Selbstständigkeit<br />

einer geometrischen Figur in reiner Anschauung gegenüber <strong>der</strong><br />

konstruierenden Verstandeshandlung setzt aber <strong>die</strong> Kontinuitätsfor<strong>der</strong>ung<br />

für <strong>die</strong> Zeit aus. Die Zeitordnung <strong>der</strong> Konstruktionsregel (das Konzept<br />

eines Dinges als seine Konstruktionsregel) benötigt in reiner Anschauung<br />

nicht mehr unmittelbar <strong>die</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Zeit, um <strong>die</strong> Regelhaftigkeit<br />

<strong>der</strong> Darstellung eines Begriffes in <strong>der</strong> Erfahrung zu garantieren. Die<br />

Konstruktion einer geometrischen Figur kann zum Unterschied <strong>der</strong><br />

kontinuierlich verlaufenden Zeit <strong>der</strong> Abfolge <strong>der</strong> Erscheinungen, <strong>der</strong>en<br />

Reihenfolge objektive Gültigkeit zukommen kann, ob sie nun ein Ursache-<br />

Wirkungsverhältnis versinnlichen o<strong>der</strong> nicht, durchaus unterbrochen<br />

werden, auch ohne damit <strong>die</strong> Kontinuitätsbedingungen des Raumes, mit<br />

dessen Elemente in reiner Anschauung konstruiert wird, zu verletzen. Ich<br />

kann heute damit beginnen, eine Linie in reiner Anschauung zu ziehen<br />

<strong>und</strong> morgen damit fortfahren, <strong>und</strong> zwar deshalb, weil ich weiß, bei<br />

welcher Größe ich heute unterbrochen habe, sodaß ich morgens damit<br />

fortfahren kann, <strong>die</strong> Linie zu ziehen, bis sie das gedachte Quantum erfüllt.<br />

Die Zeitlichkeit <strong>der</strong> Konstruktion stellt außer <strong>der</strong> Zeitordnung keinerlei<br />

Zeitbedingungen an <strong>die</strong> Konstruktion in reiner Anschauung. Die objektive<br />

Gültigkeit <strong>der</strong> Geometrie ist also an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> objektive Gültigkeit des<br />

Zugleichseins <strong>der</strong> Teile des realen Raumes auf objektive Realität zu<br />

beziehen.<br />

Die Zeitordnung bleibt eine Ordnung <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Konstruktion <strong>und</strong><br />

nicht <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen überhaupt. Das Zugleichsein <strong>der</strong><br />

Teile im Konstruktionsraumkann für <strong>die</strong> <strong>der</strong>art von <strong>der</strong> Anschauung<br />

überhaupt abgehobene reine Anschauung also nicht unmittelbar durch <strong>die</strong><br />

Beziehung auf den Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Gemeinschaft aller Substanzen erwiesen<br />

werden, son<strong>der</strong>n bedarf eines eigenen Ausweises. Während das<br />

Zugleichsein im Commercium nicht aufgr<strong>und</strong> des Zugleichseins <strong>der</strong> Teile


-— 145 —<br />

des Raumes erwiesen wird, son<strong>der</strong>n aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Koexistenz von<br />

Seienden <strong>und</strong> <strong>der</strong>en notwendigen Wechselwirkungen, muß das<br />

Zugleichsein <strong>der</strong> reinen Anschauung in <strong>der</strong> Zeitordnung des<br />

Konstruktionsbegriffes, <strong>der</strong> eben nicht Kontinuitätsbedingungen <strong>der</strong> Zeit<br />

notwendigerweise mitbringen muß, zu begründen sein.<br />

Die Zeitordnung <strong>der</strong> Kausalitätskategorie bestimmt für sich allein<br />

bekanntermaßen <strong>die</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen deshalb nicht, weil<br />

Ursache <strong>und</strong> Wirkung einmal nur nacheinan<strong>der</strong> (z. B. in <strong>der</strong> Mechanik im<br />

Stoß) <strong>und</strong> einmal nur zugleich (z. B. in <strong>der</strong> Dynamik als Beschleunigung)<br />

möglich sind. In <strong>der</strong> reinen Anschauung wird mit dem<br />

Konstruktionsbegriff als dessen Bedingung hingegen gefor<strong>der</strong>t, daß seine<br />

Zeitordnung auch <strong>die</strong> Zeitreihenfolge <strong>der</strong> Konstruktionshandlung<br />

bestimmt, aber ohne <strong>der</strong>en Kontinuität zu for<strong>der</strong>n. Der Gr<strong>und</strong> des<br />

Zugleichseins in <strong>der</strong> reinen Anschauung kann somit nur mehr im Begriff,<br />

dem <strong>die</strong> Handlung in <strong>der</strong> Einbildungskraft als produktive<br />

Einbildungskraft unterstellt ist, liegen. Alles das, was mit dem Begriff<br />

konstruiert werden kann, hat dann als gleichzeitig zu gelten, wenn das<br />

Konstruierte als Ganzes gedacht werden kann. Die Zeitlosigkeit des<br />

geometrischen Begriffes wie <strong>die</strong> Zeitlosigkeit des Produkts <strong>der</strong><br />

Einbildungskraft ist <strong>der</strong> einzig mögliche Gr<strong>und</strong>, alternativ zum Nachweis<br />

des Zugleichseins in objektiver Realität, sich <strong>die</strong> Gleichzeitigkeit des in<br />

Gedanken Konstruierten zumindest denken zu dürfen.<br />

Bei <strong>der</strong> Konstruktion von geometrischen Figuren kann solches auf <strong>die</strong><br />

reine Anschauung als bloße Einbildung angewendet werden, nicht aber bei<br />

<strong>der</strong> Anweisung, eine Linie zu ziehen. Deren Ganzheit ist ebenso unendlich<br />

wie <strong>die</strong> Ganzheit <strong>der</strong> Fläche, in <strong>der</strong> Dreiecke, Polygone, überhaupt alle<br />

geschlossenen Linienzüge erst mittels Konstruktionsbegriffe<br />

eingeschrieben werden. Die Ganzheit einer bloßen Linie (also ohne daß ihr<br />

eine Größe zuvor gedacht worden ist, welche sie zur Strecke bestimmt)<br />

kann vom Konstruktionsbegriff nicht auf gleiche Weise gedacht werden<br />

wie <strong>die</strong> Konstruktion einer geschlossenen geometrischen Figur, da <strong>der</strong>en<br />

Ganzheit auch dann gedacht werden kann, wenn <strong>der</strong>en Größe in reiner<br />

Anschauung gar nicht als Begriff bestimmt worden ist. Die Linie ist<br />

nämlich einmal metaphysisch als Einschränkung des Raumes <strong>und</strong> einmal<br />

(im Ziehen <strong>der</strong>selben) transzendental als Konstruktion zu denken. Mit <strong>der</strong><br />

Ganzheit <strong>der</strong> bloßen Linie in reiner Anschauung wäre nun auch für <strong>die</strong><br />

reine Anschauung eine ideale Bedingung des Zugleichseins gef<strong>und</strong>en,<br />

allein scheint <strong>die</strong>se eine Größenbestimmung aus dem Begriff zu bedürfen,


-— 146 —<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> Verhältnisse des Konstruktionsbegriffes einer geometrischen<br />

Figur (o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Analyzität) gar nicht nötig war, indem für <strong>die</strong>se <strong>die</strong><br />

Angabe bloßer Größenverhältnisse ausreichend ist. Welche Größe für eine<br />

geschlossene konstruierbare geometrische Figur aus Linien o<strong>der</strong> Flächen<br />

auch immer in Frage kommen kann, ihre Ganzheit steht wegen ihrer<br />

Endlichkeit immer schon außer Frage. Ganzheit des Begriffes wie Ganzheit<br />

ihrer Konstruktion stehen außer Frage, auch wenn rational konstruierbare<br />

geometrische Figuren mit ganzzahligen Verhältnissen selbst irrationale<br />

Größenbegriffe beinhalten, wie z.B. ein pythagoräisches Dreieck für das<br />

Maß <strong>der</strong> Höhenlinien keinen vollständigen Begriff <strong>der</strong> Größe, doch aber<br />

einen vollständigen Begriff des Verfahrens, <strong>die</strong>se endliche Größe<br />

infinitesimal zu berechnen, besitzt. Hingegen ist beim Ziehen einer Linie<br />

nur <strong>die</strong> Ganzheit des Begriffes <strong>der</strong> Konstruktion, nicht aber <strong>die</strong> Ganzheit<br />

<strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Teile wegen <strong>der</strong> Infinitesimalität ihrer unendlichen Größe<br />

gewiß. Gerade im Ziehen einer Linie (gleich ob eine Gerade o<strong>der</strong> ob etwa<br />

eine Parabel) stellen sich <strong>die</strong> größten Zweifel ein, ob mit <strong>der</strong> Ganzheit des<br />

Begriffes (als Begriff eines Verfahrens) auch <strong>die</strong> ideale Geltung des<br />

Zugleichseins in <strong>der</strong> reinen Anschauung ausgedrückt werden kann.<br />

Einerseits setzt <strong>der</strong> Begriff des Infinitesimalen gerade nicht den aktuellen<br />

Vollzug <strong>der</strong> unendlich vielen Schritte voraus (mögliches Ganzes),<br />

an<strong>der</strong>erseit sind bei einer gegebenen endlichen Größe <strong>die</strong> unendlich vielen<br />

Teile <strong>der</strong>selben, wenn auch nicht aktuell gegeben, so doch bereits als<br />

möglich mitgedacht (gegebenes Ganzes). Nur unter <strong>die</strong>ser zweiseitigen<br />

Einschränkung kann <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Definition des Zugleichseins im<br />

Rahmen <strong>der</strong> reinen Anschauung erwogen werden, ohne unmittelbar auf<br />

das Commercium verwiesen zu werden. Daß <strong>die</strong> Vollständigkeit des<br />

Schemas des Konstruktionsbegriffes <strong>die</strong> Bezogenheit aller Teile<br />

aufeinan<strong>der</strong> (<strong>und</strong> nicht nur des ersten Teiles auf den zweiten Teil <strong>und</strong> des<br />

zweiten auf den dritten usf.), also ihre Ganzheit ohne vollständige<br />

Kontinuitätsbedingungen garantieren kann, ist dann eine freilich<br />

eingeschränkte ideale Definition des Zugleich in <strong>der</strong> — allerdings auch<br />

von den formalen Bedingungen <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> empirisch<br />

gegebenen Mannigfaltigkeit — reinen Anschauung. Tritt dazu <strong>die</strong> formale<br />

Bedingungen <strong>der</strong> Apprehension des empirisch Mannigfaltigen, ist <strong>die</strong>se<br />

Definition auch <strong>die</strong> modale Definition <strong>der</strong> reinen Anschauung. Allerdings<br />

gibt <strong>die</strong>se Überlegung nur eine lokale Definition <strong>der</strong> reinen Anschauung<br />

<strong>und</strong> vermag <strong>die</strong> ideale Definition des Zugleichseins gerade nicht als<br />

Totalität einer Anschauungsform zu erfüllen. Die Bedingung <strong>der</strong>


-— 147 —<br />

Kontinuität, <strong>die</strong> von Kant mit <strong>der</strong> Sinnlichkeit als formale Bedingung <strong>der</strong><br />

Apprehension eingeführt wurde, wird fragwürdig: Es hat sich also gezeigt,<br />

daß das zentrale Beispiel, welches Verstandeshandlung <strong>und</strong> Anschauung<br />

rein verbinden können soll, nämlich das Ziehen einer Linie, gar nicht<br />

geeignet ist, das Zugleichsein für <strong>die</strong> reine Anschauung ideal als aus dem<br />

Begriff <strong>der</strong> bloßen Regel für kollektiv erwiesen anzunehmen, wird <strong>die</strong><br />

Identität <strong>der</strong> Verstandeshandlung als synthesis intellectualis mit <strong>der</strong><br />

Handlung des Verstandes als reine Einbildungskraft als synthesis speciosa<br />

gegenüber dem inneren Sinn aufgegeben <strong>und</strong> durch den Begriff <strong>der</strong> Folge<br />

ersetzt.


-— 148 —<br />

II. SUBSTANZ UND BEHARRLICHKEIT:<br />

DIE DIALEKTIK ZWISCHEN DASEIN UND SUBSTANZ<br />

VERFÄLLT ZUR DICHTONOMIE VON SUBJEKT UND<br />

OBJEKT<br />

9) Der Paralogismus als Gr<strong>und</strong>problem des Daseinsbegriffes.<br />

Die Identität <strong>der</strong> Person ist in <strong>der</strong> praktischen Vernunft<br />

f<strong>und</strong>iert, in <strong>der</strong> ersten Kritik B aber kein Argument<br />

Gleich ob als Kriterium für <strong>die</strong> Einheit des Bewußtseins <strong>die</strong> kontinuierliche<br />

Beziehbarkeit <strong>der</strong> Begriffe auf Anschauung genannt wird o<strong>der</strong> ob gleich<br />

<strong>die</strong> Rückführbarkeit <strong>der</strong> Folgen von Folgen zur Beurteilung herangezogen<br />

wird: Um eine einfache Substanz kann es in <strong>der</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Einheitlichkeit des Substrates des Begriffes dessen, was alles mit Ich<br />

o<strong>der</strong> Substanz bezeichnet werden kann, nicht mehr gehen. Kant legt sich<br />

hier vor je<strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> weiteren Möglichkeiten von<br />

Gesetzmäßigkeit in den Folgen daraufhin fest, daß <strong>die</strong> Evidenz einer<br />

Kontinuität in <strong>der</strong> Zeitlichkeit des inneren Sinnes (gegenüber <strong>der</strong><br />

Kontinuität <strong>der</strong> sukzessive vorgehenden formalen Anschauung) nicht nur<br />

eine ursprünglich hervorgebrachte ist, son<strong>der</strong>n auch, daß <strong>die</strong><br />

Selbstaffektation selbst gar keine objektive Gültigkeit im Sinne <strong>der</strong> reinen<br />

Verstandesbegriffe erreichen kann.<br />

Die hier entscheidende Untersuchung hat m. E. im zweiten Paralogismus<br />

<strong>der</strong> ersten Fassung einzusetzen, wo das Substrat eines Begriffes überhaupt<br />

klassisch nach einfacher <strong>und</strong> zusammengesetzter Substanz unterschieden<br />

wird. Der zweite Paralogismus <strong>der</strong> Simplizität (in A) lautet nun:<br />

»Dasjenige Ding, dessen Handlung niemals als <strong>die</strong> Konkurrenz vieler<br />

handeln<strong>der</strong> Dinge angesehen werden kann, ist einfach. Nun ist <strong>die</strong> Seele,<br />

o<strong>der</strong> das denkende Ich, ein solches.« (A 351). Kant bestimmt demnach hier<br />

<strong>die</strong> Einheit des Selbstbewußtseins aus den Folgen des fraglichen Dinges;<br />

sie sind definitionsgemäß rückführbar (qualitative Einheit des Begriffs,<br />

§ 12), hier aber noch als einan<strong>der</strong> nicht konkurrenzierend zu denken (vgl.<br />

dazu das zweite Selektionskriterium des Begriffs vom einzelnen<br />

Gegenstand als Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft: das wesentliche Prädikate ohne<br />

Wi<strong>der</strong>spruch nebeneinan<strong>der</strong> stehen zu können). Selbst <strong>die</strong>se<br />

Unterscheidung verhilft uns aber nicht zur Selbsterkenntnis, wie Kant in<br />

<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung ausführt:


-— 149 —<br />

»So ist demnach das einfache Bewußtsein keine Kenntnis <strong>der</strong> einfachen<br />

Natur unseres Subjekts, in so fern, als <strong>die</strong>ses dadurch von <strong>der</strong> Materie, als<br />

einem zusammengesetzten Wesen, unterschieden werden soll.«<br />

»Wenn <strong>die</strong>ser Begriff aber dazu nicht taugt, ihn in dem einzigen Falle, da er<br />

brauchbar ist, nämlich in <strong>der</strong> Vergleichung meiner Selbst mit<br />

Gegenständen äußerer Erfahrung, das Eigentümliche <strong>und</strong><br />

Unterscheidende seiner Natur zu bestimmen, so mag man immer zu<br />

wissen vorgeben: das denkende Ich, <strong>die</strong> Seele, (ein Name für den<br />

transzendentalen Gegenstand des inneren Sinnes) sei einfach; <strong>die</strong>ser<br />

Ausdruck hat deshalb doch gar keinen auf wirkliche Gegenstände sich<br />

erstreckenden Gebrauch <strong>und</strong> kann daher unsere Erkenntnis nicht im<br />

mindesten erweitern.« (A 361)<br />

Um <strong>die</strong>ses Zitat recht zu verstehen, muß zuerst geklärt werden, welchen<br />

Begriff im ersten Satz Kant eingangs des zweiten Absatzes als »<strong>die</strong>ser<br />

Begriff« bezeichnet hat. Es liegt nahe, das »einfache Bewußtsein« für<br />

<strong>die</strong>sen Begriff zu halten, denn <strong>die</strong> vorangegangene Leibniz-Paraphrase<br />

(A 359) 120 behält gerade <strong>die</strong> Vertauschbarkeit materieller <strong>und</strong> intelligibeler<br />

Substanz bei: »[...] wenn ich unter Seele ein denkend Wesen an sich selbst<br />

verstehe, [ist] <strong>die</strong> Frage an sich schon unschicklich [...]: ob sie nämlich mit<br />

<strong>der</strong> Materie (<strong>die</strong> gar kein Ding an sich selbst, son<strong>der</strong>n nur eine Art<br />

Vorstellungen von uns ist) von gleicher Art sei, o<strong>der</strong> nicht; denn das<br />

versteht sich von selbst, daß ein Ding an sich selbst von an<strong>der</strong>er Natur sei,<br />

als <strong>die</strong> Bestimmungen, <strong>die</strong> bloß seinen Zustand ausmachen. Vergleichen<br />

wir aber das denkende Ich nicht mit <strong>der</strong> Materie, son<strong>der</strong>n mit dem<br />

Intelligibelen, welches <strong>der</strong> äußeren Erscheinung, <strong>die</strong> wir Materie nennen<br />

zum Gr<strong>und</strong>e liegt: so können wir, weil wir vom letzteren gar nichts<br />

wissen, auch nicht sagen: daß <strong>die</strong> Seele sich von <strong>die</strong>sem irgend worin<br />

innerlich unterscheide.<br />

So ist demnach das einfache Bewußtsein keine Kenntnis <strong>der</strong> einfachen<br />

Natur unseres Subjektes, in so fern, als <strong>die</strong>ses dadurch von <strong>der</strong> Materie, als<br />

einem zusammengesetzten Wesen, unterschieden werden soll.« 121<br />

120 »Auf solche Weise würde eben dasselbe, was in einer Beziehung körperlich heißt, in<br />

einer an<strong>der</strong>en zugleich ein denkend Wesen sein, dessen Gedanken wir zwar nicht,<br />

aber doch <strong>die</strong> Zeichen <strong>der</strong>selben in <strong>der</strong> Erscheinung, anschauuen können. Dadurch<br />

würde <strong>der</strong> Ausdruck wegfallen, daß nur Seelen (als beson<strong>der</strong>e Arten von Substanzen)<br />

denken; d. i. eben dasselbe, was, als äußere Erscheinung, ausgedehnt ist, innerlich (an<br />

sich selbst) ein Subjekt sei, was nicht zusammengesetzt, son<strong>der</strong>n einfach ist <strong>und</strong><br />

denkt.«<br />

121 A 360


-— 150 —<br />

Kant leugnet <strong>die</strong>se Vertauschbarkeit von Subjekt <strong>und</strong> Objekt im<br />

Intelligibelen zuerst cartesianisch, nachdem eben <strong>die</strong> einfache Natur<br />

unseres Subjekts von <strong>der</strong> Materie als einem zusammengesetzten Wesen<br />

wegen seiner Einfachheit getrennt bleiben soll. So gibt es gute Gründe,<br />

unter <strong>die</strong>sen Begriff eingangs des zweiten Satzes <strong>die</strong> »einfache Natur<br />

unseres Subjekts« zu verstehen, zumal »<strong>die</strong>ser Begriff« zuerst zur<br />

»Vergleichung meiner Selbst mit Gegenständen äußerer Erfahrung«<br />

<strong>die</strong>nen sollte, wozu er aber eben nicht taugt. Die Schlußfolgerung aus <strong>der</strong><br />

cartesianischen Trennung in »res cogitans« <strong>und</strong> »res extensa«, »das<br />

denkende Ich, <strong>die</strong> Seele« sei einfach, ist eben in <strong>der</strong> Erfahrung we<strong>der</strong><br />

verifizierbar noch falsifizierbar, noch findet sie einen Gr<strong>und</strong> im<br />

metaphysischen Vergleich von einfacher <strong>und</strong> zusammengesetzter<br />

Substanz. Damit erscheint das »einfache Bewußtsein« aber einmal eher<br />

selbst als Eigenschaft o<strong>der</strong> ein bestimmter Zustand des nicht-einfachen<br />

Selbst, sofern <strong>die</strong>ses unter das »Ich denke« gebracht werden kann, <strong>und</strong><br />

einmal als Produkt des »Ich denke« (das denkende Ich, <strong>die</strong> Seele). 122<br />

Der dritte Paralogismus in A nennt Kant den Paralogism <strong>der</strong> Personalität:<br />

»Was sich <strong>der</strong> numerischen Identität seiner Selbst in verschiedenen Zeiten<br />

bewußt ist, ist insofern eine Person. Nun ist <strong>die</strong> Seele etc.. Also ist sie eine<br />

Person.« 123 In <strong>der</strong> Kritik des dritten Paralogismus äußert sich Kant<br />

folgen<strong>der</strong>maßen: »Auf <strong>die</strong>sen Fuß müßte <strong>die</strong> Persönlichkeit <strong>der</strong> Seele nicht<br />

einmal als geschlossen [schlage vor: erschlossen], son<strong>der</strong>n als völlig<br />

identischer Satz des Selbstbewußtseins in <strong>der</strong> Zeit angesehen werden, <strong>und</strong><br />

das ist auch <strong>die</strong> Ursache [schlage vor: Gr<strong>und</strong>], weswegen er a priori gilt.<br />

Denn er sagt wirklich nichts mehr, als in <strong>der</strong> ganzen Zeit, darin ich meiner<br />

bewußt bin, bin ich mir <strong>die</strong>ser Zeit, als zur Einheit meiner Selbst gehörig,<br />

bewußt, <strong>und</strong> es ist einerlei, ob ich sage: <strong>die</strong>se ganze Zeit ist in Mir, als<br />

individueller Einheit, o<strong>der</strong> ich bin, mit numerischer Identität, in aller<br />

<strong>die</strong>ser Zeit befindlich.« 124<br />

Mit Hilfe einer Rückbesinnung auf den Anfang <strong>der</strong> Axiome <strong>der</strong><br />

Anschauung, wo eben <strong>die</strong> (Anschauung enthaltenden) Vorstellungen von<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit allererst erzeugt werden, kann <strong>die</strong>sem formalen Rest <strong>der</strong><br />

spinozistischen Vertauschbarkeit von Materie <strong>und</strong> Seele im Begriff <strong>der</strong><br />

122 B 417, Anmk. Das cartesianische »Ich denke, also bin ich« ist keine synthetische<br />

Schlußfolgerung, son<strong>der</strong>n analytisch im selbst rein intellektualen »Ich denke«<br />

enthalten; vgl. auch mit Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus.<br />

123 A 361<br />

124 A 362


-— 151 —<br />

Substanz Einhalt geboten werden: 125 Die apprehen<strong>die</strong>rte (konstruierte) Zeit<br />

ist zur Einheit meines Selbst gehörig, aber nicht ist das, was apprehen<strong>die</strong>rt<br />

wurde, in Mir, noch bin Ich in <strong>die</strong>ser Zeit befindlich (sonst wäre das mit<br />

Ich Bezeichnete ein Gegenstand objektiver Realität). 126 In <strong>die</strong>se Richtung<br />

geht auch <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> Kant in <strong>der</strong> zweiten Fassung vornimmt:<br />

Zur Einheitsbestimmung qua »numerischer Identität«, wie Kant hier<br />

terminologisch bedenklich anführt, kommt <strong>die</strong> Identitätsbestimmung qua<br />

spontaner Verknüpfung von Vorstellungen als erste <strong>und</strong> ursprüngliche<br />

Verstandeshandlung. Offensichtlich geht Kant in <strong>der</strong> ersten Fassung<br />

zwischen zweiten <strong>und</strong> dritten Paralogismus von <strong>der</strong> univoken<br />

Bezeichnung des Selbst, <strong>der</strong> Seele <strong>und</strong> des einfachen Bewußtseins mit<br />

»Ich« aus, während in <strong>der</strong> zweiten Fassung zur äquivoken Bezeichnung<br />

übergegangen wird: Die konstruierte Zeit, <strong>die</strong> zur »Einheit meiner Selbst«<br />

gehört, beschränkt das Selbst auf <strong>die</strong> Gegenwärtigkeit des einfachen<br />

Bewußtseins, daß aber nunmehr das Selbst mit <strong>der</strong> numerischer Identität<br />

»in aller <strong>die</strong>ser Zeit« — also <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> schon durch <strong>die</strong> Apprehension<br />

formal bestimmt ist — befindlich ist, macht für sich noch nicht notwendig,<br />

daß <strong>die</strong>ses Selbst nichts an<strong>der</strong>es als jenes Selbst ist, was mit dem einfachen<br />

Bewußtsein äquipollent o<strong>der</strong> gar ident gesetzt werden könnte. Dieser<br />

Überlegung geht allerdings Kant auch in <strong>der</strong> ersten Fassung noch weiter<br />

nach:<br />

»Denn wir selbst können aus unserem Bewußtsein darüber nicht urteilen,<br />

ob wir als Seele beharrlich sind, o<strong>der</strong> nicht, weil wir zu unserem<br />

identischen Selbst nur dasjenige zählen, dessen wir uns bewußt seyn, <strong>und</strong><br />

so allerdings notwendig urteilen müssen: daß wir in <strong>der</strong> ganzen Zeit,<br />

<strong>der</strong>en wir uns bewußt sind, eben <strong>die</strong>selbe sind. In dem Standpunkte eines<br />

Fremden aber können wir <strong>die</strong>ses darum noch nicht für gültig erklären,<br />

125 Ähnlich läßt sich anhand einiger Stellen aus Jakob Böhmes »Von <strong>der</strong> Gnadenwahl«<br />

(1623) zeigen, daß auch bei Böhme in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Selbstständigkeit <strong>der</strong><br />

materiellen Ursache durchaus ein vergleichbares Problem besteht. Allerdings ist<br />

auch da <strong>die</strong> Sache nicht einfach: Letztlich scheint auch Jakob Böhme <strong>die</strong><br />

Schwierigkeit, <strong>der</strong> Eminenz des Seins, <strong>die</strong> bei Böhme an<strong>der</strong>s als bei Thomas nicht mit<br />

dem logos (ein freilich oft mißverstandener Begriff) beginnt, <strong>die</strong> relative<br />

Selbstständigkeit des Geschöpften gegenüberstellen zu müssen, nur damit lösen zu<br />

können, <strong>die</strong> »scienz« (<strong>die</strong> feurige Schöpfungskraft, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Bitternis entspringt) auf<br />

eine Weise zu interpretieren, daß <strong>die</strong>se gleichwohl als Urkraft des Materiellen wie<br />

auch als Urkraft des Ungr<strong>und</strong>es, aus dessen Klärung Gott als logos (Christus) erst<br />

entspringt, zu verstehen sein vermöchte.<br />

126 Refl. 5655, AA. XVIII: »Daß das denkende Wesen in <strong>der</strong> Vorstellung des inneren<br />

Sinnes ihm selbst bloß Erscheinung sei, bedeutet nichts weiter, als wenn ich sage: ich,<br />

in dem das Zeitverhältnis allein anzutreffen ist, bin in <strong>der</strong> Zeit. Das continens ist<br />

zugleich contentum.«Vgl. auch nachfolgend 9 b)


-— 152 —<br />

weil, da wir an <strong>der</strong> Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen, als nur<br />

<strong>die</strong> Vorstellung Ich, welche sie alle begleitet <strong>und</strong> verknüpft, so können wir<br />

niemals ausmachen, ob <strong>die</strong>ses Ich (ein bloßer Gedanke) nicht ebensowohl<br />

fließe, als <strong>die</strong> übrigen Gedanken, <strong>die</strong> dadurch an einan<strong>der</strong> gekettet<br />

werden. [...] Denn könnten wir <strong>die</strong>se voraussetzen, so würde zwar daraus<br />

noch nicht <strong>die</strong> Fortdauer des Bewußtseins, aber doch <strong>die</strong> Möglichkeit eines<br />

fortwährenden Bewußtseins in einem bleibenden Subjekt folgen, welches<br />

zu <strong>der</strong> Persönlichkeit schon hinreichend ist, <strong>die</strong> dadurch, daß ihre<br />

Wirkung etwa eine Zeit hindurch unterbrochen wird, selbst nicht sofort<br />

aufhört. Aber <strong>die</strong>se Beharrlichkeit ist uns vor <strong>der</strong> numerischen Identität<br />

unserer Selbst, <strong>die</strong> wir aus <strong>der</strong> identischen Apperzeption folgeren, durch<br />

nichts gegeben, son<strong>der</strong>n wird daraus allererst gefolgert, (<strong>und</strong> auf <strong>die</strong>se<br />

müßte, wenn es recht zuginge, allererst <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Substanz folgen,<br />

<strong>der</strong> allein empirisch brauchbar ist). Da nun <strong>die</strong>se Identität <strong>der</strong> Person aus<br />

<strong>der</strong> Identität des Ich, in dem Bewußtsein aller Zeit, darin ich mich erkenne,<br />

keineswegs folgt: so hat auch oben <strong>die</strong> Substanzialität <strong>der</strong> Seele darauf<br />

nicht gegründet werden können.« (A 364 f.)<br />

Hier leitet noch das spezifische Interesse an <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong> Seele<br />

<strong>die</strong> Überlegung an; Kant unterscheidet aber sehr wohl den Begriff »Ich« als<br />

Begriff <strong>der</strong> Identität des einfachen Bewußtseins des »Ich denke« von seiner<br />

Funktion, das Selbst, o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Person zu bezeichnen. 127 Die Bestimmung<br />

<strong>die</strong>ser Unterscheidung hat aber nicht zur Folge, daß das Selbst o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Person nicht länger mit »Ich« bezeichnet werden dürften, bloß ist das »Ich«<br />

kein Begriff <strong>der</strong> Person o<strong>der</strong> gar des Selbst. Allerdings ist festzustellen, daß<br />

<strong>die</strong> Worte »Selbst« <strong>und</strong> »Person«, aber auch »Seele« einstweilen noch nicht<br />

in ihren Begriffen erkannt werden konnten. Es bleibt bei<br />

Nominaldefinitionen, <strong>die</strong> nur Unterschiede zu an<strong>der</strong>en Namen, aber kein<br />

eigenes Schema <strong>der</strong> Bestimmung des gemeinten Substrates feststellen: Die<br />

Seele scheint eher <strong>die</strong> Rezeptivität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Angleichung <strong>der</strong> rezepierten<br />

Inhalte aneinan<strong>der</strong>, <strong>die</strong> Person <strong>die</strong> Spontaneität <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rückführbarkeit<br />

<strong>der</strong> Folgen <strong>der</strong> Handlung zu betreffen. Das Selbst fungiert als sowohl<br />

intelligibel wie unvordenklich gedachter Hintergr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser beiden<br />

Funktionen, <strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Reflexion auf <strong>die</strong> Identität angesetzt wird. Diese<br />

Identität ist nunmehr als Setzung <strong>der</strong> numerischen Einheit <strong>und</strong> als<br />

Selbstsetzung des reinen »Ich denke« in <strong>der</strong> Verknüpfung von<br />

127 Das hat sich auch P. Strawson zunutze gemacht., indem er daraus gefolgert hat, daß<br />

<strong>die</strong> Kantsche Untersuchung nicht zwischen dem »Ich« <strong>und</strong> dem »Wir« <strong>der</strong><br />

grammatikalischen Person unterscheidet.


-— 153 —<br />

Vorstellungen zu denken möglich, während <strong>die</strong> Identität <strong>der</strong> Substanz wie<br />

<strong>der</strong> Person doch erst im Nachhinein zu haben ist. — Vom intelligiblen<br />

Subjekt <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit, daß ein reiner Wille sich nicht nur vom Gesetz <strong>der</strong><br />

praktischen Vernunft vollständig hat bestimmen lassen, son<strong>der</strong>n sich<br />

selbst noch <strong>die</strong>ses Gesetz hat geben müssen (Sittengesetz) sehe ich hier ab.<br />

Der weitere Verlauf <strong>der</strong> Untersuchung zeigt zwar letztlich in <strong>die</strong><br />

angedeutete Richtung, ist selbst aber an Ort <strong>und</strong> Stelle nach wie vor eine<br />

transzendentalanalytische Untersuchung: Zwar wird nicht mehr <strong>der</strong><br />

Verstandesgebrauch in <strong>der</strong> Erfahrung untersucht, jedoch <strong>die</strong><br />

transzendentalen Ideen <strong>der</strong> reinen <strong>und</strong> unvermeidbaren obersten<br />

Vernunftbegriffe. Es handelt sich also in den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>und</strong><br />

Auflösungen um eine transzendentale Analytik <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Dialektik <strong>der</strong> obersten Ideen <strong>der</strong> reinen Vernunft. Um sich <strong>die</strong>ser<br />

Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> reinen Vernunft, <strong>die</strong> auch als Einklammerung <strong>der</strong><br />

praktischen Vernunft vorgestellt werden kann, zu vergewissern, sagt man<br />

zuweilen auch theoretische Vernunft.<br />

Will man <strong>die</strong>se transzendentalphänomenologische Operation durchführen,<br />

darf man aber nicht übersehen, daß dabei nicht einfach <strong>die</strong> praktische<br />

Vernunft <strong>der</strong> Folgeuntersuchungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Maximenuntersuchung <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> kritischen Abwägung <strong>der</strong>en Methoden vorausgesetzt werden kann.<br />

Vielmehr muß eine pragmatische Vorform, etwa im Sinn <strong>der</strong> praktischen<br />

Klugheit (Phronesis) suppliert werden, soll <strong>die</strong> Einklammerung <strong>der</strong><br />

theoretischen Vernunft transzendentalphänomenologisch als rein<br />

ursprüngliche Handlung aufgefaßt werden. Im Sinne <strong>der</strong> praktischen<br />

Vernunft bei Kant <strong>und</strong> bei Fichte wäre aus <strong>die</strong>ser vorhistorischen<br />

»Naturform« <strong>die</strong> Strategie <strong>der</strong> Herstellung (für manche als<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung) <strong>der</strong> kollektiven Einsicht in das Sittengesetz zu<br />

entwickeln; indviduell setzt Kant <strong>die</strong> psychologische Notwendigkeit <strong>der</strong><br />

Achtung vor <strong>der</strong> reinen Idee des Sittengesetzes als synthetischen Satz a<br />

priori <strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft auch ohne <strong>die</strong>ses vollends als<br />

solchen vorstellen zu müssen. Dies sei je<strong>der</strong>mann anzusinnen. — Hier aber<br />

bleibt <strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf das Verhältnis <strong>der</strong> Erkenntnisvermögen<br />

untereinan<strong>der</strong> gerichtet, was zur Folge hat, daß an Stelle von einer<br />

Willensphilosophie von <strong>der</strong> Spontaneität <strong>und</strong> Rezeptivität des intelligiblen<br />

Subjekts ausgegangen wird.<br />

Es bleibt damit so o<strong>der</strong> so <strong>die</strong> Regression auf den Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Einheitlichkeit des Subjektes als Vernunftbegriff trotz <strong>der</strong> Einheit, <strong>die</strong> den


-— 154 —<br />

Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit von Erfahrung in <strong>der</strong> empirischen<br />

Anschauung auch für das erkennende Subjekt entspringt, auf <strong>die</strong><br />

empirische Person als tragenden Gr<strong>und</strong> verwiesen. Das empirische Ich <strong>der</strong><br />

Person greift nun nicht nur über das Phänomenologische des inneren<br />

Sinnes son<strong>der</strong>n auch über das Phänomenologische <strong>der</strong> Person als Habitus<br />

hinaus. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist festzuhalten, daß im dritten<br />

Paralogismus <strong>der</strong> Person (A) <strong>die</strong> Kontinuität des Bewußtseins als<br />

Hervorgebrachtes modal ganz ähnlich situiert wird, wie <strong>die</strong> bloß<br />

subjektive Gültigkeit eines ästhetischen Urteiles, auf <strong>die</strong> Anspruch zu<br />

erheben je<strong>der</strong>mann zu erheben berechtigt ist. 128 Es gibt also eine<br />

Bestimmung <strong>der</strong> Person anhand einer Eigenschaft <strong>der</strong> Folgen, <strong>die</strong> dazu<br />

ausreicht, in B an Stelle <strong>der</strong> Personalität eine formale Einheit <strong>der</strong> Reflexion<br />

zu denken, <strong>der</strong>en modale Bedingungen denen des ästhetischen Urteils<br />

gleichen. Diese gibt aber nicht zu erkennen, ob sie nicht bloß für subjektive<br />

Einheit (Raum <strong>und</strong> Zeit) ausreicht. Kant erwartet sich erst von <strong>der</strong><br />

intellection <strong>die</strong> objektive Gültigkeit. 129<br />

Diese Folgen des Subjekts, als sinnlich feststellbare Folgen <strong>der</strong> empirischen<br />

Handlung (immer schon als Handlungen einer empirischen Person) wie<br />

auch als Folgen <strong>der</strong> Einbildungskraft in <strong>der</strong> Wahrnehmung (als Handlung<br />

des transzendentalen Subjekts) werden im Paralogismus nun nur<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Herstellung einer Vorstellung vom Subjekt<br />

(gewissermaßen als aus Teilkonzepte zusammengesetzt) betrachtet. 130 Die<br />

128 Vgl. den Zusammenhang von gefor<strong>der</strong>ter Allgemeinheit des Geschmacksurteiles<br />

<strong>und</strong> dem aus dem zweckmäßigen Verhältnis <strong>der</strong> Erkenntnisvermögen<br />

entspringenden Gefühl des Wohlgefallens (K.d.U., § 8, § 22, am deutlichsten aber in<br />

<strong>der</strong> Fußnote von § 38, B 151). Die gefor<strong>der</strong>te Allgemeinheit ist nämlich keine<br />

logische, son<strong>der</strong>n bloß eine »idealische Norm« (B 67) als vorausgesetzter<br />

Gemeinsinn, den Kant aus <strong>der</strong> allgemeinen Mitteilbarkeit eines Gefühls folgert<br />

(B 66).<br />

129 Refl. 4675, AA XVII, p. 652 f., »Die subiectiven Bedingungen <strong>der</strong> Erscheinungen,<br />

welche a priori erkannt werden können, sind Raum <strong>und</strong> Zeit: intuitionen. Die<br />

subiective Bedingung <strong>der</strong> empirischen Erkenntnis ist <strong>die</strong> apprehension in <strong>der</strong> Zeit<br />

überhaupt <strong>und</strong> also nach Bedingungen des innern Sinnes überhaupt. Die subjektive<br />

Bedingung <strong>der</strong> rationalen Erkenntnis [ist] <strong>die</strong> construction [in <strong>der</strong> Zeit] durch <strong>die</strong><br />

Bedingung <strong>der</strong> apprehension überhaupt. Alles, was gegeben wird, wird unter den<br />

allgemeinen Bedingungen <strong>der</strong> apprehension gedacht. Also ist das subiectiv<br />

allgemeine <strong>der</strong> apprehension <strong>die</strong> Bedingung des obiectiv allgemeinen <strong>der</strong><br />

intellection.«<br />

130 K.r.V., A 401 f. : »Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich<br />

voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt<br />

erkennen könne, <strong>und</strong> daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem<br />

bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom Gegenstande<br />

unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher <strong>und</strong> verführerischer als <strong>der</strong><br />

Schein, <strong>die</strong> Einheit in <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Gedanken für eine wahrgenommene Einheit


-— 155 —<br />

möglichen Bedeutungen, <strong>die</strong> in den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen von<br />

A <strong>und</strong> B versammelt werden, worauf das Ich als Name auch gemeinsam<br />

bezogen werden kann, sollen zusammen <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Einheit des<br />

Subjektes als sich selbst Setzendes (Kant: als selbst Hervorgebrachtes 131<br />

<strong>und</strong> seine Identität selbst Hervorbringendes) bestimmen können. Das<br />

drückt nur <strong>die</strong> transzendentale Freiheit aus; <strong>die</strong> empirische Freiheit <strong>der</strong><br />

Person selbst aber drückt sich erst in <strong>der</strong> Wahlmöglichkeit positiv aus <strong>und</strong><br />

ist ursprünglich we<strong>der</strong> phänomenologisch noch transzendentalanalytisch<br />

zu fassen. Die Freiheit, <strong>die</strong> je<strong>der</strong> Unterscheidungshandlung vorausgesetzt<br />

ist, kann erst dann als Ziele setzend tätig sein, wenn gewählt werden kann.<br />

Die Freiheit wird im Akt <strong>der</strong> überlegten Wahl erfahrbar als Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Personalität. Die Untersuchung des Gr<strong>und</strong>es, dem entwickelten Begriff <strong>der</strong><br />

Subjektivität Kriterien (Normen) relevanter Einheitlichkeit geben zu<br />

können, führt also auf zwei Alternativen: Die erste Alternative ist <strong>der</strong><br />

Ansatz auf <strong>die</strong> Berechtigung des Anspruches auf subjektive Gültigkeit <strong>und</strong><br />

ist leicht zu umreißen. Der Anspruch ergibt sich negativ aus dem Begriff<br />

<strong>der</strong> Freiheit vom pathologischen Zwang <strong>und</strong> leiblicher Gewalt <strong>und</strong> ist<br />

äquipollent mit <strong>der</strong> Feststellung im dritten Paralogismus in A. Daß das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Erhabenheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Achtung im ästhetischen Urteil nicht als<br />

pathologischer Zwang verstanden wird, hat wohl allein<br />

f<strong>und</strong>amentalontologisch verstehbare Gründe. 132 Das soll hier nun zunächst<br />

nur soviel heißen, daß Gründe <strong>der</strong> Einheit des Subjekts in den Grenzen <strong>der</strong><br />

Ich-Fähigkeit eines qua Urteilskraft einfachen Bewußtseins auch dann<br />

behauptet werden, wenn das Urteilen nicht eine dogmatische<br />

Verstandeshandlung (Doktrin <strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft) ist.<br />

Nachdem sich <strong>die</strong> Überlegungen nach dem Vorbild des ästhetischen <strong>und</strong><br />

des teleologischen Urteils allein hinsichtlich einer relevanten Einheit des<br />

Subjekts <strong>der</strong> individuellen Person für <strong>die</strong> theoretische Erörterung <strong>der</strong><br />

transzendentalen Dialektik als unzureichend herausgestellt haben, muß<br />

im Subjekte <strong>die</strong>ser Gedanken zu halten. Man könnte ihn <strong>die</strong> Subreption des<br />

hypostasierten Bewußtseins (apperceptionis substantiatae) nennen.«<br />

131 »Lust ist ein Zustand des Gemüts, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst<br />

zusammenstimmt, als Gr<strong>und</strong>, entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong>sen bloß selbst zu erhalten (denn <strong>der</strong><br />

Zustand einan<strong>der</strong> wechselseitig beför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Gemütskräfte in einer Vorstellung<br />

erhält sich selbst), o<strong>der</strong> ihr Objekt hervorzubringen. Ist das erstere, so ist das Urteil<br />

über <strong>die</strong> gegebene Vorstellung ein ästhetisches Reflexionsurteil. Ist aber das letztere,<br />

so ist es ein ästhetisch-pathologisches, o<strong>der</strong> ästhetisch-praktisches Urteil.« (K.d.U.,<br />

Akad.-Ausg., S. 45). Vgl. dazu bes. K.r.V., B 113f.<br />

132 Vgl. <strong>die</strong> Ekstasen Heideggers in Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 350, in Bezug auf <strong>die</strong> Umkehr des<br />

in <strong>der</strong> selbstverschuldeten Irrnis Stehenden in den »Philosophischen Brocken«<br />

Kierkegaards.


-— 156 —<br />

<strong>die</strong> Suche nach einem weiteren Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> fortgesetzt werden:<br />

Der kategorische Imperativ ist <strong>die</strong> logische Form <strong>der</strong> sittlichen Maximen, 133<br />

<strong>und</strong> gibt nun <strong>die</strong> Formel ab, immer so zu handeln, daß <strong>die</strong> Menschheit in<br />

mir, <strong>die</strong> Menschheit in Dir, <strong>die</strong> Menschheit in einen Dritten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Menschheit in uns es wollen kann, daß das Prinzip meines Handelns zu<br />

einem allgemeinen Gesetz werden könnte. Bei Kant führt das konsequent<br />

zu Verboten <strong>und</strong> nicht zu Kriterien, <strong>die</strong> Schar <strong>der</strong> Folgen einer praktischen<br />

Handlung, <strong>die</strong> letztlich immer auf <strong>die</strong> Differenz von individuellem<br />

Interesse zum Wohl <strong>und</strong> Wehe einer Gruppe o<strong>der</strong> gleich <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit bezogen bleibt, material nach Vereinbarkeit des<br />

individuellen Interesses mit dem allgemeinen Interesse zu beurteilen. Die<br />

jeweiligen Prinzipien des Kompromisses zwischen den Interessen o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong>en Zusammenführung können selbst nicht zu einem reinen <strong>und</strong><br />

allgemeinen Vernunftgesetz <strong>der</strong> Sittlichkeit werden. — Es bleibt zu<br />

bemerken: Die Substantialität <strong>der</strong> Seele wird in <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des<br />

dritten Paralogismus mit <strong>der</strong> mangelnden Objektivierbarkeit (es reichte<br />

Intersubjektivierbarkeit) <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> Person verworfen. Es scheint, als<br />

wäre auch <strong>die</strong> Einheit des Gattungswesens durch den Anspruch an<br />

Allgemeinheit <strong>der</strong> kategorischen Imperative in Frage gestellt. Soll man aus<br />

dem Verlauf <strong>der</strong> Argumentation schließen, daß auch <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />

einfachen Substanz anhand des Kriteriums <strong>der</strong> Identität verworfen werden<br />

muß?<br />

10) Rationale Psychologie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Substanz.<br />

Bestimmendes <strong>und</strong> bestimmbares Subjekt<br />

»Wenn ich nun aber durch bloße Kategorie sage: <strong>die</strong> Seele ist eine einfache<br />

Substanz, so ist klar, daß, da <strong>der</strong> nackte Verstandesbegriff von Substanz<br />

nichts weiter enthält, als daß ein Ding an sich, ohne wie<strong>der</strong>um Prädikat<br />

von einem an<strong>der</strong>en zu sein, vorgestellt werden solle, daraus nichts von<br />

Beharrlichkeit folge, <strong>und</strong> das Attribut des Einfachen <strong>die</strong>se Beharrlichkeit<br />

gewiß nicht hinzusetzen könne, mithin man dadurch über das, was <strong>die</strong><br />

Seele bei den Weltverän<strong>der</strong>ungen treffen könne, nicht im mindesten<br />

unterrichtet werden. Würde man uns sagen können, sie ist ein einfacher<br />

Teil <strong>der</strong> Materie, so würden wir von <strong>die</strong>ser, aus dem, was Erfahrung von<br />

133 Diese ist aber nicht leer, wie oft vorgeworfen wurde (etwa von Bolzano), son<strong>der</strong>n<br />

beinhaltet ausdrücklich <strong>die</strong> Regel <strong>der</strong> Ersetzbarkeit des Individuums durch ein<br />

an<strong>der</strong>es.; <strong>und</strong> zwar, um <strong>die</strong> Grenzen <strong>der</strong> grammatikalischen Personen (Ich-Du, Wir-<br />

Sie) zu sprengen.


-— 157 —<br />

ihr lehrt, <strong>die</strong> Beharrlichkeit <strong>und</strong>, mit <strong>der</strong> einfachen Natur zusammen, <strong>die</strong><br />

Unzerstörlichkeit <strong>der</strong>selben ableiten können. Davon sagt uns aber <strong>der</strong><br />

Begriff des Ich, in dem psychologischen Gr<strong>und</strong>satze (ich denke), nicht ein<br />

Wort.« 134<br />

Die reine Verstandesbegriff <strong>der</strong> Substanzkategorie ist hier im Paralogismus<br />

in A also gleich <strong>die</strong> Idee vom Ding an sich, das keinerlei Prädikat von<br />

einem an<strong>der</strong>en sein kann. 135 Das enthält zweierlei: Erstens, daß <strong>die</strong> Idee des<br />

Dinges an sich im reinen Verstandesbegriff nur <strong>der</strong> reine Schein des dem<br />

Satzsubjekt Zugr<strong>und</strong>eliegenden ist. Denn das Ding an sich kann als das<br />

transzendentale Objekt=X ausdrückend nicht selbst im reinen<br />

Verstandesbegriff direkt inten<strong>die</strong>rt sein, <strong>und</strong> kann als mittels aller<br />

möglichen Prädikate durchbestimmbares Ding an sich auch nicht in <strong>der</strong><br />

Kategorie ausgedrückt werden, obgleich <strong>die</strong> Kategorien insgesamt ein<br />

transzendentales Objekt a priori inten<strong>die</strong>ren. Zweitens wird damit<br />

ausgedrückt, daß <strong>die</strong> Idee vom Ding an sich zwar auch als Einfaches nicht<br />

<strong>die</strong> Vorstellung von etwas Existierenden, jedoch entwe<strong>der</strong> auf Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Einfachheit o<strong>der</strong> auf Gr<strong>und</strong> des Arguments des ontologischen<br />

Gottesbeweises (Totalität) analytisch unbedingt Existenz (o<strong>der</strong> einen<br />

Verweis auf notwendige Existenz) beinhalten soll. Die Beharrlichkeit aber<br />

kann nach <strong>der</strong> gegebenen Definition keine Eigenschaft eines Einfachen<br />

sein; es ist also auch keine Eigenschaft des vorkategorialen Dinges. 136 —<br />

Das ontologische Argument <strong>der</strong> Einfachheit als Merkmal unzerstörbarer<br />

Substanz wird in den M.A.d.N. ersetzt durch <strong>die</strong> insgesamt<br />

gleichbleibende Summe <strong>der</strong> dynamischen Wi<strong>der</strong>standskraft (Repulsion)<br />

<strong>der</strong> Materie 137 als Substrat des Beweglichen; das kategoriale Schema a<br />

priori <strong>der</strong> Einbildungskraft ihrer Erscheinung nach aber heißt<br />

Beharrlichkeit. Die Substanz <strong>der</strong> Seele jedoch wird we<strong>der</strong> als<br />

»transzendentale Materie« noch nach dem logischen Prinzip <strong>der</strong><br />

durchgängigen Bestimmung eines Dinges (<strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Allheit<br />

134 K.r.V., A 401<br />

135 Man wird in weiterer Folge <strong>die</strong>ser Arbeit sehen, daß Kant nicht überall <strong>und</strong><br />

gleichmäßig zwischen reinem Verstandesbegriff <strong>und</strong> reiner Kategorie unterscheidet:<br />

was Kant hier als reinen Verstandesbegriff bezeichnet, ist aber auch nicht <strong>die</strong> reine<br />

Kategorie. Vgl. hiezu hier den dritten Abschnitt,, 4. Kap..<br />

136 Beharrlichkeit ist auch keine Eigenschaft eines durchbestimmten Dinges, was <strong>der</strong><br />

Allheit, also einem kategorialen Quantum, entspricht.<br />

137 Davon ist zu unterscheiden <strong>die</strong> „transzendentale Materie“ im „prototypon<br />

transcendentale“, <strong>die</strong> vom Prinzip <strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung eines Dinges erst<br />

mittels einer logischen Regel aus <strong>der</strong> Menge aller möglichen Prädikate überhaupt<br />

zum Ding bestimmt wird. In <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Beharrlichkeit ist hingegen <strong>die</strong> Regel<br />

<strong>der</strong> Zeitreihe nicht logisch ausdrückbar.


-— 158 —<br />

entsprechend), noch selbst als phoronomisch darstellbares Bewegliches<br />

vorstellig. Die Beharrlichkeit <strong>der</strong> Seele ist also nicht schematisierbar<br />

son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> <strong>der</strong> Beharrlichkeit zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Spontaneität <strong>der</strong> Seele<br />

ist eher analog des Ursprungs <strong>der</strong> Repulsion in <strong>der</strong> dynamischen<br />

Erklärung <strong>der</strong> Materie zu denken <strong>und</strong> somit da wie dort selbst<br />

transzendentalanalytisch nicht kategorial zu fassen. Kant behandelt nun<br />

<strong>die</strong> rationale Psychologie ausdrücklich in ihrem Verhältnis zur<br />

Vernunftidee eines Dinges. Dazu ist in Erinnerung zu rufen, daß <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> rationalen Psychologie <strong>der</strong> Satz »Ich denke« ist; <strong>und</strong> zwar<br />

in einem genauen doppelten Sinn von Denken als normierende Reflexion<br />

<strong>und</strong> als Anwendung genormter Definition: »Daß aber das Wesen, welches<br />

in uns denkt, durch reine Kategorien <strong>und</strong> zwar <strong>die</strong>jenige, welche <strong>die</strong><br />

absolute Einheit unter jedem Titel <strong>der</strong>selben ausdrücken, sich selbst zu<br />

erkennen vermeine, rührt daher. Die Apperzeption ist selbst <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Kategorien, welche ihrer Seits nichts an<strong>der</strong>es<br />

vorgestellen, als <strong>die</strong> Synthesis des Mannigfaltigen <strong>der</strong> Anschauung, so fern<br />

dasselbe in <strong>der</strong> Apperzeption Einheit hat. Daher ist das Selbstbewußtsein<br />

überhaupt <strong>die</strong> Vorstellung desjenigen, was <strong>die</strong> Bedingung aller Einheit,<br />

<strong>und</strong> doch selbst unbedingt ist. Man kann daher von dem denkenden Ich<br />

(Seele) das sich als Substanz, einfach, numerisch identisch in aller Zeit, <strong>und</strong><br />

das Correlatum alles Daseins, aus welchem alles an<strong>der</strong>e Dasein<br />

geschlossen werden muß, denkt, sagen: daß es nicht sowohl sich selbst<br />

durch <strong>die</strong> Kategorien, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Kategorien, <strong>und</strong> durch sie alle<br />

Gegenstände, in <strong>der</strong> absoluten Einheit <strong>der</strong> Apperzeption, mithin durch<br />

sich selbst erkennt.« 138 Die Apperzeption kann aber nicht <strong>der</strong> ganze Gr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Kategorien sein. Das verstünde sich nur dann, legte<br />

man das Gewicht nur auf <strong>die</strong> logische Form <strong>der</strong> Begrifflichkeit im<br />

Bewußtsein. Doch gründet sich <strong>die</strong> ursprüngliche Einheit <strong>der</strong><br />

Apperzeption selbst nicht nur auf <strong>die</strong> sprachliche Verfaßtheit <strong>der</strong><br />

intelligiblen Spontaneität, <strong>die</strong>, als Zeichenhaftigkeit des Bewußtseins <strong>und</strong><br />

sprachliche Verfaßtheit insofern auch genetisch 139 <strong>und</strong> selbst empirisch, <strong>der</strong><br />

synthesis intellectualis zugr<strong>und</strong>eliegt. So liegt <strong>die</strong> »ursprünglich<br />

synthetische Einheit <strong>der</strong> Apperzeption« auch schon in <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong><br />

»Einen Anschauung« (§ 17) <strong>und</strong> ist auch nach <strong>der</strong> Darstellung Kants in<br />

§ 16 zunächst unabhängig von <strong>der</strong> ursprünglich-synthetischen Einheit <strong>der</strong><br />

138 K.r.V., A 401<br />

139 Das ist natürlich näher <strong>die</strong> ontogenetische Dimension betreffend <strong>und</strong> nicht selbst<br />

eine historische o<strong>der</strong> evolutionstheoretische Vorstellung <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Arten.


-— 159 —<br />

Apperzeption zu denken, welche eben <strong>die</strong>se rein intellektuelle Synthesis<br />

im verknüpfenden »ich denke« impliziert.<br />

Kant beschränkt hier methodisch <strong>die</strong> Vorstellung des Daseins aber auf <strong>die</strong><br />

dem Subjekt des »ich denke« vorausgesetzten Struktur, welche eben zur<br />

Erkenntnis eines Objektes vorausgesetzt ist, obwohl er im letzten Satz des<br />

obigen Zitats Ausblick auf <strong>die</strong> transzendentale Anthropologie nimmt: Dort<br />

sollte alternativ durch <strong>die</strong> Kategorien <strong>die</strong> empirische Bedingung des<br />

Subjekts selbst genetisch erkennbar werden, indem »alle Gegenstände [...]<br />

in <strong>der</strong> absoluten Einheit <strong>der</strong> Apperzeption« gedacht werden müssen.<br />

Offenbar ist unsere Leiblichkeit geeignet, zu allen Gegenständen zu<br />

gehören, <strong>die</strong> das Dasein in <strong>der</strong> absoluten Einheit <strong>der</strong> Apperzeption, mithin<br />

<strong>die</strong> Kategorien durch sich selbst erkennt. Das ist in <strong>der</strong> K. r. V. durchaus<br />

Angelegenheit <strong>der</strong> Ideenlehre: Vom regulativen Gebrauch <strong>der</strong> Ideen:<br />

Homogenität, Spezifikation, Kontinuität (B 686/A 656) als Vernunftideen;<br />

als Prinzipien ihres Erfahrungsgebrauches: Mannigfaltigkeit,<br />

Verwandtschaft, Einheit (B 690/A 662). Hier ist zweifellos <strong>der</strong><br />

Ansatzpunkt evolutionärer Vorstellungen bei Kant zu sehen: als einer <strong>der</strong><br />

vielen Versuche, Mannigfaltiges auf einfache Prinzipien zurückzuführen.<br />

— Doch sind <strong>die</strong> Kategorien gerade nicht ein Produkt <strong>der</strong> Ideenlehre <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong>en Regressus zu einfacheren Prinzipien, son<strong>der</strong>n beziehen sich auf den<br />

Erfahrungsgebrauch: »Er [<strong>der</strong> Regressus] ist also kein Principium <strong>der</strong><br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong> empirischen Erkenntnis <strong>der</strong><br />

Gegenstände <strong>der</strong> Sinne, mithin kein Gr<strong>und</strong>satz des Verstandes [...]«<br />

(B 537/A 509)<br />

Jedoch beschränkt Kant hier <strong>die</strong> Dimensionen einer solchen<br />

Untersuchung 140 auf <strong>die</strong> rationale Psychologie, <strong>und</strong> so ist damit insofern<br />

auch Existenz nicht nur bloß unbestimmt <strong>und</strong> allgemein als reine Idee<br />

gedacht, son<strong>der</strong>n im Denken auch immer schon vollzogen, auch dann,<br />

wenn ein Objekt nur als real möglich gedacht werden kann, ohne das<br />

<strong>die</strong>ses aktuell gegeben wäre. 141 — Da <strong>die</strong> Synthesis des Mannigfaltigen im<br />

Begriff (synthesis intellectualis ) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Synthesis <strong>der</strong> Mannigfaltigkeit <strong>der</strong><br />

140 Eine phänomenologische Anthropologie, <strong>die</strong> letztlich das, was Natur <strong>und</strong> Geschichte<br />

wie auch unser Umgang miteinan<strong>der</strong> aus uns gemacht hat, uns als Substrat unseres<br />

Anfangenkönnens mit <strong>der</strong> Aufklärung voraussetzt.<br />

141 Vgl. Paul Jansen zum unterbelichteten Unterschied von singulärer Wesensschau <strong>und</strong><br />

Schau des Wesens als allgemeine Idee in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Überlegungen<br />

Husserls zu seiner Ideenlehre zwischen 1907 <strong>und</strong> 1913; im Vorwort zu »Die Idee <strong>der</strong><br />

Phänomenologie. Fünf Vorlesungen«, von Edm<strong>und</strong> Husserl, nach dem Text des 2.<br />

Bandes <strong>der</strong> Husserliana hrsg. v. P. Jansen, Meiner-Verlag, Hamburg 1986, p. XXXIV<br />

f.


-— 160 —<br />

Anschauung (synthesis speciosa ) <strong>der</strong> selben Verstandeshandlung<br />

unterstehen soll, wird präsumptiv jedes Schema <strong>der</strong> Darstellung zum<br />

Schematismus des handelnden Selbst; insofern <strong>der</strong> Differenz von<br />

Handlung <strong>und</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> Begriffe <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>sätze des Verstandesgebrauches im Rücken liegend, komplementär<br />

zum Schema <strong>der</strong> Selbstdarstellung in seinen Handlungen.<br />

»Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen<br />

muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt<br />

erkennen könne, <strong>und</strong> daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem<br />

bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom<br />

Gegenstande unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher <strong>und</strong><br />

verführerischer als <strong>der</strong> Schein, <strong>die</strong> Einheit in <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Gedanken<br />

für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte <strong>die</strong>ser Gedanken zu halten.<br />

Man könnte ihn <strong>die</strong> Subreption des hypostasierten Bewußtseins<br />

(apperceptionis substantiatae) nennen.« 142<br />

Im ersten Satz des gegebenen Abschnittes stellt Kant nun fest, daß das<br />

bestimmende Selbst zwar nicht als Objekt, aber das bestimmbare Subjekt<br />

zuerst als Objekt gedacht wird. 143 Im folgenden Satz wird nochmals erklärt,<br />

weshalb we<strong>der</strong> das Subjekt des Satzes »Ich denke« noch das Subjekt als<br />

bestimmbares Ich (Objekt) als Gegenstand <strong>der</strong> Kategorien gedacht werden<br />

dürfe, obgleich das Subjekt des Selbstbewußtseins notwendigerweise<br />

zuerst als Objekt <strong>der</strong> Kategorien zu denken versucht wird: Die Einheit in<br />

<strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Gedanken ist nicht <strong>die</strong> Einheit im — den Gedanken<br />

zugr<strong>und</strong>eliegenden — Subjekt; nun beruht <strong>die</strong> Verwechslung des<br />

Subjektes <strong>der</strong> Gedanken (aktiv) mit dem Objekt <strong>der</strong> Gedanken (passiv)<br />

allein auf <strong>die</strong> Verwechslung <strong>der</strong> synthetischen Einheit <strong>der</strong> Gedanken mit<br />

dem Objekt als Ding an sich; d. h. hier also, soll das Subjekt auch durch <strong>die</strong><br />

Kategorien gedacht werden, wird <strong>die</strong>ses selbst nicht <strong>die</strong>selbe Einheit in<br />

den Gedanken sein, welche als Einheit des Subjekts <strong>die</strong>ser vorausliegt. —<br />

Die Produziertheit <strong>der</strong> Einheit des Gedankens in den Kategorien impliziert<br />

eine Einheit im Subjekt, ohne allerdings damit das ganze Subjekt im Sinne<br />

<strong>der</strong> quantitativen Allheit <strong>der</strong> Prädikate eines Dinges zu umfassen o<strong>der</strong><br />

einem schematisierten Verstandesbegriff, also erst wirklich einer Kategorie<br />

entsprechen zu können.<br />

142 K.r.V., A 401 f.<br />

143 Vgl. <strong>die</strong> Unterscheidung in das setzende Ich <strong>und</strong> das als (sich) setzendes Ich gesetzte<br />

Ich Fichtes.


-— 161 —<br />

Das entscheidende Argument im Paralogismus ist für Kant aber, daß dem<br />

intelligiblen Subjekt selbst gar keine Anschauung, also keine<br />

kontinuierlichen Erscheinungen von sich gegeben werden kann; es scheint<br />

geradezu so, daß nun eben nur <strong>die</strong> Einheit <strong>der</strong> Gedanken als einzige<br />

Vorstellung von einer Einheit des Subjekts selbst als Antwort auf <strong>die</strong> Frage<br />

nach <strong>der</strong> Einheit eines intelligiblen Subjekts gegeben werden kann. Nun<br />

gilt solches nur unter <strong>der</strong> Einschränkung auf <strong>die</strong> rationale Psychologie. So<br />

bleibt darüber hinaus <strong>der</strong> Zweifel, ob erstens nun jede Mitteilung des<br />

Subjektes an den inneren Sinn nur zur Konstitution einer<br />

veräußerlichenden Vorstellung eines Objekts <strong>die</strong>nt, <strong>und</strong> zweitens ob<br />

deshalb alle <strong>der</strong> möglichen Erscheinungen des Selbst <strong>die</strong> Beobachtung<br />

einer Folge <strong>der</strong> Handlung des Subjekts in <strong>der</strong> sinnlich gebbaren Welt<br />

voraussetzen. Die Erscheinungen des Selbst treten zunächst auf <strong>die</strong>sen<br />

Umweg über <strong>die</strong> Folgen <strong>der</strong> Handlung in <strong>der</strong> sinnlichen Welt gegenüber<br />

den Erscheinungen <strong>der</strong> Sinnlichkeit nur als mittelbare Erscheinungen auf:<br />

ähnlich wie im ästhetisch-logischen Urteil müßten <strong>die</strong>se Erscheinungen<br />

bereits <strong>die</strong> Vorstellung eines f<strong>und</strong>ierenden Verhältnisses von Subjekt zu<br />

einem Objekt beinhalten. 144 Damit ist aber eben gerade nicht <strong>die</strong><br />

Kontinuität <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>der</strong>selben als innerer Ausdruck im Ideal<br />

des Schönen garantiert worden, zumal <strong>die</strong> vorhin angezogene Differenz<br />

innerhalb des Umfanges des Begriffes von <strong>der</strong> Erscheinung <strong>die</strong><br />

Erscheinungen des Selbst bereits als Schlußfolgerung aus <strong>der</strong> Erscheinung<br />

<strong>der</strong> leiblichen Existenz als Objekt, aber <strong>die</strong>ses als mit <strong>der</strong> Fähigkeit zum<br />

Ausdruck vom Subjekt anheim gestellt hat. Von <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong><br />

praktischen Vernunft her betrachtet (also nicht <strong>der</strong> technisch-praktischen<br />

Vernunft, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vernunft <strong>der</strong> Zweckbegriffe überhaupt), ist <strong>die</strong><br />

Beharrlichkeit nicht ein Begriff des Schemas einer Kategorie <strong>der</strong> sinnlich<br />

gebbaren <strong>und</strong> gegebenen Erscheinungen son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Bedingung je<strong>der</strong><br />

Setzung einer Norm durch <strong>die</strong> Vernunft: sieht man zunächst von <strong>der</strong><br />

dynamischen Beharrlichkeit pathologischer Begierden einmal ab, so gehört<br />

zweifellos <strong>die</strong> Beharrlichkeit des Willens selbst zu einer, <strong>der</strong> praktischen<br />

Vernunft theoretisch vorauszusetzenden reinen Norm. Gleichwohl kann<br />

<strong>der</strong> immanent notwendige Schein, in <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong><br />

144 Vgl. dazu K.d.U: »Der Verstand kann durch <strong>die</strong> Vergleichung des Objekts im<br />

Punkte des Wohlgefälligen mit dem Urteile ein allgemeines Urteil machen:z.B. alle<br />

Tulpen sind schön; aber das ist alsdann kein Geschmacks- son<strong>der</strong>n ein logisches<br />

Urteil, welches <strong>die</strong> Beziehung eines Objekts auf den Geschmack zum Prädikate <strong>der</strong><br />

Dinge von einer gewissen Art überhaupt macht; dasjenige aber, wodurch ich eine<br />

einzelne gegebene Tulpe schön, d. i. mein Wohlgefallen an <strong>der</strong>selben<br />

allgemeingültig finde, ist allein das Geschmacksurteil.« (B 143/A 141)


-— 162 —<br />

Gedanken schon eine Einheit des Subjekts <strong>der</strong> rationalen Psychologie im<br />

»ich denke« zu denken, nicht völlig falsch sein, da im Rahmen <strong>der</strong><br />

praktischen Vernunft gerade das Vermögen <strong>der</strong> reinen (theoretischen)<br />

Vernunft als Denken den »pathologischen« Affektationen des Willens<br />

gegenübergestellt wird. So kann man Selbstdenken <strong>und</strong> an Stelle an<strong>der</strong>er<br />

denken auch therapeutisch als Kur auffassen. Die Erscheinung des<br />

Subjekts im inneren Sinn ist demnach mit <strong>die</strong>ser Perspektivenverschiebung<br />

nicht allein mittelbar als Erscheinung <strong>der</strong> Leiblichkeit <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />

Interpretation als Ausdruck, o<strong>der</strong> als Folgen <strong>der</strong> Handlungen in <strong>der</strong> Welt<br />

<strong>der</strong> Erscheinungen son<strong>der</strong>n auch als wirklicher Ausdruck des Selbst im<br />

Gemüt (Gewissen, innere Stimme, Imagination) zu betrachten.<br />

11) Beharrlichkeit als allgemeine Bedingung.<br />

Substanz als Materie <strong>und</strong> Räumlichkeit<br />

Die Beharrlichkeit ist mit dem Schema <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong><br />

Erscheinungen als Erkenntnisgr<strong>und</strong> nur demonstrierbar, ihr Seinsgr<strong>und</strong><br />

selbst aber ist damit nicht herstellbar. Die Kontinuität <strong>der</strong> Zeit liegt<br />

insofern als reine Anschauungsform <strong>der</strong> Beharrlichkeit voraus, gleich ob<br />

<strong>die</strong> Dauer <strong>der</strong> Zeit selbst als Substratum gedacht wird 145 o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Beharrlichkeit aus dem fortlaufenden Vergleich <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong><br />

Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Vorstellungen (Apprehensionen)<br />

als empirisches Substratum erst jeweils den Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Dauer in unseren<br />

Erscheinungen a posteriori ausmacht: »Man siehet bald, daß, weil<br />

Übereinstimmung <strong>der</strong> Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist, hier nur<br />

nach den formalen Bedingungen <strong>der</strong> empirischen Wahrheit gefragt<br />

werden kann, <strong>und</strong> Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Apprehension, nur dadurch als das davon<br />

unterschiedene Objekt <strong>der</strong>selben könne vorgestellt werden, wenn sie unter<br />

einer Regel steht, welche sie von je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Apprehension<br />

unterscheidet.« 146 Daß Kant von <strong>der</strong> Erscheinung in <strong>der</strong> Einzahl, ich aber<br />

oben in <strong>der</strong> Mehrzahl spreche, hat einen guten Gr<strong>und</strong>, <strong>der</strong> hier nicht<br />

ausführlich behandelt werden kann. In aller Kürze: Daß Kant gegenüber<br />

den Vorstellungen <strong>die</strong> Erscheinung nur im Singular gebraucht, hat den<br />

Gr<strong>und</strong> darin, daß <strong>die</strong> Erscheinung eines Gegenstandes durch viele<br />

145 K.r.V.,: »Die Zeit also, in <strong>der</strong> aller Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen gedacht werden soll,<br />

bleibt <strong>und</strong> wechselt nicht; weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinan<strong>der</strong>- o<strong>der</strong><br />

Zugleichsein nur als Bestimmung <strong>der</strong>selben vorgestellt werden können.«<br />

(B 225/A 182)<br />

146 B 236/A 191


-— 163 —<br />

Vorstellungen vorgestellt wird. Dann aber ist <strong>die</strong> Erscheinung bereits das<br />

synthetische Produkt <strong>der</strong> produktiven Einbildungkraft aus den vielen<br />

Vorstellungen <strong>und</strong> kann nicht als dasjenige gedacht werden, was den<br />

Vorstellungen zugr<strong>und</strong>e liegt. Weiters ist <strong>der</strong> ausdrücklich singuläre<br />

Gebrauch von Erscheinung bereits auf <strong>die</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Materie<br />

fixiert. Zuvor aber schreibt Kant selbst: »Ich nehme wahr, daß<br />

Erscheinungen auf einan<strong>der</strong> folgen, d.i. daß ein Zustand <strong>der</strong> Dinge zu<br />

einer Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustande war.« 147 Es wurde<br />

schon weiter oben bemerkt, daß erstens <strong>die</strong> Erscheinung einerseits als das,<br />

was allererst apprehen<strong>die</strong>rt worden ist, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits als das, womit<br />

<strong>die</strong> Reihe <strong>der</strong> Apprehensionen (einzelne Vorstellungen) verglichen wird,<br />

doppelt in Stellung gebracht wurde, <strong>und</strong> daß zweitens <strong>die</strong> Substanz <strong>der</strong><br />

Erscheinung indifferent gegenüber <strong>der</strong> Frage zu sein scheint, ob sie sich<br />

auf <strong>die</strong> rationale Physiologie des inneren Sinnes o<strong>der</strong> auf <strong>die</strong> Physik <strong>der</strong><br />

wirklichen Gegenstände (Materie) bezieht.<br />

Die Zeit als Verän<strong>der</strong>ungwie als Wechsel setzt also <strong>die</strong> Zeit als Dauer<br />

voraus; <strong>die</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Zeit selbst als Dauer kann aber den<br />

Substanzbegriff nicht zureichend ersetzen, <strong>und</strong> for<strong>der</strong>t einen weiteren<br />

Gr<strong>und</strong> für ihre konstatierte Dauer. Für Kant muß hier <strong>die</strong> Materie <strong>der</strong><br />

metaphysisch letzte Begriff sein, welcher <strong>der</strong> Dauer zugr<strong>und</strong>e liegt 148 <strong>und</strong><br />

ist dem vorgezeigten Schema <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen nicht<br />

zu entnehmen, vielmehr ist <strong>die</strong>ser dem Schema zwischen Einbildungskraft<br />

in produktiver <strong>und</strong> reproduktiver Funktion als topos (vgl. Pendenz im<br />

vierten Abschnitt, III) vorausgesetzt, bevor <strong>der</strong> Rekognition (als<br />

Apperzeption <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Reproduktion) das Ding an sich als<br />

intellektuelles Substrat <strong>der</strong> individuellen Spezifizierbarkeit unterschoben<br />

147 B 232<br />

148 »Hiermit stimmt nun aller Erfahrungsgebrauch unseres Erkenntnisvermögens in<br />

Bestimmung <strong>der</strong> Zeit vollkommen überein. Nicht allein, daß wir alle<br />

Zeitbestimmung nur durch den Wechsel in äußeren Verhältnissen (<strong>die</strong> Bewegung) in<br />

Beziehung auf das Beharrliche im Raum (z.B. Sonnenbewegung, in Ansehung <strong>der</strong><br />

Gegenstände <strong>der</strong> Erde,) vornehmen können, so haben wir so gar nichts Beharrliches,<br />

was wir dem Begriffe einer Substanz, als Anschauung unterlegen könnten, als bloß<br />

<strong>die</strong> Materie <strong>und</strong> selbst <strong>die</strong>se Beharrlichkeit wird nicht aus äußerer Erfahrung<br />

geschöpft, son<strong>der</strong>n a priori als notwendige Bedingung aller Zeitbestimmung, mithin<br />

auch als Bestimmung des inneren Sinnes in Ansehung unseres eigenen Daseins<br />

durch <strong>die</strong> Existenz äußerer Dinge vorausgesetzt. Das Bewußtsein meiner selbst in<br />

<strong>der</strong> Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, son<strong>der</strong>n eine bloß intellektuelle<br />

Vorstellung <strong>der</strong> Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat <strong>die</strong>ses Ich auch<br />

nicht das mindeste Prädikat <strong>der</strong> Anschauung, welches, als beharrlich, <strong>der</strong><br />

Zeitbestimmung im inneren Sinne zum Korrelat <strong>die</strong>nen könnte: wie etwa<br />

Undurchdringlichgkeit an <strong>der</strong> Materie, als empirischer Anschauung, ist.« (K.r.V.,<br />

B 275 ff.)


-— 164 —<br />

wird. In <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen bleibt das<br />

Substrat des Beharrlichen aber nicht gänzlich ohne Merkmale <strong>der</strong><br />

anschaulichen Vorstellbarkeit; <strong>die</strong> Bedingung <strong>der</strong> selbst völlig plastischen<br />

transzendentalen Materie wird ergänzt mit Bedingungen <strong>der</strong> Orientierung<br />

des Raumes, <strong>die</strong> selbst ohne abgrenzbare Dinge nicht möglich wäre: In <strong>der</strong><br />

Regel <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Beharrlichkeit wird im synthetischen<br />

Gr<strong>und</strong>satz noch zuvor eine Stellenordnung <strong>der</strong> Elemente im Raum<br />

zueinan<strong>der</strong> vorgestellt, <strong>die</strong> über das nur abstrakt vorgestellte Zugleichsein<br />

als Schluß aus <strong>der</strong> Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Apprehensionen<br />

als Teilanschauungen o<strong>der</strong> Teilvorstellungen hinausgeht: »Die Ordnung in<br />

<strong>der</strong> Folge meiner Wahrnehmungen in <strong>der</strong> Apprehension ist hier also<br />

bestimmt, <strong>und</strong> an <strong>die</strong>selbe ist <strong>die</strong> letztere geb<strong>und</strong>en. In dem vorigen<br />

Beispiele von einem Hause konnten meine Wahrnehmungen in <strong>der</strong><br />

Aprehension von <strong>der</strong> Spitze desselben anfangen, <strong>und</strong> beim Boden endigen,<br />

aber auch von unten anfangen, <strong>und</strong> beim obigen endigen, imgleichen<br />

rechts o<strong>der</strong> links das Mannigfaltige <strong>der</strong> empirischen Anschauung<br />

apprehen<strong>die</strong>ren.« 149<br />

Wohl ist <strong>die</strong> Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Ausgangsrichtung <strong>der</strong> Apprehension<br />

gegenüber <strong>der</strong> Erscheinung eines vorbeifahrenden Schiffes damit<br />

dargetan, aber doch zugleich eine Stellenordnung <strong>der</strong> beharrlichen<br />

Momente untereinan<strong>der</strong> vorgestellt worden (<strong>die</strong> an<strong>der</strong>s auch das<br />

Beharrliche an <strong>der</strong> Gestalt des vorbeifahrenden Schiffes auszumachen<br />

hätten). Kant bezieht sich schließlich aber selbst nur auf <strong>die</strong> Ordnung<br />

in <strong>der</strong> Zeit: »In <strong>der</strong> Reihe <strong>die</strong>ser Wahrnehmungen war also keine<br />

bestimmte Ordnung, welche es notwendig machte, wenn ich in <strong>der</strong><br />

Apprehension anfangen müßte, um das Mannigfaltige zu verbinden. Diese<br />

Regel aber ist bei <strong>der</strong> Wahrnehmung, was geschieht, je<strong>der</strong>zeit anzutreffen,<br />

<strong>und</strong> sie macht <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> einan<strong>der</strong> folgenden Wahrnehmungen (in<br />

<strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen) notwendig.« 150 Damit ist <strong>die</strong> hier<br />

durchwegs von mir gebrauchte Normierung <strong>der</strong> primitiven Regel <strong>der</strong><br />

Apprehension <strong>der</strong> Beharrlichkeit in den Erscheinungen zwar gerechtfertigt<br />

worden, doch aber ist darauf hinzuweisen, daß <strong>die</strong> bloße Verneinung <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Erscheinungen (<strong>die</strong> noch eingehen<strong>der</strong><br />

zu diskutieren wäre) nicht <strong>die</strong> Orientierung im Raume enthält, wie oben<br />

anhand des Beispiels <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Signifikanz <strong>der</strong> zeitlichen<br />

149 B 237/A 192 f.<br />

150 B 237/A 193


-— 165 —<br />

Reihenfolge noch angezeigt worden ist. 151 Die Beharrlichkeit behält so über<br />

<strong>die</strong> Orientierung <strong>der</strong> körperlichen Begrenzung im Raume einen Bezug zur<br />

Konstitution des Raumes in <strong>der</strong> Anschauung, <strong>der</strong> hier aber letztlich nicht<br />

ausdrücklich wird <strong>und</strong> in <strong>die</strong> primitive Regel <strong>der</strong> Beharrlichkeit in den<br />

Erscheinungs- <strong>und</strong> Vorstellungsreihen nicht mit eingeht.<br />

Das Beharrliche als ein Begriff des reinen Schemas <strong>der</strong> Apprehension ist<br />

zwar nicht dem Vergleich <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong><br />

Vorstellungen (transzendentales Schema <strong>der</strong> Apprehension) vorausgesetzt<br />

wie etwa <strong>der</strong> Begriff des einzelnen Gegenstandes als Ideal <strong>der</strong> reinen<br />

Vernunft dem Objekt <strong>der</strong> Erfahrung, son<strong>der</strong>n es entspringt <strong>der</strong> Begriff des<br />

Beharrlichen als Regel <strong>der</strong> Apprehension selbst immer schon a posteriori<br />

<strong>und</strong> synthetisch <strong>der</strong> Zeitlichkeit des Erfahrungmachens in eben <strong>die</strong>sem<br />

Vergleich von Erscheinungsreihe <strong>und</strong> Vorstellungsreihe. Doch aber soll <strong>die</strong><br />

Beharrlichkeit a priori eine Bedingung objektiver Erfahrung sein; <strong>und</strong> zwar<br />

mit <strong>der</strong> Begründung, daß schon in <strong>der</strong> rein analytischen Beziehung <strong>der</strong><br />

Begriffe von »Beharrlichkeit« <strong>und</strong> »Verän<strong>der</strong>lichkeit« ohne Verän<strong>der</strong>liches<br />

<strong>der</strong> Begriff des Beharrlichen, <strong>und</strong> ohne Beharrliches <strong>der</strong> Begriff des<br />

Verän<strong>der</strong>lichen sinnlos wird. — Das Verän<strong>der</strong>liche ist<br />

transzendentalanalytisch <strong>der</strong> Möglichkeit je<strong>der</strong> Erfahrung vorausgesetzt,<br />

analytisch im Sinne reiner Logik kann jedoch dem Wechsel zwischen<br />

Begriff (Ursache bzw. Wirkung) <strong>und</strong> analytisch notwendigem Prädikat<br />

(Wirkung bzw. Ursache) kein Einhalt geboten werden. Das gleiche gilt für<br />

den Wechsel von Beharrlichkeit bzw. Dauer <strong>und</strong> Wechsel bzw.<br />

Verän<strong>der</strong>ung im reinen Verstandesbegriff <strong>der</strong> Substanz selbst. So verlangt<br />

das Beharrliche in <strong>der</strong> Kategorie selbst schon ein synthetisches Urteil a<br />

priori, weil es nur a posteriori gewonnen werden kann. Dem selbst a priori<br />

notwendigen Ergebnis des ursprünglichen empirischen Vergleichs von<br />

Regeln <strong>der</strong> Reproduktion <strong>und</strong> <strong>und</strong> Regeln <strong>der</strong> Produktion unter<br />

Verstandesbegriffe im inneren Sinn gegenüber soll aber <strong>die</strong> Rekognition<br />

ihrerseits bereits <strong>der</strong> Regel a priori das Ding als Vernunftidee bzw. den<br />

Begriff vom einzelnen Gegenstand als Ideal <strong>der</strong> Vernunft a priori<br />

vorausgesetzt haben. So ist auch nur insofern <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Substanz im<br />

Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit auch zu denken möglich (allerdings eben nicht<br />

mit Notwendigkeit analytisch aus <strong>der</strong> Erfahrung selbst heraushebbar),<br />

weil mit <strong>die</strong>sem wie mit jenem zwar irgend ein Ding o<strong>der</strong> Dinge, aber<br />

151 Damit steht im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kausalität eine für <strong>die</strong><br />

Substanzkategorie wesentliche Aussage, welche <strong>die</strong> Konstitution <strong>der</strong> Substanz als<br />

Begriff in <strong>der</strong> Erfahrung erst mit den vorgeometrischen Bedingungen <strong>der</strong><br />

Orientierung im Raum zusammenbringt.


-— 166 —<br />

nicht <strong>der</strong> Begriff vom einzelnen Gegenstand eindeutig gedacht werden<br />

kann — im Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit als primitive Regel <strong>der</strong> Apprehension<br />

kann also nicht <strong>der</strong> Begriff einer einfachen Substanz gedacht werden, wie<br />

auch traditionell immer schon behauptet wurde. Die Definition <strong>der</strong><br />

Substanz als Beharrlichkeit wird nach dem obigen Vorschlag bereits als<br />

eine <strong>der</strong> transzendentalen Zeitbestimmung, also als über jene Einheit, <strong>die</strong><br />

als reine Mannigfaltigkeit gemäß des reinen Verstandesbegriffes gedacht<br />

wird, hinausgehende Definition <strong>der</strong> Kategorie vorgestellt, <strong>die</strong> allerdings zu<br />

ihrer Erfüllung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Anschauungsform im<br />

Gegebensein <strong>der</strong> Erscheinung ebenso wie Verstandesbegriffe für ihre<br />

objektive Geltung bedarf. Deren Zusammenfügung (das synthetische<br />

Urteil a priori) leistet <strong>der</strong> transzendentale Schematismus, was <strong>der</strong><br />

Koordinierung in <strong>der</strong> transzendentalen Subsumtion entspricht.<br />

12) Die Dialektik <strong>der</strong> Beharrlichkeit<br />

a) Das Substrat des Dasein <strong>und</strong> <strong>die</strong> Assymmetrie des<br />

Zuschreibungsurteils<br />

Im Gegenzug zur transzendentalanalytischen Erörterung enthält zwar<br />

auch <strong>die</strong> ontologische Idee vom Dinge überhaupt <strong>und</strong> ihr erst durch<br />

Einschränkung (Ausstoßung von Prädikaten) zum Begriff bestimmter<br />

einzelner Gegenstand (<strong>die</strong> abstrakte Gedankenform <strong>der</strong> konkreten<br />

Vorstellung des Erfahrungsobjektes des logischen Gegenstandes)<br />

analytisch <strong>die</strong> Existenz, jedoch läßt sich, wie später anhand <strong>der</strong><br />

Untersuchung des prototypons transcendentale näher einzusehen sein wird,<br />

daraus keinerlei weiteren modale Bestimmungen ableiten, da immer schon<br />

davon auszugehen ist, daß <strong>der</strong> Anfang <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Untersuchung Existenz <strong>und</strong> Dasein voraussetzt. Das Ding hat aber, wenn<br />

auch aus an<strong>der</strong>en Gründen, noch weniger wie schon zuvor <strong>die</strong> Ideen von<br />

Substanz <strong>und</strong> Materie <strong>die</strong> Eigenschaften, <strong>die</strong> es als unmittelbar<br />

zugängliches Substrat einer ursprünglichen Evidenz geeignet erscheinen<br />

lassen würde. Das Ding an sich steht, gleich in welcher Fassung, dem<br />

logischen Gegenstand <strong>der</strong> Intentionalität im Verstandesurteil am nächsten.<br />

Doch hat <strong>die</strong> strengste Form <strong>der</strong> kritischen Untersuchung nur zur Einheit<br />

<strong>und</strong> Identität <strong>der</strong> Verknüpfungshandlung im »ich denke« <strong>der</strong> rationalen<br />

Psychologie geführt, was zweifellos <strong>die</strong> stärkste <strong>und</strong> reinste Form von<br />

Evidenz im Rahmen des strikt subjektivistischen transzendentalen


-— 167 —<br />

Idealismus ist. Diese rein intellektuelle Einheit scheint nun je<strong>der</strong><br />

Unterstellung eines spezifischen Substrats gegenüber immun zu sein. Alle<br />

Konzepte o<strong>der</strong> Ideen gehen einerseits zwar von Existenz, somit von einem<br />

Existierenden, an<strong>der</strong>erseits schließlich von einer Gestaltetheit des<br />

Existierenden aus. Nun hat sich <strong>die</strong> transzendentale Analyse anhand <strong>der</strong><br />

Behandlung <strong>der</strong> Begriffe von Gegenstand, Ding, Substanz <strong>und</strong> Materie<br />

nicht nur <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> rationalen Metaphysik für fähig erwiesen; <strong>die</strong><br />

transzendentale Analytik (<strong>und</strong> ohne eine solche stoßen wir auch nicht auf<br />

Probleme <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik) zeichnet sich für Kant<br />

gegenüber <strong>der</strong> rationalen Metaphysik gr<strong>und</strong>sätzlich dadurch aus, daß sie<br />

auf <strong>die</strong> Einheit <strong>der</strong> Erfahrung ausgerichtet ist <strong>und</strong> insofern zuerst nicht<br />

ohne Gr<strong>und</strong> auch Phänomenologie heißen könnte. Die Basis <strong>der</strong><br />

Transzendentalphilosophie ist, sofern sie auch kritische Wissenschaft ist,<br />

seit Descartes <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> ursprünglichen Einheit <strong>der</strong> Affinität<br />

von res cogitans <strong>und</strong> res extensa (nexus), <strong>und</strong> man kann sagen, daß <strong>die</strong><br />

neuzeitliche Transzendentalphilosophie damit ein Problem <strong>der</strong><br />

ontotheologischen <strong>und</strong> ontologischen Ordensphilosophie <strong>der</strong> Scholastik<br />

übernommen hat. Die ganze Transzendentalphilosophie Kants hängt an<br />

<strong>die</strong>ser Wendung zum Subjektiven, dessen Strukturen für <strong>die</strong> Erkenntnis<br />

von noch ursprünglicherer Bedeutung sind, wie <strong>die</strong> Strukturen <strong>der</strong><br />

empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> äußeren Sinnlichkeit<br />

auch mit Seinsgründen des Seienden verb<strong>und</strong>en sein müssen. Daß nun <strong>die</strong><br />

Transzendentalphilosophie auf eine beson<strong>der</strong>e Art <strong>und</strong> Weise auch <strong>die</strong><br />

Wissenschaft von <strong>der</strong> Erfahrung ist, ist eine Folge <strong>die</strong>ser Hinwendung zur<br />

Subjektivität. Diese Subjektivität hat ungeachtet <strong>der</strong> räumlichen <strong>und</strong><br />

zeitlichen Horizonte <strong>die</strong> Grenzen ihrer Existenz in einer Gegenwart <strong>und</strong><br />

somit ein Anwesen, das mit <strong>der</strong> individuellen Existenz in <strong>der</strong> Zeitlichkeit<br />

je verb<strong>und</strong>en ist. Die Subjektivität ist mehr als ein raumzeitlicher<br />

Standpunkt <strong>und</strong> mehr als ein reales Commercium von vereinzelten<br />

Existenzen, doch aber ist ihr Dasein als Existenz ein gegenwärtiges <strong>und</strong><br />

begrenztes. Es ist <strong>die</strong> Frage, inwieweit ein Horizont des Zugleichseins, <strong>der</strong><br />

sich in lokalen Wechselwirkungssystemen von realen Objekten einstellt,<br />

<strong>die</strong> sich unabhängig von <strong>der</strong> Dynamik rein phoronomisch in<br />

raumzeitlichen Horizonten verifizieren lassen, als Dasein völlig<br />

gleichbedeutend mit dem Daseinsbegriff <strong>der</strong> Subjektivität angesprochen<br />

werden kann.<br />

Das Dasein vor <strong>der</strong> Unterscheidung in subjektive <strong>und</strong> objektive Realität<br />

des Anwesens im Dasein ist nun nicht bloß mit etwas zugleich, son<strong>der</strong>n


-— 168 —<br />

umgreift das mit <strong>die</strong>ser Unterscheidung jeweils bestimmbare Anwesen<br />

<strong>und</strong> geht darüber hinaus. In <strong>die</strong>ser wirklichen Beständigkeit aus sich selbst<br />

(was nicht mit <strong>der</strong> Kontinuität des inneren Sinnes verwechselt werden<br />

sollte) ist im Dasein selbst immer schon ein beharrliches Momentum. 152 Mit<br />

<strong>die</strong>sem ersten Schritt ist aber nicht <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz von <strong>der</strong> Beharrlichkeit<br />

<strong>der</strong> Substanz als synthetisches Urteil a priori bewiesen, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />

spezifische Weise <strong>der</strong> Beharrlichkeit vom Dasein als individuelles Wesen<br />

(transzendentales Ideal) nur (unvollständig) exponiert worden. — Das ist<br />

<strong>der</strong> synthetisch-metaphysische Abschnitt <strong>der</strong> Argumentation; <strong>der</strong><br />

transzendentalanalytische Abschnitt geht transzendentalpsychologisch<br />

vor. Zuerst wird <strong>die</strong> Kontinuität des inneren Sinnes als beharrliche Form<br />

<strong>der</strong> inneren Anschauung apostrophiert <strong>und</strong> daraufhin gleich zum Substrat<br />

des Wechsels gemacht: »Alle Erscheinungen sind in <strong>der</strong> Zeit, in welcher,<br />

als Substrat, (als beharrliche Form <strong>der</strong> inneren Anschauung), das<br />

Zugleichsein sowohl als <strong>die</strong> Folge allein vorgestellt werden kann.« 153 In <strong>der</strong><br />

ersten Fassung lautet <strong>die</strong>se Stelle: »Alle Erscheinungen sind in <strong>der</strong> Zeit.<br />

Diese kann auf zweifache Weise das Verhältnis im Dasein <strong>der</strong>selben<br />

bestimmen, entwe<strong>der</strong> so fern sie nach einan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> zugleich seien.« 154 In<br />

A werden gleich <strong>die</strong> objektiven Verhältnisse <strong>der</strong> Gegenstände <strong>der</strong><br />

Erscheinungen (»das Verhältnis im Dasein <strong>der</strong>selben«) ausgedrückt. Das<br />

Substrat des beständigen Daseins in <strong>der</strong> zweiten Fassung aber ist <strong>der</strong><br />

innere Sinn, insofern seine »beharrliche« Form <strong>die</strong> Zeit ist.<br />

Weshalb Kant <strong>die</strong> Form des inneren Sinnes als »beharrlich« bezeichnet, ist<br />

wohl nur all zu klar: Den sachlichen Gr<strong>und</strong> liefert <strong>die</strong><br />

Kontinuitätsbedingung <strong>der</strong> Zeit als Form des inneren Sinnes in <strong>der</strong><br />

empirischen Apperzeption. Doch versucht Kant wohl nur vergeblich mit<br />

<strong>die</strong>ser Wendung des Gebrauches von Beharrlichkeit, <strong>die</strong> mit dem<br />

Substanzbegriff verb<strong>und</strong>en wird, <strong>die</strong> Zeit, transzendentalpsychologisch<br />

<strong>der</strong> innere Sinn, als Substrat des Wechsels vorzustellen. Die Bestimmung<br />

<strong>der</strong> Form des inneren Sinnes zum Substrat des Wechsels bleibt nicht ohne<br />

Folgen. Gleich im Anschluß daran schreibt Kant nämlich weiter: »Die Zeit<br />

also in <strong>der</strong> aller Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt<br />

<strong>und</strong> wechselt nicht; weil sie dasjenige ist, in welchem das Nacheinan<strong>der</strong>-<br />

152 Man denke an das sowohl geometrisch wie auch dynamisch verschieden behandelte<br />

Momentum von Cusanus, Descartes, Boskovic <strong>und</strong> <strong>die</strong> Differenz zwischen<br />

Aristoteles <strong>und</strong> Epikur in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Proportionalität von Bewegung <strong>und</strong> Zeit.<br />

Vgl. auch Heideggers »ontische« Interpretation des Paralogismus in: Sein <strong>und</strong> Zeit,<br />

Niemeyer, Tübingen 15 1979, p. 317 f..<br />

153 K.r.V., B 224.<br />

154 A 182


-— 169 —<br />

o<strong>der</strong> Zugleichsein nur als Bestimmungen <strong>der</strong>selben vorgestellt werden<br />

können.« 155<br />

Das Nacheinan<strong>der</strong>- <strong>und</strong> Zugleichsein, das in <strong>der</strong> Zeit stattfindet, soll also<br />

zuerst nicht <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Zeit selbst sein (»<strong>die</strong> Zeit [...] bleibt <strong>und</strong><br />

wechselt nicht«), son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Erscheinung ist dasjenige, wovon »das<br />

Nacheinan<strong>der</strong>- o<strong>der</strong> Zugleichsein nur als Bestimmung <strong>der</strong>selben vorgestellt<br />

werden« kann (also als Bestimmung <strong>der</strong> Erscheinungen). Dazu wird hier<br />

noch <strong>die</strong> Bedingung des äußeren Sinnes für das Zugleichsein<br />

unterschlagen. 156 Nur eine Seite später aber drückt sich Kant präziser aus<br />

<strong>und</strong> trennt auch das Zugleichsein von <strong>der</strong> Zeit; <strong>die</strong> Eigenständigkeit <strong>der</strong><br />

Bedingung des Zugleichseins wird damit anerkannt: »Denn <strong>der</strong> Wechsel<br />

trifft <strong>die</strong> Zeit selbst nicht, son<strong>der</strong>n nur <strong>die</strong> Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit, (so<br />

wie das Zugleichsein nicht ein modus <strong>der</strong> Zeit selbst ist, als in welcher gar<br />

keine Teile zugleich, son<strong>der</strong>n alle nach einan<strong>der</strong> sind).« 157 Die Zeit selbst<br />

als Substratum wechselt nicht, aber <strong>die</strong> Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit. Daß <strong>die</strong><br />

Bedingung des Zugleichseins nicht selbst auf <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Zeit<br />

rückführbar ist, son<strong>der</strong>n dazu <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Wechselwirkung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Raum vorausgesetzt ist, muß <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> sein, weshalb Kant das<br />

Zugleichsein nicht mehr als Modus <strong>der</strong> Zeit selbst verstanden haben<br />

wollte, obgleich er zuerst zu Beginn <strong>der</strong> synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze das<br />

Zugleichsein zu den Zeitmodi gezählt hat 158 <strong>und</strong> es zum Ausgang <strong>der</strong><br />

synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze wie<strong>der</strong> tut. 159 Nun aber ist doch das eigentlich<br />

Zeitliche an <strong>der</strong> Zeit, das etwas vorhergeht <strong>und</strong> das etwas nachfolgt, <strong>und</strong><br />

das betrifft nur <strong>die</strong> Erscheinungen, <strong>die</strong> wechseln. Denn: »Der Wechsel trifft<br />

<strong>die</strong> Zeit selbst nicht«, was doch sehr merkwürdig ist, da dann <strong>die</strong> Zeit in<br />

<strong>der</strong> Unterscheidung von Zeit <strong>und</strong> den Verhältnissen <strong>der</strong> Erscheinungen in<br />

<strong>der</strong> Zeit selbst keine eigene Bestimmung mehr hätte: Die Zeit »als<br />

Substratum« könnte demnach auch das von <strong>der</strong> Zeit unterschiedene<br />

Zugleichsein sein. Kant aber spricht an <strong>die</strong>ser Stelle vom inneren Sinn. Die<br />

Bestimmung des Nacheinan<strong>der</strong>seins <strong>und</strong> Zugleichseins kann jedoch in<br />

155 B 224 f.<br />

156 Wobei zu bedenken ist, daß <strong>der</strong> äußere Sinn selbst gar nicht von selbst räumlich<br />

verfaßt ist, son<strong>der</strong>n vielmehr dasjenige richtig ist, was Kant selbst in § 1 <strong>der</strong><br />

Transzendentalen Ästhetik festgestellt hat: »In <strong>der</strong> Erscheinung nenne ich das, was<br />

<strong>der</strong> Empfindung korrespon<strong>die</strong>rt, <strong>die</strong> Materie <strong>der</strong>selben, daßjenige aber, welches<br />

macht, daß das Mannigfaltige <strong>der</strong> Erscheinung in gewisse Verhältnisse geordnet<br />

werden kann, nenne ich <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Erscheinung.« (B 33/A 19)<br />

157 B 226/A 183<br />

158 In <strong>der</strong> ersten Fassung unterscheidet Kant in <strong>die</strong>sem Sinne <strong>die</strong> Zeitreihe vom<br />

Zeitumfang (A 182)<br />

159 Allerdings als Kategorie des Commerciums


-— 170 —<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang nicht Bestimmung im Sinne <strong>der</strong> rationalen<br />

Physiologie des inneren Sinnes sein, als ob es sich dabei um eine<br />

Bestimmung handele, <strong>die</strong> allein am inneren Sinn zu finden wäre. Wohl<br />

kann Kant vom Wechsel <strong>der</strong> Zustände des inneren Sinnes sprechen, nur<br />

sind <strong>die</strong>se Zustände dann nicht als Erscheinungen von etwas o<strong>der</strong><br />

Vorstellungen, <strong>die</strong> jemand etwas vorstellen, zu fassen. Näher beschrieben,<br />

findet <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong> Realität, <strong>die</strong> im <strong>und</strong> mit dem Dasein auch ohne <strong>der</strong><br />

Schwierigkeit, wie <strong>und</strong> weshalb mit den Empfindungen des äußeren<br />

Sinnes auch schon <strong>der</strong> Raum als Form <strong>der</strong> Anschauung gegeben sein soll,<br />

doch immer schon gegeben ist, mit <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

von Innen <strong>und</strong> Außen auf <strong>die</strong> Einschränkung einer Vorstellung o<strong>der</strong><br />

Vorstellungsverhältnisse als Verhältnisse im inneren Sinn als das »Reale<br />

<strong>der</strong> Apperzeption« eine eigene rein psychologische Definition. 160 Diese<br />

Einschränkung gibt dem Dasein einen ersten Begriff von Existenz 161 o<strong>der</strong><br />

zumindest einen vom Dasein als objektives <strong>und</strong> subjektives Umfassendes<br />

unterschiedenen Begriff davon. — Diese ursprüngliche<br />

Gegenstandskonstitution jedoch erweist sich so abermals mit <strong>der</strong><br />

Raumkonstitution anhand <strong>der</strong> Ersten metaphysischen Erörterung des<br />

Raumes als untrennbar verb<strong>und</strong>en.<br />

160 »Das unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge wird in dem vorstehenden<br />

Lehrsatze [Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins<br />

beweiset das Dasein <strong>der</strong> Gegenstände im Raum außer mir] nicht vorausgesetzt,<br />

son<strong>der</strong>n bewiesen, <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>die</strong>ses Bewußtseins mögen wir einsehen, o<strong>der</strong><br />

nicht. Die Frage wegen <strong>der</strong> letzteren würde sein: ob wir nur einen inneren Sinn, aber<br />

keinen äußeren, son<strong>der</strong>n bloß äußere Einbildung hätten. Es ist aber klar, um uns auch<br />

nur etwas als äußerlich einzubilden, d.i. dem Sinne in <strong>der</strong> Anschauung darzustellen,<br />

wir schon einen äußeren Sinn haben, <strong>und</strong> dadurch <strong>die</strong> bloße Rezeptivität einer<br />

äußeren Anschauung von <strong>der</strong> Spontaneität, <strong>die</strong> jede Einbildung charakterisiert,<br />

unmittelbar unterscheiden müssen. Denn sich auch einen äußeren Sinn bloß<br />

einzubilden, würde das Anschauungsvermögen, welches durch <strong>die</strong> Einbildungskraft<br />

bestimmt werden soll, selbst vernichten.« (Anmk. zu B 276).<br />

161 Hierbei ist an den Begriff vom einzelnen Gegenstand zu denken, <strong>der</strong> durch<br />

Einschränkung (Austoßung aller Prädikate, <strong>die</strong> sich wi<strong>der</strong>sprechen o<strong>der</strong> neben<br />

einan<strong>der</strong> nicht stehen können) <strong>der</strong> Sphäre aller möglichen Prädikate überhaupt eines<br />

Dinges entsteht, bevor im Gegenzug damit das Allerrealste vom bloß Möglichen<br />

(dann schon aristotelisch als Wirkliches <strong>und</strong> Kontingentes) zu unterscheiden gesucht<br />

wird. (K.r.V., prototypon transcendentale)


-— 171 —<br />

b) Die Zeit als Form des Bewußtseins ist <strong>die</strong> Form des inneren Sinnes<br />

(Perzeption) <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> <strong>der</strong> Verstandeshandlung (Apperzeption).<br />

Das Substrat des Daseins ist nicht das des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen.<br />

Die Zeit als Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen, <strong>die</strong> Zeit als Form<br />

des inneren Sinnes: <strong>der</strong> Schluß liegt nahe, daß <strong>der</strong> innere Sinn als das<br />

Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen bezeichnet wird. Kants<br />

Formulierung zur Zeit als Substrat, welche den inneren Sinn mit <strong>die</strong>sem zu<br />

identifizieren erlaubt, bezieht nun <strong>die</strong> Erscheinungen im Vorstellen<br />

eigentlich auf das Subjekt <strong>die</strong>ser Erscheinungen, also nur mittelbar über<br />

den inneren Sinn weiter, <strong>und</strong> das verlängert sich zur Frage,<br />

wem <strong>der</strong> Gegenstand vorgestellt wird. Der Schluß, den inneren Sinn als<br />

Substrat des Wechsels anzusehen, wäre soweit korrekt, jedoch paßt <strong>die</strong><br />

Definition <strong>der</strong> Zeit als Wechsel <strong>der</strong> Erscheinung <strong>und</strong> Abfolge von<br />

Prädikaten nicht auf alle Definitionen des inneren Sinnes, nur auf <strong>die</strong><br />

Affektationen durch den äußeren Sinn. So soll im Rahmen des inneren<br />

Sinnes (Gemüt) auch <strong>die</strong> Vergleichung von Begriffen <strong>und</strong> Größen<br />

stattfinden. Diese Handlungen o<strong>der</strong> Vorgänge sind zweifellos Reflexionen<br />

bzw. schließen Reflexionen mit ein, sodaß ein lineares Nacheinan<strong>der</strong> von<br />

Zeitabschnitten wie im Vergleich von Erscheinungs- <strong>und</strong><br />

Vorstellungsreihen <strong>die</strong>sen Funktionen keinesfalls genügen könnte.<br />

Allerdings bezeichnet Kant in <strong>der</strong> ersten Fassung <strong>der</strong> Deduktion den<br />

inneren Sinn ohne Gegenstandskonstitutionen auch schon als <strong>die</strong><br />

empirische Apperzeption (= Bewußtsein numerischer Einheit). — Es bleibt<br />

zunächst festzuhalten, daß <strong>der</strong> innere Sinn mehrere Definitionen besitzt<br />

<strong>und</strong> als Medium für verschiedene Funktionen in Anspruch genommen<br />

wird. Es muß einstweilen offen bleiben, ob es gelingen kann, dem inneren<br />

Sinn eine Basisdefinition zu geben, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> verschieden zu<br />

denkenden Formen <strong>der</strong> Wirkung <strong>der</strong> Spontaneität zu verschiedenen<br />

Zeitdefinitionen modifiziert wird, <strong>und</strong> inwieweit Kant überhaupt <strong>die</strong><br />

kontinuierliche Entwicklung des Konzeptes vom inneren Sinn zum Gemüt<br />

im Rahmen einer transzendentalen Psychologie vorsieht. Diese müßte<br />

zwar vom Verhältnis von rationaler Psychologie <strong>und</strong> rationaler<br />

Physiologie ausgehen, aber zur Einteilungsproblematik <strong>der</strong> ganzen<br />

Seelenlehre als Vermögenslehre in Spannung bleiben, um jeweils von <strong>der</strong><br />

rationalen Psychologie <strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft über <strong>die</strong><br />

Psychologie <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Gefühl <strong>der</strong> Achtung vor dem<br />

Sittengesetz <strong>der</strong> reinen Willensphilosophie) bis hin zur reflektierenden<br />

Urteilskraft (Ästhetik <strong>und</strong> Teleologie) <strong>die</strong> Funktionen des inneren Sinnes


-— 172 —<br />

erst zu bestimmen. Zieht man <strong>die</strong> erörterten Schwierigkeiten in Betracht,<br />

<strong>und</strong> ist <strong>die</strong> Zeit nun <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Erscheinungen im inneren Sinn<br />

überhaupt <strong>und</strong> tritt <strong>der</strong> innere Sinn nur mittels Erscheinungen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />

Verhältnisse gegenüber <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption in<br />

Erscheinung, 162 ist, gleich ob Perzeption <strong>und</strong> Apperzeption, <strong>die</strong> Zeit immer<br />

auch <strong>die</strong> Form des Bewußtseins, <strong>die</strong>ses aber abermals nicht selbst Substrat<br />

des Wechsels o<strong>der</strong> eine Antwort, wem <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Vorstellung<br />

vorgestellt wird. Nur insofern etwas im Bewußtsein als Substrat des<br />

Wechsels betrachtet wird, kann <strong>die</strong> Zeit auch als Form des Bewußtseins<br />

bezeichnet werden.<br />

Was kann nun als Substrat des Wechsels im Bewußtsein in Stellung<br />

gebracht werden, wenn es nicht doch <strong>der</strong> vom <strong>und</strong> im inneren Sinn (durch<br />

den äußeren Sinn: Perzeption) vermittelten Gegenstand des gedachten<br />

Erfahrungsobjektes ist? Hier wird aber nach <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong><br />

Zuschreibung einer Vorstellung als meine Vorstellung <strong>und</strong> nicht als<br />

mögliches Prädikat des Erfahrungsobjektes gefragt. In <strong>der</strong> ersten Fassung<br />

<strong>der</strong> ersten Kritik muß es das »Ich« <strong>der</strong> numerischen Einheit aus dem<br />

bloßen Fluß <strong>der</strong> Erscheinung (empirische Apperzeption) sein. Damit ist<br />

eben nur in A <strong>die</strong> verfolgte Frage auch schon als gelöst zu betrachten: Das<br />

»Ich« ist <strong>die</strong> bleibende nicht-empirische (was hier nur nicht vom äußeren<br />

Sinn gegeben bedeutet) Vorstellung im Fluß wechseln<strong>der</strong> Erscheinungen.<br />

Allerdings wird spätestens in <strong>der</strong> zweiten Fassung B deutlich, daß hier nur<br />

auf <strong>die</strong> Verknüpfbarkeit <strong>die</strong>ser Vorstellung vom »Ich« mit einer jeden<br />

an<strong>der</strong>en Vorstellung rekurriert werden kann, aber keineswegs auf eine<br />

Zuschreibung einer Vorstellung, <strong>die</strong> auch Anschauungen enthalten kann,<br />

auf <strong>die</strong> Vorstellung »Ich« als Substrat <strong>die</strong>ses Zuschreibungsurteiles. Eben<br />

<strong>die</strong>ses versuchte Zuschreibungsurteil in Richtung des Subjektes <strong>der</strong><br />

Affektion wie <strong>der</strong> Erkenntnis führt mit seinem logisch unvollständigen<br />

Schein eines Substrates in den Problemkreis <strong>der</strong> Paralogismen, <strong>die</strong><br />

162 Und zwar als rationale Physiologie, vgl. auch den Übergang <strong>der</strong> M.A.d.N. zur<br />

Transzendentalphilosophie, <strong>die</strong> nicht mehr Propädeutik sein soll; in: Erich Adickes ,<br />

Kants Opus postumum,, Kant-Stu<strong>die</strong>n, Ergänzungshefte im Auftrag <strong>der</strong> Kant-<br />

Gesellschaft, Hersg. von H. Vaihinger, M. Frischeisen-Köhler <strong>und</strong> A. Lieber, Nr. 50,<br />

Berlin 1920, p. 293 f.. Vgl. Kurt Hübner, Leib <strong>und</strong> Erfahrung in Kants Opus<br />

postumum, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Verlag Anton Hain,<br />

Meisenheim, Bd. 7, 1953, p. 204-219. Wie<strong>der</strong>abdruck in: Kant. Zur Deutung seiner<br />

Theorie von Erkennen <strong>und</strong> Handeln, Koepenheuer&Witsch, NWB 63, 1973, p. 192-<br />

204. Hübner zitiert das O.p. nach <strong>der</strong> Ausgabe von Artur Buchenau, 2. Bde., Leipzig<br />

1936. Zur Erscheinung <strong>der</strong> Erscheinung etwa II, p. 367, auch: »Was metaphysisch<br />

betrachtet bloß zu Erscheinungen gezählt werden muß, das ist von physischem<br />

Betracht Sache an sich selbst. (Erscheinung <strong>der</strong> Erscheinung.)«, in: II, p. 329.


-— 173 —<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich mit <strong>der</strong> Fragestellung nach <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong> Seele<br />

verb<strong>und</strong>en sind. Das erlaubt aber durchaus komplementär zunächst eine<br />

transzendentalphänomenologische Strategie weiter anzuwenden, <strong>die</strong> von<br />

A <strong>und</strong> B unbelastet, <strong>die</strong> Vorstellungen als <strong>die</strong> meinen betrachtet, nur weil<br />

sie empirisch in meinem Bewußtsein von mir vorgef<strong>und</strong>en werden, was<br />

allerdings nur neuerlich auf eine <strong>der</strong> möglichen Fassungen des inneren<br />

Sinnes verweist.<br />

Erst <strong>die</strong> Reflexion auf <strong>die</strong> Transzendentalität <strong>der</strong> Subjektivität verhilft<br />

dazu, <strong>die</strong> Identität von Zeit <strong>und</strong> Substrat des Bewußtseins aufzuspalten,<br />

<strong>und</strong> etwas vom empirischen Bewußtsein (<strong>die</strong> empirische Apperzeption im<br />

inneren Sinn) verschiedenes als Kanditat zu behandeln, das das eigentliche<br />

Substrat des Wechsels auszumachen imstande ist. Gerade weil <strong>die</strong><br />

Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen zumindest aufzeigen lassen, daß <strong>die</strong><br />

Vorstellung von <strong>der</strong> Substantialität <strong>der</strong> Seele wi<strong>der</strong>leglich ist <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />

Argumentation keineswegs am sicheren Leitfaden <strong>der</strong> Logik fortgeht, wird<br />

<strong>die</strong> Fragestellung weitergetrieben zur Frage, wem <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong><br />

Vorstellung vorgestellt wird. In <strong>der</strong> ersten Fassung A erscheint <strong>die</strong><br />

Beantwortung noch relativ einfach zu sein: Identität <strong>und</strong> Einheit des<br />

Bewußtseins übernimmt <strong>die</strong> Person, was ich in Hinblick auf<br />

rechtsphilosophische Fragen als Bewegung hin zu einer<br />

Willensphilosophie interpretiere. In <strong>der</strong> zweiten Fassung B ist nur mehr<br />

von <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Form des Bewußtseins <strong>die</strong> Rede, was hinsichtlich <strong>der</strong><br />

rein formalen Voraussetzungen, <strong>die</strong> Bedingungen <strong>und</strong> Grenzen des<br />

Urteilens zu untersuchen, eine Präzisierung darstellt, aber eben <strong>die</strong> Frage,<br />

wem <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Vorstellung vorgestellt wird, weiter verschiebt;<br />

das heißt aber auch, <strong>die</strong>se Frage an<strong>der</strong>s zu stellen hat. Die Universalität <strong>der</strong><br />

Geltung <strong>der</strong> Bedingungen <strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft macht es aber<br />

schon von Seiten <strong>der</strong> methodischen Erfor<strong>der</strong>nisse unmöglich, eine<br />

konkrete Individualität in <strong>die</strong> transzendentale Argumentation selbst mit<br />

aufzunehmen. Die Bezugnahme auf <strong>die</strong> Frage, wem etwas vorgestellt<br />

wird, ist also keine Fortsetzung <strong>der</strong> ursprünglichen <strong>und</strong><br />

transzendentalanalytischen Frage nach dem Subjekt <strong>der</strong> reinen<br />

(theoretischen) Vernunft, son<strong>der</strong>n schließt komplementär den Ansatz <strong>der</strong><br />

reinen praktischen Vernunft mit ein.<br />

Die Zeit in <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong> bloßen Abfolge ist demnach zwar <strong>die</strong><br />

Charakteristik des Bewußtseins hinsichtlich des kategorialen<br />

Verstandesgebrauches o<strong>der</strong> hinsichtlich rein physikalischer Bedeutung,<br />

wie mit <strong>der</strong> intentionalen Verfaßtheit des Bewußtseins <strong>die</strong> primäre


-— 174 —<br />

Intentionalität an Bedeutung gewinnt, <strong>und</strong> zu einer Frage <strong>der</strong><br />

Wesensbestimmung des Bewußtseins wird. Jedoch wird auch hier von<br />

Bewußtsein nur weiter <strong>die</strong> Rede sein können, wenn von <strong>der</strong> entlang <strong>der</strong><br />

primären Intentionalität bestimmten Horizonte <strong>der</strong> Zeitbedingungen<br />

hinausgegangen werden kann, da davon ausgegangen wird, daß das<br />

Bewußtsein sich <strong>der</strong> Ausdehnung <strong>der</strong> Zeit aus verschiedenen Perspektiven<br />

reflektierend <strong>und</strong> bestimmend nähern kann, ohne deshalb das menschliche<br />

Bewußtsein, o<strong>der</strong> das einer Intelligenz mit sinnlicher Anschauung<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ins Referenzlose zu entschränken. Das ist ein weiterer<br />

Gr<strong>und</strong>, weshalb sich das Bewußtsein nicht zum Substrat des Wechsels <strong>der</strong><br />

Erscheinungen eignet. — Die Zeit wäre also a fortiori auch <strong>die</strong> Form des<br />

Daseins im Sinne <strong>der</strong> Objektivität, <strong>die</strong> in <strong>der</strong> Bestimmung des<br />

transzendentalen Subjektivismus selbst liegt, wenngleich offensichtlich<br />

nicht als das Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen, wofür empirisch<br />

insofern wie<strong>der</strong> nur <strong>die</strong> Form des bereits erledigt geglaubten inneren<br />

Sinnes als Folge von Zuständen desselben o<strong>der</strong> als Reihe von<br />

Erscheinungen im inneren Sinn in Frage zu kommen scheint. Die Zeit als<br />

Ordnung des Nacheinan<strong>der</strong>seins aber ist auch <strong>die</strong> Form <strong>der</strong><br />

Verstandeshandlung, <strong>und</strong> somit für das »ich denke«, das jede Vorstellung<br />

begleiten können muß, also gerade auch für <strong>die</strong> ursprünglich-synthetische<br />

Einheit <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption formal als konstituierend zu<br />

denken.<br />

Die Zeitlichkeit <strong>der</strong> synthesis intellectualis ist — mit dem hier noch<br />

ausstehenden Gr<strong>und</strong> des Zugleichseins im Raum — <strong>die</strong> Bedingung, <strong>die</strong> mit<br />

dem eingangs behandelten Zeitbegriff als logifizierbare Form des inneren<br />

Sinnes im Rahmen <strong>der</strong> <strong>die</strong> rationale Physiologie sprengenden<br />

transzendentalen Psychologie erst <strong>die</strong> transzendentalästhetische<br />

Anschauung von Gegenständen in Raum <strong>und</strong> Zeit als Objekte <strong>der</strong><br />

Erfahrung vorstellig machen kann. Das Bewußtsein <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Apperzeption, wie es zuvor gelegentlich versuchsweise als rein<br />

intelligibles Substratum vorgestellt wurde, steht aber<br />

transzendentalsubjektiv sowohl <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong> synthesis intellectualis<br />

wie <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong> synthesis speciosa, sofern <strong>die</strong> transzendentale<br />

Apperzeption auch Spontaneität <strong>und</strong> Rezeptivität schon als ursprünglich<br />

vereinigt gedacht hat, gegenüber, woraufhin sich freilich in objektiver<br />

Hinsicht <strong>die</strong> Identität von Dasein <strong>und</strong> Zeit als immanenter Schein eines<br />

umgreifenden Daseins aufdrängt. Doch bleibt <strong>die</strong>s, wenn man es streng<br />

objektiv nehmen will, eine gänzlich akzidentielle <strong>und</strong> zufällige


-— 175 —<br />

Bestimmung für <strong>die</strong> gegebenen Gegenstände: In rein<br />

transzendentalsubjektiver Hinsicht scheint transzendentalanalytisch<br />

ursprünglich keinerlei notwendige Zeitbedingung angebbar. Mit <strong>der</strong><br />

synthesis intellectualis ist aber auch <strong>der</strong> Sprachcharakter des untersuchten<br />

Bewußtseins implizite eingeführt worden (noumena überhaupt); mit <strong>der</strong><br />

transzendentalen Funktion <strong>der</strong> synthesis speciosa (den Schematen <strong>der</strong><br />

Kategorien) wird in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft <strong>der</strong><br />

Sprachcharakter implizite im Sinne einer mitteilungsfähigen<br />

Darstellungsintention auf <strong>die</strong> Rahmenbedingungen einer physikalistischen<br />

Sprache eingeschränkt, aber schließlich selbst wegen den zeitlichen<br />

Bedingungen <strong>der</strong> Performation unter <strong>der</strong> Vorstellung einer vergehenden<br />

o<strong>der</strong> verfließenden linearen Zeit subsummierbar. Obgleich hier <strong>die</strong><br />

Bedeutung <strong>der</strong> primären Intentionalität nicht nur was <strong>die</strong> intentionale<br />

Strukturiertheit des Bewußtseins überhaupt (also formal), son<strong>der</strong>n auch<br />

was <strong>die</strong> inhaltliche Zwecksetzung <strong>der</strong> Untersuchung angeht, wie<strong>der</strong> zum<br />

Ausdruck kommt, wird anhand <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> Zeitbedingung<br />

zumindest deutlich, daß zur Erörterung des ganzen Horizontes des<br />

Bewußtseins noch an<strong>der</strong>e Zeitdefinitionen, wie auch an<strong>der</strong>e<br />

Zeitbedingungen gehören. Damit ist auch gr<strong>und</strong>sätzlich gerechtfertigt, <strong>die</strong><br />

Intentionalität nicht nur auf <strong>die</strong> von <strong>der</strong> sinnlichen Anschauungen<br />

gegebenen Gegenstände des Bewußtseins zu richten.<br />

Gesucht war zweierlei: (1) Der Gr<strong>und</strong>, weshalb ich von »meinen«<br />

Vorstellungen reden darf, (2) Das Substrat des Wechsels <strong>der</strong><br />

Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit. Der erste Punkt ist schnell erledigt; es gibt zwei<br />

Rechtfertigungen, von »meinen« Vorstellungen zu reden: (1.1)<br />

Vorstellungen sind Zustände des inneren Sinnes, <strong>die</strong>ser ist fraglos je<br />

»mein« innerer Sinn, etc. (1.2) Das Erfahrungmachen bei Kant<br />

unterscheidet sich gr<strong>und</strong>legend von <strong>der</strong> bloß psychologisch vorgehenden<br />

Frage nach dem Bewußtwerden von Vorstellungen: Ich habe mir nunmehr<br />

<strong>die</strong> Vorstellungen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Regeln <strong>der</strong> Einteilung <strong>und</strong> Verknüpfung<br />

etwa in einem technisch-praktisch definierbaren Prozess (Experiment)<br />

angeeignet <strong>und</strong> darf sie deshalb »meine« Vorstellungen nennen. Das aber<br />

ist nur <strong>die</strong> empirische Deduktion, <strong>die</strong> erklärt, woher ich empirisch meine<br />

Erfahrung her habe, aber nicht eine transzendentale Rechtfertigung, ob ich<br />

<strong>die</strong>se Erfahrung zu Recht eine Erkenntnis nennen kann, wozu es<br />

notwendig ist zu wissen, woher etwas notwendig ist. Diese Begründung<br />

entspricht <strong>der</strong> modalen Unterscheidung <strong>der</strong> Erfahrung in Kenntnis <strong>und</strong><br />

Erkenntnis, <strong>die</strong> Kant im § 13 <strong>der</strong> Deduktion mit den juridischen


-— 176 —<br />

Ausdrücken quid factis <strong>und</strong> quid iuris, welche zwischen<br />

Verfügungsgewalt (Besitz) <strong>und</strong> verbrieftes Eigentumsrecht unterscheiden,<br />

befragt hat.<br />

Das Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen vollständig zu bestimmen,<br />

ist schon in <strong>der</strong> Substanzkategorie des Verstandesgebrauches in <strong>der</strong><br />

sinnlichen Erfahrung nicht vollständig gelungen; im Rahmen einer<br />

möglichen Selbstzuschreibung <strong>der</strong> Erscheinungen als meine Vorstellungen<br />

haben sich bislang zwei mögliche Kandidaten gezeigt: Der innere Sinn,<br />

dessen Zustände wechseln, empfiehlt sich als Kandidat für das Substrat<br />

des Wechsels von selbst, doch mißfällt an <strong>die</strong>ser Vorstellung, daß hier eben<br />

nicht mehr vom Wechsel <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> Vorstellungen <strong>die</strong> Rede<br />

ist, son<strong>der</strong>n opak vom Wechsel <strong>der</strong> Zustände des inneren Sinnes. Weiters<br />

mißfällt, daß bei Kant plötzlich <strong>der</strong> innere Sinn sowohl <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Zeit<br />

wie auch das Substrat <strong>der</strong> Zeit sein soll. Das Zusammenfallen von Form<br />

<strong>und</strong> Substrat scheint ansonsten für den inneren Sinn unmöglich zu sein, es<br />

sei denn, es handelt sich um »transzendentale« Vorstellungen über den<br />

inneren Sinn selbst, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Verknüpfungsregeln <strong>der</strong> Vorstellungen im<br />

inneren Sinn än<strong>der</strong>n. Doch werden solche Regelvorstellungen nicht vom<br />

inneren Sinn selbst produziert, son<strong>der</strong>n durch intelligible Spontaneität <strong>der</strong><br />

rationalen Psychologie des »ich denke«, also <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Apperzeption, erzeugt. Die Zweifel am Zusammenfallen von Substrat <strong>und</strong><br />

Form im inneren Sinn waren offenbar in einem gewissen Sinn berechtigt:<br />

im Fall <strong>der</strong> produktiven Einbildungskraft fungiert <strong>der</strong> innere Sinn zwar als<br />

Substrat, stellt sich aber nicht als einzige Quelle <strong>der</strong> Zeitlichkeit dar,<br />

obgleich dessen Kontinuität insgesamt durchaus über <strong>die</strong> Bedingungen<br />

<strong>der</strong> Konstruktion hinaus als notwendig gefor<strong>der</strong>t wird. Die Zeit als<br />

oberster Formbegriff des bestimmenden Urteils kann auch inhaltlich<br />

wegen <strong>der</strong> bestimmenden Verstandeshandlung nicht allein als dem<br />

inneren Sinn zugehörig aufgefaßt werden.<br />

Die verschiedenen Fragen haben verschiedene Untersuchungsgänge: Die<br />

Frage, weshalb es jeweils wichtig wird, daß es sich um meine Vorstellungen<br />

handelt, <strong>und</strong> was damit nach <strong>der</strong> Eröffnung des Daseins zur<br />

intersubjektiven Kommunikation verknüpft sein kann, hat zwei mögliche<br />

Antworten, <strong>die</strong> beiden transzendental verstanden werden können: Erstens<br />

<strong>die</strong> einfache psychologische, nach <strong>der</strong> ich klare Vorstellungen habe <strong>und</strong><br />

bereit bin, darüber auch zu berichten; <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong> Antwort nach <strong>der</strong><br />

Prüfung gemäß <strong>der</strong> Unterscheidung in quid facti <strong>und</strong> quid iuris. Erst <strong>die</strong><br />

zweite Antwort besitzt überhaupt eine Denkmöglichkeit, mit <strong>der</strong> nächsten


-— 177 —<br />

Frage in Verbindung gebracht zu werden: wem wird mit <strong>der</strong> Vorstellung<br />

etwas vorgestellt? Das ist mit <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong> Frage, aus welchen<br />

Gründen ich von meinen Vorstellungen sprechen kann, noch nicht<br />

beantwortet worden. Schließlich bleibt drittens <strong>die</strong> Frage nach dem<br />

Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen unter beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> Komplementarität, daß <strong>die</strong> Zeit <strong>die</strong> Form von etwas sein muß.<br />

Letztendlich aber kann man nicht in <strong>der</strong> Perspektive verharren, in welcher<br />

man <strong>die</strong> Schematen des Verstandesbegriffes vorstellt, sodaß auch <strong>die</strong><br />

Bedeutung <strong>der</strong> Frage nach dem Substrat des Wechsels <strong>der</strong> Erscheinungen<br />

nicht durch <strong>die</strong> Antwort, <strong>der</strong> innere Sinn sei das Substrates des Wechsels<br />

<strong>der</strong> Erscheinungen in <strong>der</strong> Zeit, o<strong>der</strong> das Objekt <strong>der</strong> Erfahrung sei das<br />

Substrat des Wechsels, als völlig ausgelegt betrachtet werden kann. Mit<br />

<strong>der</strong> Zuschreibung des Vorstellungsinhaltes als Prädikat <strong>und</strong> Merkmal auf<br />

Erfahrungsobjekte ist nichts gewonnen, da eben hier <strong>die</strong> Zuschreibung von<br />

Erscheinungen <strong>und</strong> Vorstellungen behandelt werden soll. Die einzige<br />

Alternative zum naheliegenden inneren Sinn als Substrat <strong>die</strong>ser<br />

Zuschreibung zeigt sich dann doch mit <strong>der</strong> Frage, wem etwas vorgestellt<br />

werden soll, denn <strong>der</strong> innere Sinn reicht nur zu, <strong>die</strong> anaonyme<br />

psychologische Bedeutung <strong>der</strong> Rede von je meiner Vorstellung zu<br />

f<strong>und</strong>ieren. Diese Alternative ist unabhängig vom Ausgang <strong>der</strong> Erörterung<br />

des Verhältnisses von inneren Sinn, verstandesgemäßer Spontaneität <strong>der</strong><br />

transzendentalen Apperzeption, <strong>und</strong> schlußendlich einem<br />

Bewußtseinszustand, <strong>der</strong> bereits in Spannung zur Willensphilosophie<br />

steht, in <strong>der</strong> anstehenden Frage zu verfolgen, führt aber über <strong>die</strong><br />

transzendentale Dialektik <strong>der</strong> reinen Vernunftideen, worin letzenendes <strong>die</strong><br />

synthetischen Sätze a priori <strong>der</strong> praktischen Vernunft ihren Ursprung<br />

haben, hinaus zu den metaphysischen <strong>und</strong> psychologischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>der</strong> Rechtsphilosophie <strong>und</strong> dem Sitttengesetz <strong>der</strong> praktischen Vernunft.<br />

Für <strong>die</strong> Absichten des vorliegenden Untersuchungsganges muß<br />

einstweilen als Ergebnis reichen, daß erstens <strong>die</strong> Zeit als Form nicht eine<br />

alleinige Eigenschaft des inneren Sinnes ist, zweitens, daß mit <strong>der</strong><br />

transzendentalanalytischen Einklammerung des äußeren Gegenstandes<br />

des Erfahrungsobjektes zwar Beharrlichkeit als reiner Verstandesbegriff<br />

weiterhin eine Bedeutung besitzt, aber das Substrat des Wechsels <strong>der</strong><br />

Erscheinungen muß wegen <strong>der</strong> psychologischen Feststellung, daß <strong>die</strong>se<br />

o<strong>der</strong> jene Vorstellung meine Vorstellung sei, auch dann <strong>der</strong> innere Sinn<br />

sein, wenn nach <strong>der</strong> Rechtfertigung <strong>der</strong> Kenntnis (quid facti) zur<br />

Erkenntnis (quid iuris) gefragt wird.


-— 178 —<br />

c) Die Kritik <strong>der</strong> Vorstellung vom Bewußtsein als Form des inneren<br />

Sinnes (Perzeption) führt zum reinen Verstandesgebrauch:<br />

Zeitreihe, Kausalität <strong>und</strong> Objektivität<br />

Der Frage nach <strong>der</strong> Subjektivität <strong>und</strong> Objektivität <strong>der</strong> Zeit bei Kant soll<br />

noch eine weitere Beleuchtung gegeben werden können. Peter Bieri 163 hat<br />

<strong>die</strong> Thesen McTaggerts untersucht <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> kritische<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung in <strong>der</strong> Literatur mit den Lösungsvorschlägen<br />

Reichenbachs diskutiert, welcher <strong>die</strong> Objektivität <strong>der</strong> Zeitreihe B<br />

(vorhergehend — nachfolgend) auf das Kausalprinzip zurückführt. 164 Bieri<br />

stellt <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> „transzendentalen“ Zeit <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Zeitlosigkeit<br />

(wie Bieri sich ausdrückt) erst anhand seiner Bearbeitung <strong>der</strong> Husserlschen<br />

Aussagen zum inneren Zeitbewußtsein. Zwar wird Kant von ihm im<br />

Anschluß an Reichenbach zunächst hauptsächlich als Vertreter <strong>der</strong><br />

Auffassung eingeführt, erst <strong>die</strong> spezifische Bedeutung des<br />

Kausalitätsbegriffes verleihe <strong>der</strong> Zeitreihe B objektive <strong>und</strong> reale<br />

Bedeutung. Er zitiert aber im Zuge <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Retention Kants<br />

Reflexion 5655; dort sagt Kant von <strong>der</strong> Einheit des Bewußtseins in <strong>der</strong><br />

Selbsterscheinung, daß in <strong>die</strong>sem Falle das continens zugleich<br />

contentum ist. 165<br />

Bieri hat das Problem, daß er von <strong>der</strong> Zeitreihe B (früher - später) erwartet,<br />

damit schon bei Husserl <strong>die</strong> Frage nach dem Kriterium <strong>der</strong> objektiven<br />

Realität <strong>der</strong> Zeit entscheiden zu können. Aber in <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong><br />

Retention, wie Husserl sie von Locke übernommen <strong>und</strong> weiter bearbeitet<br />

hat, 166 kommt Bieri mit seiner Auffassung von <strong>der</strong> Irreversibilität als<br />

alleiniges <strong>und</strong> zentrales Thema <strong>der</strong> Determination in Schwierigkeiten, wie<br />

er auch bei Kant <strong>die</strong> verschiedenen Ansätze übersieht, <strong>die</strong> erst zusammen<br />

deutlich machen, warum Kant sich in <strong>der</strong> Lage glaubt, anscheinend allein<br />

synthetisch-metaphysisch aus <strong>der</strong> bloßen Zeitfolge <strong>die</strong> Kausalität<br />

erschließen zu können. Überhaupt dürfte Bieri auch <strong>die</strong> Unterscheidung in<br />

Kausalitätsprinzip <strong>und</strong> Determination übersehen: auch das, was zufällig<br />

163 P. Bieri, Zeit <strong>und</strong> Zeiterfahrung, Suhrkamp 1972<br />

164 H. Reichenbach, The Philosophy of Space and Time, New York 1958. Bieri kommt zu<br />

dem Schluß, daß Reichenbach im Problem <strong>der</strong> Irreversibilität <strong>der</strong> Zeit <strong>die</strong> zur<br />

Determination notwendige Bedingung des Kausalitätsprinzips übersehen hat, cit. op.,<br />

p. 130<br />

165 cit. op., p. 201<br />

166 Edm<strong>und</strong> Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins,<br />

hrsg. von Martin Heidegger, in: Jahrbuch für Philosophie <strong>und</strong> phänomenologischer<br />

Forschung, Bd. IX, Halle a. d. Saale 1928


-— 179 —<br />

ist, hat immer eine Ursache. Hingegen ist <strong>der</strong> bloße Wechsel <strong>der</strong><br />

Erscheinungen in <strong>der</strong> empirischen Apperzeption noch vor <strong>der</strong><br />

Bestimmung zur Sukzessivität zwar eindeutig nach <strong>der</strong> Reihe B gestaltet,<br />

aber selbst nicht zur Objektivität im Sinne objektiver Realität zu bringen.<br />

Auch <strong>die</strong> eigentlich logisch-grammatikalische Regel, daß das, was nicht<br />

zugleich an einem Ding gelten kann, doch nacheinan<strong>der</strong> gelten kann,<br />

macht den Wechsel mit <strong>der</strong> logischen Bestimmung zur Sukzessivität nur<br />

zu einer objektiven Bestimmung fähig, ohne selbst schon objektive Realität<br />

zu erweisen. 167<br />

Die Reflexion 5655 hat Bieri in Hinblick auf <strong>die</strong> Retention Husserls gut<br />

gewählt, indem <strong>die</strong> Abschattungen <strong>der</strong> erinnerten Urimpression in<br />

Beziehung zur Gegenwart bleiben, <strong>und</strong> so das Bewußtsein <strong>der</strong> Retention<br />

<strong>der</strong> ersten Urimpression als zweite neue Urimpression auftritt. Spätestens<br />

nach <strong>der</strong> dritten Urimpression, welche das gegenwärtige Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Retention <strong>der</strong> Erinnerung des Bewußtseins <strong>der</strong> Retention <strong>der</strong> ersten<br />

Urimpression ist, spricht <strong>die</strong> Kantsche Reflexion eben das in sich selbst<br />

Enthaltensein von Bewußtsein aus. 168 Aber schon in <strong>der</strong> Retention <strong>der</strong><br />

ersten Urimpression wird mit <strong>der</strong> Erinnerung gewußt, daß <strong>die</strong><br />

Urimpression jetzt als vergangenes, ehemals Gegenwärtiges des selben<br />

Bewußtseins gewußt wird; 169 <strong>und</strong> zwar soll <strong>die</strong>ses Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Selbigkeit des Bewußtseins ohne <strong>der</strong> transzendentalen Reflexion auf<br />

Identität im »ich denke«, gewissermaßen als Kennzeichen <strong>der</strong> Retention,<br />

stattfinden. Daraus schließt Husserl auf <strong>die</strong> Zeitlosigkeit des Bewußtseins<br />

selbst, obwohl er den Zeitfluß des inneren Bewußtseins als uneigentliche<br />

Abfolge weiterhin beibehält. Dieses freilich selbst nicht unproblematische<br />

Teilergebnis gleicht <strong>der</strong> offenen Frage zwischen <strong>der</strong> Zeitlichkeit <strong>der</strong><br />

synthesis intellectualis <strong>und</strong> <strong>der</strong> Unzeitlichkeit des reinen<br />

Verstandesbegriffes in <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion <strong>der</strong> Kategorien<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong>en Folgeuntersuchungen. Die Husserlschen Überlegungen zum<br />

inneren Zeitbewußtseins selbst sind nicht nur was <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

167 Ich sehe aber we<strong>der</strong> so recht ein, weshalb gr<strong>und</strong>sätzlich jede Art von unendlichem<br />

Regress Gr<strong>und</strong> zur Wi<strong>der</strong>legung einer Theorie sein muß, noch weshalb von <strong>der</strong> Zeit<br />

(<strong>und</strong> vom Raum) »Realität« gefor<strong>der</strong>t werden muß, wenn Objektivität von Zeit (<strong>und</strong><br />

Raum) ausreicht.<br />

168 Refl. 5655, AA. XVIII: »Daß das denkende Wesen in <strong>der</strong> Vorstellung des inneren<br />

Sinnes ihm selbst bloß Erscheinung sei, bedeutet nichts weiter, als wenn ich sage: ich,<br />

in dem das Zeitverhältnis allein anzutreffen ist, bin in <strong>der</strong> Zeit. Das continens ist<br />

zugleich contentum.«<br />

169 Vgl. Brentanos temporale Differenzen, hier im dritten Abschnitt, Kap. 5. Intellection<br />

<strong>und</strong> Einbildungskraft


-— 180 —<br />

Identität als bewußte Selbigkeit angeht Kant, zum Teil auf Kosten <strong>der</strong><br />

Strenge <strong>der</strong> Kriterien, voraus. Auch <strong>die</strong> teleologische<br />

Bewußstseinsverfassung erfährt bei Husserl bereits eine psychologische<br />

Gr<strong>und</strong>legung, während Kant <strong>die</strong>selbe zwar noch vor <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />

teleologischen Urteilskraft, aber doch erst nach <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />

transzendentalen Dialektik <strong>der</strong> reinen Vernunft als ein Prinzip des<br />

regulativen Gebrauches von Vernunftbegriffen vorstellt. Nur subtilere<br />

Betrachtungen würden noch eine Beziehung zur Antizipationskategorie<br />

herstellen können. Bei Husserl verhält es sich so, daß schon in <strong>der</strong><br />

Retention durch <strong>die</strong> Beziehung <strong>der</strong> retinierten Urimpression zur<br />

eigentlichen Gegenwart des Bewußtseins <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Beziehung zur<br />

nächsten Urimpression angelegt ist. Das schließt <strong>die</strong> gewöhnliche<br />

Erwartungshaltung (Rupert Riedl: ratiomorphically) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bereitstellung<br />

dazu passen<strong>der</strong> Verhaltensmuster mit ein. Husserl nennt <strong>die</strong>s im<br />

Rückblick Protention. Ich halte das nach wie vor eindeutig für eine<br />

Analyse im Rahmen <strong>der</strong> Zeitreihe B ohne daß damit ein Argument für<br />

objektive Realität gegeben wäre <strong>und</strong> nicht für eine Analyse <strong>der</strong> Zeitreihe A<br />

(Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft), <strong>und</strong> so unabhängig von <strong>der</strong><br />

Zeitreihe A für eine subjektive Zeitordnung. Die intentionalen<br />

Verflechtungen <strong>der</strong> Reihen von abgestuft abgeschatteten Urimpressionen<br />

in <strong>der</strong> Retention <strong>und</strong> <strong>die</strong> dazugehörigen Reihen von sich abschwächenden<br />

Retentionen o<strong>der</strong> handlungs- bzw. entscheidungsmotivierenden<br />

Protentionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> jeweiligen »Urimpressionen« des aktuell<br />

Gewärtigens begleiten, än<strong>der</strong>n nichts daran, daß es sich hier um nichts<br />

an<strong>der</strong>es als um eine Theorie <strong>der</strong> sukzessiven Verän<strong>der</strong>ung des jeweilig<br />

gewärtigenden Bewußtseins handelt, aber nicht um eine objektive<br />

Zeitfolge einer bewußtseinsunabhängigen Weise des Existierens von <strong>der</strong><br />

das erkennende Subjekt umfassenden <strong>und</strong> vom Subjekt ausschnittweise<br />

<strong>und</strong> pars pro toto umfaßten Wirklichkeit. — Bieri kann sich angesichts <strong>der</strong><br />

mehr als mißverständlich formulierten These Reichenbachs, daß <strong>die</strong><br />

Zeitreihe B kraft des Prinzips <strong>der</strong> Kausalität objektive Realität zu<br />

kennzeichnen imstand sei, in <strong>die</strong>ser Frage offenbar nicht eindeutig<br />

entscheiden. Es ist nämlich festzustellen, daß <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong> Zeitreihe B<br />

auf objektive Gültigkeit <strong>und</strong> objektiver Realität subjektiv <strong>die</strong> Gegenwart<br />

voraussetzt <strong>und</strong> als objektiv <strong>die</strong> Vergangenheit, nicht aber eine bestimmte<br />

Zukunft. Insofern spricht Kant auch von <strong>der</strong> »als Vergangenheit gesetzten<br />

Zeit« als <strong>die</strong> Zukunft bestimmend, <strong>und</strong> charakterisiert zwar <strong>die</strong><br />

Vergangenheit insgesamt, aber nicht <strong>der</strong>en Folgen ausschließlich als<br />

irreversibel. Die Kontinuität <strong>der</strong> Retention selbst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kontinuation <strong>der</strong>


-— 181 —<br />

so entstandenen Reihe <strong>der</strong> Urimpressionen in einer gleichsinnig sich<br />

aufbauenden Reihe <strong>der</strong> einfachen Protention ist hingegen geradezu <strong>die</strong><br />

Deskription des rein subjektiven Phänomens <strong>der</strong> sich selbst in <strong>der</strong> Zeit<br />

bewegenden Gegenwart, welche <strong>die</strong> Grenze zur Zukunft zu überschreiten<br />

im Begriff ist, <strong>und</strong> liefert den Nachweis, daß <strong>die</strong> Gegenwart ein subjektives<br />

F<strong>und</strong>ament hat, während dem Zugleichsein zwar zur Erkenntnis des<br />

Zugleichseins <strong>die</strong> Gegenwart vorausgesetzt ist, aber ein eigenes<br />

ontologisches F<strong>und</strong>ament im Ereignis (Kant: was geschieht) zu<br />

beanspruchen vermag. 170 Trotzdem gehört <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Retention<br />

we<strong>der</strong> zur Zeitreihe A 171 noch vermag sie <strong>die</strong> Objektivität <strong>der</strong> Zeitreihe B<br />

im Sinne objektiver Realität zu beweisen. Das ist auch dem<br />

Untersuchungsgang Husserls selbst zu entnehmen, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Retention<br />

<strong>die</strong> Reproduktion dahingehend unterschieden hat, daß <strong>die</strong> letztere<br />

Vergangenes wie<strong>der</strong>erinnert, dessen Retention nicht von einer aktuellen<br />

Urimpression (es sei denn protentional) ausgeht. Die Unterscheidung in<br />

Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft beinhaltet nämlich <strong>die</strong><br />

Unterbrechung <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> Gegenwart, <strong>und</strong> genau <strong>die</strong>se<br />

Unterbrechung verzeichnet Husserl mit seiner Unterscheidung in<br />

Retention <strong>und</strong> Reproduktion. 172<br />

Dabei ist zu beachten, daß <strong>die</strong>ser Gebrauch des Wortes »Reproduktion«<br />

bei Husserl vom Gebrauch bei Kant völlig verschiedenes bedeutet, denn<br />

Kant versteht <strong>die</strong> reproduktive Funktion <strong>der</strong> Einbildungskraft allein<br />

gegenüber <strong>der</strong> Kontinuität des inneren Sinnes, also noch gänzlich im<br />

Rahmen <strong>der</strong> subjektiv-objektiven Bedingungen <strong>der</strong> Gegenwart<br />

verbleibend. Die Erinnerung eines gänzlich Vergangenen ist für Kant<br />

Angelegenheit einer produktiven Einbildungskraft allein anhand von<br />

Begriffen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Merkzeichen. 173<br />

170 Man hat sich hier zuerst <strong>die</strong> Sollizitation im mechanischen Stoß als metaphysischen<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Teilung <strong>der</strong> Gegenwart — objektiv im Zugleichsein, subjektiv im Jetzt —<br />

urbildlich vorzustellen.<br />

171 McTaggerts Einteilung <strong>der</strong> Zeitformen in eine Zeitreihe A <strong>und</strong> eine Zeitreihe B sind<br />

zwar, wie Bieri ganz richtig nach <strong>der</strong> Durchsicht <strong>der</strong> Literatur feststellt, voneinan<strong>der</strong><br />

semantisch unabhängig, doch aber bleibt <strong>die</strong>se Einteilung nicht vollständig. Dazu<br />

fehlt zunächst <strong>die</strong> Erörterung <strong>der</strong> Teleologie; <strong>die</strong> <strong>der</strong> Zeitsstruktur <strong>der</strong> Umkehr im<br />

Existenzialismus wie überhaupt <strong>die</strong> Überlegungen zur Zeit aus <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong><br />

heilsgeschichtlichen Traditionen herschreibenden philosophischen Vorstellungen von<br />

Geschichte jenseits kosmologisch-zyklischer Vorstellungen fehlen.<br />

172 Husserl unterscheidet zwischen primärer Erinnerung <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärer<br />

Wie<strong>der</strong>erinnerung, in: Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins a.a.O., § 14,<br />

Reproduktion von Zeitobjekten (sek<strong>und</strong>äre Erinnerung).<br />

173 Weiters behaupte ich, daß <strong>die</strong> reproduktive Funktion <strong>der</strong> Einbildungskraft eine<br />

Eigenschaft wie <strong>die</strong> Retention für den inneren Sinn (empirische Apperzeption)


-— 182 —<br />

Die Protention garantiert <strong>der</strong> Retention <strong>die</strong> Identität des Bewußtseins in<br />

<strong>der</strong> sich verän<strong>der</strong>nden Zeit, aber nicht selbst das Bewußtsein <strong>die</strong>ser<br />

Identität. Es ist erst <strong>die</strong> gegenüber dem gegebenen Fluß <strong>der</strong> Erscheinung<br />

(nunmehr ergänzt zum sich erweiternden Erinnerungsfeld in <strong>der</strong> Retention<br />

des vormals aktual Gegebenen <strong>und</strong> von den daraus im Rahmen <strong>der</strong><br />

Protention von <strong>der</strong> produktiven Einbildungskraft gegebene Reihe von<br />

Vorstellungen) willkürliche Hinzusetzung einer Vorstellung zu einer<br />

an<strong>der</strong>en, was das »Ich denke« zu einem Urteil <strong>und</strong> somit zur bewußten<br />

Aneignung im Actus des einfachen Bewußtseins des Zusammennehmens<br />

von Vorstellungen im abstrakten Begriff <strong>der</strong> Verbindung macht. Die<br />

Zeitreihe B alleine aber ist nicht geeignet, <strong>die</strong> Beziehung <strong>der</strong> Vorstellungen<br />

auf objektive Realität als eindeutig zu garantieren. Ob zur Behebung <strong>die</strong>ser<br />

Subjektivität erst <strong>die</strong> Unterscheidung in Irreversibilät <strong>und</strong> Kausalität sich<br />

im Sinne Bieris als entscheidend herausstellt, kann zumindest von Kant<br />

aus bezweifelt werden: Von hier aus betrachtet, hat <strong>die</strong> Irreversibiltät zwar<br />

immer Kausalität zur Vorausetzung gehabt, 174 doch ist es nicht <strong>die</strong><br />

Irreversibilität, welche in <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>die</strong> Objektivität einer<br />

Kausalverknüpfung zuerst <strong>und</strong> wesentlich charakterisiert. — Der<br />

Gesetzesbegriff ist selbst keine Ableitung aus dem transzendentalen<br />

Prinzip <strong>der</strong> Kausalität.<br />

voraussetzen muß, um nicht in eine endlose Aufstufung von Schematen <strong>der</strong><br />

reproduktiver Einbildungskraft zu gelangen, welche das Produkt des Einsatzes <strong>der</strong><br />

produktiven Einbildungskraft wie <strong>die</strong> Kennzeichnung des relevanten Zeitpunktes<br />

(<strong>der</strong> von <strong>der</strong> bloßen Aktualität inhaltlich stets verschieden sein muß) jeweils<br />

neuerlich in Stellung zu halten hätte: Das Schema eines Bildes eines Schemas eines<br />

Bildes etc. würde den transzendentalen Schematismus, <strong>der</strong> Ungleichartiges<br />

zusammensetzt, verhin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> nicht analytisch freilegen.<br />

174 So wird zum Beispiel schon in <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> thermodynamischen Gesetze auf<br />

Gase immer allgemein <strong>die</strong> korpuskularmechanische Vorstellung <strong>der</strong> Brownschen<br />

Bewegung <strong>der</strong> Moleküle, <strong>und</strong> damit eine — für uns unzugängliche — Kausalität<br />

zwischen den Molekülen (zumindest im Falle nicht-idealer Gase) vorausgesetzt.


-— 183 —<br />

13) Die nicht-subjektiven F<strong>und</strong>amente <strong>der</strong> objektiven<br />

Realität:<br />

Phoronomie <strong>und</strong> Dynamik an Stelle von<br />

transzendentaler Ästhetik <strong>und</strong> transzendentaler Deduktion<br />

a) Die Dialektik <strong>der</strong> Beharrlichkeit im Dasein findet<br />

zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt statt<br />

Kant unterscheidet nun in <strong>der</strong> Zeit einerseits <strong>die</strong> Form <strong>der</strong> Verhältnisse <strong>der</strong><br />

Vorstellungen als innersubjektive Relationen im Rahmen <strong>der</strong> subjektivobjektiven<br />

Anschauungsformen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Form des Verhältnisses in<br />

Erscheinungen als Beziehung von einem Dasein hier <strong>und</strong> einem Dasein<br />

dort als äußere Relation. An<strong>der</strong>erseits ist im einigen, je empirisch subjektiv<br />

gegebenen Dasein <strong>die</strong> Zeit <strong>die</strong> Form von den gegebenen Erscheinungen<br />

doch wie<strong>der</strong> immer schon als innersubjektive Relation (<strong>und</strong> für uns zuerst<br />

nur dort) zu erfassen: Die Erscheinungen sind in <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> damit auch<br />

gleich im Dasein gegeben, was aber eben nicht bedeuten muß, das <strong>die</strong><br />

Form des Daseins auch selbst nichts als <strong>die</strong> Zeit als Abfolge (im Sinne <strong>der</strong><br />

These B McTagggerts) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Abfolge von Vergangenheit-Gegenwart-<br />

Zukunft (These A) sei. Damit vermag Kant also nur einen amphibolischen<br />

Begriff von <strong>der</strong> Substanz vorzustellen, denn er gelangt auf <strong>die</strong>sem Weg<br />

nicht zum Begriff <strong>der</strong> extensiven Materie eines äußerlichen Gegenstandes.<br />

Vielmehr wurde bislang nur <strong>die</strong> Beständigkeit des Daseins selbst als <strong>die</strong><br />

Beharrlichkeit von etwas, das den Erscheinungen nur äußerlich<br />

zugr<strong>und</strong>eliegt, untergeschoben: »Also ist an allen Erscheinungen das<br />

Beharrliche <strong>der</strong> Gegenstand selbst, d.i. <strong>die</strong> Substanz (phaenomenon), alles<br />

aber, was wechselt, o<strong>der</strong> wechseln kann, gehört nur zu <strong>der</strong> Art, wie <strong>die</strong>se<br />

Substanz o<strong>der</strong> Substanzen existieren, mithin zu ihren Bestimmungen.« 175<br />

Der Plural <strong>der</strong> Substanzen scheint nun direkt den Versuchen zu<br />

wi<strong>der</strong>sprechen, das Substrat des Wechsels mit dem inneren Sinn o<strong>der</strong> dem<br />

Dasein zu identifizieren. Vergleiche aber den Perspektivenwechsel<br />

zwischen folgenden Aussagen: »Das Ich macht das Substratum zu einer<br />

Regel überhaupt aus, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Apprehension bezieht jede Erscheinung<br />

darauf.« 176 <strong>und</strong> »Eine elastische Kugel, <strong>die</strong> auf eine gleiche in gera<strong>der</strong><br />

Richtung stößt, teilt <strong>die</strong>ser ihre ganze Bewegung, mithin ihren ganzen<br />

Zustand (wenn man bloß auf <strong>die</strong> Stellen im Raume sieht) mit. Nehmet<br />

nun, nach <strong>der</strong> Analogie mit <strong>der</strong>gleichen Körpern, Substanzen an, <strong>die</strong> eine<br />

175 K.r.V., B 227/A 183 f.<br />

176 B 601 f./A 573 f. ◊


-— 184 —<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Vorstellungen, samt <strong>der</strong>en Bewußtsein einflößete, so wird sich<br />

eine ganze Reihe <strong>der</strong>selben denken lassen, <strong>der</strong>en <strong>die</strong> erste ihren Zustand,<br />

samt dessen Bewußtsein, <strong>der</strong> zweiten, <strong>die</strong>se ihren eigenen Zustand, samt<br />

dem <strong>der</strong> vorigen Substanz, <strong>der</strong> dritten <strong>und</strong> <strong>die</strong>se eben so <strong>die</strong> Zustände<br />

aller vorigen, samt ihren eigenen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Bewußtsein, mitteilete. Die<br />

letzte Substanz würde also aller Zustände <strong>der</strong> vor ihr verän<strong>der</strong>ten<br />

Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusamt dem<br />

Bewußtsein in sie übertragen worden, <strong>und</strong> dem unerachtet, würde sie<br />

doch nicht eben <strong>die</strong>selbe Person in <strong>die</strong>sen Zuständen gewesen sein.« 177<br />

Offensichtlich werden zwei verschiedene Formen des Bewußtseins<br />

angesprochen: Das erste Zitat drückt nicht nur <strong>die</strong> Idee des<br />

Regelbewußtseins absolut als reine Totalität aus, son<strong>der</strong>n weist auch<br />

darauf hin, daß es je<strong>der</strong>zeit möglich ist, auf <strong>die</strong>se Idee zurückzukommen.<br />

Damit wird den Bewußtseinsinhalten kollektiv ein zeitlicher Horizont<br />

verliehen, <strong>der</strong> nicht entlang einer bestimmten gegebenen kontinuierlichen<br />

Zeitachse geordnet ist, entlang <strong>der</strong> man sich in <strong>der</strong> Zeit zu bewegen <strong>und</strong><br />

zu verän<strong>der</strong>n scheint: eine Mehrzahl verschieden wirksam werden<strong>der</strong><br />

Motive <strong>und</strong> Bedingungen können zu einer konkreten Regelbildung<br />

zusammenwirken, <strong>die</strong> nicht aus einer gemeinsamen Epoche entstammen<br />

<strong>und</strong> so auch nicht in <strong>der</strong> Zusammenfügung selbst ein dynamisches Gefüge<br />

außerhalb <strong>der</strong> subjektiven Vorstellung aufweisen müssen. Entscheidend<br />

bleibt <strong>die</strong> Angleichung an das Urbild <strong>der</strong> Regel im »ich denke«, was eben<br />

nichts an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> ursprüngliche Evidenz in <strong>der</strong> tätigen Verknüpfung<br />

von Vorstellungen im Bewußtsein evoziert (ursprünglich-synthetische<br />

Einheit <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption, § 16). — Das zweite Zitat stellt<br />

nun <strong>die</strong> These vor, daß, betrachtet man das Bewußtsein reproduktiv<br />

entlang <strong>der</strong> Zeitachse nach einem mechanischen Modell, <strong>die</strong>s das<br />

Bewußtsein in Form eines Gedächtnisses, das nichts vergessen kann, zur<br />

Folge haben muß. Die Identität <strong>der</strong> Substanz bzw. Person wäre dabei nicht<br />

gefor<strong>der</strong>t. Damit wird das Bewußtsein vom individuellen Subjekt als<br />

Person abgehoben, ohne inhaltlich streng neutral <strong>und</strong> abstrakt bleiben zu<br />

müssen (o<strong>der</strong> gleich zur Totalität verpflichtet zu werden) wie das Substrat<br />

des universalen Regelbewußtseins aus <strong>der</strong> rationalen Psychologie. Diese<br />

zwei Formen des Bewußtseins sind als <strong>die</strong> »termini« (Grenzbegriffe) des<br />

Begriffs vom Bewußtsein aufzufassen. Während nun mit dem Ich als<br />

Urbild aller Regeln <strong>der</strong> Anspruch zu erheben ist, daß <strong>die</strong> Regelhaftigkeit<br />

177 K.r.V., Anmk. zu A 363


-— 185 —<br />

auch für an<strong>der</strong>e theoretisch wie praktisch demonstriert werden kann, gilt<br />

ein Gleiches für das mechanische Modell eines allwissenden Bewußtseins<br />

nicht von vorneherein: Die Einheit <strong>der</strong> verschiedenen Zustände im<br />

Bewußtsein bleibt subjektiv <strong>und</strong> kann nicht objektiv für einen äußeren<br />

Beobachter (»Standpunkt eines Fremden«) dargetan werden, weil wir an<br />

<strong>der</strong> Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen. Kant beansprucht in <strong>der</strong><br />

zweiten Fassung des dritten Paralogismus aber nicht mehr, den<br />

Paralogismus <strong>der</strong> Person, son<strong>der</strong>n nur mehr den <strong>der</strong> objektiven Einheit <strong>der</strong><br />

Form des Subjekts des Bewußtseins zu wi<strong>der</strong>legen. Der Begriff <strong>der</strong><br />

Substanz vom Phaenomenon bleibt also trotz <strong>der</strong> objektiven Zeitordnung<br />

aus dem Vergleich <strong>der</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Erscheinungsreihe zu <strong>der</strong> nach<br />

einer Verstandesregel produzierten Reihe von Vorstellungen in seinem<br />

Ursprung zwischen subjektiver <strong>und</strong> objektiver Realität indifferent. — Nun<br />

trifft Kant im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz eine Entscheidung, um <strong>die</strong>se<br />

Indifferenz zu überwinden: »Es ist aber das Substrat alles Realen, d.i. zur<br />

Existenz <strong>der</strong> Dinge Gehörigen, <strong>die</strong> Substanz, an welcher alles, was zum<br />

Dasein gehört, nur als Bestimmung kann gedacht werden.« 178<br />

Es ist bemerkenswert, daß Kant <strong>die</strong>se Subreption (also <strong>die</strong> Vertauschung<br />

<strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong> Elemente, <strong>die</strong> zuerst als Elemente des Daseins bekannt<br />

werden, zu Bestimmungen des Dinges) inmitten des transzendentalen<br />

Gr<strong>und</strong>satzes von <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz in Verbindung mit dem<br />

Begriff <strong>der</strong> Existenz vollführt. D. h., Kant behauptet das Ding als<br />

Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Erscheinungen, weil er schon mit einem analytischen<br />

Begriff von Existenz operiert, den er aber nach dem Gang <strong>der</strong><br />

Überlegungen anhand <strong>der</strong> Trennung von Innen <strong>und</strong> Außen noch gar nicht<br />

seinen Grenzen gemäß objektiv in Stellung bringen kann. Nach <strong>der</strong> hier im<br />

ersten Teil des Dritten Abschnitt durchgeführten Untersuchung scheint es,<br />

als müßte Kant dazu auf das transzendentale Produkt <strong>der</strong><br />

Einbildungskraft, welches in <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Regel von (reinen) Begriffen<br />

überhaupt vorgestellt wird, zurückgreifen. Da nun <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> reinen<br />

Stammbegriffe nur exponiert werden kann, <strong>und</strong> ohne Schematismus nicht<br />

demonstriert, hat <strong>der</strong> weitere Fortgang <strong>der</strong> Untersuchung des Schemas<br />

(<strong>der</strong> allgemeinen Bedingung) eines Begriffes von <strong>der</strong> Substanz, nämlich<br />

<strong>der</strong> Beharrlichkeit, bereits auf <strong>die</strong> Verhältnisse <strong>der</strong> Objekte selbst <strong>und</strong> nicht<br />

nur auf bloße Erscheinungsverhältnisse in <strong>der</strong> Anschauung Acht zu geben.<br />

So liegt bekanntlich <strong>der</strong> objektiv reale Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Beharrlichkeit von<br />

Erscheinungen in <strong>der</strong> dynamischen Raumerfüllung durch <strong>die</strong> Materie, <strong>die</strong><br />

178 K.r.V., B 225


-— 186 —<br />

allein <strong>der</strong> Dauer des Daseins in den Erscheinungen zugr<strong>und</strong>eliegen kann,<br />

doch schlägt Kant zunächst einen an<strong>der</strong>en Weg ein.<br />

b) Die Ersetzung des Beharrlichen durch das Bewegliche:<br />

Das Bewegliche als Gr<strong>und</strong>lage von Phoronomie, Dynamik <strong>und</strong><br />

Mechanik in den M. A. d. N.<br />

Zwar illustriert Kant seine Auffassung von Kausalität im Gr<strong>und</strong>satz<br />

einerseits noch mit wesenslogischen Argumenten, 179 an<strong>der</strong>erseits gibt er<br />

den Impuls 180 (wie zuvor in § 19 <strong>die</strong> Schwere) eines Gegenstandes als<br />

neues Datum <strong>und</strong> nicht als Folgebegriff aus <strong>der</strong> Anschauungs- o<strong>der</strong><br />

Verstandesform an. Nicht <strong>die</strong> Erschließung neuer Quellen <strong>der</strong> Sinnlichkeit,<br />

wie es da scheinen mag, ist aber hier in den M. A. d. N. <strong>der</strong> systematisch<br />

erste Schritt, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Identifikation <strong>der</strong> vorhergehenden<br />

Bestimmungen <strong>der</strong> Objekte <strong>der</strong> Erscheinungen anhand <strong>der</strong><br />

Beweglichkeit. 181 Die gemeinsame Beweglichkeit verschiedener Merkmale<br />

o<strong>der</strong> auch ihre gemeinsame relative Ruhe sind das entscheidende<br />

Argument, um in <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion anhand <strong>der</strong><br />

Beharrlichkeit im Schema <strong>der</strong> Apprehension zu einem ersten Begriff von<br />

einem Objekt zu kommen <strong>und</strong> nicht eine selbst dynamische<br />

Argumentation. Die relative Ruhe zueinan<strong>der</strong> bestimmt eine<br />

Stellenordnung <strong>der</strong> Empfindungen (Merkmale) von einem Objekt im<br />

Raum, <strong>die</strong> zu befragen Kant sich in <strong>der</strong> ersten Erklärung <strong>der</strong> Phoronomie<br />

gar nicht anschickt: »Der Raum aber wäre bloß <strong>die</strong> Form aller äußeren<br />

sinnlichen Anschauung (ob eben <strong>die</strong>selbe auch dem äußeren Objekt, das<br />

wir Materie nennen, an sich selbst zukomme, o<strong>der</strong> nur in <strong>der</strong><br />

Beschaffenheit unseres Sinnes bleibe, davon ist hier gar nicht <strong>die</strong> Frage).<br />

Die Materie wäre im Gegensatz <strong>der</strong> Form das, was in <strong>der</strong> äußeren<br />

Anschauung ein Gegenstand <strong>der</strong> Empfindung ist, folglich das Eigentlich-<br />

Empirische <strong>der</strong> sinnlichen <strong>und</strong> äußeren Anschauung, weil es gar nicht a<br />

priori gegeben werden kann.« 182 Damit meint Kant metaphysische Begriffe<br />

179 Im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz: ein wesentliches Prädikat habe auch seinen Realgr<strong>und</strong><br />

im Objekt des Gegenstandsbegriffes im Satzgegenstand des Urteiles. (B 229/A 186 f.)<br />

180 B 252<br />

181 Das Beispiel des sich bewegenden Schiffes, wobei nicht klar wird, ob es sich aus<br />

Trägheit, durch <strong>die</strong> Mitnahme eines fließenden Gewässers, o<strong>der</strong> aus eigener Kraft<br />

(bzw. mittels <strong>der</strong> Windeskraft) bewegt. (B 237)<br />

182 M.A.d.N., Phoron. Erkl. 1, Anmk. 2, AA IV, p. 481. Vgl. K. CRAMER 1985, p. 118.<br />

Cramer bezieht zwar <strong>die</strong> metaphysischen Abschnitte <strong>der</strong> Kategorien auf <strong>die</strong><br />

Einteilung in den M.A.d.N., will aber anscheinend zunächst <strong>der</strong> Phoronomie<br />

keinerlei Funktion für den metaphysischen Gehalt <strong>der</strong> dynamischen Kategorien


-— 187 —<br />

<strong>der</strong> Erfahrung wie Bewegung, Substanz <strong>und</strong> Ursache, <strong>die</strong> allerdings in den<br />

M.A.d.N. eine eigene Rechtfertigung ihrer Apriorität, wenngleich auch<br />

nicht synthetisch a priori, erhalten. Dem stellt Kant reine Prinzipien a<br />

priori <strong>der</strong> Konstruktion gegenüber: Das Substrat <strong>der</strong> Phoronomie<br />

(wenngleich <strong>die</strong> Materie weitgehend auf einen Punkt reduziert) hat <strong>die</strong><br />

Eigenschaft, jeweils für sich als Zentrum eines räumlichen<br />

Koordinantengerüstes gedacht werden zu müssen, <strong>und</strong> kann insofern nur<br />

a priori gedacht werden, was Kant zu komplexen Konstruktionen <strong>der</strong><br />

jeweils spezifischen Räume verschiedener beweglicher Punkte geführt hat.<br />

— Wie <strong>die</strong>s aber zu denken auch nur möglich sein soll, ohne zuvor anhand<br />

<strong>der</strong> eigenen Gestalt eine Orientierung im Raume zustande zu bringen<br />

(woraufhin eine Stellenordnung im Raume überhaupt erst möglich wird),<br />

bliebe mir unverständlich, wenn nicht <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> M. A. d. N. <strong>die</strong><br />

transzendentale Analytik des Verstandesgebrauches vorausgesetzt wäre. 183<br />

Doch hat sich auch gezeigt, daß <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit als Regel <strong>der</strong><br />

Apprehension gar nicht tauglich ist, zwingend auf eine Substanz o<strong>der</strong> auf<br />

ein Objekt zu schließen; das einzige was mit Sicherheit behauptet werden<br />

kann, ist, daß <strong>die</strong>ser Regel <strong>der</strong> Beharrlichkeit in <strong>der</strong> Apprehension keine<br />

einfache Substanz zugr<strong>und</strong>eliegen kann. Also nicht <strong>die</strong> bloße<br />

Denkmöglichkeit eines einzelnen Gegenstandes in <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Logik, 184 o<strong>der</strong> <strong>die</strong> logische Einteilbarkeit des Raumes, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Tat<br />

nicht verän<strong>der</strong>te Merkmale (obgleich im Quantum o<strong>der</strong> im Vorkommen<br />

überhaupt womöglich auch durchaus verän<strong>der</strong>liche bzw. wechselnde<br />

Merkmale) bleiben <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> je<strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Apprehension <strong>der</strong><br />

Erscheinungen <strong>und</strong> nicht ein ontologisch erster Gr<strong>und</strong>. Die analytische<br />

Feststellung, daß sich Verän<strong>der</strong>ung nur an Beharrlichem zeigt, ist nur <strong>die</strong><br />

metaphysische Interpretation <strong>der</strong> logischen Gr<strong>und</strong>lage, um das<br />

Irgendetwas, dem Beweglichkeit im Raum zugeschrieben werden kann, in<br />

zugestehen. Aber im Laufe des weiteren Gedankenganges wird das Bewegliche im<br />

Raum auch im Rahmen seiner Überlegungen zum Argument für <strong>die</strong> Koexstensität<br />

von „Materie“ <strong>und</strong> „Gegenstand <strong>der</strong> äußeren Sinne“. (p. 135, bes. p. 139)<br />

183 Vgl. in <strong>die</strong>sem Abschnitt I, 4.<br />

184 »In <strong>die</strong>sem Falle würde es eine Logik geben, in <strong>der</strong> man nicht von allem Inhalt <strong>der</strong><br />

Erkenntnis abstrahierte; denn <strong>die</strong>jenige, welche bloß <strong>die</strong> Regeln des reinen Denkens<br />

eines Gegenstandes enthielte,würde alle <strong>die</strong>jenigen Erkenntnisse ausschließen,welche<br />

von empirischen Inhalte wären. Sie würde auch auf den Ursprung unserer<br />

Erkenntnisse von Gegenständen gehen, so fern er nicht den Gegenständen<br />

zugeschrieben werden kann [...]« (K. r. V., B 79 f./A 55 f.) Diese Definition wird<br />

sowohl vom grammatikalischen Gegenstand (aus § 12) wie vom logischen<br />

Gegenstand (das Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft im Begriff von einem einzelnen<br />

Gegenstand, in: prototypon transcendentale) erfüllt.


-— 188 —<br />

<strong>der</strong> Anschauung als ein einzelnes Objekt vorzustellen <strong>und</strong> als zu einem<br />

beweglichen Punkt abstrahiert zu denken. Ohne <strong>die</strong> Überlegung <strong>der</strong> Regel<br />

<strong>der</strong> Apprehension bleibt das Ding an sich bloß in Abhängigkeit von <strong>der</strong><br />

ersten metaphysischen Erörterung des Raumes, worin etwas vorausgesetzt<br />

wird, um eine Vorstellung auf etwas außer mir zu beziehen <strong>und</strong> <strong>der</strong>art<br />

gänzlich außerhalb <strong>der</strong> Darstellungsmöglichkeit in <strong>der</strong> reinen<br />

Anschauungsform. Erst im Fortgang <strong>der</strong> Untersuchung zu den<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen von Ursache <strong>und</strong> Dependenz (o<strong>der</strong> eben hier in <strong>der</strong> M.A.d.N.<br />

im Fortgang zur Dynamik) kann dem Schema <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>die</strong><br />

Stellung im Gang <strong>der</strong> objektiven Deduktion verläßlich angewiesen<br />

werden, denn nicht <strong>die</strong> Beharrlichkeit als Regel <strong>der</strong> Apprehension in <strong>der</strong><br />

Erscheinungskonstitution eines Gegenstandes in <strong>der</strong> Anschauung, o<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Beharrlichkeit als Eigenschaft einer Kraft <strong>der</strong> Substanz in einer dynamischen<br />

Erklärung, son<strong>der</strong>n das Substrat <strong>der</strong> Beweglichkeit ist <strong>der</strong> Beschreibbarkeit<br />

des objektiven Raumes als dem objektiven Verhältnis <strong>der</strong> Objekte in<br />

<strong>die</strong>sem Raum zuerst vorausgesetzt: An Stelle <strong>der</strong> Substanz als bloß immer<br />

nur gedachtes Substrat des Beharrlichen in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Erscheinungen ist<br />

nun das Bewegliche von Seiten <strong>der</strong> konstruktiv vorgehenden Phoronomie<br />

ontologisch als Substrat <strong>der</strong> freilich selbst beharrlichen Bewegung<br />

vorausgesetzt worden. Auch mit <strong>der</strong> Überlegung <strong>der</strong> Frage nach den<br />

geometrischen Darstellungsbedingungen <strong>der</strong> Anschauungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Objekte beinhalten, wird nur ein erster, wenn auch notwendiger Schritt<br />

zur Objektivierung getan; <strong>der</strong> eigentliche Schritt <strong>der</strong> Setzung des Daseins<br />

außer dem Begriff (als Materie) ist <strong>die</strong> Bestimmung des Substrates als<br />

Bewegliches. Dieser auch ontologisch entscheidende Schritt ist <strong>der</strong><br />

zwingend vorgezeichnete nächste Schritt nach <strong>der</strong> ontologischen<br />

Interpretation <strong>der</strong> ersten metaphysischen Erörterung des Raumes, <strong>der</strong> das<br />

reale Ding in <strong>der</strong> Affinität ohne eigene qualitative Bestimmung außer eben<br />

des Auseinan<strong>der</strong>seins gelassen hat. Die damit verb<strong>und</strong>ene Äußerlichkeit<br />

war aber in <strong>der</strong> transzendentalen Ästhetik als Erscheinung o<strong>der</strong><br />

Erscheinungsform (Anschauungsform) selbst nicht wie<strong>der</strong> erhältlich. Mit<br />

dem notwendigen Prädikat <strong>der</strong> Beweglichkeit wird in <strong>der</strong> Phoronomie<br />

<strong>die</strong>se Schwäche behoben — <strong>und</strong> zwar zuerst unabhängig von <strong>der</strong><br />

Verfassung <strong>der</strong> jeweils gelungenen Geometrisierbarkeit des Raumes, <strong>die</strong><br />

zweifellos Bedingung für eine systematische Bewegungslehre ist. Die<br />

Geometrisierbarkeit des objektiven Raumes wird zunächst aus <strong>der</strong><br />

Geometrisierbarkeit <strong>der</strong> Anschauung nur problematisch erschlossen. Man<br />

kann sagen: auch deshalb kann <strong>die</strong> Beweglichkeit <strong>der</strong> Materie selbst noch<br />

nicht <strong>die</strong> Erklärung für <strong>die</strong> selbstständige <strong>und</strong> wirkliche Einheit des


-— 189 —<br />

Substrates sein. Im ersten Falle <strong>der</strong> Beharrlichkeit als Schema <strong>der</strong><br />

Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen geht es um <strong>die</strong> Konstitution <strong>der</strong><br />

Erscheinung eines Gegenstandes im Fluß <strong>der</strong> Erscheinungen, in zweiten<br />

Falle, wo dessen Substrat zum Beweglichen erklärt wird, geht es schon um<br />

<strong>die</strong> Erfahrung des Verhältnisses zwischen Gegenstände im Raume — <strong>und</strong><br />

zwar auch dann, wenn davon we<strong>der</strong> <strong>die</strong> Erklärung <strong>der</strong> Substanz aus <strong>der</strong><br />

Beharrlichkeit in den Erscheinungen noch im Sinne einer individuellen<br />

wesenslogischen Definition vollständig erfüllt sein kann. Die Darstellung<br />

<strong>der</strong> Bewegung auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Geometrie des Raumes gibt schon<br />

Verhältnisse zwischen wirklichen Dingen <strong>der</strong> Objekte <strong>der</strong> Erfahrung<br />

wie<strong>der</strong>. Doch fehlt <strong>die</strong> Einsicht in <strong>die</strong> Ursache <strong>die</strong>ser Verhältnisse. Hier<br />

sind zwei weitere Schritte ins Auge zu fassen: Dynamik <strong>und</strong> Mechanik.<br />

Kant fügt dem Substrat des Beweglichen in <strong>der</strong> Dynamik eine weitere<br />

Bedingung zu: »Materie ist das Bewegliche im Raum, so fern es einen<br />

Raum erfüllt. Einen Raum erfüllen heißt allem Beweglichen wi<strong>der</strong>stehen,<br />

das durch seine Bewegung in einen gewissen Raum einzudringen bestrebt<br />

ist.« 185 Die Bewegung wird im zweiten Satz zur Bedingung, <strong>die</strong>se<br />

Erfülltheit nachzuweisen. Die Materie ist nicht einfach <strong>die</strong> Raumerfüllung<br />

qua Existenz, »son<strong>der</strong>n durch eine beson<strong>der</strong>e bewegende Kraft«. 186 Diese<br />

»bewegende Kraft« wird Repulsion 187 genannt, <strong>und</strong> ist eigentlich keine<br />

Kraft, <strong>die</strong> auf dem ersten Blick erkennbar mit Bewegung zu tun hätte: sie<br />

erfüllt den Raum, indem sie verhin<strong>der</strong>t, daß an<strong>der</strong>es Bewegliches gänzlich<br />

den bereits eingenommenen Raum besetzt. Bemerkenswert ist <strong>der</strong> erste<br />

Zusatz: »Die expansive Kraft nennt man auch Elastizität«. 188 Aus <strong>der</strong><br />

Erörterung <strong>der</strong> Elastizität, <strong>die</strong> nur gedanklich bis zur absoluten<br />

Undurchdringlichkeit gesteigert werden kann, <strong>und</strong> ihrem Wi<strong>der</strong>spiel, dem<br />

an<strong>der</strong>en Beweglichen, vermag aber keine befriedigende Erklärung <strong>der</strong><br />

Grenze eines Körpers als Gestalt zu entspringen. Die Überlegung <strong>der</strong><br />

185 M.A.d.N., Erklärung 1 <strong>der</strong> Dynamik, A 31<br />

186 cit. op., Lehrsatz <strong>der</strong> Dynamik, A 33. Dieser Satz ver<strong>die</strong>nt deshalb beson<strong>der</strong>e<br />

Beachtung, weil Kant hier den Ausdruck „bewegende Kraft“ eindeutig dynamisch<br />

versteht (daraus wird auch <strong>die</strong> Repulsion), er aber doch <strong>die</strong>sen Ausdruck in <strong>der</strong><br />

Mechanik auch für <strong>die</strong> potentielle Energie des Impulses eines sich träge <strong>und</strong><br />

gleichförmig bewegten Körpers verwendet hat, wo <strong>die</strong> Zweideutigkeit mit <strong>der</strong><br />

spätscholastischen Verwendung desselben Ausdrucks, daß auch ein gleichförmig<br />

bewegter Körper zur Bewegung eine fortwährend gleichmäßig wirkende Ursache<br />

benötige (Buridan), sehr irritierend ist. Es muß aber festgestellt werden, daß Kant in<br />

<strong>der</strong> Mechanik <strong>der</strong> M. A. d. N. im wesentlichen den Ausdruck „bewegende Kraft“<br />

korrekt im Sinne von Impuls verwendet.<br />

187 cit. op., Lehrsatz 2 <strong>der</strong> Dynamik, A 36<br />

188 cit. op,, A 37


-— 190 —<br />

Materie bleibt gewissermaßen auf atomaren Niveau. 189 Dennoch bedenkt<br />

Kant <strong>die</strong> Materie als Gegenstand offensichtlich auch vor dem alternativen<br />

Hinterg<strong>und</strong> phänomenaler Kontinuität <strong>der</strong> Materie: »Materielle Substanz<br />

ist dasjenige im Raume, was für sich, d. i. abgeson<strong>der</strong>t von allem an<strong>der</strong>en,<br />

was außer ihm im Raume existiert, beweglich ist. Die Bewegung eines Teils<br />

<strong>der</strong> Materie, dadurch sie aufhört, ein Teil zu sein, ist <strong>die</strong> Trennung. Die<br />

Trennung <strong>der</strong> Teile <strong>der</strong> Materie ist <strong>die</strong> physische Teilung.« 190 Die Teilung<br />

entstammt dem Ideenkreis des Kontinuums mit dem das Problem <strong>der</strong><br />

infinitesimalen Teilung eines idealen Kontinuums unweigerlich verb<strong>und</strong>en<br />

ist. Die unbefriedigende Offenheit des „atomaren“ Konzeptes in <strong>der</strong><br />

Darstellung <strong>der</strong> Elastizität hingegen stößt auf <strong>die</strong> leibnizianische (<strong>und</strong><br />

nicht zuletzt scholastisch-aristotelische) Schwierigkeit, das ideale vom<br />

realen Kontinuum zu unterscheiden, was mit <strong>der</strong> Repulsion als neu<br />

entdeckter (aber nur seit Demokrit zum dritten Mal wie<strong>der</strong>entdeckte)<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Trennbarkeit im realen Kontinuum in einen offenen<br />

Wi<strong>der</strong>spruch zum idealen Kontinuum führt. Dieser Wi<strong>der</strong>spruch führt<br />

nun selbst einerseits zwar dazu, rein spekulativ ein reales Kontinuum<br />

anzunehmen, für das Teilbarkeit Trennbarkeit bedeuten; doch wird damit<br />

allein je<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch nicht gänzlich zum Verschwinden gebracht. So<br />

bleibt unverständlich, weshalb Kant hier in <strong>der</strong> fünften Erklärung so tut,<br />

als ginge er immer schon von einem real in einer Gestalt begrenzten<br />

Körpers aus, wenn er von Materie spricht: aber eben <strong>die</strong>se Grenze <strong>der</strong><br />

Abson<strong>der</strong>ung, im Raum als Gestalt verzeichenbar zu sein, wird nicht<br />

abgeleitet, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> fünften Erklärung als Prämisse eingeführt. Die<br />

geometrische Zerlegbarkeit einer Gestalt führt über <strong>die</strong> bloße<br />

(proportionale) Teilung eines Kontinuums hinaus <strong>und</strong> zu selbsständig<br />

definierten (<strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Möglichkeit nach trennbaren) Teilen, so auch<br />

hier: Die Trennbarkeit durch Bewegung (hier durch eine Wegbewegung)<br />

als einfache Folge von <strong>der</strong> Trennbarkeit des hier schon ausgesprochenen<br />

»Physischen« hat nicht notwendigerweise zur Folge, daß nunmehr Materie<br />

eine festumreißbare Gestalt haben soll — keine einfache logische<br />

Konsequenz, son<strong>der</strong>n ein synthetisches Urteil bestimmt, daß <strong>die</strong><br />

Trennbarkeit durch Beweglichkeit eines Teiles <strong>der</strong> Materie mit <strong>der</strong><br />

Einführung <strong>der</strong> rein geometrisch darstellbaren Teilen einer Gestalt <strong>der</strong><br />

anschaulich umrissenen Materie in abstrakter Ü bere in stimmu ng steht.<br />

189 Bezüglich des Unterschiedes von Atom <strong>und</strong> phänomenaler Materie vgl. z. B.: Karl<br />

Vogel, Kant <strong>und</strong> <strong>die</strong> Paradoxien <strong>der</strong> Vielheit, Meisenheim/Glan 1975, hiezu p. 167 ff.<br />

190 M.A.d.N., Erklärung 5 <strong>der</strong> Dynamik, A 43


-— 191 —<br />

Im fünften Lehrsatz führt Kant <strong>die</strong> Attraktion ein; 191 ohne Attraktion <strong>und</strong><br />

Repulsion sei keine Materie möglich. 192 Kant prolongiert das schon<br />

bekannte Stück zwischen Repulsion <strong>und</strong> an<strong>der</strong>em Beweglichen unter dem<br />

neuen Titel »Attraktion <strong>und</strong> Repulsion«. Im »Allgemeinen Zusatz« 193 wird<br />

<strong>der</strong>en Verhältnis unter den Titel <strong>der</strong> Limitation gebracht, welches eben <strong>die</strong><br />

geometrisch als Gestalt bzw. Figur verzeichenbare Grenze zwingend zur<br />

Folge haben soll. Die Analogie zur zweiten Kategorientafel (Qualität <strong>und</strong><br />

Intensität) tritt zwar schlagend ins Bewußtsein, allein eine Erklärung , wie<br />

nun <strong>die</strong> Beharrlichkeit als Schema <strong>der</strong> Apprehension zu einem <strong>der</strong>art<br />

zugerichteten Substrat kommen solle, wird nicht geleistet. We<strong>der</strong> vermag<br />

<strong>die</strong> <strong>der</strong>art bestimmte Grenze eine Erklärung für <strong>die</strong> Gestalt beson<strong>der</strong>er<br />

Materien zu sein, weil hier <strong>die</strong> Materie nach ihrer Abstraktion zum<br />

beweglichen Punkt in <strong>der</strong> Phoronomie in voller Plastizität nur als Produkt<br />

von Wi<strong>der</strong>ständigkeit (Repulsion) <strong>und</strong> äußerlicher Krafteinwirkung<br />

gedacht wird, 194 noch hat das Beharrliche als primitives Schema <strong>der</strong><br />

Apprehension <strong>der</strong> Erscheinungen selbst <strong>die</strong> Eigenschaft <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong><br />

empirischen synthesis speciosa an sich, welche in <strong>der</strong> Anschauung allererst<br />

Figuren verzeichnet. So dürfte <strong>die</strong> Repulsion als beharrlich wirkende<br />

»bewegliche Kraft« eben nur als <strong>die</strong> »physische« Ursache für <strong>die</strong><br />

ontologische Interpretation <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz in Betracht<br />

kommen. Zur dynamischen Erklärung <strong>der</strong> Phoronomie, <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong>lage<br />

von Aussagen über wirkliche Verhältnisse zwischen den Objekten selbst<br />

(Mechanik), hat <strong>die</strong> obige Überlegung zwischen Repulsion <strong>und</strong> Attraktion<br />

aber nicht zugereicht, auch würde man <strong>die</strong> Schwäche in <strong>der</strong> Darstellung<br />

<strong>der</strong> Attraktion supplieren. Was geleistet worden ist, kann knapp mit<br />

Anfangsgründe einer dynamischen Erklärung umrissen werden.<br />

Um <strong>die</strong> dynamische Erklärung <strong>der</strong> Phoronomie zu vervollständigen, ist<br />

also <strong>die</strong> Mechanik, als <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>der</strong> dynamischen Verhältnisse<br />

zwischen den Substraten <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>und</strong> Beweglichkeit,<br />

notwendig. Deren erste Erklärung lautet: »Materie ist das Bewegliche,<br />

sofern es, als ein solches, bewegende Kraft hat.« 195 Immerfort ist es das<br />

Bewegliche, das das Zentrum <strong>der</strong> Definition ausmacht. 196 Nunmehr meint<br />

191 cit. op., A 52 f.<br />

192 cit. op., Lehrsatz 6 <strong>der</strong> Dynamik, A 57<br />

193 cit. op., A 81<br />

194 Allerdings reichen <strong>die</strong> Bestimmungsstücke Kants aus, eine erste Hypothese zu<br />

planetaren Nebeln <strong>und</strong> <strong>der</strong> Entstehung von Sonnen <strong>und</strong> Planeten zu bilden.<br />

195 M.A.d.N., A 106<br />

196 So auch noch in <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Phänomenologie


-— 192 —<br />

Kant mit dem Ausdruck »bewegende Kraft« wohl nicht mehr <strong>die</strong><br />

Repulsion, obwohl eine raumerfüllende Kraft implizite vorauszusetzen ist.<br />

Es bleibt zuerst <strong>die</strong> Frage, ob Kant damit <strong>die</strong> Attraktion als Ursache <strong>der</strong><br />

Bewegung, o<strong>der</strong> doch schon mit dem Ausdruck »bewegende Kraft«<br />

eindeutig den Impuls im Stoß zwischen zwei Körpern idealer Elastizität 197<br />

bezeichnen wollte. In <strong>der</strong> Anmerkung wird deutlich, daß er <strong>die</strong> Attraktion<br />

nicht weiter behandelt son<strong>der</strong>n als Ursache <strong>der</strong> Bewegung den Stoß<br />

ansieht: <strong>die</strong> »Erteilung« <strong>der</strong> Bewegung erfolgt durch <strong>die</strong> Repulsion . 198<br />

Unter <strong>der</strong> Mitteilung <strong>der</strong> damit übermittelten Kraft kann demnach wohl<br />

nur mehr <strong>der</strong> Impuls im Stoß in Betracht zu ziehen sein.<br />

Von einer weiteren Untersuchung <strong>der</strong> M.A.d.N. wird hier abgesehen; es<br />

muß <strong>die</strong> Erörterung bis hierher auch ohne strengen Beweis zureichen, um<br />

überzeugend aufzuzeigen, daß trotz <strong>der</strong> hier schon ersichtlich gewordenen<br />

neuen Problematik eines realen Kontinuums (also unabhängig von<br />

intellektuellen o<strong>der</strong> sinnlichen Kontinuitätskriterien) mit <strong>der</strong> Phoronomie<br />

<strong>der</strong> entscheidende Schritt getan worden ist, um den dynamischen<br />

Kategorien in <strong>der</strong> K. r. V. den Bezug auf objektiv reale Verhältnisse<br />

zwischen den Dingen <strong>der</strong> Objekte <strong>der</strong> Erfahrung zu sichern. Es sind<br />

zweifellos identifizierbare Objekte, <strong>die</strong> mit dem Gr<strong>und</strong>satz des<br />

Beharrlichen als Begriff des Schemas <strong>der</strong> Apprehension gesucht werden,<br />

wie <strong>die</strong>, <strong>die</strong> nach dem Gr<strong>und</strong>satz des Substrats des Beweglichen gesucht<br />

werden. — Während das Substrat des Beharrlichen in den Erscheinungen<br />

allein mittels <strong>der</strong> einschränkenden Regel <strong>der</strong>en Zeitreihe gedacht wird,<br />

setzt das Substrat des Beweglichen bei Kant bereits einen objektiven<br />

(geometrisierbaren) Raum voraus. Die dynamische Erklärung in den<br />

M. A. d. N. bleibt aber selbst dann, wenn an Stelle einer gleichbleibenden<br />

<strong>und</strong> unbeschleunigten Bewegung <strong>die</strong> Attraktion als Ursache in Stellung<br />

gehalten wird, <strong>und</strong> nur <strong>die</strong> Wirkung <strong>der</strong> durch Attraktion erteilten<br />

Bewegung, <strong>die</strong> im Stoß liegt, untersucht werden soll, letztlich<br />

unbefriedigend. Dieser Mangel liegt nicht in architektonisch motivierten<br />

Selbstbeschränkungen, <strong>die</strong> im transzendentalen Idealismus o<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Idee <strong>der</strong> Mathesis ihren Gr<strong>und</strong> haben, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> nicht ausreichend<br />

geklärten ursprünglichen Verbindung <strong>und</strong> entwickelten Unterscheidung<br />

von Repulsion <strong>und</strong> Attraktion im Zuge <strong>der</strong> Klassifizierung bei<strong>der</strong> als<br />

»bewegende« Kraft (R. G. Boskovic).<br />

197 M.A.d.N., Anmerkung 2, A 41. »Die absolute Undurchdringlichkeit ist in <strong>der</strong> Tat<br />

nichts mehr, o<strong>der</strong> weniger, als qualitas occulta.«<br />

198 cit. op., A 107


-— 193 —<br />

c) Das Dasein vor <strong>der</strong> Unterscheidung in subjektive <strong>und</strong> objektive<br />

Realität als ursprüngliches Substrat <strong>und</strong> eigentlicher Gegenstand<br />

<strong>der</strong> Transzendentalphilosophie<br />

Auf <strong>die</strong> antagonistische Struktur <strong>der</strong> bisherigen Untersuchungsgänge in<br />

<strong>die</strong>sem Teil (Substanz <strong>und</strong> Beharrlichkeit) des zweiten Abschnitts möchte<br />

ich eigens hinweisen: Vom sechsten Kapitel bis zum achten Kapitel wurde<br />

<strong>die</strong> subjektive Realität ausgehend von <strong>der</strong> Subreption des Substanzbegriffs<br />

im Paralogismus (A 401) <strong>und</strong> im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz (B 225) bis hin<br />

zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins behandelt. Hier im<br />

zwölften Kapitel wurde hingegen als erstes Kriterium <strong>der</strong> objektive<br />

Realität <strong>die</strong> Beweglichkeit <strong>der</strong> Materie erkannt, <strong>und</strong> zwar als ursprünglich<br />

phoronomisches Merkmal. Diese Dichtonomie ist eine ursprüngliche, denn<br />

sie verzichtet sowohl auf <strong>die</strong> Dynamik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mechanik wie auf <strong>die</strong><br />

Teleologie in Biologie <strong>und</strong> Ethik. Es bleibt <strong>die</strong> Bifurkation des<br />

Untersuchungsganges insofern innerhalb <strong>der</strong> Sinnlichkeit: es handelt sich<br />

einmal um eine Untersuchung des inneren <strong>und</strong> einmal um eine<br />

Untersuchung des äußeren Sinnes.<br />

Es konnte weiters gezeigt werden, daß <strong>die</strong> Untersuchung des inneren<br />

Sinnes eine Alternative besitzt, <strong>die</strong> Kant selbst herbeiführt. In den<br />

untersuchten Zitaten wurde klar <strong>und</strong> deutlich, daß Kant den Begriff vom<br />

Dasein nicht nur neutral für das subjektive wie für das objektive Dasein<br />

verwendet. Kant verwendet den Begriff vom Dasein einmal als Quelle des<br />

Begriffes <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Substanz jenseits <strong>der</strong> kategorialen<br />

Bestimmung aus dem Vergleich von Erscheinungsreihe <strong>und</strong><br />

Vorstellungsreihe, weil <strong>der</strong> Begriff von <strong>der</strong> Substanz bekanntlich mit dem<br />

Begriff <strong>der</strong> Beharrlichkeit wegen dessen kontradiktorischen Verbindung<br />

zum Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit eigentlich nichts, <strong>und</strong> als einfache<br />

Substanz sicherlich nichts zu tun haben sollte. Hier werden <strong>die</strong><br />

f<strong>und</strong>amentalontologischen Bestimmungen des Daseins mit den<br />

ontologischen Bestimmungen <strong>der</strong> Substanz konf<strong>und</strong>iert, wenn nicht<br />

letztere aus ersterem als abgeleitet vorgestellt. Anzumerken ist, daß <strong>die</strong>se<br />

Art von Ableitung als <strong>die</strong> transzendentalsubjektivistische Variante <strong>der</strong><br />

aristotelischen ersten Ursache bei Thomas von Aquin anzusehen ist.<br />

An<strong>der</strong>erseits führt Kant in <strong>der</strong> ersten Fassung A noch deutlicher als in <strong>der</strong><br />

zweiten Fassung B aus, daß das gesuchte synthetische Urteil a priori eine<br />

Relation nicht nur zwischen Vorstellungen des affizierten Subjekts,<br />

son<strong>der</strong>n zwischen daseienden Objekten auszudrücken habe. We<strong>der</strong> das<br />

eine noch das an<strong>der</strong>e entspricht dem durchschnittlichen Gebrauch des


-— 194 —<br />

Begriffes vom Dasein in den Texten Kants. Es ist also nicht möglich, sich<br />

einfach für eine bestimmte Version <strong>der</strong> Begriffsverwendung zu<br />

entscheiden; das Dasein gewinnt in beiden komplementären<br />

Interpretationen <strong>die</strong> Qualität, für <strong>die</strong> jeweils eigentlich ursprüngliche<br />

Existenzweise stehen zu können. Der transzendentalpsychologische<br />

Standpunkt liefert aber nicht den ontologisch ursprünglicheren, son<strong>der</strong>n<br />

den methodologisch ursprünglicheren Begriff vom Dasein. In <strong>die</strong>sen<br />

Rahmen versteht sich <strong>der</strong> Begriff vom Dasein<br />

transzendentalsubjektivistisch als ursprünglicher <strong>und</strong> beginnt den Gr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Existenz von <strong>der</strong> Evidenz des »ich denke« ausgehend zu okkupieren.<br />

Das kann gelingen, weil <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen gezeigt<br />

haben, daß es keinen substantialen Begriff <strong>der</strong> individuellen Seele gibt,<br />

weshalb von da aus <strong>die</strong> subjektive Realität des Daseins nicht verlassen<br />

werden kann. Die Ursprünglichkeit <strong>der</strong> ursprünglich-synthetischen<br />

Einheit <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption ist aber nicht mit einer<br />

naturontologischen o<strong>der</strong> intelligiblen Ursprünglichkeit überbietbar.<br />

Der Übergang von <strong>der</strong> reinen (theoretischen) Vernunft zur praktischen<br />

Vernunft hinterläßt ein Desi<strong>der</strong>at, das in <strong>der</strong><br />

transzendentalpsychologischen Fassung des Daseins in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />

reinen Vernunft (es könnte ebenso von einer eingeschränkten<br />

transzendentalsubjektivistischen Fassung <strong>der</strong> Seelenlehre auf<br />

Erkenntnisvermögen <strong>die</strong> Rede sein) schon unabhängig von <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />

Urteilskraft <strong>die</strong> Frage aufwirft, ob dem Begriff vom Dasein nicht eine<br />

existenzialistische Fassung von Existenz, <strong>und</strong> a fortiori, ob <strong>die</strong>ser Fassung<br />

des Begriffs vom Dasein eine f<strong>und</strong>amentalontologische Relevanz im Sinne<br />

Heideggers gegeben werden kann, <strong>die</strong> von <strong>der</strong> Kantschen Kritik <strong>der</strong><br />

transzendentalen Dialektik, <strong>die</strong> eben nur hinsichtlich des Überganges <strong>der</strong><br />

reinen Vernunft zur reinen praktischen Vernunft einen Ausgang aus dem<br />

transzendentalen Subjektivismus in den Gattungssubjektivismus findet,<br />

nicht erreicht werden konnte. Inwieweit es sich um einen Vorteil in <strong>der</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> ganzen transzendentalen Argumentation handelt, indem<br />

es sich um eine bislang von <strong>der</strong> rationalen Metaphysik trotz <strong>der</strong><br />

Vereinbarungsversuche von Aristoteles (Thomas) <strong>und</strong> Augustinus<br />

(Bonaventura) bei Kant vernachlässigte Seite des Stoizismus handeln<br />

könnte, o<strong>der</strong> ob es sich um einen Nachteil handelt, weil sowohl <strong>die</strong><br />

Problemstellungen <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft (Ästhetik <strong>und</strong> Teleologie)<br />

wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Sittengesetz) verfehlt werden,<br />

das kann nicht einfach entschieden werden. Diese Fragestellung zu


-— 195 —<br />

untersuchen, hätte an <strong>der</strong> Frage »wie ich bin« in § 25 <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Deduktion anzusetzen, <strong>und</strong> wäre mit <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> scharfen Trennung<br />

von pathologischen Begehren <strong>und</strong> <strong>der</strong> praktischen Vernunft als oberstes<br />

Begehrungsvermögen fortzusetzen, ohne dabei <strong>die</strong> Gründe einer solchen<br />

starken Gegenüberstellung in <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Natur des Willens <strong>und</strong><br />

nach seiner Bestimmbarkeit aufheben zu wollen o<strong>der</strong> zu können. Das<br />

eigentliche Ziel <strong>der</strong> Philosophie wäre demnach <strong>die</strong> Bedingungen des<br />

reinen Willens ausfindig zu machen. Insofern stellt sich anhand <strong>die</strong>ser<br />

psychologischen Komponente <strong>die</strong> Willensphilosophie als erste<br />

F<strong>und</strong>amentalontologie dar, <strong>die</strong> freilich unter an<strong>der</strong>en Voraussetzungen<br />

eine solche genannt zu werden ver<strong>die</strong>nt, als das <strong>der</strong> Absicht nach <strong>und</strong> in<br />

<strong>der</strong> Tat umfassen<strong>der</strong>e Projekt einer F<strong>und</strong>amentalontologie wie es<br />

Heidegger ins Werk gesetzt hat. Dessen F<strong>und</strong>amentalontologie setzt we<strong>der</strong><br />

eine Naturphilosophie noch eine Ethik voraus, steht aber in <strong>der</strong> Tradition<br />

Descartes <strong>und</strong> des Subjektivismus <strong>der</strong> Transzendentalphiosophie, auch<br />

wenn Heidegger vermeint, wegen seiner Daseins- <strong>und</strong> Seinshermeneutik<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> übrigens zurecht kritischen Behandlung des Anwesens im<br />

Rahmen seiner »Destruktion« <strong>der</strong> Metaphysik <strong>und</strong> des<br />

Geschichtsbegriffes, sich über seine Quellen erheben zu können.


-— 196 —<br />

III. SEIN UND DASEIN<br />

14) Zur ursprünglichen Bedeutung des Gr<strong>und</strong>es<br />

Es gibt noch eine an<strong>der</strong>e Definition des Gr<strong>und</strong>es als <strong>die</strong> von Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Folge o<strong>der</strong> von Ursache <strong>und</strong> Wirkung, <strong>die</strong> zu behandeln ich nach dem<br />

Verlauf <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Begriffe von Substanz <strong>und</strong> Kausalität im<br />

vorhergehenden Teiles des zweiten Abschnittes für nötig halte. Dort hat<br />

sich gezeigt, daß im Gr<strong>und</strong>e des Begriffs von <strong>der</strong> Substanz eine nicht<br />

abzuwendende fortwährende Verwechslung (Amphibolie) von Objekt <strong>und</strong><br />

Subjekt stattfindet, <strong>die</strong> erst anhand <strong>der</strong> Untersuchung des dynamischen<br />

Begriffes <strong>der</strong> Beharrlichkeit <strong>der</strong> Wirkung einer Kraft (<strong>der</strong> selbst nicht unter<br />

<strong>die</strong> Definition des Beharrlichen aus <strong>der</strong> Apprehension fallen kann)<br />

vollständig hervorgetreten ist. Nachdem ich erstens im Kap. 13 (Realität<br />

<strong>und</strong> Objektivität) <strong>die</strong> Beharrlichkeit durch <strong>die</strong> Beweglichkeit ersetzt habe,<br />

um <strong>die</strong> Mindestbedingung für <strong>die</strong> objektive Realität, somit auch den<br />

Gr<strong>und</strong>, den <strong>der</strong> Subreption zwischen Beharrlichkeit des Daseins <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Beharrlichkeit in den Erscheinungen einer Substanz entspringenden<br />

dialektischen Schein wenigstens in <strong>der</strong> Konsequenz als objektiv zu<br />

rechtfertigen, <strong>und</strong> zweitens zuvor im Kap. 8 (Ideales <strong>und</strong> reales<br />

Zugleichsein) das ideale Zugleichsein gegenüber dem realen Zugleichsein<br />

anhand einer mathematischen Argumentation <strong>der</strong> Bedingungen einer<br />

reiner Anschauung diskutiert habe, erscheint es mir für unabdingbar,<br />

wenigstens das Nötigtste zur Beharrlichkeit des Daseins unabhängig von<br />

<strong>der</strong> diskutierten Subreption im Paralogismus <strong>und</strong> im metaphysischen<br />

Abschnitt des synthetischen Gr<strong>und</strong>satzes des Verstandesbegriffes <strong>der</strong><br />

Substanz zu sagen.<br />

Am Anfang stehen Urgr<strong>und</strong>, Abgr<strong>und</strong>, Ungr<strong>und</strong>, <strong>die</strong> Heidegger im<br />

Versuch heranzieht, den Ursprung des Raumes im Da des Ereignisses als<br />

Einheit von Raum <strong>und</strong> Zeit (als <strong>die</strong> selbst wie<strong>der</strong> abzugrenzende Offenheit<br />

des reinen Zeit-Raumes des Ereignisses) durch eine möglichst große<br />

Mannigfaltigkeit an Folgeerörterungen zu begründen. Das hängt mit <strong>der</strong><br />

gr<strong>und</strong>sätzlich hermeneutischen Anlage des Ansatzes von Heidegger<br />

zusammen. 199 Das Ereignis selbst wird wie<strong>der</strong>um nur als Ankündigung<br />

verstanden. — Die deictische Interpretation des Da, <strong>die</strong><br />

transzendentalsubjektivistisch <strong>der</strong> seinshemeneutischen Interpretation<br />

199 Martin Heidegger, GA, Bd. 65: Vom Ereignis, p. 371 ff. (Der Zeit-Raum als <strong>der</strong> Abgr<strong>und</strong>)


-— 197 —<br />

auch bei Wittgenstein vorausgesetzt bleibt, 200 stellt freilich von Anfang an<br />

eine gegenläufige Ergänzung <strong>die</strong>ser konkreten Daseinsinterpretation dar.<br />

Dieser Strang <strong>der</strong> Deutung eines Begriffs vom Gr<strong>und</strong> denkt den Gr<strong>und</strong><br />

aber we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> einen noch in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Fassung in Verbindung mit<br />

einer bestimmten Folge. Entscheidend ist, daß in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> nicht als Gr<strong>und</strong> einer Folge wie auch <strong>die</strong> Ursache <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong><br />

einer Wirkung ist, zu verstehen ist, son<strong>der</strong>n wie das F<strong>und</strong>ament eines<br />

Hauses o<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> Boden, auf dem man geht. We<strong>der</strong> das Haus noch das<br />

Gehen ist eine Folge des Gr<strong>und</strong>es, <strong>die</strong>ser aber ist ursprünglicher Gr<strong>und</strong> in<br />

<strong>der</strong> Offenheit des F<strong>und</strong>amentes für weiteres. So ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

unbedingte Bedingung, aber doch nicht bloß Bedingung als eine<br />

notwendig hinzutretende weitere Ursache, damit eine Gruppe von<br />

Wirkenden als Ursachen eine bestimmte Wirkung zustandebringen,<br />

son<strong>der</strong>n ist selbst ein wesentliches Merkmal des primären je schon<br />

existierenden Gegenstandes als Substanz <strong>der</strong> wirkenden Kausalität o<strong>der</strong><br />

als <strong>die</strong> Wirkung empfangende Substanz, das völlig unabhängig von einer<br />

spezifizierbaren Relation zwischen <strong>die</strong>sen beiden Polen <strong>der</strong> Substanz<br />

bleibt. So ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> im Sinne eines F<strong>und</strong>amentes vor allen an<strong>der</strong>en<br />

Bedingungen dessen, was geschieht, ausgezeichnet <strong>und</strong> von den Ursachen,<br />

welche eine Folge, wie weit <strong>der</strong>en Folge von Folgen etc. auch immer<br />

reichen mag, determinieren, ebenso verschieden wie von logischen<br />

Gründen, <strong>die</strong> formal Konsequenzen implizieren. Diese Auffassung des<br />

Gr<strong>und</strong>es (auch als Materie zur Einbildung <strong>der</strong> Idee <strong>und</strong> das Ding an sich<br />

als wirklicher Gegenstand, dem unsere Vorstellungen von ihm gleichgültig<br />

sind, <strong>und</strong> so schlechthin eben nicht unsere — betrachtende — Vorstellung<br />

von ihm »verursacht«) läßt sich nicht weiter nach Raum <strong>und</strong> Gegenstand<br />

unterscheiden. — Das Bewußtsein als Ereignis steht nun selbst im<br />

Horizont <strong>die</strong>ser naturalistischen Offenheit, »versteht« aber das, was<br />

geschieht, als Ankündigung. Obwohl Heidegger den Zeit-Raum zwischen<br />

dem eigentlichen, erst zu erwartenden Ereignisses <strong>und</strong> seiner Vorboten als<br />

Existenzialien in <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Anthropologie gereinigten<br />

F<strong>und</strong>amentalontologie spätestens ab dem daseinshermeneutischen<br />

Wahrheitsproblem mit kategorialen Bestimmungen <strong>der</strong> »Seynsgeschichte«<br />

in Zusammenhang bringt, bin ich <strong>der</strong> Auffassung, daß <strong>die</strong> damit zuvor<br />

von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hand vollzogene Abwerbung anthropologischer<br />

Qualitäten nur literarisch nachzuvollziehen sei: Zuvor hat man<br />

200 Beilage zum Kongress in Wien 1985 (?); Wittgensteins »Zeigen« verschiedener<br />

Ordnung (201)


-— 198 —<br />

Anwesenheit nur in Zusammenhang von Dasein mit Seienden gedacht,<br />

nun sei das, was west, in seinem Gr<strong>und</strong>e selbst schon als Ankündigung<br />

eines Ereignisses zu befragen. Das Ereignis enthüllt einen Teil dessen, was<br />

west. Das Ereignis wird damit aber zum Ereignis <strong>der</strong> bloßen Ankündigung<br />

eines womöglich erst eigentlichen Ereignisses, während <strong>die</strong> Wahrheit <strong>der</strong><br />

Ankündigung noch zu <strong>die</strong>sem gewissen augenblicklich zeitigenden<br />

Ereignis gemacht wird, dessen Folgen offensichtlich notwendig<br />

mitgegeben worden sind, ohne alle Folgen (das ganze Ereignis selbst)<br />

gleich mitzuoffenbaren. 201 Für Heidegger erzeugt <strong>die</strong> Spannung zwischen<br />

Ankündigung <strong>und</strong> Ereignis mit dem Zeit-Raum auch den Raum vor je<strong>der</strong><br />

Geometrisierung <strong>und</strong> glaubt sich wohl dabei noch auf sein<br />

existenzialistisches Konzept des Strukturganzen <strong>der</strong> Sorge aus Sein <strong>und</strong><br />

Zeit stützen zu können, obgleich <strong>die</strong> Verfallenheit <strong>der</strong> Innerweltlichkeit an<br />

das »man« gerade als Ontologisierung <strong>der</strong> Sozialisierung es für das<br />

ursprünglich Ontische immanent unmöglich macht, zu erscheinen. 202 Diese<br />

Schwierigkeit Heideggers könnte ihn allerdings komplementär dazu<br />

verführt haben, gerade <strong>die</strong> Amphibolie zwischen Ontik <strong>und</strong> Ontologie<br />

anzugehen, <strong>der</strong>en Schein ihm schließlich gestattet hat, <strong>die</strong> Anthropologie<br />

aus <strong>der</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie in Schritten (erstes Kantbuch, Wahrheit als<br />

Unverborgenes) zu entfernen <strong>und</strong> damit auch gerade durch <strong>die</strong><br />

Herstellung <strong>die</strong>ser Indifferenz zwischen Sein <strong>und</strong> Wahrheit den Horizont<br />

des Daseins zu ontologisieren.<br />

Man mag ein Gedächtnis in <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Seienden im Sinne einer<br />

physikalistischen Informationstheorie, o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Kybernetik<br />

systemtheoretisch darstellbarer Verhältnisse den Ansatz einer<br />

depotenzierten Teleologie vermuten, eine weitere Beschreibung mit Hilfe<br />

<strong>der</strong> vom subjektiven Dasein abgeworbenen anthropologischen, aber<br />

existenzial-allgemein ausgesprochenen Kategorien halte ich in <strong>die</strong>sem<br />

201 Michael Benedikt, Glauben <strong>und</strong> Wissen, Wien 1975, §§ 65-66<br />

202 Ich unterschlage hier zunächt <strong>die</strong> hermeneutische Definition des Daseins Heideggers<br />

in Sein <strong>und</strong> Zeit (S. 7), worin das Stellenkönnen <strong>der</strong> Frage nach dem Seinsgr<strong>und</strong> zu<br />

einer <strong>der</strong> wesensbestimmenden Seinsmodi des Daseins gehört. Ich unterschlage<br />

<strong>die</strong>sen in <strong>der</strong> Tat wesentlichen Aspekt an <strong>die</strong>ser Stelle aus zwei Gründen: Erstens,<br />

weil <strong>der</strong> Zielpunkt <strong>der</strong> transzendentalanalytischen Untersuchung in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong><br />

ersten Kritik primär nicht selbst allein <strong>der</strong> Seinsgr<strong>und</strong> des subjektiven Daseins ist,<br />

<strong>und</strong> zweitens, weil Heidegger in <strong>der</strong> Schrift »Vom Ereignis« den Abgr<strong>und</strong> —<br />

fälschlicherweise — dazu benützt, eine Rede vom An-sich-Seienden einzuführen.<br />

Fälschlicherweise deshalb, weil <strong>der</strong> Abgr<strong>und</strong> doch <strong>der</strong> Alternative von Wahrheit <strong>und</strong><br />

im Irrtum-Stehen überhaupt zu Gr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> so Angelegenheit des Fragen<br />

stellenden Daseins ist (Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus II, Turia <strong>und</strong><br />

Kant Wien 1998, Kap. VIII, p. 88 ff.)


-— 199 —<br />

Zusammenhang für unstatthaft. Das »Da« ist nicht selbst ein irgendwie<br />

ursprünglich als solcher konkret für sich Realität besitzen<strong>der</strong> Horizont<br />

eines Ereignisses in seynsgeschichtlicher Betrachtung, <strong>der</strong> unabhängig<br />

vom Zusammenhang unter den Seienden wäre, son<strong>der</strong>n wird vom Dasein<br />

allererst als solches in deicitischer Absicht ausgesprochen .<br />

Ohne Intentionalität ist ein Da, nach seinem Wesen näher befragt, gerade<br />

nicht möglich. Der Übergang vom substantialen Wesen des Anwesens im<br />

Dasein zum, <strong>die</strong> vergehende Zeit vorbringenden Verb des wesens , das ein<br />

Anwesen im selben Dasein nicht länger voraussetzt son<strong>der</strong>n sich mit <strong>der</strong><br />

Ankündigung zufrieden gibt, kann <strong>die</strong> transzendentale Differenz zwischen<br />

cartesianischen Subjektivismus <strong>und</strong> Ontologie nicht überwinden, son<strong>der</strong>n<br />

vermag <strong>die</strong>se nur zu verschieben. Heidegger kann erstens keinen<br />

überzeugenden Gr<strong>und</strong> angeben, weshalb <strong>die</strong> Zeitlichkeit des gebrauchten<br />

Verbs selbst schon a priori objektive Geltung in jedem Falle beanspruchen<br />

können muß. Zweitens kann deshalb objektive Realität von einer solchen<br />

Aussage trotz <strong>der</strong> grammatikalischen Verlagerung <strong>der</strong><br />

transzendentallogischen Untersuchung nicht erwartet werden.<br />

Drittens kann kein überzeugen<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en werden, weshalb das<br />

Dasein selbst im Da f<strong>und</strong>iert sein sollte. Auch aus <strong>die</strong>sen Gründen gehe ich<br />

hier mit Kant in <strong>der</strong> transzendentalen Analytik vom empirischen<br />

Bewußtsein in <strong>der</strong> gemachten Erfahrung <strong>und</strong> konsequent vom Dasein des<br />

betrachtenden Subjekts aus.<br />

15) Zwei Öffnungen des Daseinshorizontes bei Heidegger<br />

Heidegger bestimmt in Sein <strong>und</strong> Zeit das Dasein hermeneutisch als<br />

dasjenige Sein, daß (unter an<strong>der</strong>em) den Seinsmodus des Fragens nach <strong>der</strong><br />

eigenen Existenz zur Wesensbestimmung hat. Zwischen Urgr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Ungr<strong>und</strong> einerseits <strong>und</strong> dem Horizont <strong>der</strong> Erscheinung als <strong>der</strong>en<br />

Ankündigung nach <strong>der</strong> Wende von <strong>der</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie zur<br />

Seynsgeschichtlichkeit im Spätwerk an<strong>der</strong>erseits ist aber vom Kantschen<br />

Paralogismus ausgehend (synthetisch-metaphysische Methode versus<br />

transzendentalanalytische Methode) <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie<br />

Heideggers nur als ontologische Anmaßung zu verstehen möglich, 203<br />

203 K.r.V., »Nehmen wir nun unsere obigen Sätze, wie sie auch für alle denkenden<br />

Wesen gültig, in <strong>der</strong> rationalen Psychologie als System genommen werden müssen,<br />

in synthetischem Zusammenhange, <strong>und</strong> gehen, von <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Relation, mit<br />

dem Satze: alle denkenden Wesen sind, als solche, Substanzen, rückwärts <strong>die</strong> Reihe<br />

<strong>der</strong>selben, bis sich <strong>der</strong> Zirkel schließt, durch, so stoßen wir zuletzt auf <strong>die</strong> Existenz


-— 200 —<br />

allerdings ohne, wie bei Christian Wolff auch, darin eine Gelegenheit zur<br />

Definition <strong>der</strong> Differenz von Ontologie <strong>und</strong> Ontik erblicken zu können. 204<br />

Die vorhin skizzierte späte Auffassung Heideggers entspricht eben nicht<br />

<strong>der</strong> allgemein bekannten Aufstellung des Problems des Daseins, wie man<br />

sie insbeson<strong>der</strong>e aus Sein <strong>und</strong> Zeit kennt, doch führt schon <strong>die</strong> frühere<br />

Fassung selbst zu einer Grenze, <strong>die</strong> das Dasein ontologisch damit belastet,<br />

<strong>der</strong> einzige Ursprung <strong>der</strong> Geschichte zu sein. Hier wäre zuvor Platz für<br />

einen Hinweis auf den vorhin vorgestellten hermeneutischen <strong>und</strong> somit<br />

selbst unbedingten subjektiven Hintergr<strong>und</strong> des Daseins in <strong>der</strong><br />

F<strong>und</strong>amentalontologie. Ich folge i. a. in <strong>der</strong> Kurzdarstellung <strong>die</strong>ser<br />

Schwierigkeit <strong>der</strong> Auffassung von Jeffrey Barash. 205<br />

Die Diskussion um Heideggers Auffassung von Hermeneutik sieht sich<br />

folgendem Hintergr<strong>und</strong> gegenüber: Der Neukantianismus leitet <strong>die</strong><br />

geschichtliche Wahrheit werttheoretisch aus reinen<br />

Individualitätsbegriffen ab; Dilthey f<strong>und</strong>iert das Geschichtsverständnis in<br />

<strong>der</strong> psycho-physischen Einheit von Erlebniszusammenhängen; <strong>die</strong><br />

(Heidegger: französischen) Positivisten vermuten Zusammenhänge nach<br />

dem Vorbild <strong>der</strong> Naturgesetze (p. 63). Ich denke, daß Heidegger mit seiner<br />

Kritik am Begriff des Geschichtlichen vom Individualitätsbegriff des<br />

Neukantianismus ausgehend erst <strong>die</strong> hermeneutischen Prinzipien<br />

Diltheys, <strong>die</strong>se selbst modifizierend, gegen den naiv-empiristischen<br />

Positivismus in Stellung bringt: »Die Frage, ob <strong>die</strong> Historie nur <strong>die</strong><br />

Reihung <strong>der</strong> einmaligen, „individuellen“ Begebenheiten o<strong>der</strong> auch<br />

<strong>der</strong>selben [...] Hieraus folgt aber, daß <strong>der</strong> Idealism in eben demselben<br />

rationalistischen System unvermeidlich sei, wenigstens <strong>der</strong> problematische, <strong>und</strong>,<br />

wenn das Dasein äußerer Dinge zu Bestimmung seines eigenen in <strong>der</strong> Zeit gar nicht<br />

erfor<strong>der</strong>lich ist, jenes auch nur ganz umsonst angenommen werde, ohne jemals einen<br />

Beweis davon angeben zu können. Befolgen wir dagegen das analytische Verfahren,<br />

da das Ich denke, als ein Satz, <strong>der</strong> schon ein Dasein in sich schließt, als gegeben,<br />

mithin <strong>die</strong> Modalität, zum Gr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> zerglie<strong>der</strong>n ihn, um seinen Inhalt, ob<br />

<strong>und</strong> wie nämlich <strong>die</strong>ses Ich im Raum o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit bloß dadurch sein Dasein<br />

bestimmt, zu erkennen, so würden <strong>die</strong> Sätze <strong>der</strong> rationalen Seelenlehre nicht vom<br />

Begriffe eines denkenden Wesens überhaupt, son<strong>der</strong>n von einer Wirklichkeit<br />

überhaupt anfangen, <strong>und</strong> aus <strong>der</strong> Art, wie <strong>die</strong>se gedacht wird, nachdem alles, was<br />

dabei empirisch ist, abgeson<strong>der</strong>t worden, das was einem denkenden Wesen<br />

überhaupt zukommt gefolgert werden [...].« (B 416 f). Vgl. insbeson<strong>der</strong>e im dritten<br />

<strong>und</strong> im fünften Abschnitt § 21, d <strong>und</strong> § 31<br />

204 Die Formalontologie Wolffs schließt Subjekt <strong>und</strong> Objekt zwangsweise<br />

zusammen.<br />

205 Jeffrey Barash, Über den geschichtlichen Ort <strong>der</strong> Wahrheit. Hermeneutische<br />

Perspektiven bei Wilhelm Dilthey <strong>und</strong> Martin Heidegger, in: Martin Heidegger:<br />

Innen- <strong>und</strong> Außenansichten, Hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg (S.<br />

Blasche, W.R. Köhler, W. Kuhlmann, P. Rohs), Frankfurt/Main 1989, stw 779, p. 58-<br />

74.


-— 201 —<br />

„Gesetze“ zum Gegenstand habe, ist in <strong>der</strong> Wurzel schon verfehlt. We<strong>der</strong><br />

das nur einmalig Geschehene noch ein darüber schwebendes Allgemeines<br />

ist ihr Thema, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> faktisch existent gewesene Möglichkeit. Diese<br />

wird nicht als solche wie<strong>der</strong>holt, d.h. eigentlich historisch verstanden,<br />

wenn sie in <strong>die</strong> Blässe eines überzeitlichen Musters verkehrt wird.« 206<br />

Barash versteht <strong>die</strong> »faktisch existent gewesene Möglichkeit« daraufhin<br />

ausschließlich auf <strong>die</strong> Hinordnung zur »Wie<strong>der</strong>holung« <strong>und</strong> läßt <strong>die</strong><br />

uneigentliche Erinnerung beiseite. Die Eigentlichkeit <strong>der</strong> Erinnerung in<br />

Gestalt <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung entfernt nun Heidegger von <strong>der</strong> Position<br />

Diltheys <strong>und</strong> im geringeren Maße von Yorck. — Den Zirkelcharakter des<br />

Lebens, daß selbst Leben erschließt, beschreibt Heidegger in Blick auf<br />

Dilthey folgen<strong>der</strong>maßen: »Was sich wie Zwiespältigkeit <strong>und</strong> unsicheres,<br />

zufälliges ›Probieren‹ ausnimmt, ist <strong>die</strong> elementare Unruhe zu dem einen<br />

Ziel: das ›Leben‹ zum philosophischen Verständnis bringen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Verstehen aus dem ›Leben selbst‹ ein hermeneutisches F<strong>und</strong>ament zu<br />

sichern. Alles zentriert in <strong>der</strong> ›Psychologie‹, <strong>die</strong> das ›Leben‹ in seinem<br />

geschichtlichen Entwicklungs- <strong>und</strong> Wirkungszusammenhang verstehen<br />

soll als <strong>die</strong> Weise , in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch ist , als möglicher Gegenstand <strong>der</strong><br />

Geisteswissenschaften <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wurzel <strong>die</strong>ser Wissenschaften zumal.« 207<br />

Darin zeigt sich <strong>die</strong> Bedeutung des hermeneutischen Standpunktes<br />

Diltheys für Heidegger wie seine Gespaltenheit in Psychologie <strong>und</strong><br />

Geschichtlichkeit in ganzer Deutlichkeit. — Die Zwiespältigkeit <strong>und</strong><br />

Unsicherheit, <strong>die</strong> Heidegger anfangs beobachtet, hat formal seine Wurzel<br />

in <strong>der</strong> unvollkommenen Indifferenz Leibnizens, führt aber nicht zur<br />

Heraushebung <strong>der</strong> notwendigen Wahrheiten wie in <strong>der</strong> Theozidee. 208<br />

Heidegger wendet sich hier unvermittelt an <strong>die</strong> Lebenswelt, <strong>die</strong> er<br />

gegenüber <strong>der</strong> »Psychologie« <strong>der</strong> Daseinshermeneutik gleich als<br />

Geschichtlichkeit vorstellt, was ohne weitere Differenzierung in<br />

206 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 395. Benedikt bringt aber demgegenüber <strong>die</strong> Temporalität als<br />

nächste Konstitutionstsufe ins Spiel, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Geschichtlichkeit wie <strong>der</strong><br />

Innerzeitlichkeit vorausgesetzt sei, <strong>und</strong> zwar als »Geschicklichkeit« im Sinne von<br />

Geschick o<strong>der</strong> Schicksal o<strong>der</strong> gleich als »Seinsvernunft«; in: <strong>der</strong>selbe, Kein Ende <strong>der</strong><br />

Zukunft, Wien 1997, p. 85 f. (Pkt. 8)<br />

207 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 398<br />

208 Natürlich hat historisch gesprochen Heidegger <strong>die</strong>se Auffassung von Brentano<br />

übernommen (Vom Ursprung <strong>der</strong> sittlichen Erkenntnis,, 4 1955, p 149 ff., insbes. § 14);<br />

<strong>die</strong>ser wie<strong>der</strong>um von Herbart, doch ist bekannt (etwa durch Robert Zimmermann<br />

o<strong>der</strong> J. Barchudarian), daß Herbart in deutlicher Abhängigkeit von gewissen<br />

Leibnizianischen Konzepten gestanden hat. Noch Brentano rechnet mit <strong>der</strong> Einsicht<br />

des an sich Guten aus <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Indifferenz alltäglicher Interessen. Vgl. hiezu<br />

auch Michael Benedikt, Phil. Emp. II, Turia <strong>und</strong> Kant, Wien 1998, insbeson<strong>der</strong>e vom<br />

ersten zum dritten Kapitel)


-— 202 —<br />

»Lebenslauf« <strong>und</strong> »Geschichte«, bzw. <strong>der</strong> weiteren In-Frage-Stellung des<br />

Begriffs von Geschichte überhaupt eigentlich trotz Heideggers<br />

phänomenologische Einwände gegen Diltheys Psychologismus nur wenig<br />

an<strong>der</strong>es sagt als Diltheys Konzept eines psychologischen F<strong>und</strong>aments des<br />

Geschichtsverständnisses des eigenen Erlebens. Zweifellos geschieht <strong>die</strong><br />

Entdeckung des Geschichtsverständnisses im Zuge hermeneutischer<br />

Problemstellungen <strong>der</strong> fortschreitenden Reflexion des eigenen Daseins als<br />

Person <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Geschichtlichkeit im eigenen Lebenslauf, keineswegs<br />

aber besteht <strong>die</strong> wissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />

allein aus hermeneutischen Kategorien des Nachvollzuges des inneren<br />

Selbstverständnisses einer Epoche, sei es nun eine Epoche aus <strong>der</strong><br />

Lebensgeschichte, eine Epoche aus <strong>der</strong> Gattungsgeschichte, <strong>die</strong> in <strong>der</strong><br />

Lebensgeschichte miterlebt worden ist, o<strong>der</strong> um das nachvollziehende<br />

Verständnis des kritisch behandelten Materials aus den Projekten <strong>der</strong><br />

Geschichtswissenschaften einer Epoche, auch wenn ein solches<br />

Verständnis auch immer qualitative wie genetische Voraussetzung zu<br />

einem wissenschaftlichen Verständnis <strong>der</strong> Geschichte sein wird.<br />

Geschichte als relativ eigenständiger Horizont des Wahrheitsproblems<br />

wird zwar als Daseinsgemäßes im Zusammenhang mit dem Anspruch, <strong>die</strong><br />

Hermeneutik als Basis- <strong>und</strong> Leitwissenschaft für <strong>die</strong> Ontologie zu<br />

etablieren, entdeckt <strong>und</strong> erkannt, bezieht sich aber doch als Wissenschaft<br />

mehrfach auf Prinzipien, <strong>die</strong> nicht allein im immer individuellen Dasein<br />

f<strong>und</strong>iert sind. Die demgegenüber einseitige Ausschließlichkeit <strong>der</strong><br />

Untersuchung <strong>der</strong> Grenzziehung zwischen Psychologie <strong>und</strong> Geschichte,<br />

<strong>die</strong> Heidegger schließlich gar nicht mehr zu überschreiten sucht, wird<br />

schon in <strong>der</strong> hermeneutischen Gr<strong>und</strong>legung des Daseins in Sein <strong>und</strong> Zeit<br />

ersichtlich: »Ausarbeitung <strong>der</strong> Seinsfrage besagt demnach:<br />

Durchsichtigmachung eines Seienden — des fragenden — in seinem Sein.<br />

Das Fragen <strong>die</strong>ser Frage ist als Seins modus eines Seienden selbst von dem<br />

her wesenshaft bestimmt, wonach in ihm gefragt ist — vom Sein. Dieses<br />

Seiende, das wir selbst je sind <strong>und</strong> das unter an<strong>der</strong>em <strong>die</strong> Seinsmöglichkeit<br />

des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein .« 209 Das Erstaunliche<br />

daran wird erst im Zuge <strong>der</strong> Weiterbewegung des Gedankenganges klar:<br />

Das Daseinde ist ein Seiendes, vermag als Seiendes aber doch ein<br />

hermeneutisch sowohl als gattungsgemäßes Innenverhältnis wie<br />

individuell als Selbst-Verständnis geklärtes Dasein zum Sein in ein<br />

mittelbares Verhältnis zu bringen. — Diese Intentionsrichtung steht<br />

209 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 7


-— 203 —<br />

(insofern ähnlich wie <strong>die</strong> transzendentalanalytische Methode) im<br />

Gegensatz zur Auffassung <strong>der</strong> Unmittelbarkeit des primären<br />

Gegenstandes (äußerer) Erfahrung in <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus bei<br />

Kant (ebenso zur primären Intentionalität Brentanos) <strong>und</strong> gehört wohl zu<br />

den beson<strong>der</strong>s interessanten Wendungen Heideggers, wenngleich <strong>die</strong><br />

damit aufgeworfenen Schwierigkeiten nicht wirklich einer Lösung<br />

zugeführt werden.<br />

Heidegger dürfte das bloße Vorhandensein des immer nur innerweltlich<br />

Seienden in Sein <strong>und</strong> Zeit noch ohne kategoriale Bestimmung gedacht<br />

haben; erst das (technisch-) praktisch zugängliche Zuhandene soll in einer<br />

kategorialen Bestimmung zum Was eines Soseienden bestimmt werden. 210<br />

In »Zeit <strong>und</strong> Sein« (zweiter Teil <strong>der</strong> »Gr<strong>und</strong>züge <strong>der</strong> Phänomenologie«,<br />

GA, Bd. 24) wird dann aber doch das Vorhandene als Sachhaltiges <strong>der</strong><br />

realen Möglichkeit einer Bestimmung <strong>der</strong> Washeit unterzogen. Barash hält<br />

den Zirkel <strong>der</strong> Seinsfrage, <strong>die</strong> das Sein des Fragenden voraussetzt, nicht<br />

für einen logischen Zirkel »im Beweis«, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>ser Zirkel sei<br />

unentrinnbar, weil er <strong>die</strong> »existenziale Vor-Struktur des Daseins selbst«<br />

ausdrückt. 211 Darin liege eben das hermeneutische F<strong>und</strong>ament <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Verb<strong>und</strong>enheit mit dem Diltheyschen Ansatz des<br />

Geschichtsverständnisses. — »Freilich bietet Dilthey keine hermeneutische<br />

Ontologie, son<strong>der</strong>n eine hermeneutische Anthropologie.« (p. 65)<br />

Yorck weist schon den Zusammenhang <strong>der</strong> Geschichtsauffassung Diltheys<br />

mit dem Kraftbegriff zurück. (p. 66) Das Verfahren des Vergleiches, das als<br />

Methode <strong>der</strong> Geisteswissenschaften in Anspruch genommen wird, ist<br />

ästhetisch <strong>und</strong> bezieht sich auf <strong>die</strong> Gestalt. Der Begriff des Dilthey‘schen<br />

210 Carl Friedrich Gethmann, Heideggers Wahrheitskonzept in seinen Marburger<br />

Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von Sein <strong>und</strong> Zeit (§ 44), in: Martin Heidegger:<br />

Innen- <strong>und</strong> Außenansichten, cit. op.. Das Konzept <strong>der</strong> »Ausweisung« <strong>der</strong><br />

Richtigkeit <strong>der</strong> Intentionalität sei aber nach Heidegger kein Akt des Schauens,<br />

son<strong>der</strong>n ein Akt des Sich-Verstehens-auf-etwas — das wäre in <strong>die</strong>ser pragmatischen<br />

Form bloß <strong>die</strong> Reduktion <strong>der</strong> Akteinheit auf ein für <strong>die</strong> Wahrheitsfrage sek<strong>und</strong>äres<br />

Moment <strong>der</strong>selben, sollte bloß <strong>die</strong>se Definition <strong>der</strong> »Ausweisung« zur<br />

Unterscheidung von <strong>der</strong> sinnlichen Anschauung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Sinnerfüllung <strong>der</strong> Intention<br />

<strong>die</strong>nen. Jedoch: »Für Heidegger ist daher <strong>der</strong> Übergang vom f<strong>und</strong>ierenden Modus<br />

<strong>der</strong> Anschauung zum f<strong>und</strong>ierten Modus <strong>der</strong> Aussagewahrheit umzuinterpretieren<br />

als „Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken“. (Sein <strong>und</strong><br />

Zeit, p. 360) Dieser Umschlag ist das entscheidende Moment <strong>der</strong> „ontologischen<br />

Genesis“ <strong>der</strong> Aussage, <strong>die</strong> Heidegger Husserls „Genealogie <strong>der</strong> Logik“<br />

entgegenstellt. Diese ontologische Genesis verläuft — wie bei Heidegger allgemein —<br />

als methodische Bewegung von einem eminenten zu einem defizienten Modus.«<br />

(p. 113), Vgl. hier Kap. 14<br />

211 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 153


-— 204 —<br />

Typus ist aber als ein innerlicher ein Begriff des Charakters. Dieser stehe<br />

im Zusammenhang mit dem Begriff <strong>der</strong> Kraft, aber nicht mit <strong>der</strong><br />

Vergleichung von Gestalten. 212 Heidegger stellt aber überhaupt <strong>die</strong><br />

Ursprünglichkeit des Unterschiedes von Natur <strong>und</strong> Geschichte (auch bei<br />

Humboldt, Hegel, Ranke) in Frage. Diese Unterschiede sollen sich nämlich<br />

auf <strong>die</strong> „tieferliegende“ Einheit des Daseinsverständnisses zurückführen<br />

lassen. (p. 69) — Das bringt jedoch für Heidegger nur das Dasein als<br />

Seiendes wie<strong>der</strong> ins Blickfeld <strong>der</strong> Überlegung, d. h. dann schon als »etwas«<br />

<strong>und</strong> selbst als innerweltliche Vorhandenheit Behandelbares <strong>und</strong> nicht als<br />

das Seiende, welches als Dasein <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie erst<br />

hermeneutisch zu begründen versucht. Das Seiende als immer völlig ins<br />

Innerweltliche zu Verschränkende jedoch ist dann freilich nur ontisch zu<br />

verstehen möglich, gleich sei es Natur o<strong>der</strong> Geschichte.<br />

Heidegger greift <strong>die</strong> Unterscheidung Diltheys <strong>der</strong> Geisteswissenschaften<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Naturwissenschaften anhand <strong>der</strong> „Methode“ des »Verstehens«<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> „Methode“ <strong>der</strong> »Erklärung« auf, <strong>und</strong> unterscheidet Geistes- <strong>und</strong><br />

Naturgeschichte von <strong>der</strong> Geschichtlichkeit als Seinsmodus des Daseins,<br />

doch wird daraus keine Lösung <strong>der</strong> Beschränktheit des Geschichtlichen<br />

aus dem Bereich <strong>der</strong> ontischen Innerweltlichkeit gewonnen: »Der<br />

eigentliche Sinn <strong>der</strong> Geschichte ist nicht aus dem Bereich objektiver<br />

Wirkungszusammenhänge — Zusammenhänge <strong>der</strong> Tatsachen, <strong>der</strong><br />

„Kulturwerte“ (Rickert) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> geistigen Erwerbungen <strong>der</strong><br />

Lebenserfahrung (Dilthey) — abzulesen. Für Heidegger bezeichnen <strong>die</strong><br />

objektiven Wirkzusammenhänge <strong>der</strong> Weltgeschichte vielmehr den Bereich,<br />

in den das Dasein zunächst <strong>und</strong> zumeist seine Zuflucht nimmt, um vor<br />

dem endlichen Sinn seines je eigenen Seins auszuweichen.« (p. 69) Der<br />

Sinn <strong>der</strong> Geschichte liege dann wie<strong>der</strong> ekstatisch in <strong>der</strong> augenblicklichen<br />

Aneignungsweise des Gewesenen im Hinblick auf ihre Wie<strong>der</strong>holung in<br />

<strong>der</strong> Zukunft <strong>und</strong> nicht in einer objektiven <strong>und</strong> allgemeingültigen<br />

Bedeutung vergangener Epochen. — Damit kehrt Heidegger von <strong>der</strong><br />

ontologischen Frage nach <strong>der</strong> Geschichte über <strong>die</strong> Hermeneutik wie<strong>der</strong> zu<br />

<strong>der</strong> hermeneutischen Fragestellung <strong>der</strong> Ontik des Daseins zurück.<br />

Keinesweg kann daraus eine vollständige <strong>und</strong> systematische Gr<strong>und</strong>legung<br />

<strong>der</strong> Geschichte als Wissenschaft o<strong>der</strong> Geschichtsphilosophie ersehen<br />

werden. Heidegger kehrt nicht nur Dilthey son<strong>der</strong>n den<br />

Geschichtswissenschaften insgesamt den Rücken, wenn er das<br />

212 Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 399, vgl. auch Michael Benedikt, Kein Ende <strong>der</strong> Zukunft, Turia <strong>und</strong><br />

Kant Wien 1997, Kap. IV, p. 79 ff..


-— 205 —<br />

Geschichtliche gänzlich im Dasein <strong>und</strong> nicht auch im Gattungswesen<br />

f<strong>und</strong>iert. Heideggers hermeneutische Geschichtsauffassung ist letztlich<br />

viel eher an Nietzsche orientiert als an Dilthey, <strong>der</strong> zumindest eine, wenn<br />

auch schwierig zugängliche „Objektivität“ in den Symbolen <strong>der</strong><br />

erlebnismäßigen Einheit für vergangene Epochen voraussetzt, <strong>die</strong> für uns<br />

entschlüsselbar wäre (p. 70). — Es gibt <strong>die</strong>se Freiheit <strong>der</strong><br />

Auslegungsmöglichkeit des Vergangenen auf das Zukünftige hin (so schon<br />

bei Kant, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschichtsschreibung empfiehlt, sich an <strong>die</strong> Geschichte<br />

<strong>der</strong> Revolutionen <strong>der</strong> Denkungsart zu halten), nur führt das nicht zu einer<br />

Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, auch nicht sofort zu einer<br />

Philosophie <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, son<strong>der</strong>n immer nur zu einer In-<br />

Dienst-Stellung <strong>der</strong> Geschichte des heroisch zum Eigentlichen des Seins<br />

vorstoßenden Daseins. 213 Heideggers indirektes Geständnis inmitten seines<br />

hermeneutischen Ansatzes, daß das Dasein vor <strong>der</strong> Endlichkeit seines je<br />

eigenen Seins in <strong>die</strong> Weltgeschichte flüchtet, ist als Indiz zu werten, daß<br />

Heidegger das ontisch-hermeneutische Konzept des Daseins, das ohne<br />

Seiendes, das selbst allerdings nicht nur mittels des Selbstverständnisses<br />

bestimmt werden kann, nichts ist, schon seit Anfang an als<br />

Absprungsbasis aus <strong>der</strong> Subjektivität des Daseins in Stellung bringt. So hat<br />

213 Heidegger reproduziert also <strong>die</strong> im Rahmen <strong>der</strong> anthroposophischen Bewegung<br />

Rudolf Steiners von Stein (einem Wiener Mathematik- <strong>und</strong> Geographieprofessor)<br />

wie<strong>der</strong> aufgenommene scholastische Geschichtsvorstellung. Anhand <strong>der</strong> Deutung<br />

<strong>der</strong> Gralssage in <strong>der</strong> Fassung von Wolfram von Eschenbach durch Stein, <strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Geschehnisse im von ihm vorgestellten Kampf eines deutschen Christentums mit<br />

dem römischen Christentum im neunten Jahrh<strong>und</strong>ert mit Vorgängen während <strong>der</strong><br />

Völkerwan<strong>der</strong>ung (<strong>der</strong> veranschlagte Ursprung <strong>der</strong> Gralssage), aber auch im 13. Jhdt.<br />

zur Zeit von Wolfram von Eschenbach nach ein <strong>und</strong> den selben Handlungsmuster<br />

interpretiert, spannt Steiner <strong>die</strong> Erscheinung des Doppelgängers historisch ab, indem<br />

er das spätmittelalterliche Geschichtskonzept von Joachim von Fiori <strong>und</strong><br />

Nostradamus in <strong>der</strong> bekannten Form wie<strong>der</strong>belebt: Da <strong>die</strong> Geschichte aus <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>holung einiger wesentlichen Gr<strong>und</strong>konstellationen besteht, sei in je<strong>der</strong><br />

Epoche genau <strong>die</strong> analoge Situation zu finden, in welcher man sich gerade selbst<br />

befindet; <strong>der</strong>art ist <strong>der</strong> Doppelgänger dann jene historische Person, welche in <strong>der</strong><br />

»Geschichte« ihrer Epoche <strong>die</strong> gleiche Position einnimmt, <strong>die</strong> man selbst in <strong>der</strong><br />

Geschichte <strong>der</strong> heutigen Epoche einnimmt. Dabei ist hier unter »Geschichte« ein<br />

dramatisches Gefüge von aufeinan<strong>der</strong> bezogen handelner Personen zu verstehen, <strong>die</strong><br />

auch anhand des Zieles miteinan<strong>der</strong> verglichen werden können. Ziele <strong>die</strong>ser Art<br />

wären <strong>der</strong> Kampf um das wahre Christentum, <strong>der</strong> Kampf des Christentums gegen<br />

den Islam <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Kampf des Christentums gegen das Judentum. Später<br />

kommen rassistisch-nationale Ideen (<strong>der</strong> Kampf gegen den Osten: Türkei, Russland);<br />

o<strong>der</strong> politische Ideen (Kampf gegen den westlichen Kapitalismus, gegen den Bolschewismus)<br />

rein zum Ausdruck. Dabei wird das Prinzip <strong>der</strong> Eigenverantwortung so<br />

weit getrieben, daß außerhalb <strong>der</strong> Kampf- <strong>und</strong> Zeugungsgemeinschaft we<strong>der</strong> das<br />

Verantwortung-Übernehmen-für-an<strong>der</strong>e noch das In-<strong>der</strong>-Verantwortung-einesan<strong>der</strong>en-Stehen<br />

für das Individuum mehr als wesentlich erkannt werden kann. Die<br />

Selbstverpflichtung gegenüber seinen Reinkarnationen in <strong>der</strong> Kampfgemeinschaft<br />

hat dann schon das Netz <strong>der</strong> wirklichen sozialen Bezüge ersetzt.


-— 206 —<br />

er in Sein <strong>und</strong> Zeit im Rahmen <strong>der</strong> methodischen Unterscheidung Diltheys<br />

in Naturwissenschaft <strong>und</strong> in Geisteswissenschaft letztere durch <strong>die</strong><br />

Projektion des ontischen Geschichtsverständnisses auf <strong>die</strong> Weltgeschichte<br />

ursupiert (was immerhin noch als ekstatisch angesehen werden kann),<br />

dortselbst aber auch <strong>die</strong> durch Messung objektivierbare Zeit in eine<br />

einseitige Beziehung zum Ontischen unter Ausschluß <strong>der</strong> objektiven<br />

Realität gebracht. Nun sahen wir im vorangehenden Kapitel im Spätwerk<br />

(Vom Ereignis) eine völlige Reontologisierung <strong>der</strong> Terminologie, <strong>die</strong><br />

ursprünglich am subjektiven Dasein als (f<strong>und</strong>amental-) ontologische<br />

Begrifflichkeit <strong>der</strong> Ontik gewonnen worden ist. Was den Geschichtsbegriff<br />

angeht, hat Heidegger <strong>die</strong>sen zuerst in seiner Eigentlichkeit als ontisch<br />

bestimmt, nur um im Anschluß daran <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Geschichtsbegriffe im<br />

Zuge <strong>der</strong> Flucht aus <strong>der</strong> Innerweltlichkeit mit eben <strong>die</strong>ser Innerweltlichkeit<br />

ekstatisch zu überwältigen. Was den Begriff von Naturwissenschaft<br />

angeht, be<strong>die</strong>nt sich Heidegger offensichtlich genau <strong>der</strong> spiegelbildlich<br />

entgegengesetzten Strategie: Noch in Sein <strong>und</strong> Zeit läßt er <strong>die</strong> ontologisch<br />

selbstständigen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> messbaren Zeit im Ontischen<br />

verschwinden, nur um später unter Beibehaltung <strong>der</strong> ontischen<br />

Begrifflichkeit <strong>die</strong> Innerweltlichkeit auszustreichen <strong>und</strong> den Raum im Zeit-<br />

Raum <strong>der</strong> Ankündigung eines Ereignisses zu f<strong>und</strong>ieren. Die Darstellung<br />

ist als solche zwar nicht uninteressant, zur Überwindung <strong>der</strong><br />

transzendentalen Differenz in Erkenntnisfragen reicht <strong>die</strong>se Strategie aber<br />

beiweitem nicht aus. Kant hat sich in <strong>die</strong>ser Frage schon vor <strong>der</strong><br />

transzendentalen Ästhetik <strong>der</strong> ersten Kritik klarer ausgedrückt, als er den<br />

Raum als das Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart bezeichnet hat. Heidegger vermag<br />

mit seiner transzendentalphilosophisch problematischen Darstellung dem<br />

bloß »räumigen« Seinshorizont, <strong>die</strong> er dem Konzept <strong>der</strong> Anwesenheit<br />

abgewinnt, seine innere Tendenz zur Hervorbringung bzw. des Zur-<br />

Erscheinung-Bringens, also eine ihm innewohnende zeitliche Tendenz<br />

beizubringen, dringt dabei aber nur bis zur Grenze einer dynamischen<br />

Erklärung auf Kosten des Zugleichseins vor, während Kant mit seiner<br />

frühen Formulierung vom Raum als das Gefühl <strong>der</strong> Allgegenwart nicht<br />

nur dem Raum als »Räumlichkeit« in toto sowohl <strong>die</strong> Möglichkeit von<br />

Gegenwärtigem sowie <strong>die</strong> Möglichkeit von Zugleichsein gibt, son<strong>der</strong>n<br />

noch <strong>die</strong> transzendentale Einbildungskraft — bemerkenswerterweise als<br />

Gefühl beschrieben — eine eindeutige Entscheidung hinsichtlich<br />

ontologischer Fragestellungen über den Raum garantiert, bevor ein System<br />

von Wechselwirkungen das Zugleichsein des Raumes als objektive Realität<br />

zu beurteilen erlaubt.


-— 207 —<br />

16) Dasein <strong>und</strong> reale Objektivität.<br />

Heidegger: Die Gr<strong>und</strong>probleme <strong>der</strong> Phänomenologie<br />

MartinHeidegger, Gr<strong>und</strong>probleme <strong>der</strong> Phänomenologie (GA, Bd. 24)<br />

a) Die Stellung <strong>der</strong> »Intellection« in <strong>der</strong> Lehre von <strong>der</strong> Intentionalität<br />

Heidegger diskutiert im ersten Kapitel (§ 7) <strong>die</strong> These Kants: »Sein ist kein<br />

reales Prädikat« einmal nach dem »Beweisgr<strong>und</strong> Gottes« (1763), <strong>und</strong><br />

einmal nach K.r.V. (1781): transzendentale Logik, Von <strong>der</strong> Unmöglichkeit<br />

eines ontologischen Beweises Gottes (B 620 ff.). Der Daseinsbegriff Kants<br />

ist in <strong>der</strong> Tat verschieden von dem Heideggers <strong>und</strong> ist auch gemäß <strong>der</strong><br />

primären Intentionalität zuerst <strong>und</strong> zunächst auf das Objekt gerichtet.<br />

Kant versteht meiner Auffassung nach das Dasein trotzdem nicht nur aus<br />

<strong>der</strong> Vorhandenheit wie Heidegger (S. 37) glaubt, son<strong>der</strong>n bedenkt immer<br />

schon das subjektive Verhältnis zum Objekt <strong>und</strong> liefert <strong>der</strong>art eine präzise<br />

Charakteristik <strong>der</strong> Seinsweise physikalischer Objekte in ihrem<br />

Gegebensein für uns. Die Wahrgenommenheit als Charakteristik von<br />

Existenz <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Weise des Seins des<br />

Seienden wie auch als Gr<strong>und</strong>lage (Unterlage) des möglichen Wasseins ist<br />

eben nicht nur <strong>die</strong> Angelegenheit <strong>der</strong> Einbildungskraft (Eidos), son<strong>der</strong>n<br />

bei Kant auch eine <strong>der</strong> »Intellection« (Genus).<br />

So wird von Kant noch zwischen subjektiver <strong>und</strong> objektiver Einheit des<br />

Bewußtseins (§§ 18-19) analog zur Unterscheidung in subjektive <strong>und</strong><br />

objektive Realität anhand <strong>der</strong> Intellection (vom hypothetischen Urteil zum<br />

kategorischen Urteil) unterschieden, was hier noch als einziger Gr<strong>und</strong> zu<br />

verstehen ist, <strong>der</strong> zu allgemeinen Prinzipien führt. Einbildungskraft <strong>und</strong><br />

Verstandesgebrauch werden im § 24 <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion<br />

zuerst korrekt gemäß dem Verhältnis von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Vernunftideen<br />

zum Verstand als <strong>die</strong> transzendentale Funktion von synthesis speciosa<br />

einerseits <strong>und</strong> <strong>die</strong> transzendentale Funktion <strong>der</strong> synthesis intellectualis<br />

an<strong>der</strong>erseits vorgestellt, bevor <strong>die</strong> Selbstzensur Kants auf Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

methodischen Entscheidung im Paralogismus zwischen »synthetischmetaphysischem«<br />

<strong>und</strong> »transzendentalanalytischem« Verfahren<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich behauptet, das ursprüngliche Verhältnis von Verstand <strong>und</strong><br />

innerer Sinn sei keines <strong>der</strong> Einbildungskraft <strong>und</strong> selbst nicht synthetisch.<br />

Offenbar ist <strong>die</strong> Grenzziehung zwischen Verstand <strong>und</strong> Einbildungskraft<br />

für Kant zum Problem geworden. 214 — Die Intellection selbst ist ein<br />

214 Vgl. hier im dritten Abschnitt, Kap. 4, § 20.


-— 208 —<br />

Konzept, daß schon im Duisburger Nachlaß zur Bestimmung <strong>der</strong><br />

Vollständigkeit <strong>der</strong> Erfahrung verwendet worden ist, 215 <strong>und</strong> von Kant<br />

sicherlich mit einiger systematischen Bedachtheit den Schematismen <strong>der</strong><br />

Einbildungskraft schon im metaphysischen Abschnitt <strong>der</strong> Deduktion mit<br />

dem reinen Verstandesbegriff vorangestellt worden ist.<br />

Die Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft ist zuerst eine Kritik <strong>der</strong> rationalen<br />

Metaphysik, um solche Vernunftprinzipien aufzufinden, welche <strong>die</strong><br />

Möglichkeiten, Erfahrung zu machen, sowohl methodisch bestimmt wie<br />

systematisch erweitert. Modallogisch wird nach einer Entscheidung über<br />

<strong>die</strong> Geltung von Sätzen, <strong>die</strong> kontingente Wahrheit aussagen, verlangt, was<br />

<strong>die</strong> rationale Metaphysik sowenig wie <strong>die</strong> aristotelische Scholastik über<br />

<strong>der</strong>en bloße Bestimmung als Mögliches zwischen Unmögliches <strong>und</strong><br />

Notwendiges zu leisten imstande war. Hier kommt <strong>die</strong> Einbildungskraft<br />

ins Spiel; zuerst, um <strong>die</strong> empirischen Sinnlichkeit einer Regel zu<br />

unterwerfen, dann, um <strong>die</strong> Schematen von empirischer <strong>und</strong> reiner<br />

Einbildungskraft zusammenzufügen, als transzendentale<br />

Einbildungskraft. Ob nun <strong>der</strong> transzendentale Schematismus das einzige<br />

Produkt <strong>der</strong> transzendentalen Einbildungskraft im inneren Sinn ist o<strong>der</strong> ob<br />

<strong>die</strong> transzendentale Einbildungskraft uns das sinnlich gegebene <strong>und</strong> auch<br />

wahrgenommene Objekt erst als wirklichen Gegenstand vorstellen kann,<br />

<strong>der</strong> Zielpunkt <strong>der</strong> Untersuchung (<strong>der</strong> logische Leitfaden) ist <strong>die</strong><br />

Beantwortung <strong>der</strong> Frage, wie aus Erfahrung überhaupt Erkenntnis werden<br />

kann.<br />

Die Intellection steht nun in <strong>der</strong> ersten Kritik bereits im Rahmen einer<br />

transzendentalen Reflexion, <strong>und</strong> zwar in <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion<br />

<strong>der</strong> Kategorien, <strong>und</strong> das hat meines Erachtens zur Folge, daß sich <strong>die</strong><br />

Stellung <strong>der</strong> Intellection zum Argument aus <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />

(Apprehension <strong>und</strong> Konstruktion) zwischen Duisburger Nachlaß 216 <strong>und</strong><br />

erster Kritik geän<strong>der</strong>t hat, auch wenn Kant weiterhin auf <strong>die</strong> Überlegenheit<br />

des Verstandesbegriffes beharrt. Diese Verschiebung besteht darin, daß <strong>die</strong><br />

Konstruktion aus dem Duisburger Nachlaß in <strong>der</strong> ersten Kritik aufrückt<br />

zum transzendentalen Schematismus, in welchem Verstand <strong>und</strong><br />

Sinnlichkeit zusammen <strong>die</strong> Bedingung zur Erkenntnis ausmachen — <strong>und</strong><br />

nicht nur »vermittelt« werden, wie oftmals auch von Kant verkürzt gesagt<br />

215 Und zwar anhand <strong>der</strong> Proportion von Prinzip, Eigentümlichkeit des Gegebenen <strong>und</strong><br />

dem Exponenten, <strong>der</strong> das Prinzip für das Gegebene <strong>und</strong> das Gegebene für das<br />

Prinzip tauglich macht. Vgl. hier den dritten Abschnitt, §§ 16-19<br />

216 Refl. 4683, AA XVII, p. 670. Der Duisburger Nachlaß wird im dritten Abschnitt, 3.<br />

Kap. näher behandelt.


-— 209 —<br />

wird. Darin unterscheidet sich Kant gerade von je<strong>der</strong> Tradition, <strong>und</strong><br />

interpretiert selbst <strong>die</strong> Grenzen von essentia <strong>und</strong> existentia einerseits <strong>und</strong><br />

von res cogitans <strong>und</strong> res extensa an<strong>der</strong>erseits neu. Schließlich dürfte<br />

Heidegger übersehen haben, daß Kant <strong>die</strong> Methode <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Analytik aus den Paralogismen bestimmt, wo nicht nur geleugnet wird,<br />

daß das Ich ein etwas (res) sein könne (was Heidegger immerhin an<br />

gegebener Stelle einsieht) son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong> empirische Bedingung des »Ich<br />

denke« im inneren Sinn keinerlei Merkmale für eine Gegenstands- o<strong>der</strong><br />

Objektbestimmung an sich hat <strong>und</strong> so nicht <strong>die</strong> Seinsweise von Seienden<br />

aussagt.<br />

Heidegger hingegen behauptet hier schlichtweg das Dasein als ein<br />

Seiendes, wenn auch nicht von <strong>der</strong> Art o<strong>der</strong> Seinsweise <strong>der</strong><br />

Vorhandenheit, während er dem Daseinsbegriff von Kant gänzlich<br />

abspricht, schon in <strong>der</strong> Affinität (ordo naturalis) von Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />

zu stehen, <strong>und</strong> ihm dabei aber <strong>die</strong> Vorhandenheit als einziges Konzept des<br />

Daseinsbegriffes unterschiebt (p. 37). Heidegger erkennt zwar an, daß <strong>der</strong><br />

Realitätsbegriff Kantens an<strong>der</strong>s ist als <strong>der</strong> heutige Sprachgebrauch: da<br />

bedeute Realität soviel wie »Wirklichkeit, Existenz o<strong>der</strong> Dasein im Sinne<br />

von Vorhandenheit« (p. 37). Er verkennt aber, daß Kant eben schon <strong>die</strong><br />

Realität einmal zur Bezeichnung von Existenz <strong>und</strong> Dasein (noch im<br />

Bewußtsein <strong>der</strong> subjektiven Realität), einmal zur Bezeichnung von<br />

Vorhandenheit (anschauende Vorstellung), <strong>und</strong> einmal zur Bezeichnung<br />

von Wirklichkeit (Wechselwirkung o<strong>der</strong> Erfahrungsurteil) verwendet. —<br />

Heidegger übersieht das modallogische Argument Kantens <strong>und</strong> hält<br />

dessen Realitätsbegriff fälschlicherweise für ident mit dem scholastischen<br />

(thomistischen) Realitätsbegriff. Heidegger bespricht den ontologischen<br />

Gottesbeweis bei Kant unter <strong>der</strong> Voraussetzung, Kant hätte hier einen<br />

Existenzbegriff im Sinne <strong>der</strong> Vorhandenheit (qua Dasein) vorausgesetzt!<br />

(l. c.)<br />

Dabei möchte ich mich <strong>der</strong> vorangehenden Überlegung Heideggers<br />

anschließen können: »Wir sind jeweils ein Dasein. Dieses Seiende, das<br />

Dasein, hat wie jedes eine spezifische Seinsweise. Die Seinsweise des<br />

Daseins bestimmen wir terminologisch als Existenz, wobei zu bemerken<br />

ist, daß Existenz o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Rede: das Dasein existiert, nicht <strong>die</strong> einzige<br />

Bestimmung <strong>der</strong> Seinsart unser selbst ist. Wir werden eine dreifache<br />

kennenlernen, <strong>die</strong> allerdings in einem spezifischen Sinne in <strong>der</strong> Existenz<br />

verwurzelt ist.« (S. 36 f.) Hier wird Existenz schließlich als<br />

gleichbedeutend mit subjektiver wie mit objektiver Realität in Aussicht


-— 210 —<br />

gestellt. Wenn Heidegger allerdings fortfährt, Kant <strong>und</strong> <strong>die</strong> Scholastik<br />

einfach darin zu identifizieren, als daß sie <strong>die</strong> Existenz allein aus <strong>der</strong><br />

Seinsweise <strong>der</strong> Naturdinge bestimmt hätten, so hat hier schon eine<br />

verkürzende Vereinfachung den Blick auf <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Zusammenhänge <strong>der</strong> scholastischen Aristoteles-Rezeption verstellt, <strong>die</strong><br />

Heidegger bekannt gewesen sein müssen. — Trotzdem vermag mit<br />

Heidegger gelten, daß »nicht alles Seiende ein Vorhandenes, aber auch<br />

nicht alles Nichtvorhandene [...] auch schon Nichtseiendes [bedeute],<br />

son<strong>der</strong>n kann existieren o<strong>der</strong>, wie wir noch sehen werden, bestehen o<strong>der</strong><br />

von an<strong>der</strong>er Seinsart sein.« (p. 37) Wie allerdings daraus Heidegger<br />

schlußfolgern zu können glaubt, <strong>die</strong> Frage nach dem Dasein Gottes würde<br />

von Kant mit ontologischer Relevanz nach dem Modus des innerweltlich<br />

Vorhandenen behandelt, wird wohl sein Geheimnis bleiben.<br />

b) Der ontologische Gottesbeweis<br />

Heidegger behandelt <strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legungen des ontologischen<br />

Gottesbeweises durch Thomas von Aquin (p. 40 f.) (Kommentar zu den<br />

Sentenzen des Lombardus, Summa theologica, Summa contra gentiles, De<br />

veritate). Der ontologische Gottesbeweis scheitere daran, daß wir <strong>die</strong><br />

Quidditas (Washeit, Wesen) Gottes nicht mit seinem Begriff kennen. —<br />

Einwand: Könnte nicht <strong>der</strong> Nachweis eines höchsten Wesens, gleich<br />

welcher Natur o<strong>der</strong> ratio, gelingen? Thomas bestreitet nämlich nicht <strong>die</strong><br />

Notwendigkeit, daß das Seinsprädikat im vollkommenen Subjektbegriff<br />

enthalten sein muß, er bestreitet nur wegen <strong>der</strong> unvollkommenen<br />

qualitativen Bestimmung unseres Begriffes, daß <strong>die</strong>ses wesentliche<br />

Prädikat (o<strong>der</strong> <strong>die</strong> göttlichen Attribute) aus dem Subjektbegriff<br />

heraushebbar <strong>und</strong> für uns (ohne Offenbarung) erkennbar ist. Der<br />

vollkommene Begriff ist uns eben noch nicht damit selbst bekannt, auch<br />

wenn wir glauben sollten, seine modallogische Bestimmung aus <strong>der</strong><br />

abstrakten logischen Totalität ableiten zu können.<br />

Hingegen Kant: Dergleichen wie Dasein <strong>und</strong> Existenz gehören überhaupt<br />

nicht zur Bestimmtheit eines Begriffes. (p. 42) Wenn nun Kant sagen kann,<br />

Sein ist bloß <strong>die</strong> Position eines Dinges o<strong>der</strong> gewisser Bestimmungen an<br />

sich selbst, <strong>und</strong> so, wie Heidegger bemerkt, zwischen Sein überhaupt <strong>und</strong><br />

Dasein zunächst nicht unterschieden wird (p. 43), so ist das doch eher ein<br />

Indiz für meine Auffassung über das Seinsprädikat, welches gerade nicht<br />

ausschließlich von <strong>der</strong> Vorhandenheit ausgeht, son<strong>der</strong>n nur einen Vorrang<br />

<strong>der</strong> primären Intentionalität als ursprünglich ersteres (früheres) im Gang


-— 211 —<br />

<strong>der</strong> Analyse hergibt. Daß Kant den Ausdruck »objektive Realität« mit dem<br />

Begriff vom »Dasein« ident setze (p. 45), ist ein bezeichnendes Beispiel für<br />

Heideggers Verkürzungen, <strong>die</strong> mit Destruktion als phänomenologische<br />

Methode nichts zu tun haben: Richtig ist vielmehr, daß Kant den Begriff<br />

von <strong>der</strong> objektiven Realität unbedingt als mit dem Begriff des Daseins wie<br />

auch mit dem Begriff dessen, was Heidegger das Vorhandene nennt,<br />

vereinbar denkt; daß hat mit logischer Identität (hier als Identität des<br />

Begriffsinhalts) nichts zu tun, son<strong>der</strong>n ist durch Äquipollenz zweier<br />

verschiedener Begriffe (gleicher Umfang möglicher Gegenstände bei<br />

inhaltlicher Verschiedenheit <strong>der</strong> bestimmenden Merkmale) formal zu<br />

beschreiben. Kant hat gar keinen allgemein <strong>der</strong> Washeit nach<br />

bestimmbaren Daseinsbegriff, <strong>der</strong> auf ein bestimmtes Konzept von<br />

vorneherein festgelegt wäre, son<strong>der</strong>n gebraucht <strong>die</strong>sen Begriff sowohl für<br />

<strong>die</strong> Existenz von Naturgegenstände wie für das Dasein des urteilenden<br />

Subjekts. Existenz wird offensichtlich wie <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Realität<br />

überhaupt gebraucht, bevor ersterer mit letzterer zur objektiven Realität<br />

bestimmt werden soll.<br />

c) prototypon transcendentale<br />

Omnitudo realitatis als Möglichkeit <strong>der</strong> Sachbestimmtheit (gemäß <strong>der</strong><br />

Realität als Sachbestimmtheit <strong>der</strong> res als ontologisch verstandenes Prinzip<br />

<strong>der</strong> durchgängigen Bestimmung) scheint nur ein <strong>der</strong> Sache nach möglicher<br />

Gedankengang zu sein (p. 45); vielmehr gibt es einige Hinweise, daß Kant<br />

damit <strong>die</strong> Kompossibilität überhaupt in ihrer formalen Totalität <strong>der</strong><br />

Möglichkeiten nach verstanden hat. Jedoch stellt Kant in seinem Kapitel<br />

zum prototypon transcendentale <strong>die</strong> omnitudo realitatis zuerst als Allheit<br />

(eingeschränkte Vielheit) <strong>und</strong> letztendlich auch in <strong>der</strong> Definition des<br />

transzendentalen Ideals als entschränkte Allheit <strong>der</strong> Prädikate vor, <strong>die</strong> aber<br />

da wie dort zur durchgängigen Bestimmung eines Dinges (eines Wesens)<br />

erst einzuschränken ist. Gleichviel: Heideggers Gedankengang würde eher<br />

auf <strong>die</strong> Exponation <strong>der</strong> transzendentalen Materie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vielheit aller<br />

möglicher Prädikate überhaupt ohne Selektionsregel (als ein Prinzip <strong>der</strong><br />

durchgängigen Bestimmbarkeit) passen, denn letztenendens führt erst <strong>die</strong><br />

Einschränkung <strong>der</strong> Vielheit zur Allheit. 217<br />

Ens realissimum bedeutet nach Heidegger nicht Wirklichkeit vom<br />

höchsten Grade <strong>der</strong> Wirklichkeit (vgl. etwa den Einwand Kierkegaards in<br />

217 Vgl. hier § 9 im 2. Kapitel des dritten Abschnittes


-— 212 —<br />

den Philosophischen Brocken), 218 son<strong>der</strong>n das Wesen des größtmöglichen<br />

Sachgehaltes: das Wesen, dem keine positive Sachbestimmung fehlt. (S. 49)<br />

— Auch <strong>die</strong>ser Darstellung scheint auf den ersten Blick einiges<br />

abgewinnen zu sein, doch bleibt mit <strong>die</strong>ser Interpretation <strong>die</strong> Frage offen,<br />

wie dazu das Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft, <strong>die</strong> Allgemeinheit <strong>der</strong><br />

Wesensbestimmung, welche durch Ausschluß aller nicht<br />

wesensnotwendigen Prädikate (<strong>die</strong> aus an<strong>der</strong>en Prädikaten abgeleitet<br />

worden sind) zu denken sein soll, in ein verständliches Verhältnis gebracht<br />

werden kann. Heidegger hätte den »Beweisgr<strong>und</strong> Gottes« von 1763<br />

genauer lesen sollen, wo Kant ausdrücklich nicht alle möglichen<br />

Bestimmungen im ens realissimum versammelt wissen will. Im prototypon<br />

transcendentale wird eben genau das gemeinsam zu denken aufgegeben,<br />

was Heidegger zuvor treffend in <strong>der</strong> kategorialen Bestimmung<br />

auseinan<strong>der</strong>hält: Realität als Qualität, Existenz, Dasein <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />

als Modalität. Das prototypon transcendentale aber ist keine kategoriale<br />

Bestimmung, son<strong>der</strong>n übersteigt <strong>die</strong>se zur regulativen Vernunftidee in <strong>der</strong><br />

theologischen Spekulation; wird von Kant aber umgehend auch als »bloßer<br />

roher Schattenriss« zurückgenommen. Trotzdem: Heideggers<br />

Interpretation des transzendentalen Ideals bezieht sich allein auf <strong>die</strong><br />

kategoriale Bestimmung des Ideals (Allheit <strong>der</strong> Prädikate), <strong>und</strong> hat somit<br />

für Kant nicht nur das Thema (<strong>die</strong> Definition des transzendentalen Ideals<br />

als Begriff vom einzelnen Wesen), son<strong>der</strong>n auch das prototypon<br />

transcendentale, das einmal als wirkliches Urbild, einmal als ideelles<br />

Substrat <strong>der</strong> theologischen Idee auftritt, verfehlt.<br />

d) Die primäre Intentionalität: Wahrnehmung<br />

Wie erläutert Kant den Unterschied des »Ist-Sagens« in <strong>der</strong> Funktion <strong>der</strong><br />

Kopula (ist) <strong>und</strong> in <strong>der</strong> rein modalen Funktion von Existenz, Dasein<br />

ausdrückend? (p. 52) Heidegger setzt zum Nachweis seiner Behauptung<br />

an, das Dasein sei bei Kant nach dem Vorbild <strong>der</strong> Vorhandenheit bestimmt<br />

worden. Er gibt folgendes Zitat:<br />

218 In einer Fußnote, wo er sich gegen <strong>die</strong> Tautologie Spinozas wendet, daß je mehr<br />

Vollkommenheit, desto mehr Sein zu denken sei, <strong>und</strong> so <strong>der</strong> Begriffes <strong>der</strong> Existenz im<br />

ontologischen Gottesbeweis durch <strong>die</strong> doppelte Steigerung in Ohnmächtigkeit hier<br />

(Materie) <strong>und</strong> Absolutum da (erste Ursache) nach dem Vorbild Thomas von Aquin<br />

den Umfang <strong>der</strong> Ontologie in Seinsstufen vorstellen können sollte, antwortet er, daß<br />

dann <strong>die</strong> Vollkommenheit sich abermals nur als Sein ausdrücken könnte: Je<br />

vollkommener, so mehr ist es, je mehr es ist, desto vollkommener, also je mehr es ist,<br />

um so mehr ist es. (Kierkegaard, Philosophische Brocken , Kopenhagen 1844, dtsch.<br />

Frankfurt 1975, stw 147, p. 44)


-— 213 —<br />

»Der Begriff <strong>der</strong> Position o<strong>der</strong> Setzung ist völlig einfach <strong>und</strong> mit dem vom<br />

Sein überhaupt einerlei. Nun kann etwas als bloß beziehungsweise gesetzt<br />

o<strong>der</strong> bloß <strong>die</strong>se Beziehung (respectus logcius) von etwas als einem<br />

Merkmal zu einem Ding gedacht werden <strong>und</strong> dann ist das Sein, d.i. <strong>die</strong><br />

Position <strong>die</strong>ser Beziehung [A ist B], nichts als <strong>der</strong> Verbindungsbegriff in<br />

einem Urteile. Wird nicht bloß <strong>die</strong>se Beziehung [d.h. wird Sein <strong>und</strong> >ist<<br />

nicht bloß im Sinne <strong>der</strong> Kopula, A ist B, gebraucht], son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Sache an<br />

<strong>und</strong> vor sich selbst gesetzt betrachtet, so ist <strong>die</strong>ses Sein so viel als Dasein<br />

[d.h. Vorhandensein].« 219<br />

Die Kompatibilität des Konzepts des Vorhandenseins mit dem Begriff vom<br />

Dasein wurde aber gar nicht bestritten. Hier wird doch deutlich genug von<br />

einer Sache als an <strong>und</strong> vor sich selbst gesetzt gesprochen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se<br />

Verwendung des Daseins als ein Begriff von Sein näher spezifiziert durch<br />

<strong>die</strong> vergleichende Relation des »so viel als«. Und schließlich wird erst<br />

<strong>die</strong>ser bereits spezifizierte Begriff des Daseins mittels Vorhandensein<br />

charakterisiert. Die Sache an sich selbst betrachtet wird als solche<br />

betrachtet, <strong>die</strong> ich mir allein als vor mich selbst gesetzt habe: daß soll wohl<br />

soviel heißen, daß ich mir <strong>die</strong> Sache so denke, daß ich von <strong>der</strong> Affinität<br />

von Subjekt <strong>und</strong> Objekt (was erst ineinan<strong>der</strong>bezogen das Dasein<br />

ausmacht) absehe. Das Sein <strong>die</strong>ser Sache für sich selbst ist aber soviel wie<br />

das Dasein als bloßes Vorhandensein, von welchem aber <strong>der</strong> Akt <strong>der</strong><br />

Wahrnehmung (damit <strong>die</strong> ganze Konstitutionsleistung) nunmehr<br />

abgezogen worden ist. — Ich kann daraus nicht entnehmen, daß Kant<br />

damit eine Definition des Daseins überhaupt geben wollte, vielmehr halte<br />

ich das für eine Ableitung des Daseins des Objektes an <strong>und</strong> für sich aus<br />

dem Dasein <strong>der</strong> Affinität von Subjekt <strong>und</strong> Objekt. Das aber ist nur eine<br />

an<strong>der</strong>e Interpretation einer Ansicht, <strong>die</strong> psychologisch auch als <strong>die</strong><br />

Notwendigkeit <strong>der</strong> intentionalen Struktur des Bewußtseins ausgedrückt<br />

werden kann, von wo aus <strong>der</strong> gleiche Gedankengang mit <strong>der</strong><br />

Demonstration des deictischen Charakters <strong>der</strong> Intentionalität, <strong>der</strong> mit dem<br />

Ausdruck »Da-sein« des Vorhanden erst erläutert wird, zu verstehen ist.<br />

— Der Vorwurf, <strong>der</strong> Begriff des Daseins bei Kant sei überwiegend o<strong>der</strong><br />

auch nur von vornherein allein am Vorhandensein orientiert, bleibt trotz<br />

des Faktums, daß <strong>die</strong> »Meldung des Seienden« (Perzeption) über <strong>die</strong><br />

Sinnlichkeit (qua Körperlichkeit) erfolgt, von seltsamer Einseitigkeit.<br />

Heideggers Darstellung erfüllt keineswegs den erhobenen Vorwurf: »Sein<br />

ist we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> „bloßen Position“ noch in <strong>der</strong> „absoluten<br />

219 Beweisgr<strong>und</strong> Gottes, p. 77


-— 214 —<br />

Position“ ein reales Prädikat.« (Heidegger, p. 53). Die »bloße Position« sei<br />

<strong>die</strong> <strong>der</strong> formalen Möglichkeit in Beziehung auf <strong>die</strong> reale Möglichkeit in <strong>der</strong><br />

reinen Sachverhaltsdarstellung; <strong>die</strong> absolute Position ist <strong>die</strong> Verknüpfung<br />

des Dinges mit <strong>der</strong> Wahrnehmung (Wirklichkeit, Dasein). (zu: K.r.V.,<br />

B 287, Beweisgr<strong>und</strong> Gottes, p. 79)<br />

Die Thesen Kants: Sein ist gleich Position, Dasein ist gleich absolute<br />

Position, führen sie ins Dunkle? (p. 57) In § 8 führt Heidegger unter (a) als<br />

konsequente Umkehrung <strong>der</strong> Entscheidung Kantens ein, <strong>die</strong> absolute<br />

Position an <strong>die</strong> Wahrnehmung zu binden: »Das Prädikat <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

fügt dem Begriff vom Dinge <strong>die</strong> Wahrnehmung hinzu.« (p. 62) — Kant<br />

sagt aber nicht nur unentwegt, absolute Position <strong>und</strong> Wahrnehmung seien<br />

<strong>die</strong> einzigen Charakteristika für Wirklichkeit, wie Heidegger unterstellt.<br />

(p. 64) Heidegger übersieht <strong>die</strong> rationalistische Kunstfertigkeit <strong>die</strong>ses<br />

modallogischen Gedankenganges <strong>und</strong> hält <strong>die</strong> Verwendung des<br />

Ausdrucks »Wirklichkeit« in <strong>die</strong>ser Definition für <strong>die</strong> einzig<br />

Ursprüngliche. Die modallogische Argumentation ist aber selbst<br />

intellektuell <strong>und</strong> hat nichts mit <strong>der</strong> transzendentalen Einbildungskraft zu<br />

tun, <strong>die</strong> nur <strong>die</strong> Voraussetzungen schaffen soll, damit sinnliche<br />

Erscheinungen überhaupt als Wahrnehmung von etwas angesprochen<br />

werden können: aber eben nur als bereits in Verbindung stehend mit <strong>der</strong><br />

Sphäre an<strong>der</strong>er Wahrnehmungen real möglicher Washeiten (realitas) in<br />

einer zusammenhängenden Erfahrung. Die Untersuchung <strong>der</strong><br />

transzendentalen Einbildungskraft führt in <strong>die</strong> Deduktion <strong>der</strong><br />

Verstandesbegriffe <strong>und</strong> zum transzendentalen Schematismus, <strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

beiden Erkenntnisvermögen Verstand <strong>und</strong> Sinnlichkeit verbinden können<br />

soll. Meine Interpretationshypothese, <strong>die</strong> ich im dritten Abschnitt <strong>die</strong>ser<br />

Arbeit näher ausführen werde, ist <strong>die</strong>, daß nicht jene Interpretation <strong>der</strong><br />

Deduktion, welche ihre Synthesis aus <strong>der</strong> Übereinstimmung <strong>der</strong> beiden<br />

Bestimmungsarten <strong>der</strong> Washeit, nämlich Eidos <strong>und</strong> Genus bezieht, den<br />

Intentionen Kants näher kommt, son<strong>der</strong>n ich denke, <strong>die</strong> Erweiterung auf<br />

<strong>die</strong> Ganzheit <strong>der</strong> Erfahrung eines bestimmten Gegenstandes X als Ganzes<br />

<strong>der</strong> Sinnlichkeit <strong>und</strong> Ganzes des Denkens eingangs des Duisburger<br />

Nachlasses <strong>und</strong> <strong>der</strong>en von <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Grammatik in<br />

analytischen <strong>und</strong> synthetischen Urteilen ausgehenden Varianten von<br />

aptitudo, Exponent <strong>und</strong> Prinzip hat in <strong>der</strong> Überlegung <strong>der</strong> Vermittlung<br />

<strong>und</strong> Zusammenfügung von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Verstand in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />

reinen Vernunft deutlich genug Spuren hinterlassen, z. B. logische Tafel —<br />

kategoriale Tafel, konstitutive (mathematische) Kategorien — dynamische


-— 215 —<br />

Kategorien u. a., sodaß <strong>die</strong> Annahme, <strong>die</strong> strikte Geb<strong>und</strong>enheit des<br />

Themas, als ginge es beim Schematismusproblem nur um <strong>die</strong><br />

Vereinbarung von Eidos <strong>und</strong> Genus, verworfen werden muß.<br />

Das Schematismusproblem stellt sich mir einerseits so dar, daß das<br />

sogenannte Schematismuskapitel erst spät <strong>die</strong> Aufgabenstellung<br />

einigermaßen bewältigt; <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Fixierung auf <strong>die</strong> primäre Intention<br />

im Duisburger Nachlaß gestellten Grenzen (Wahrnehmung = Sinnlichkeit,<br />

Konstruktion, Intellection) hinausgehende Untersuchung <strong>der</strong> Schematen<br />

<strong>der</strong> (transzendentalen) Einbildungskraft hat eine Untersuchung des<br />

Prinzips <strong>der</strong> transzendentalen Kausalität zu sein. An<strong>der</strong>erseits wird sich<br />

zeigen, daß <strong>die</strong> Formulierung des transzendentalen Schematismus im<br />

Schematismuskapitel zwar für <strong>die</strong> transzendentale Deduktion <strong>die</strong><br />

wesentliche <strong>und</strong> entscheidende, aber nicht eine einmalige o<strong>der</strong> alle<br />

Problemstellungen auflösende Formulierung bleibt. Was darunter zu<br />

verstehen sein kann, will ich im vierten Abschnitt einem Abschluß näher<br />

bringen, bevor im fünften Abschnitt Klarheit hergestellt wird. Eigentlich<br />

kann <strong>die</strong> Frage nach dem Verhältnis von Intellection <strong>und</strong> empirischer (mit<br />

o<strong>der</strong> ohne Phronesis), reiner (konstruktiver) <strong>und</strong> transzendentaler<br />

Einbildungskraft erst im Rahmen des selbst ursprünglich praktischen<br />

Freiheitsproblems behandelt werden. — Keinesfalls darf <strong>die</strong> Formulierung<br />

des transzendentalen Schemas selbst in <strong>der</strong> Reihe von empirischer, reiner<br />

<strong>und</strong> transzendentaler Einbildungskraft mit <strong>der</strong> Problemaufstellung<br />

verwechselt werden, den Analogien von Verstand <strong>und</strong> Sinnlichkeit sei<br />

dadurch Aufklärung zu verschaffen, indem man sich <strong>die</strong> Vermittlung als<br />

anhand einer schematischen Übereinstimmung von Eidos <strong>und</strong> Genus<br />

geschehen denke. Wie hier im ersten Abschnitt bereits gezeigt, ist <strong>die</strong><br />

Merkmalslehre nicht in ein ein für alle Mal eindeutiges Verhältnis zu den<br />

Gattungsbegriffen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en subsumtive Struktur zu bringen. 220<br />

Die transzendentale Deduktion, sofern sie das Schematismuskapitel <strong>und</strong><br />

Teile <strong>der</strong> synthetischen Gr<strong>und</strong>sätze im Nachweis <strong>der</strong> objektiven Geltung<br />

<strong>der</strong> Kategorien umfaßt, behandelt an Stelle des Problems, wie sind <strong>die</strong><br />

Schematen des Eidos <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schematen des Genus zu vereinbaren, trotz<br />

<strong>der</strong> auf sprachliche Voraussetzungen hin kritisierbaren Form <strong>der</strong><br />

220 Hier wäre entlang <strong>der</strong> Unterscheidung in erster (Merkmal) <strong>und</strong> zweiter Definition<br />

(Organisationsform) <strong>der</strong> Washeit im Umfeld o<strong>der</strong> bei Aristoteles selbst Näheres zu<br />

bedenken (W. Mathis). Weiters ließe sich anhand <strong>der</strong> Geschichte des<br />

Klassifikationsproblemes in <strong>der</strong> Botanik zwischen Jungius <strong>und</strong> Linné <strong>die</strong> relative<br />

Unabhängigkeit <strong>der</strong> Gründe <strong>der</strong> Merkmalslehre von <strong>der</strong> logischen Arbiträrität <strong>der</strong><br />

Gattungsbegriffe aufzeigen. ◊


-— 216 —<br />

Kantschen Definitionen <strong>die</strong> Frage nach dem Verhältnis von konstitutiver<br />

<strong>und</strong> dynamischer Kategorie — <strong>die</strong> Kategorien erscheinen damit als Quelle<br />

ausschließlich für <strong>die</strong>jenigen Definitionen <strong>der</strong> Washeiten geeignet, insofern<br />

<strong>die</strong>se als Vorhandenes vorgestellt werden <strong>und</strong> existieren können (als Sache<br />

an sich selbst). Das macht von selbst <strong>die</strong> Beschränktheit auf den logischen<br />

Inhalt <strong>der</strong> modallogischen Erörterung des »Ist«-sagens Heideggers in <strong>der</strong><br />

Frage, was <strong>der</strong> Ausdruck »Wirklichkeit« bei Kant bedeuten könnte,<br />

nochmals deutlich. An<strong>der</strong>s als Heidegger als vorgeblich nicht-katholischer<br />

Philosoph hält sich Kant den Daseinsbegriff zwischen Satzsubjekt <strong>und</strong><br />

Satzgegenstand frei von allen <strong>die</strong> Universalität des Genus<br />

beanspruchenden Definitionen. — So halte ich <strong>die</strong>sbezüglich eher<br />

Heideggers Überlegungen von Setzen, Gesetztsein <strong>und</strong> Gesetztheit des<br />

gesetzten Objektes in Hinblick auf <strong>die</strong> Andeutungen zu Fichtes<br />

Wissenschaftslehre für dunkler als <strong>die</strong> von Kant aus angebotenen<br />

Alternativen. Noch deutlicher wird in § 11a (Ursprung von essentia <strong>und</strong><br />

existentia; hier p. 147) <strong>die</strong> Einseitigkeit <strong>der</strong> Darstellung Heideggers; er<br />

bezieht sich bei Kant nach wie vor nur auf eine verkürzte Auffassung von<br />

»Wahrnehmung«, ohne <strong>die</strong> damit vorausgesetzte Affinität zu bedenken. —<br />

Zwar: Die Darstellung <strong>der</strong> beiden Positionen des Begriffs in <strong>der</strong> Schrift<br />

Kants (»Vom Beweisgr<strong>und</strong> Gottes«) macht auch deutlich, daß <strong>die</strong> Kritik<br />

Leibnizens an <strong>der</strong> Cartesianischen »res extensa«, <strong>die</strong>ser fehle <strong>die</strong> causa<br />

effiziens, nur bedingt richtig ist: so kommt nicht nur <strong>die</strong> Phoronomie in<br />

den M.A.d.N. (Beweglichkeit), son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Substanz<br />

(Beharrlichkeit) ohne Ursache- <strong>und</strong> Kraftbegriff aus. Kant geht aber nicht<br />

nur hier von <strong>der</strong> Leibnizianischen Vorstellung aus, <strong>die</strong> Prädikatsbeziehung<br />

auf ein existierendes Ding sei <strong>der</strong> zureichende Gr<strong>und</strong> alles weiteren, was<br />

sich im davor diskutierten Zitat aus dem »Beweisgr<strong>und</strong> Gottes«<br />

nie<strong>der</strong>schlägt. Es ist insofern ja auch nicht gerade falsch, Kant <strong>der</strong><br />

Auffassung zu verdächtigen, <strong>die</strong> Wahrnehmung in <strong>der</strong> Prädikatisierung<br />

sei bereits als Verbindung von Verstand <strong>und</strong> Sinnlichkeit zu verstehen. (So<br />

verdächtige ich meinerseits Heidegger, selbst hier noch einen gegenüber<br />

<strong>der</strong> »Intellection« defizienten Begriff von »Wahrgenommenheit« zu<br />

verwenden). Falsch ist es jedoch zu behaupten, <strong>die</strong>se Definition des<br />

zureichenden Gr<strong>und</strong>es als <strong>die</strong> erste ratio <strong>der</strong> objektiv inten<strong>die</strong>rten Realität<br />

sei schlechthin <strong>die</strong> vollständige Definition von Realität als objektiv<br />

mögliche Existenzform (Seinsweise des je Seienden), wenn nach <strong>der</strong><br />

objektiven Realität eigens gefragt wird. Die Objektivität des Begriffes ist<br />

eigens zu rechtfertigen; sei es nun im Rahmen <strong>der</strong> Schematen von Eidos<br />

<strong>und</strong> Genus o<strong>der</strong> im Rahmen des transzendentalen Schematismus zwischen


-— 217 —<br />

konstitutiver <strong>und</strong> dynamischer Kategorie. Das kann <strong>die</strong> einfache<br />

Erörterung <strong>der</strong> primären Intentionalität nicht leisten, weshalb eine<br />

transzendentale <strong>und</strong> synthetische Erörterung notwendig wird. Was Kant<br />

in <strong>der</strong> Nova dilucidatio noch <strong>der</strong> Verknüpfung <strong>der</strong> einfachen <strong>und</strong><br />

untereinan<strong>der</strong> wirkungslosen Atome durch den göttlichen Verstand<br />

zuschreibt, wird spätestens im synthetischen Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> dritten<br />

Kategorie (reales Zugleichsein) als System von Wechselwirkungen<br />

aufgefaßt (wobei vergleichbares Kant des öfteren schon in <strong>der</strong> sogenannten<br />

vorkritischen Phase behauptet hat). — Die Definition <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

wird — <strong>und</strong> zwar mit o<strong>der</strong> ohne ausdrückliche Hereinnahme des<br />

praktischen Vernunftbegriffes in <strong>die</strong> Definition <strong>der</strong> objektiven Realität —<br />

zwar ebenso wie im zureichenden Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Zuschreibung eines<br />

Prädikates auf ein Ding für das Zugleichsein getroffen, was <strong>die</strong><br />

Vorhandenheit als eine Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit zweifellos<br />

notwendigerweise in Stellung hält (aber eben schon als mögliche<br />

Wahrnehmung als Anschauung <strong>und</strong> Intellection), doch aber wird mit <strong>der</strong><br />

Kategorie <strong>der</strong> Wechselwirkung <strong>die</strong> strenge Polarität <strong>der</strong> Affinität von<br />

Subjekt <strong>und</strong> Objekt in <strong>der</strong> primären Intentionalität geöffnet. Nunmehr<br />

wird <strong>der</strong> Horizont des Zugleichseins <strong>und</strong> des Vorhandenseins aller<br />

Seien<strong>der</strong> unterscheidbar vom Horizont des subjektiven <strong>und</strong><br />

möglicherweise auch individuellen Horizont des Daseins als bloßes Gefühl<br />

<strong>der</strong> Allgegenwart; <strong>und</strong> zwar letztlich mittels des dynamischen Arguments<br />

<strong>der</strong> transzendentalen Kausalität, <strong>die</strong> gegenüber <strong>der</strong> Kausalität aus Freiheit<br />

<strong>und</strong> Kausalität durch Freiheit als Naturkausalität selbstständig ist. —<br />

Damit wird zwar <strong>die</strong> Passendheit des Konzeptes <strong>der</strong> Vorhandenheit im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Definition des realen Zugleichseins weiterhin je garantiert,<br />

aber eben gerade nicht das Sein über das Dasein nur als innerweltliche<br />

Vorhandenheit bestimmt. Das Dasein des Objektes, obwohl aus dem<br />

Dasein <strong>der</strong> Affinität von Subjekt <strong>und</strong> Objekt abgeleitet, trifft im<br />

Vorhandenen erst sein selbstständiges Substrat. Das aber mag Heidegger<br />

hier nicht glauben; später hat er in <strong>der</strong> Schrift »Vom Ereignis« das Subjekt<br />

nahezu ausgeschaltet <strong>und</strong> trifft in <strong>der</strong> Lichtung <strong>der</strong> Wahrheit zwischen<br />

Ontik <strong>und</strong> Ontologie eine bloße Ankündigung.<br />

Heideggers Darstellung des Begriffs <strong>der</strong> Wirklichkeit, bei Kant sei <strong>die</strong>ser<br />

nur auf das Subjekt als Vorhandenes bezogen, ist auch in § 11 <strong>der</strong><br />

»Gr<strong>und</strong>probleme <strong>der</strong> Phänomenologie« (das eigentliche Kant-Buch) falsch:<br />

Das Commercium als System <strong>der</strong> Wechselwirkung ist in seiner Existenz<br />

unabhängig vom Subjekt <strong>die</strong> Wirklichkeit, obgleich sich das Subjekt als in


-— 218 —<br />

<strong>die</strong>ser Wechselwirkung stehend begreift. Heidegger behandelt hier eine<br />

Frage, <strong>die</strong> Kant bereits mit <strong>der</strong> Unterscheidung von subjektiver <strong>und</strong><br />

objektiver Realität gelöst hat. Die ontologische Wirklichkeit des<br />

transzendentalen Subjekts steht bei Kant entgegen den Unterstellungen<br />

Heideggers spätestens ab <strong>der</strong> Abziehung des inneren Sinnes zum reinen<br />

»ich denke« im Zuge <strong>der</strong> transzendentalen Analytik eines Ganzen <strong>der</strong><br />

Erfahrung durchaus in Frage (Paralogismus: synthetisch-metaphyische<br />

versus transzendentalanalytische Methode) <strong>und</strong> ist in synthetischer (auch<br />

in »genetischer«) Hinsicht Ausgangspunkt aber nicht das F<strong>und</strong>ament<br />

seiner Analyse (vgl. <strong>die</strong> Unterscheidung in Ich <strong>und</strong> Leib im vierten<br />

Paralogismus, den Vorrang <strong>der</strong> primären Intentionalität in <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>legung des Idealismus als Strukturmerkmal einer jeden<br />

Bewußtseinstheorie). Wahr ist auch, daß Kant das Problem <strong>der</strong><br />

formalisierbaren Intentionalität erst spät erkannt hat.<br />

Auch <strong>die</strong> Behauptung Heideggers, daß <strong>die</strong> primäre Orientierung am<br />

Subjekt in <strong>der</strong> neuzeitlichen Philosophie vom Motiv geleitet sei, daß das<br />

Ich-Bewußtsein von vorneherein <strong>die</strong> größte Gewißheit besitze (§ 13,<br />

p. 175), ist nur teilweise richtig: Gerade Kant hat in <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des<br />

Idealismus <strong>die</strong> primäre Intentionalität aufs Objekt behauptet (wie später<br />

Brentano von Aristoteles <strong>und</strong> Descartes herkommend auch), <strong>und</strong> von <strong>der</strong><br />

Erfahrung ausgehend in <strong>der</strong> transzendentalen Analyse erst im<br />

Paralogismus <strong>die</strong> subjektive Realität des Daseins (eben nicht kategorial<br />

bestimmbar) als Ausgangspunkt <strong>der</strong> Deduktion <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Kategorien gewonnen. Und das »Ich denke« des § 16 <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Deduktion hat noch nicht das Auge <strong>der</strong> zu deduzierenden Kategorien<br />

eingesetzt bekommen, auch wenn das vielfach so verstanden worden ist.<br />

— Ausgerechnet im Zusammenhang des § 16 <strong>der</strong> ersten Kritik <strong>die</strong><br />

For<strong>der</strong>ung Kantens aus dem Beweisgr<strong>und</strong> Gottes nach sinnlicher<br />

Wahrnehmung <strong>der</strong>art zu verstehen, daß man als Argument einzuwerfen<br />

können glaubt, es hätte anstatt Psychologie besser <strong>die</strong> Anthropologie als<br />

Gegenstand des inneren Sinnes entwickelt werden sollen, zeugt nur vom<br />

Unverstand Heideggers betreffs des Ganges <strong>der</strong> Deduktion. 221<br />

221 Vgl. hiezu auch Schnädelbach, Kant — <strong>der</strong> Philosoph <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, in: Schönrich <strong>und</strong><br />

Kato (Hrsg.),Kant in <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, Suhrkamp Frankfurt/Main 2 1997,<br />

p. 11-26


-— 219 —<br />

e) Das Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit<br />

Kant gesteht, daß unsere Erkenntnis letztlich auf unauflösliche Begriffe<br />

beruhe; <strong>und</strong> seien manche auch nur »beinahe unauflöslich«, so sind <strong>die</strong><br />

Merkmale <strong>der</strong> Sache nur »sehr wenig klärer <strong>und</strong> einfacher als <strong>die</strong> Sache<br />

selbst«. So sei es auch im Falle <strong>der</strong> Erklärung von <strong>der</strong> Existenz. »Allein <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Natur des Gegenstandes in Beziehung auf <strong>die</strong> Vermögen unseres<br />

Verstandes verstattet auch keinen höheren Grad.« 222 — Also auch <strong>die</strong><br />

Erklärung <strong>der</strong> absoluten Position durch <strong>die</strong> Wahrnehmung <strong>und</strong> <strong>die</strong> daraus<br />

zu erwartende Vorstellung von Existenz als Washeit sind für Kant nicht<br />

völlig befriedigend. Das ist doch eine weitere deutliche Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong><br />

Vermutung Heideggers, <strong>der</strong> Begriff des Vorhandenseins würde in Kants<br />

Begriff vom Dasein ausschließliches Charakteristikum sein. Das Dasein<br />

umfaßt <strong>die</strong> Position des Seins, als das Reich <strong>der</strong> möglichen Washeiten<br />

(Realitäten), nicht nur <strong>die</strong> Existenz, <strong>die</strong> für uns durch Wahrnehmung<br />

charakterisiert werden kann. 223 Das Dasein selbst ist zweifellos intentional<br />

verfaßt, denn zum Dasein gehört Aufmerksamkeit (Bewußtsein). Hierin ist<br />

das Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit das Kennzeichen <strong>der</strong> Erfülltheit einer<br />

durch sinnliche Wahrnehmung charakterisierten Intention, <strong>die</strong> durch eine<br />

sachhaltige Form (Realität als Mögliches) bestimmt worden ist. Das<br />

Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit bringt <strong>die</strong> intentionale Struktur (Washeit <strong>der</strong><br />

sachhaltigen Realität) zum logischen Nachvollzug <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

(erfüllte Intention). Die Sphäre realer Möglichkeiten sind aber<br />

definitionsgemäß sachhaltig, weil real möglich <strong>und</strong> weil sie an<strong>der</strong>swo o<strong>der</strong><br />

zu an<strong>der</strong>en Zeiten existieren könnten o<strong>der</strong> sogar nachweisbar existieren.<br />

Insofern ist zu sagen, daß <strong>die</strong> realen Möglichkeiten auf Vorhandenheit hin<br />

konzipiert sind, <strong>und</strong> es scheint mir empfehlenswert zu sein, sich an <strong>die</strong>se<br />

Konvention zu halten, um <strong>die</strong> verschiedenen Bewußtseinszustände nicht<br />

durcheinan<strong>der</strong>zubringen <strong>und</strong> den Wert des existierenden Daseins nicht zu<br />

unterschätzen (Heidegger hält das Dasein für ein Seiendes, daß nicht<br />

existiert). Der Bezug des Daseins zur realen Möglichkeit bestärkt zwar nur<br />

<strong>die</strong> Auffassung von <strong>der</strong> Wesenhaftigkeit des Daseins als ein intentional<br />

verfaßtes Bewußtsein, doch än<strong>der</strong>t sich das Kriterium <strong>der</strong> Erfüllung einer<br />

Intention, wenn <strong>die</strong> bloße Vorstellung einer real sachhaltig bestimmten<br />

Möglichkeit ausreicht, um sicher sein zu können, daß vom Konzept A <strong>und</strong><br />

nicht vom Konzept B <strong>die</strong> Rede ist, gleich ob <strong>der</strong>en Vorhandenheit nun<br />

behauptet worden ist o<strong>der</strong> nicht. Darüberhinaus ist unabhängig davon <strong>die</strong><br />

222 Beweisgr<strong>und</strong> Gottes, p 78<br />

223 »Die Wahrnehmung ist <strong>der</strong> einzige Charakter <strong>der</strong> Wirklichkeit« (K.r.V., B 273)


-— 220 —<br />

Erinnerung an <strong>die</strong> Differenz zwischen real möglich <strong>und</strong> existent qua<br />

sinnlicher Wahrnehmung im Dasein immer schon enthalten. Das Fragen<br />

<strong>der</strong> theoretischen Philosophie beginnt mit dem Moment, wo <strong>die</strong>ser<br />

Unterschied im Dasein ins Bewußtsein tritt. Deshalb habe ich von<br />

Anbeginn behauptet, <strong>der</strong> Begriff vom Dasein sei bei Kant nicht allein vom<br />

Konzept des Vorhandenseins wesentlich bestimmt, son<strong>der</strong>n darf<br />

zumindest im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie auf <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lage aller dreier Kritiken Kants hoffen.<br />

f) Die Vorstellung vom Ich als eines Subjekts o<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>es des<br />

Denkens<br />

»Müssen wir nicht phänomenologisch fragen, in welcher Weise dem<br />

Dasein selbst sein Ich, sein Selbst, gegeben ist, d. h. in welcher Weise das<br />

Dasein existierend es selbst, sich zu eigen, d. h. eigentlich im strengen<br />

Wortsinn ist?« (Heidegger, GA, Bd. 24, § 15 b, S. 225)<br />

Die programmatische Aussage, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser Frage enthalten ist, führt zu<br />

den Paralogismen Kants zurück, <strong>die</strong>, wennzwar negativ, <strong>die</strong> Seinsweise<br />

des Ichs in Unterscheidung vom Dasein (!) bestimmt haben. So schreibt<br />

Kant auch von <strong>der</strong> Vorstellung des Ichs als Subjekt o<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des<br />

Denkens, daß <strong>die</strong>se Vorstellungsarten nicht kategorial, <strong>und</strong> so nicht<br />

Erkenntnis genannt werden kann, wozu sinnliche Anschauung nötigt wäre<br />

(K.r.V., B 429), was letztlich durchaus etwas mehr zugestehen scheint, als<br />

<strong>die</strong> Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen selbst. Insofern ist das »Ich denke«,<br />

das alle unsere Vorstellungen begleiten können muß, da ohne eigene<br />

Vorstellung nur als rein begriffliche Erkenntnis möglich, noch weniger<br />

bestimmt als <strong>die</strong> Realitas (Washeit) <strong>der</strong> Möglichkeit des Seins. Die<br />

Seinsweisen <strong>der</strong> Möglichkeiten des Seins hingegen sind allein dadurch,<br />

daß sie auf das Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit hingeordnet sind, näher<br />

bestimmt, wenn auch selbst nicht von <strong>der</strong> Seinsweise <strong>der</strong> Vorhandenheit.<br />

Dies <strong>und</strong> das Vorhandene im engeren Sinne umfaßt mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

das Dasein, ein Ausdruck, den Kant zunächst gleichmäßig über alles<br />

Existierende verwendet, was aber nicht bedeutet, daß Kant unter Dasein<br />

immer auch Vorhandenheit selbst versteht. — Die Seinsart <strong>der</strong> Vorstellung<br />

des Ichs als Subjekt o<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens hat nicht einmal <strong>die</strong>se<br />

Hinordnung auf das Konzept des Vorhandenseins. (Heidegger hält<br />

inkonsequenterweise gleich das ganze Dasein in <strong>die</strong>sem Sinne für ein<br />

Seiendes, das nicht existiert).


-— 221 —<br />

Kant formuliert vermutlich präzise, wenn er von einer Vorstellung des Ich<br />

»als« Subjekt o<strong>der</strong> »als« Gr<strong>und</strong> des Denkens spricht; in Frage steht, ob mit<br />

<strong>die</strong>ser Formulierung das Subjekt dem Gr<strong>und</strong> des Denkens<br />

gegenübergestellt werden soll (1), o<strong>der</strong> ob das Subjekt auch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des<br />

Denkens genannt werden müßte, was ein analytisches Urteil wäre (2).<br />

ad (1) Steht dem Subjekt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens gegenüber, so ist <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong> das Nicht-Subjektive, das Objektive. Allerdings ist das Objektive<br />

selbst nicht nur das An<strong>der</strong>e schlechthinnig an <strong>und</strong> für sich selbst, son<strong>der</strong>n<br />

auch laut Heidegger mit Fichte erst als Objekt <strong>der</strong> analytische Gegensatz<br />

des Subjekts. Das ist nicht unrichtig, zumal das Objekt in <strong>der</strong> Reflexion<br />

schließlich <strong>die</strong> Unterlage des Begriffs des Gegenstandes wird. Überhaupt<br />

bezeichnet das Objekt begrifflich einen Zwischenstatus von Substanz (als<br />

transzendentale Materie ohne Form, im Kapitel über das prototypon<br />

transcendentale das Substrat <strong>der</strong> Allheit realer Prädikate) <strong>und</strong> Gegenstand.<br />

Schon das Empirische überhaupt (im Paralogismus als unqualifizierte<br />

Affiziertheit des inneren Sinnes, in den M.A.d.N. wie<strong>der</strong>um als<br />

transzendentale Materie) erweist sich zwar als Unterlage sowohl eines<br />

Objekts- wie eines Gegenstandsbegriffes, ohne deshalb selbst<br />

notwendigerweise den Begriff <strong>der</strong> Substanz geklärt haben zu müssen. Der<br />

Begriff des Objektes ist also offenbar nicht allein aus dem analytischen<br />

Gegensatz zum Subjekt bestimmbar. Insofern ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens<br />

inhaltlich nicht <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des fraglichen Daseins als Subjekt, doch ist<br />

<strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong> deshalb noch nicht nur in <strong>der</strong> Position des Nicht-Subjektes,<br />

son<strong>der</strong>n immer nur als Gr<strong>und</strong>, im Subjekt als Nicht-Subjekt zu erscheinen<br />

o<strong>der</strong> aus einer Affektation des Subjekts erschließbar zu sein, auch zu<br />

haben. Sobald <strong>die</strong>se Reflexion abgeschlossen ist (<strong>und</strong> zwar mit o<strong>der</strong> ohne<br />

unmittelbares sinnliches Substrat), wird das Objekt subjektiv <strong>und</strong> objektiv<br />

zum Gegenstand. We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Objektes noch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des<br />

Gegenstandes ist nur subjektiv: M.a.W. we<strong>der</strong> Objekt noch Gegenstand<br />

haben ihren Gr<strong>und</strong> bloß analytisch aus dem Gegensatz zum Begriff des<br />

Subjektes gewonnen. Während das Objekt aber noch auf äußere<br />

Sinnlichkeit <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>der</strong> Anschauung angewiesen bleibt, soll<br />

<strong>der</strong> Begriff des Gegenstandes — wie Kant es in <strong>der</strong> reinen Ontologie<br />

(Architektonik) vorsieht — allein aus <strong>der</strong> durchbestimmbaren Form <strong>der</strong><br />

Intentionalität gewonnen werden können.<br />

Es gibt also verschiedene Gründe, anhand des Begriffs vom einzelnen<br />

Gegenstand eine Seinsweise zu charakterisieren, wird <strong>die</strong>ser nur einmal<br />

als entis rationis aufgefaßt, <strong>die</strong> von allen an<strong>der</strong>en Charakteristika von


-— 222 —<br />

Seinsweisen verschieden ist, obgleich doch <strong>der</strong> Begriff vom Gegenstand<br />

ursprünglich aus <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> logischen Wesensbestimmung eines<br />

Objektes <strong>der</strong> sinnlichen <strong>und</strong> intellektuellen Wahrnehmung entstammt: <strong>der</strong><br />

Begriff vom logischen Gegenstand hingegen soll nur aus <strong>der</strong> »logischen«<br />

Form <strong>der</strong> Intentionalität des Daseins entspringen, gleich wie sonst noch<br />

das empirische Kriterium <strong>der</strong> Erfülltheit einer bestimmbaren Intention<br />

auch lauten mag. Da haben wir auch gleich das erste Kriterium: <strong>die</strong><br />

Bedingung des logischen Gegenstandes erfüllt jede semantische Differenz,<br />

sofern sie nur zu definieren möglich ist. Daraus folgt unmittelbar, daß<br />

nicht jede Definition von »es gibt« o<strong>der</strong> »es gilt« eine Gegenständlichkeit<br />

im Sinne einer von sinnlich <strong>und</strong> intellektuell charakterisierten<br />

Wahrnehmung bedeuten können muß. Damit ist aber auch noch nicht <strong>die</strong><br />

Behauptung gefallen, daß das Konzept <strong>der</strong> Gegenständlichkeit in<br />

transzendentallogischer Hinsicht nur unter <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />

inhaltlich (qualitativ) eine transzendentale Charakteristik besäße.<br />

ad (2) Soll aber das Subjekt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Denkens genannt werden,<br />

indem Kant doch schreibt »Wenn ich mich hier als Subjekt <strong>der</strong> Gedanken,<br />

o<strong>der</strong> auch als Gr<strong>und</strong> des Denkens vorstelle [...]« (B 429), <strong>und</strong> so <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong><br />

des Denkens mit dem Gedanken, <strong>der</strong> zweifellos dem Subjekt angehört, in<br />

Verbindung gebracht wird, so ist <strong>der</strong> Begriff des Daseins eindeutig auf<br />

eine Weise charakterisiert worden, <strong>der</strong> von vorneherein einer Reduzierung<br />

auf bloße Vorhandenheit wi<strong>der</strong>steht. Heidegger hat das Konzept <strong>der</strong><br />

Vorhandenheit im Gebrauch des Metapher <strong>der</strong> »Hergestelltheit« im Sinne<br />

<strong>der</strong> Seele als eines endlichen ens creatum endlos überzogen. Gegenüber<br />

dem ontologischen Gottesbeweis (dessen Interpretation <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>legung<br />

durch Kant Heidegger gründlich mißversteht) bleiben freilich res cogitans<br />

<strong>und</strong> res extensa endliche Seiende, ohne deshalb <strong>die</strong> Differenz von res<br />

cogitans <strong>und</strong> res extensa aufzuheben. Aber an Stelle zu fragen, was denn<br />

das Konzept eines unendlich Seienden (Gott) für eine ontologische<br />

Untersuchung des Verhältnisses von Naturphilosophie, Psychologie,<br />

Anthropologie <strong>und</strong> Politik bedeuten könne, erklärt Heidegger am an<strong>der</strong>en<br />

Ende des Rätsels eines an sich existierenden Geistes <strong>die</strong> res cogitans wegen<br />

ihrer vergleichsweisen Endlichkeit zu einer Weise <strong>der</strong> Vorhandenheit<br />

unter an<strong>der</strong>en. — Nun, ohne Zweifel kann bei Bedarf <strong>der</strong> res cogitans,<br />

nötigenfalls mittelbar, ein Konzept <strong>der</strong> Vorhandenheit intersubjektiv<br />

angemessen werden, doch muß doch jedem auch nur einigermaßen<br />

aufmerksamen Beobachter <strong>der</strong> Streitfrage aufgefallen sein, daß mit dem<br />

Kriterium <strong>der</strong> »Intersubjektivität« eine an<strong>der</strong>e Art des Faktums in <strong>die</strong>


-— 223 —<br />

Diskussion eingetreten ist als mit <strong>der</strong> Subjektivität im Rahmen des<br />

individuellen Daseins.<br />

In <strong>der</strong> Allgemeinen Anmerkung zum Paralogismus macht Kant hingegen<br />

deutlich, daß man erst durch <strong>die</strong> Abstraktion von <strong>der</strong> Anschauung zur<br />

Vorstellung des »Ich denke« gelangen kann: »Nun will ich mir meiner aber<br />

nur als denkend bewußt werden; wie mein eigenes Selbst in <strong>der</strong><br />

Anschauung gegeben sei, das setze ich bei Seite, <strong>und</strong> da könnte es mir, <strong>der</strong><br />

ich denke, aber nicht so fern ich denke, bloß Erscheinung sein; im<br />

Bewußtsein meiner Selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst,<br />

von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist.<br />

Der Satz aber, Ich denke, so fern er so viel sagt, als: ich existiere denkend,<br />

ist nicht bloße logische Funktion, son<strong>der</strong>n bestimmet das Subjekt (welches<br />

denn zugleich Objekt ist) in Ansehung <strong>der</strong> Existenz, <strong>und</strong> kann ohne<br />

inneren Sinn nicht stattfinden, dessen Anschauung je<strong>der</strong>zeit das Objekt<br />

nicht als Ding an sich selbst, son<strong>der</strong>n bloß als Erscheinung an <strong>die</strong> Hand<br />

gibt. In ihm ist also schon nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens,<br />

son<strong>der</strong>n auch Rezeptivität <strong>der</strong> Anschauung. « 224<br />

Die Erscheinungen des Selbst lassen sich aber selbst nicht nur kategorial zu<br />

einem Begriff objektiver Realität, son<strong>der</strong>n zu einen objektiven Begriff vom<br />

Leib bestimmen. Die Unterscheidung von res cogitans <strong>und</strong> res extensa nur<br />

innerhalb eines reinen Bewußtseins ist allerdings nicht möglich: Dazu muß<br />

ich <strong>die</strong> Spontaneität des reinen Denken verlassen <strong>und</strong> zur Rezeptivität <strong>der</strong><br />

Anschauung zurückkehren (<strong>die</strong> Ausklammerung — das Beiseite-Setzen —<br />

wie<strong>der</strong> aufheben). Dazu bedarf es keiner Hilfskonstruktion zur Rettung<br />

des Konzepts <strong>der</strong> Vorhandenheit im Sinne kommunikativer<br />

Intersubjektivität, <strong>die</strong> wechselseitige Anerkennung als Person voraussetzt.<br />

— In <strong>der</strong> Tat: Daß nun we<strong>der</strong> das Konzept <strong>der</strong> »Sache« noch <strong>der</strong><br />

»Ausdehnung« ohne jede analytische Bezugnahme auf das Subjekt <strong>der</strong><br />

Spontaneität des »Ich denke« möglich ist, liefert auch das Argument dafür,<br />

daß das Subjekt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> des Gedankens ist, obgleich we<strong>der</strong> »Sache« noch<br />

»Ausdehnung« für sich Konzepte eines Gedankens selbst sind, son<strong>der</strong>n<br />

nur des Gr<strong>und</strong>es des Denkens als äußerlicher Anlaß.<br />

Das Subjekt in einem dritten Schritt dann doch als Gr<strong>und</strong> des Denkens<br />

vorgestellt, hat den Anlass, <strong>der</strong> überhaupt erst zu denken gibt, zu klären.<br />

— Es gibt also im anspruchslosen Sinn eine Fähigkeit des Subjektiven nicht<br />

im allgemeinsten o<strong>der</strong> gar abstrakten Sinn, son<strong>der</strong>n in einem ausdrücklich<br />

224 B 429


-— 224 —<br />

beson<strong>der</strong>en Sinn. Das Ich ist <strong>der</strong>art verb<strong>und</strong>en mit <strong>die</strong>ser beson<strong>der</strong>en<br />

Fähigkeit des Subjekts, Gr<strong>und</strong> des Denkens zu sein. Diesem Gr<strong>und</strong> ist<br />

eigentümlich, <strong>und</strong> im eigentlichem Sinne seine Definition, daß für ihn gilt,<br />

zwischen dem Allgemeinen des Subjekts <strong>und</strong> dem Individuellen des<br />

an<strong>der</strong>en (des Objekts) zu stehen. Das einzelne Subjektive selbst als<br />

Individuum hat das Allgemeine mit dem Beson<strong>der</strong>en zu verbinden. —<br />

Was ist das Beson<strong>der</strong>e am Dasein des urteilenden Subjekts, das den<br />

Gebrauch <strong>die</strong>ses Wortes für <strong>die</strong> Existenz physikalischer Objekte an <strong>und</strong> für<br />

sich in <strong>die</strong>sem Falle schließlich falsch werden läßt? — Das Subjektive als<br />

Gr<strong>und</strong> des Denkens gibt sich selbst in seiner abstrakten Form als Identität<br />

<strong>der</strong> reinen (vom ganzen Reflexionsgang abgeschnittenen) Selbstreflexion<br />

das (logische) Ich, was Kant wohl wegen <strong>der</strong> Transzendentalität des<br />

Reflexionsganges auch transzendentales Ich nennt. Wollte man in <strong>der</strong> Tat<br />

<strong>die</strong> Vorstellung eines metaphysischen Ich kennenlernen, so hätte man sich<br />

in den Abgr<strong>und</strong> zwischen moralisch-persönlichen Gott <strong>und</strong> Demiurgen zu<br />

verfügen, wie man ihn zwischen Eckehart <strong>und</strong> Böhme, o<strong>der</strong> auch zuletzt<br />

bei Spinoza, Leibniz <strong>und</strong> Schelling kennengelernt haben könnte. 225 Da wäre<br />

das Selbst <strong>die</strong>ses Wesens als reine Spontaneität <strong>und</strong> nicht nur zugleich<br />

son<strong>der</strong>n ident mit reiner Betrachtung zu denken.<br />

❆<br />

Es scheint nach einer Betrachtung <strong>der</strong> verfügbaren Alternativen nicht<br />

klarer zu werden, wer o<strong>der</strong> was ein allgemein zu bezeichnendes<br />

Substratum des »Ich denke« als Zuschreibungsurteil sein könnte, noch<br />

weniger, wie allein aus <strong>der</strong> bisher geführten Erörterung dem nun doch<br />

zumindest mit hinreichen<strong>der</strong> Unterscheidbarkeit bezeichenbaren Dasein<br />

als Dasein eines Subjektes <strong>die</strong> Bezeichnung mit »Ich« außerhalb <strong>der</strong><br />

transzendentallogischen Erörterung, <strong>die</strong> selbst allerdings allgemein bleibt<br />

<strong>und</strong> nicht wirklich individuell werden kann, in concreto zugemutet<br />

werden kann. Wir müssen uns also in <strong>der</strong> Tat fragen, wie <strong>die</strong>sem <strong>der</strong>art<br />

bereits spezifzierten Dasein (p. 225) sein Ich überhaupt gegeben werden<br />

kann. Immerhin hat <strong>die</strong>ses mit <strong>der</strong> philosophischen Frage erst nachhaltig<br />

gesetzte Daseinsweise nicht nur logische o<strong>der</strong> ontologische, son<strong>der</strong>n auch<br />

noch wirkliche <strong>und</strong> moralisch-sittliche Konsequenzen. Es bleibt <strong>die</strong> Frage<br />

nach dem Substrat des Subjekts des »Ich-sagen-könnens« innerhalb des<br />

225 Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus, II. Teil: Praxis, Turia <strong>und</strong> Kant,<br />

Wien 1998, Kap, IV


-— 225 —<br />

bewußtseinsfähigen Daseins schon vor <strong>der</strong> ausdrücklichen Thematisierung<br />

<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Intersubjektivität verb<strong>und</strong>enen Wahrhaftigkeit des Bezeugens<br />

ein sachliches Problem im Rahmen <strong>der</strong> Wahrheitsfrage: Die Systeme <strong>der</strong><br />

Wechselwirkung sind in beiden möglichen Bedeutungen <strong>der</strong><br />

»Vorhandenheit« (persönlich-geistig <strong>und</strong> physikalisch-materiell) nicht nur<br />

nicht restlos trennbar, son<strong>der</strong>n auch nicht restlos unterscheidbar. Wollte<br />

man aber im strengen Wortsinn fragen, wie denn ein Ich sein könne, so<br />

frägt man zuerst nach <strong>der</strong> Möglichkeit, wie ein Selbst, o<strong>der</strong> auch ein<br />

Subjekt, ein Ich besitzen könne. Die Antwort versucht Heidegger eben mit<br />

dem Zitat Hegels zum Selbstbewußtsein zu geben, vermag aber gerade <strong>die</strong><br />

auch von Heidegger verlangte (<strong>und</strong> auch für Heidegger bei Hegel im<br />

bloßen Sich-selbst-Wissen des Geistes als Selbstbewußtsein nicht<br />

gef<strong>und</strong>ene) in sich selbst vermittelte Identität von Ich, Selbst, Dasein <strong>und</strong><br />

Art von Vorhandenheit nicht darzustellen. An <strong>die</strong>ser Stelle <strong>der</strong><br />

Untersuchung sollte aber bei Hegel doch deutlicher zwischen <strong>der</strong><br />

Phänomenologie des Geistes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wesenslogik unterschieden werden:<br />

Subjekt <strong>und</strong> Selbst sind Bezeichnungen (Namen) des fraglichen Substrats,<br />

<strong>die</strong> den Bezeichnungen des selben Substrats als das des Bewußtseins,<br />

zumal des urteilenden (selbstbewußten) Bewußtseins, vorangehen. Nicht,<br />

daß Subjekt o<strong>der</strong> Selbst ohne <strong>der</strong> Bezeichenbarkeit des Selbstbewußtseins<br />

durch den allgemein-individualisierenden Namen »Ich« für <strong>die</strong> empirische<br />

Psychologie nichts wären, doch besitzen <strong>die</strong> Namen »Subjekt« <strong>und</strong><br />

»Selbst« in <strong>der</strong> Analyse des Komplexes Ich - Selbstbewußtsein nur <strong>die</strong><br />

semantische Funktion einer Unterlage des vom »Ich« allgemein<br />

bezeichneten je individuellen Selbstbewußtseins, ohne allerdings ein<br />

Kriterium einer umreißbaren Gestalt in <strong>der</strong> Raum-Zeit-Einheit »Einer«<br />

Anschauung o<strong>der</strong> einer eindeutig bestimmten <strong>und</strong> notwendigen<br />

(andauernden) Kraftwirkung wie physische Gegenstände zu besitzen.<br />

Dabei ist <strong>der</strong> Gebrauch des Namens »Subjekt« <strong>der</strong> abstraktere, da <strong>die</strong>ser<br />

Begriff, von <strong>der</strong> subjektiven Leiblichkeit ausgehend, auch nur einfach <strong>die</strong><br />

Perspektive eines spezifischen Raum-Zeitpunktes zu bezeichnen vermag,<br />

<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> dauernden Gegenwart durch <strong>die</strong> Zeit wan<strong>der</strong>t. Der Ausdruck<br />

»Selbst« hingegen, wie ihn Heidegger ins Spiel bringt, verlangt in <strong>der</strong> Tat<br />

schon <strong>die</strong> phänomenologische Analyse des bloß empirisch vorgef<strong>und</strong>enen<br />

Begriffes <strong>der</strong> Persönlichkeit, <strong>und</strong> bringt somit ausdrücklich eine<br />

Komplizierung <strong>der</strong> Psychologie zu sittlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Fragestellungen mit sich.


-— 226 —<br />

g) Die Personalität des Daseins<br />

Personalitas transcendentalis . Will man Heidegger helfen: Nur insofern,<br />

wenn man das »Ich denke« ausdrücklich selbst als Personalität<br />

ausdrückenden Akt versteht, ergibt sich <strong>die</strong> formale Möglichkeit einer Idee<br />

einer personalitas transzendentalis. Die ist aber keineswegs selbst eine<br />

notwendige Bestimmung des »Ich denke« aus den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong><br />

Paralogismen (B) hergeleitet, wie Heidegger trotz des von ihm wohl<br />

erkannten Unterschied <strong>der</strong> beiden Fassungen <strong>der</strong> Paralogismen (A, B)<br />

andeutet (p. 182). — Es sei denn, ich halte <strong>die</strong> personalitas transcendentalis<br />

ausschließlich für eine völlig allgemeine Voraussetzung, sich <strong>die</strong><br />

Möglichkeit eines mit Wahrheit urteilenden Subjektes vorzustellen. Ich<br />

halte es für wichtig, hier Klarheit zu besitzen: Ist <strong>die</strong> personalitas<br />

transcendentalis nun als prototypon transcendentale des praktischen<br />

Vernunftwesens anzusehen, o<strong>der</strong> muß das transzendentale Subjekt des<br />

urteilenden Bewußtseins (das Wesen, daß ich — nach Kant — nur in reiner<br />

Intellektualität selbst sein kann) schon als zureichend angesehen werden,<br />

um überhaupt <strong>der</strong> personalitas transcendentalis eine Unterlage sein zu<br />

können? Kants Darstellung in <strong>der</strong> ersten <strong>und</strong> in <strong>der</strong> zweiten Fassung des<br />

Paralogismus unterscheidet sich vor Allem darin, daß er im dritten<br />

Paralogismus <strong>die</strong> formale Einheit (Akteinheit) in <strong>der</strong> ersten Fassung als<br />

Personalität, in <strong>der</strong> zweiten Fassung als formale Einheit des »Denkens«<br />

verstanden hat. Derart ist offenbar einer Lösung <strong>der</strong> Frage auf dem Boden<br />

<strong>der</strong> ersten Kritik nicht näher zu kommen. An<strong>der</strong>s im Lichte aller dreier<br />

Kritiken: Von hier aus kann <strong>die</strong> personalitas transcendentalis immer nur<br />

<strong>die</strong>jenige Definition des transzendentalen Subjekts des »Ich denke« sein,<br />

welche <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung des dritten Paralogismus <strong>der</strong> ersten Fassung (A)<br />

komplementär ist. — Im Lichte aller dreier Kritiken ist hierin also <strong>der</strong><br />

ersten Fassung <strong>der</strong> Vorzug zu geben? Letztlich hinsichtlich eines<br />

f<strong>und</strong>amentalontologischen Interesses doch: Schon <strong>die</strong> in <strong>der</strong><br />

Methodenlehre <strong>der</strong> reinen Vernunft erkenntliche Ergänzungsbedürftigkeit<br />

bloß theoretischer Vernunft durch eine Ideenlehre <strong>der</strong> praktischen<br />

Vernunft läßt <strong>die</strong>sbezüglich keine Zweifel aufkommen, daß <strong>die</strong><br />

personalitas transcendentalis nicht allein in den formalen<br />

Bestimmungsstücken des »ich denke« f<strong>und</strong>iert sein kann, sofern darunter<br />

nur logische Bestimmungsstücke vorzustellen sind.<br />

In <strong>der</strong> Allgemeinen Anmerkung zum Paralogismus (nur in B) muß nur <strong>die</strong><br />

Anschauung eigens beiseite gesetzt werden, um das »ich denke« rein<br />

intellektuell zu denken (worin ich aber erst allein das rein gedachte Wesen


-— 227 —<br />

selbst bin). Das zu Gr<strong>und</strong>e gelegte reale Wesen ist offensichtlich sowohl als<br />

mit Verstand wie mit Sinnlichkeit begabt zu denken. Das Wesen, daß ich<br />

bin, wenn ich denke, weiß davon aber nichts. Trotzdem ist <strong>die</strong>ses Wesen<br />

als reales nicht an<strong>der</strong>s als mit sinnlicher Anschauung begabt zu denken. —<br />

Insofern habe ich eingangs gefragt, ob das reine »ich denke« analytisch<br />

nach einer personalitas transcendentalis verlange o<strong>der</strong> nicht: Der formalen<br />

Einheit des Denkens ist (an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> ersten Fassung des zweiten<br />

Paralogismus) erst nachzuweisen, ob darunter mehr als nur <strong>die</strong> Einheit <strong>der</strong><br />

logischen Bestimmungsstücke eines Erkenntnisurteils zu verstehen ist.<br />

Wäre darunter nichts als eben <strong>die</strong>s zu verstehen, so ließe sich das »ich<br />

denke« auch ohne personalitas transcendentalis vorstellen.<br />

Die personalitas psychologica wird durch eine Einteilung näher eingegrenzt:<br />

Empirisches (psychologisches) <strong>und</strong> transzendentales Ich, logisches Ich;<br />

eine Anthropologie (anstatt Psychologie) sei aus dem inneren Sinn zu<br />

entwickeln, sofern <strong>der</strong> Mensch sich als Gegenstand des inneren Sinnes<br />

erkenne (p. 183). Dieser gegen Kant erhobene Vorwurf geht völlig ins<br />

Leere <strong>und</strong> demonstriert nur, in welcher philosophischen Halbwelt<br />

Heidegger sich oftmals gerade dort befindet, wo er vermeint, im Zuge <strong>der</strong><br />

Destruktion <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Philosophie erstmals zu den eigentlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Philosophie vorzustoßen. — Dazu nur ein Zitat aus <strong>der</strong><br />

Architektonik <strong>der</strong> reinen Vernunft:<br />

»Wo bleibt denn <strong>die</strong> empirische Psychologie, welche von jeher ihren Platz<br />

in <strong>der</strong> Metaphysik behauptet hat, <strong>und</strong> von welcher man in unseren Zeiten<br />

so große Dinge zu Aufklärung <strong>der</strong> Dinge <strong>der</strong>selben erwartet hat, nachdem<br />

man <strong>die</strong> Hoffnung aufgab, etwas Taugliches a priori auszurichten? Ich<br />

antworte: sie kommt dahin, wo <strong>die</strong> eigentliche (empirische) Naturlehre<br />

hingestellt werden muß, nämlich auf <strong>die</strong> Seite <strong>der</strong> angewandten<br />

Philosophie, zu welcher <strong>die</strong> reine Philosophie <strong>die</strong> Prinzipien a priori<br />

enthält, <strong>die</strong> also mit jener zwar verb<strong>und</strong>en, aber nicht vermischt werden<br />

muß. Also muß empirische Psychologie aus <strong>der</strong> Metaphysik gänzlich<br />

verbannet sein, <strong>und</strong> ist schon durch <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong>selben davon gänzlich<br />

ausgeschlossen. Gleichwohl wird man ihr nach dem Schulgebrauch doch<br />

noch immer (obzwar nur als Episode) ein Plätzchen darin verstatten<br />

müssen, <strong>und</strong> zwar aus ökonomischen Bewegursachen, weil sie noch nicht<br />

so reich ist, daß sie allein ein Studium ausmachen, aber doch zu wichtig,<br />

als daß man sie ganz ausstoßen, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>wärts anheften sollte, wo sie<br />

noch weniger Verwandtschaft als in <strong>der</strong> Metaphysik antreffen dürfte. Es ist<br />

also bloß ein so lange aufgenommnerer Fremdling, dem man auf einige


-— 228 —<br />

Zeit einen Aufenthalt vergönnt, bis er in einer ausführlichen Anthropologie<br />

(dem Pendant zu <strong>der</strong> empirischen Naturlehre) seine eigene Behausung<br />

wird beziehen können.« 226<br />

Die personalitas moralis sieht Heidegger im Gefühl gegründet: Fühlen <strong>und</strong><br />

sich Offenbaren im Sichfühlen des Gefühlten (p. 187) — Diese<br />

Phänomenologie entspricht ganz dem Hören <strong>und</strong> dem Wissen, das man<br />

hört etc. bei Aristoteles <strong>und</strong> geht dem abstrakten Formalobjekt als konkrete<br />

Formbestimmung einer Intention noch voraus. Auf Spuren Brentanos<br />

wandelt Heidegger das Thema wie in einem Wortspiel ab: Gefühl meiner<br />

Existenz, moralisches Gefühl, Gefühl des Handelnden; hier fließen<br />

moralisches Gefühl <strong>und</strong> Actus dann doch wie<strong>der</strong> zusammen. Zu beachten<br />

ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang: Für Kant ist nicht jedes Gefühl sinnlich, d.i.<br />

durch Lust <strong>und</strong> Unlust bestimmt. (p. 188) Es stellt sich für <strong>die</strong> Behandlung<br />

<strong>der</strong> Urteilskraft im Umkreis aller drei Kritiken überhaupt <strong>die</strong> Frage, auf<br />

welche Weisen <strong>die</strong> Spontaneität als apperzeptiv charakterisierbare<br />

Handlung gedacht werden kann. Die komplementäre Variante <strong>der</strong><br />

Bestimmbarkeit <strong>der</strong> Spontaneität zum strikten Gesetz <strong>der</strong> Apperzeption<br />

(p. 189; Cassirer, WW Bd. 5, p. 80) folgt umgehend: Die vollständige<br />

Bestimmung des freien Willen durch das Sittengesetz, (p. 190). Diese für<br />

den Menschen aber nicht vollständig erfüllbare For<strong>der</strong>ung wird mit <strong>der</strong><br />

Psychologie <strong>der</strong> zweiten Kritik umgangen: Vgl. K.p.V., Von den<br />

Triebfe<strong>der</strong>n <strong>der</strong> reinen Vernunft: Das Gefühl <strong>der</strong> Achtung ist als<br />

intellektuell gezeugtes Gefühl das einzige Gefühl, daß rein <strong>und</strong> a priori<br />

geltend gemacht werden kann. Dieses Gefühl <strong>die</strong>ne nicht zur Beurteilung<br />

<strong>der</strong> Handlungen »d.h., das moralische Gefühl stellt sich nicht hinterher<br />

ein« (p. 191); 227 es ist nicht <strong>die</strong> Ursache son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Folge des moralischen<br />

Gesetzes. Dieses Gefühl <strong>der</strong> Achtung kann sich aber nur auf Prinzipien,<br />

insbeson<strong>der</strong>e auf das Sittengesetz, <strong>und</strong> nicht unmittelbar auf Personen<br />

o<strong>der</strong> Sachen beziehen. — Heidegger bezieht <strong>die</strong> Achtung gleich auf das Ich<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Würde im Sinne von Erhabenheit: Die in <strong>der</strong> Achtung erkannte<br />

Würde einer Person beziehe sich nicht auf das Ich im allgemeinen, son<strong>der</strong>n<br />

letztlich auf ein faktisches Ich (p. 194) <strong>und</strong> bleibt <strong>der</strong>art ein Ideal des<br />

Schönen, also Angelegenheit <strong>der</strong> ästhetischen Urteilskraft. 228 Das<br />

226 K.r.V., B 877 f./A 849 f. (Hervorhebung von mir)<br />

227 Gerichtet gegen Adam Smiths moralisches Gefühl als Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong><br />

Handlungen<br />

228 »Zuerst ist wohl zu bemerken, daß <strong>die</strong> Schönheit, zu welcher ein Ideal gesucht<br />

werden soll, keine vage, son<strong>der</strong>n durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit<br />

fixierte Schönheit sein, folglich keinem Objekt eines ganz reinen, son<strong>der</strong>n zum Teil<br />

intellektuierten Geschmacksurteiles angehören müsse..« (K.d.U., B 55/A 54 f.) Wie


-— 229 —<br />

empirische Ich, nach welchem gefragt worden ist, ist dann aber schon das<br />

Ich eines praktischen Bewußtseins <strong>und</strong> bezieht sich demnach einerseits<br />

mittelbar auf <strong>die</strong> historische Dimension <strong>der</strong> Erfahrung, <strong>die</strong> mit dem<br />

technischen <strong>und</strong> praktischen Aspekten <strong>der</strong> Klugheit (Phronesis) schon vor<br />

je<strong>der</strong> vollständigen theoretischen Reflexion gegeben worden ist,<br />

an<strong>der</strong>erseits auf <strong>die</strong> Sphäre möglicher Zwecke, <strong>die</strong> hinsichtlich eines<br />

Endzweckes hierarchisch geordnet sind. — Der Mensch existiert aber<br />

jeweils zugleich auch intelligibel als Zweck an sich selbst (Gr<strong>und</strong>legung<br />

<strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten) (p. 195), Personen sind »objektive Zwecke, d.i.<br />

Dinge [res im weitesten Sinne, M.H.], <strong>der</strong>en Dasein an sich selbst Zweck<br />

ist« (K.p.V., Triebfe<strong>der</strong> <strong>der</strong> reinen Vernunft). Darauf gründet Heidegger<br />

<strong>die</strong> Eröffnung <strong>der</strong> praktischen Interpretation <strong>der</strong> Cartesianischen<br />

Unterscheidung in »res cogitans« <strong>und</strong> »res extensa«: Nicht <strong>die</strong><br />

Bestimmung des Ichs als rein logischer Gegenstand eines allgemeinen<br />

Begriffes des Ichs im logischen o<strong>der</strong> transzendentalen Ich, son<strong>der</strong>n erst <strong>die</strong><br />

Übersteigung des Rahmens einer selbst aus <strong>der</strong> ästhetisch reflektierenden<br />

Urteilskraft entnommenen Psychologie <strong>der</strong> praktischen Vernunft, <strong>die</strong> dazu<br />

gemacht ist, <strong>der</strong> Verfallenheit an <strong>die</strong> Innerweltlichkeit des »man«<br />

anheimzufallen — also komplementär zur Würde bleibt, Zweck an sich<br />

selbst zu sein — könne auch Kants »Ich denke« praktisch <strong>und</strong> faktisch<br />

zugemutet werden, unter <strong>die</strong> cartesianische Unterscheidung in res cogitans<br />

<strong>und</strong> res extensa gebracht werden zu können. Aber: »Das Reich <strong>der</strong> Zwecke<br />

muß ontisch genommen werden. Zweck ist existierende Person, das Reich<br />

<strong>der</strong> Zwecke das Miteinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> existierenden Personen selbst.« (p. 197) —<br />

Hier unterschlägt Heidegger nicht nur <strong>die</strong> vernünftige Reflexion <strong>der</strong><br />

Zwecke <strong>und</strong> <strong>der</strong> Mittel hinsichtlich eines im Gattungsbegriff<br />

bestimmbaren Endzweckes, son<strong>der</strong>n noch <strong>die</strong> Weiterbestimmung des<br />

Menschen als Wesen, das Zweck an sich selbst ist, gerade anhand <strong>der</strong><br />

Metaphysik <strong>der</strong> Sitten: »Auf solche Weise entspringt <strong>die</strong> Idee einer<br />

zwiefachen Metaphysik, eine Metaphysik <strong>der</strong> Natur <strong>und</strong> eine Metaphysik<br />

<strong>der</strong> Sitten« (Kant, aus: »Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Möglichkeit einer Metaphysik<br />

<strong>der</strong> Sitten«, Cassirer, WW, p. 244, von Heidegger zitiert auf p. 198).<br />

Die personalitas moralis bestimmt das Gattungswesen. Als wesentliche<br />

Bestimmung ist <strong>der</strong> kategorische Imperativ nicht hypothetisch (Heidegger:<br />

noch später ausgeführt bezieht sich das Ideal <strong>der</strong> Schönheit zunächst auf <strong>die</strong><br />

Darstellung <strong>der</strong> innere Gestimmtheit eines Menschen, doch bestimmt Kant<br />

ausdrücklich, daß »[...] <strong>die</strong> Beurteilung nach einem solchen Maßstabe niemals rein<br />

ästhetisch sein könne, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Beurteilung nach einem Ideale <strong>der</strong> Schönheit kein<br />

bloßes Urteil des Geschmackes sei.« (K.d.U., B 61)


-— 230 —<br />

wenn-frei), er habe zu gelten, weil <strong>der</strong> Mensch ein Wesen ist, dessen<br />

wesentliches Merkmal gegenüber allen an<strong>der</strong>en Naturdingen es ist, Zweck<br />

an sich selbst zu sein. — Hier wäre mehrfach Anlass, zu wi<strong>der</strong>sprechen;<br />

zunächst hinsichtlich <strong>der</strong> Maximenlehre <strong>und</strong> <strong>der</strong> Imperativik: Der<br />

kategorische Imperativ hat in seiner allgemeinen Gestalt, <strong>die</strong> er wie jede<br />

an<strong>der</strong>e Maxime gewinnt, Bezug zu einer Vorstellung eines Gesolltseins,<br />

das seinerseits bereits auf das Wohl des Gattungswesen überhaupt als<br />

höchster Zweck gerichtet ist <strong>und</strong> somit alle an<strong>der</strong>en möglichen Zwecke<br />

subordiniert. Da Heidegger übersieht, daß Kant <strong>der</strong> Ontoteleologie (<strong>der</strong><br />

Mensch als Zweck an sich selbst) — zumindest in normativer Absicht —<br />

<strong>die</strong> Ethicoteleologie gegenübergestellt hat, 229 übersieht er natürlich auch,<br />

daß ein Wesen, das sich selbst als Zweck an sich versteht, verschieden ist<br />

von dem gleichen Begriff als <strong>der</strong> Begriff des Gattungswesens, worin in<br />

dessen wahren Gegenwart nicht nur ein bestimmtes Individuum son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>die</strong> Vielheit <strong>der</strong> Gattung gemeint ist. Es handelt sich hier logisch nicht<br />

um Äquipollenz, wonach verschiedene Begriffe (mit verschiedenen<br />

Merkmalen bestimmt) den gleichen Umfang möglicher Gegenstände<br />

betreffen, son<strong>der</strong>n um den Fall, wo ein Begriff mit gleichen Merkmalen<br />

sich auf verschiedene Gegenstände bezieht. M.a.W., es handelt sich a<br />

fortiori um eine Unterbestimmtheit des Verhältnisses des Begriffs vom<br />

höchsten Zweck <strong>und</strong> des Begriffs eines Zweckes an sich selbst im Begriff<br />

des Gattungswesens in uns. Insofern wird vom bestimmbaren Ich zwar<br />

doch auch das komparativ Allgemeine des Gattungswesens <strong>und</strong> erst dann<br />

das Allgemeine aus <strong>der</strong> Notwendigkeit des logischen o<strong>der</strong><br />

transzendentalen Ichs eingeholt.<br />

Die Darstellung in <strong>der</strong> »Kritische Betrachtung mit Rücksicht auf Kants<br />

Interpretation <strong>der</strong> personalitas moralis.« (§ 14a, p. 199) mündet in eine<br />

entschiedene Wendung — Die von Heidegger gestellte Frage nach dem<br />

Zusammenfassenden in <strong>der</strong> vielfältigen Verwendungsweise von »Dasein«<br />

durch Kant in <strong>der</strong> theoretischen Vernunft einerseits <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Verschiedenheit in <strong>der</strong> Daseinsbestimmung als personalitas moralis<br />

(p. 200) an<strong>der</strong>erseits schien mir zuvor zwar schon beantwortet worden zu<br />

sein. Mit Fichte stellt Heidegger aber verstärkt <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

Ontologie des handelnden Ichs: »Wenn das Ich durch <strong>die</strong> Seinsart des<br />

Handelns bestimmt ist, ist <strong>der</strong> Anfang <strong>der</strong> Philosophie, <strong>die</strong> mit dem Ich<br />

anfängt, nicht eine Tat-Sache, son<strong>der</strong>n eine Tat-Handlung.« (p. 201) . Mit<br />

<strong>die</strong>ser alternativen Gegenüberstellung zweier Anfänge <strong>der</strong> Philosophie<br />

229 K.d.U., § 85


-— 231 —<br />

gesteht Heidegger aber nur, daß er <strong>die</strong> Unterscheidung in theoretische <strong>und</strong><br />

praktische Vernunft, <strong>und</strong> wie <strong>die</strong>s doch zu einer Einheit in <strong>der</strong> Vernunft<br />

führen soll, ebenfalls nicht bewältigt. Bleibt man vor <strong>die</strong>sen Alternativen<br />

stehen, ist es gleichermaßen unbefriedigend, wenn dem<br />

naturphilosophischen Anfang o<strong>der</strong> wenn dem philosophischanthropologischen<br />

(humanistischen) Anfang <strong>der</strong> Philosophie ein<br />

unbedingter Vorrang als eigentlicher Anfang <strong>der</strong> Philosophie eingeräumt<br />

wird. — Diese nur vermeintlich ursprüngliche Tatsache <strong>der</strong><br />

Unentscheidbarkeit wird nun zu einer Tat-Handlung genötigt, allerdings<br />

ist jede Tat-Handlung doch auf eine Sache angewiesen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Handlung<br />

vorausliegt, <strong>und</strong> erst daraufhin zur „Tat-Sache“ wird.<br />

Heidegger weist nun <strong>die</strong> Erklärungen, <strong>die</strong> Kant zu einer »Ontologie« des<br />

(schon als Ich verstandenen) Subjekts gegeben haben könnte, insgesamt<br />

zurück; sie enthielten keinen ausreichenden Aufschluß über <strong>die</strong> Seinsweise<br />

des Ich: »Denn mit Rücksicht auf <strong>die</strong> personalitas psychologica werden wir<br />

von vornherein keine Antwort erwarten, da Kant das Ich-Objekt, das Ich<br />

<strong>der</strong> empirischen Apprehension, des empirischen Selbstbewußtseins, direkt<br />

als Sache bezeichnet, also ihm ausdrücklich <strong>die</strong> Seinsart <strong>der</strong> Natur, des<br />

Vorhandenen zuweist, — wobei fraglich ist, ob das mit Recht geschieht«<br />

(p. 201). Heidegger rafft <strong>die</strong> Äußerungen Kants etwa zum Ich <strong>der</strong><br />

empirischen Apprehension in A (ohne <strong>der</strong>en vorrangigen Verbindung zur<br />

bloß numerischen Einheit zu beachten) <strong>und</strong> zum empirisch-pathologischen<br />

Ursprung des Willens (Refl. zu Baumgarten, AA. XVIII, etwa p. 258) zu<br />

Unrecht auf <strong>die</strong>se Weise zusammen. Das empirische Ich im Flusse <strong>der</strong><br />

Erscheinungen wird nicht als Sache bezeichnet, son<strong>der</strong>n im Ich als Namen<br />

von Arten wie ich mir erscheine o<strong>der</strong> als Arten von Verhaltungen, wie ich<br />

bin, werden <strong>die</strong>se Arten von Zuständen etwas Bleibenden im Bewußtsein<br />

zugesprochen, das man daher immerhin als »Sache« bezeichnen könnte<br />

(das bestimmbare Ich). Das bestimmbare (empirische) Ich ist eben nicht als<br />

das <strong>der</strong> Apperzeption aufzufassen, son<strong>der</strong>n ein Existierendes, wenngleich<br />

we<strong>der</strong> als Sache im Sinne <strong>der</strong> den Erscheinungen zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Objekte noch gleich an <strong>und</strong> für sich als Zweck an sich Seiendes. Das<br />

bestimmbare Ich ist weiters <strong>der</strong> Name einer bestimmten Person in concreto<br />

<strong>und</strong> in individuo, <strong>und</strong> somit nicht Sache <strong>und</strong> noch weniger nichts als das<br />

darin durchaus auch repräsentierte Allgemeine des Gattungswesens, als<br />

welches ein Ding, das als Zweck an sich selbst ist, hier vorstellig gemacht<br />

worden ist. Das Substrat des empirischen Ichs in <strong>der</strong> Funktion eines<br />

individualisierenden Namens ist nun nach einiger Selbsterkenntnis das,


-— 232 —<br />

was Natur, Geschichte <strong>und</strong> wir einan<strong>der</strong> angetan haben, <strong>und</strong> erst dann <strong>der</strong><br />

intelligible Charakter des transzendentalen Subjekts. Für eine<br />

»anthropologia transcendentalis« ist es nun nicht genug, Menschen zu<br />

kennen, son<strong>der</strong>n »den Menschen <strong>und</strong> was aus ihm gemacht werden kann<br />

zu kennen.« 230 — Also mehr als das, was Natur <strong>und</strong> Geschichte aus uns<br />

gemacht hat einerseits <strong>und</strong> das was wir einan<strong>der</strong> antun an<strong>der</strong>erseits (den<br />

empirischen Charakter). Dieser wie auch immer plastische empirische<br />

Charakter sei nun als Naturell mit dem intelligiblen Charakter erst<br />

zusammenzufügen. 231 In <strong>der</strong> ersten Kritik (K.r.V., A XV-XVII) hat Kant<br />

»<strong>die</strong> Frage <strong>der</strong> Ermöglichung des Zutreffens unserer Semantik <strong>der</strong><br />

anthropologischen Bedürfnisse, gemäß dem, was Natur, auch Geschichte<br />

aus uns gemacht, mit den Folgeinteressen, ihren Relationen <strong>und</strong> Modi, <strong>der</strong><br />

Freiheit überlassen [...]. Ich nenne <strong>die</strong>se Freiheit prinzipiell Kausalität<br />

<strong>der</strong> Freiheit« 232<br />

Die Bestimmbarkeit <strong>die</strong>ser Erfahrungsmodi kann nun nicht allein<br />

kategorial im Sinne <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft sein; es<br />

bleibt übrigens auch zu bezweifeln, daß <strong>der</strong> historische Erfahrungsmodus<br />

allein durch <strong>die</strong> Kategorien <strong>der</strong> Freiheit in <strong>der</strong> praktischen Vernunft<br />

zureichend beschrieben worden ist. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang Kant aber<br />

vorzuwerfen, er hätte <strong>die</strong> empirische Apperzeption (das empirische Ich im<br />

Flusse <strong>der</strong> Erscheinungen) zu einer Sache im Sinne <strong>der</strong> Vorhandenheit als<br />

Objekt <strong>der</strong> Existenzweise von Gegenständen <strong>der</strong> durch sinnliche<br />

Wahrnehmungen erfüllten Intentionen gemacht, ist trotz <strong>der</strong><br />

Verwobenheit solcher Intentionalitäten mit <strong>der</strong> Intentionalität, <strong>die</strong> auf das<br />

bestimmbare Ich, <strong>die</strong> Person in ihrer zeitlichen — historischen —<br />

Dimension gerichtet ist, eine grobe Verkennung <strong>der</strong> von Heidegger selbst<br />

anhand <strong>der</strong> Differenz von essentia <strong>und</strong> existentia referierten<br />

Bestimmungen des Kantschen Denkens. Die Sachheit <strong>der</strong> Realitas in <strong>der</strong><br />

bloßen Position des Seins, also als Teil <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> realen Möglichkeit,<br />

bezieht sich auf das Konzept des Vorhandenseins immer schon als<br />

Kennzeichen <strong>der</strong> Intentionserfüllung eines seiner Bestimmung nach vom<br />

aktuellen Dasein unabhängig seienden logischen Gegenstandes. Diese<br />

Formbestimmung <strong>der</strong> Intentionalität des Daseins als Bewußtsein ist in <strong>der</strong><br />

transzendentalen Deduktion <strong>der</strong> ersten Kritik zur kategorialen Einheit zu<br />

bestimmen, um <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Sinnerfüllung (Erfahrung) qua<br />

230 Kant; Reflexionen zur Anthropologie, XV, p. 395<br />

231 Michael Benedikt, Anthropozidee, Turia <strong>und</strong> Kant 1995, p. 101<br />

232 Michael Benedikt, Philosophischer Empirismus, Teil 2: Praxis, p 57


-— 233 —<br />

Anschauung hinsichtlich vorgängig als physisch zu charakterisierende<br />

Objekte (im Sinne von Vorhandenem) zu bestimmen. — Hingegen ist <strong>die</strong><br />

Sachheit am als Subjekt bestimmbaren Ich zwar als Objekt zu denken (<strong>und</strong><br />

zwar sowohl als Körper wie als Leiblichkeit), aber nur im Rahmen einer<br />

Evolutionstheorie in phylogenetisch-gattungsmäßiger Allgemeinheit<br />

ontogenetisch als eigenes Substrat kategorial im gleichen Sinne wie<strong>der</strong> zu<br />

haben. Ontogenetisch <strong>und</strong> soziologisch lassen sich Idealtypen zur<br />

Klassifikation dynamischer Prozessabläufe heranziehen. Ontisch ist <strong>die</strong><br />

»Sache« des bestimmbaren Ichs als Name einer sich verzeitlichenden<br />

Person jedoch kein Gegenstand einer kategorialen Konstitution (schon gar<br />

nicht von Kategorien des bloßen Verstandesurteils), son<strong>der</strong>n gehört zu <strong>der</strong><br />

Determination <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> auf sich zukommenden Bedingungen<br />

künftiger Handlungen, sofern <strong>die</strong>se frei genannt werden dürfen.<br />

Heidegger stellt einen negativ formulierten Zusammenhang zwischen dem<br />

Ich <strong>der</strong> transzendentalen Apperzeption <strong>und</strong> dem Ich <strong>der</strong> personalitas<br />

moralis her (p. 205): Heidegger behauptet, daß Kant nicht zu zeigen<br />

vermocht hätte, daß das »Ich handle« selbst »nicht so, wie es sich gibt, in<br />

<strong>die</strong>ser sich bek<strong>und</strong>enden ontologischen Verfassung interpretiert werden<br />

kann.« (p. 206) — Eben zuvor hat Heidegger selbst in Gestalt eines<br />

Vorwurfes an Kant Anlaß gegeben zu zeigen, weshalb Kant <strong>die</strong><br />

Anwendung <strong>der</strong> Kategorien von Naturgegenständen nicht für das Dasein<br />

des Ichs für geeignet erklärt hat. Nun erwartet sich Heidegger von <strong>der</strong><br />

Tradition <strong>der</strong> Ontologie, in welcher sich Kant Heideggers Auffassung nach<br />

trotzdem noch bewegt, weitere Hinweise, wie <strong>die</strong>se ontologisch,<br />

wenngleich negative, doch präzise Bestimmung einer Seinsweise noch<br />

weitere Hinweise hergibt, welche eine ontologische Interpretation des Ichs<br />

nach den Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Paralogismen noch erlauben können soll.<br />

Seine Überlegung beruht darauf, daß Kant <strong>der</strong> Vorstellung des praktischen<br />

Gegenstandes eines Zweckes zwar im teleologischen Urteil eine<br />

intentionale Form geben kann, aber <strong>die</strong> transzendentale Differenz<br />

zwischen causa finalis <strong>und</strong> finis in <strong>der</strong> praktischen Philosophie für<br />

bedeutungslos erklärt. Inwiefern <strong>die</strong>se Öffnung des Horizontes des<br />

theoretischen Interesses an <strong>der</strong> »Ganzheit <strong>der</strong> Erfahrung« von einem<br />

bestimmten Objekt zum Horizont <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Reich <strong>der</strong><br />

Zwecke) ausgerechnet mit <strong>der</strong> von Heidegger referierten scholastischnaturontologischen<br />

Seite Kants zu tun haben könnte, bleibt mir allerdings<br />

verborgen. Es wird in <strong>die</strong>ser Fragestellung schließlich auch von Heidegger<br />

ein Neuansatz versucht: Die Mängel <strong>der</strong> dogmatischen Sittlichkeit


-— 234 —<br />

(insbeson<strong>der</strong>e hinsichtlich des Freiheitsbegriffes im Rahmen einer<br />

substantialen Sittlichkeit) lassen bei <strong>der</strong> ontischen Behandlung des Ichs <strong>der</strong><br />

personalitas moralis Zweifel zu, ob nicht <strong>der</strong> ontologischen Fragestellung<br />

ein ihriges zu tun übrig bleibe. (p. 207) — Das mag ja eben durchaus sein,<br />

aber warum wie<strong>der</strong>um unmittelbar nach dem Vorbild <strong>der</strong> Naturontologie?<br />

Außerdem wird hier nur <strong>die</strong> rationale metaphysische Argumentation in<br />

ihrer schlichten Gegenüberstellung von Intellection <strong>und</strong> Pathologie des<br />

Begehrens herangezogen, ohne auf <strong>die</strong> Geglie<strong>der</strong>theit <strong>der</strong> Maximenlehre<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> inten<strong>die</strong>rten Verknüpfung des Gefühls <strong>der</strong> Achtung mit dem<br />

Begriff <strong>der</strong> Pflicht als nicht-rein synthetischer Begriff a priori in <strong>der</strong><br />

zweiten Kritik zu achten. 233 — Schon das Erfahrungmachen in § 26 <strong>der</strong><br />

ersten Kritik (B 518) verlangte zur theoretischen Konstitution des<br />

transzendentalen Subjekts bereits nach dem Subjekt <strong>der</strong> praktischen<br />

Vernunft, <strong>und</strong> gehört somit womöglich nicht mehr zur<br />

transzendentalanalytischen Methode, son<strong>der</strong>n zu <strong>der</strong> von Kant im<br />

Paralogismus entgegengesetzte Methode, das Bewußtsein synthetischmetaphysisch<br />

als Wesen vorauszusetzen. Insofern gewinnt Heideggers<br />

Darstellung des personalen Subjekts (in <strong>der</strong> Phänomenologie) bei Kant als<br />

unmittelbar an scholastische Traditionen anschließend, auch wie<strong>der</strong> an<br />

Gewicht. So würde auch ich eine Kritik an <strong>die</strong>ser Darstellung gegen Kant<br />

selbst aufrecht halten: Der Paralogismus <strong>der</strong> psychologischen Idee ist mit<br />

<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Mendelsohnschen Seelenlehre im Rahmen einer<br />

ontologischen Erörterung des Daseins nicht erschöpft, <strong>und</strong> auch nicht<br />

durch eine (selbst durchaus mögliche) synthetische Metaphysik <strong>der</strong><br />

Psychologie in <strong>der</strong> theoretischen o<strong>der</strong> praktischen Vernunft ersatzlos außer<br />

Kraft zu setzen. Diese kritische Haltung wird meines Erachtens durch <strong>die</strong><br />

psychologischen Abschnitte in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft (Gefühl<br />

<strong>der</strong> Achtung nach dem Vorbild des Erhabenen aus <strong>der</strong> dritten Kritik<br />

gegenüber <strong>der</strong> Psychologie von Engeln in <strong>der</strong> Dialektik) einerseits wie<br />

durch eine kritische Untersuchung <strong>der</strong> Maximenlehre insbeson<strong>der</strong>e<br />

hinsichtlich des kategorischen Imperativs <strong>und</strong> dessen Beziehung <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>ten Geltung zum schlichten Wollenkönnen<br />

nach dem Vorbild Cusanus an<strong>der</strong>erseits von Kant selbst unterstützt. — Die<br />

Frage nach <strong>der</strong> ontologischen Methode überhaupt, <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Naturen des Subjekts (personalitas transcendentalis, psychologica,<br />

moralis) in ein einheitliches Verhältnis <strong>der</strong> dadurch bestimmten<br />

233 Vgl. Konrad Cramer, Metaphysik <strong>und</strong> Erfahrung in Kants Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Ethik, in:<br />

Schönrich <strong>und</strong> Kato (Hrsg.),Kant in <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, Suhrkamp<br />

Frankfurt/Main 2 1997, p. 280 - 325


-— 235 —<br />

Seinsweisen zu bringen, wirft Heidegger allerdings zu Recht auf.<br />

Gegenüber Husserls f<strong>und</strong>ierenden Zuordnungen von Regionalontologie<br />

<strong>und</strong> Wissenschaftsbereichen hat Heidegger eine systematische Lehre <strong>der</strong><br />

Intentionalitätsarten wie<strong>der</strong>um verworfen. Kant aber hat um das<br />

transzendentale Subjekt in nuce durchaus ein System von<br />

Regionalontologien entworfen, ohne damit ein bestimmtes System <strong>der</strong><br />

Wissenssoziologie impliziert zu haben: Es handelt sich eben nur um <strong>die</strong><br />

Einteilung in theoretische <strong>und</strong> in praktische Vernunft, <strong>der</strong>en innere<br />

Verflochtenheit als offenbar unteilbarer Rest <strong>der</strong> Diaresis allerdings nach<br />

wie vor nur vor sich her geschoben wird. Die Aufgabe, <strong>die</strong> ich mir in<br />

<strong>die</strong>ser Arbeit gestellt habe, ist aber nicht vorrangig <strong>die</strong> Erklärung, wie das<br />

Subjekt des Daseins zu Bewußtsein <strong>und</strong> zu einem Ich kommt, son<strong>der</strong>n<br />

eben wie <strong>die</strong> von Kant behauptete Apriorität von Kategorien zu<br />

deduzieren sei <strong>und</strong> bleibt so im Wesentlichen auf <strong>die</strong> Untersuchung <strong>der</strong><br />

Doktrin <strong>der</strong> Urteilskraft konzentriert.<br />

17) Gegenstand, Schema, Sprache<br />

Die seit Sein <strong>und</strong> Zeit (§ 39) vorbereitete Kehre, welche jede<br />

anthropologische Reflexion aus dem F<strong>und</strong>ament des Daseins bei Bedarf<br />

wie<strong>der</strong> zu entfernen erlaubt, beruht im Wesentlichen auf <strong>die</strong><br />

naturontologische Beschränktheit <strong>der</strong> hermeneutischen Methode<br />

Heideggers. Heidegger unterstellt offenbar dem Sein als sich<br />

differenzierendes Seiendes unabhängig vom transzendentalen Subjekt des<br />

Daseins eine gr<strong>und</strong>sätzlich hermeneutische Verfaßtheit. Nun hat sich<br />

schon in <strong>der</strong> Scholastik eine Informationslehre etabliert, welche <strong>die</strong><br />

Formen <strong>der</strong> Materie als bereits im göttlichen Verstand vorausgedacht<br />

betrachtet hat. Im Rahmen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaftsentwicklung zeigt<br />

sich zwischen Systemtheorie <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Gleichgewichtsbedingungen <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Kybernetik ebenfalls eine Idee von einer Information, <strong>die</strong> als solche<br />

unabhängig von einem Bewußtsein nicht nur existiert, son<strong>der</strong>n auch als<br />

Information wirksam werden soll. 234 — In <strong>der</strong> Wahrheitsfrage kann aber<br />

auch Heidegger nicht umhin, von <strong>der</strong> Intentionalität auszugehen, auch<br />

wenn er das Dasein selbst als Lichtung des Seins an <strong>der</strong> Grenze von Ontik<br />

<strong>und</strong> Ontologie zum F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong> Wahrheit macht, in welcher erst das<br />

Seiende sich ankündigt <strong>und</strong> damit <strong>die</strong> Gerichtetheit <strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />

234 So auch in <strong>der</strong> Deutung <strong>der</strong> Quantenphysik nach <strong>der</strong> Kopenhagener Schule. Vgl.<br />

Gerhard Grössing, Quantum Cybernetics, Springer New York 2000


-— 236 —<br />

als intentionale Verfaßtheit des Bewußtseins ontologisch wie<strong>der</strong> als<br />

Gerichtetheit des Seins in Stellung bringt. Die Einsicht, daß das<br />

Bewußtsein nicht nur durch ein Geflecht aktuell orientierter<br />

Intentionalitäten charakterisiert ist, <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Weise <strong>der</strong> wechselseitigen<br />

Verfremdung des Daseins ins Sein <strong>und</strong> des Seins ins Dasein in <strong>die</strong><br />

Diskussion <strong>der</strong> Struktur des Bewußtseins einzubringen, ist zweifellos ein<br />

Ver<strong>die</strong>nst Heideggers, doch bleibt <strong>der</strong> Verlust des individuellen Subjekts<br />

in <strong>der</strong> F<strong>und</strong>amentalontologie Heideggers noch eigens für <strong>die</strong><br />

Wahrheitsfrage zu überlegen. Da zeigt sich nämlich, daß mit <strong>der</strong><br />

Auffassung Heideggers von <strong>der</strong> hermeneutischen Methode <strong>der</strong><br />

Wahrheitsfrage schließlich jede Basis entzogen wird, indem letztlich dem<br />

klassischen Adequationsprinzip des ens tamquam verum wie<strong>der</strong>um das<br />

Prinzip <strong>der</strong> Identität von Dasein <strong>und</strong> Seiendheit (<strong>und</strong> eben nicht von<br />

Dasein <strong>und</strong> Sein, wie es für Heideggers Konzeption konsequent wäre)<br />

schon vor jedem eigentlichen Urteilsakt voraussetzungsvoll zu Gr<strong>und</strong>e<br />

gelegt worden ist. Erkennbarkeit wird vorausgesetzt, nur Irrtum ist<br />

individuell möglich. Das Kompossibilitätsproblem wie <strong>die</strong> Diskussion um<br />

den formalen <strong>und</strong> auch qualitativen Charakter <strong>der</strong> Bedingungen <strong>der</strong><br />

Durchbestimmbarkeit des disjunktiven Urteils bleiben so weitgehend<br />

ausgeblendet. 235<br />

a) Heideggers Kritik an Husserls Intentionalitätsanalyse<br />

Der hermeneutische Ansatzpunkt ist von Kant zweifellos in <strong>der</strong> Erörterung<br />

<strong>der</strong> Übergänge des Substanzbegriffes zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt we<strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong> ersten Kritik (hier anhand den metaphysischen<br />

Abschnitten des synthetischen Gr<strong>und</strong>satzes <strong>der</strong> Substanzkategorie) noch<br />

in den Paralogismen (hier anhand <strong>der</strong> ersten Fassung A behandelt)<br />

entsprechend berücksichtigt worden, obwohl das »ich denke« im Denken<br />

eine wie auch immer hermeneutisch faßbare Funktion besitzen muß. 236<br />

Zwar wären einige Ansatzpunkte nicht nur in <strong>der</strong> ersten Kritik zu finden:<br />

so das »wie ich bin« in <strong>der</strong> Reihe von »daß ich bin«, »wie ich bin« <strong>und</strong><br />

235 Das disjunktive Urteil als nicht auschließendes „o<strong>der</strong>“ (p, o<strong>der</strong> q, o<strong>der</strong> r ... o<strong>der</strong> n) ist<br />

<strong>die</strong> logische Form <strong>der</strong> Totalität alles Existierenden; im Kompossibilitätsproblem<br />

werden <strong>die</strong> Bedingungen des gleichzeitigen Zusammenseins von Verschiedenem<br />

untersucht <strong>und</strong> führt im Falle <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Kompossibilität<br />

(Zusammensetzbarkeit) zum ausschließenden „o<strong>der</strong>“ (entwe<strong>der</strong> p, o<strong>der</strong> q, o<strong>der</strong> r ...<br />

o<strong>der</strong> n) <strong>und</strong> zum Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch<br />

236 Wie in <strong>der</strong> Gegenüberstellung von compositio <strong>und</strong> nexus einerseits <strong>und</strong> Intuition<br />

<strong>und</strong> Diskursivität an<strong>der</strong>erseits abzulesen ist (K.r.V., B 201/A 161). Vgl hier im dritten<br />

Abschnitt das dritte Kapitel, § 16


-— 237 —<br />

»wie ich mir erscheine« im § 25 <strong>der</strong> transzendentalen Deduktion; auch <strong>die</strong><br />

Unterscheidung in Beschreiben <strong>und</strong> Darstellen o<strong>der</strong> aber auch <strong>die</strong><br />

sprachphilosophisch relevanten Partien <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft, wo<br />

Kant sich mit <strong>der</strong> metaphorischen Funktion <strong>der</strong> Sprache beschäftigt, bieten<br />

Ausblicke auf eine sprachphilosophische Position Kantens. 237<br />

Betreffs des intentionalen Charakters des Bewußtseins zeigt wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong><br />

Umstand, daß im Rahmen <strong>der</strong> Psychologie des transzendentalen Subjekts<br />

(also zwischen rationaler Psychologie des »ich denke« <strong>und</strong> <strong>der</strong> rationalen<br />

Physiologie des inneren Sinnes) <strong>die</strong> Spontaneität schon gegenüber dem<br />

inneren Sinn mit Einbildungskraft begabt ist, <strong>und</strong> insofern eine Basis zu<br />

einer intentionalen Interpretation von Vorstellungsinhalt, intentionale<br />

Gegenständlichkeit im Urteil <strong>und</strong> davon zu unterscheidendes Ding liefert,<br />

sodaß <strong>die</strong> Intentionalität selbst eben nicht als ein von Kant vernachlässigter<br />

Ansatz zur Behandlung <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Beschaffenheit des<br />

Bewußtseins abgetan werden kann. Daß in <strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong><br />

Antizipationskategorie durchaus <strong>die</strong> scholastische Spannung, wie sie<br />

zwischen Thomas <strong>und</strong> Duns Scotus gemäß <strong>der</strong> Gewichtung <strong>der</strong><br />

aristotelischen <strong>und</strong> augustinischen Traditionen hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> intentionalen Verfaßtheit des Bewußtseins zum Ausdruck<br />

kommt, kann wohl nicht bestritten werden; zumal, wenn man Kants<br />

Unterscheidung in theoretische <strong>und</strong> praktische Vernunft vor <strong>die</strong>sem<br />

scholastischen Hintergr<strong>und</strong> ernst nimmt. 238 — So halte ich <strong>die</strong> Analyse <strong>der</strong><br />

Intentionalität, so wie sie Heidegger von Brentano <strong>und</strong> Husserl sowohl<br />

übernommen, aber auch abgewandelt hat, für eine ausgezeichnete<br />

Gelegenheit, <strong>die</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Sprachphilosophie überhaupt weitgehend<br />

237 K.d.U., vor allem § 59: »Unsere Sprache ist voll von <strong>der</strong>gleichen <strong>und</strong> indirekten<br />

Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch <strong>der</strong> Ausdruck nicht das eigentliche<br />

Schema für den Begriff, son<strong>der</strong>n bloß ein Symbol für <strong>die</strong> Reflexion enthält.«<br />

238 Dieter Henrich, Der Begriff <strong>der</strong> sittlichen Einsicht <strong>und</strong> Kants Lehre vom Faktum <strong>der</strong><br />

Vernunft, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen <strong>und</strong> Handeln, Hrsg.<br />

Gerold Prauss, Neue Wissenschaftliche Bibliothek: Philosophie, Kiepenheuer <strong>und</strong><br />

Witsch, Köln 1973, p. 223 ff.. H. zeigt, daß Kant sich <strong>der</strong> Schwierigkeit bewußt war,<br />

daß <strong>der</strong> Wille nicht selbst aus den Erkenntnisvermögen entspringen kann, <strong>und</strong><br />

versucht hat, zwischen zwischen Positionen <strong>der</strong> rationalen Ethik (Clarke, Wollaston,<br />

Wolff) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Philosophie des „moral sense« (Shaftesbury, Hutchenson, Butler)<br />

(p. 233) zu vermitteln. Historisch betrachtet, übernimmt Kant von Crusius <strong>die</strong> Kritik<br />

am Wolffschen Rationalismus (Der Wille ist nicht aus dem Erkenntnisvermögen<br />

abzuleiten) <strong>und</strong> fügt hier <strong>die</strong> genauere Formulierung des Problems von Hutchenson<br />

hinzu. Als Ergebnis <strong>die</strong>ser Operation ist folgendes Verhältnis zu denken: <strong>die</strong><br />

theoretische Vernunft läßt zwar <strong>die</strong> Richtigkeit einer Handlung einleuchten, ist aber<br />

nicht <strong>die</strong> Quelle <strong>der</strong> Billigung <strong>und</strong> des Antriebes zur Handlung. Das Gute selbst<br />

wird nicht erkannt, son<strong>der</strong>n gebilligt. Allerdings ist unsere Billigung nicht <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong> des Guten, gut zu sein.


-— 238 —<br />

unterbelichtete Bedeutung <strong>der</strong> Anschauung für <strong>die</strong> Wahrheitsfunktion von<br />

empirischen Aussagen herauszustellen; allerdings ohne behaupten zu<br />

wollen, <strong>die</strong> Wahrheit liege überhaupt o<strong>der</strong> auch nur für Kant in <strong>der</strong> bloßen<br />

Anschauung selbst. Vorrangig soll aber gezeigt werden, wie Heideggers<br />

Ansatz <strong>der</strong> Hermeneutik als Methode <strong>der</strong> Regelbildung des Aussagens<br />

von Wahrheit <strong>die</strong> Basis <strong>der</strong> Erörterung des Wahrheitsproblems von<br />

Aussagesystemen hinsichtlich des (nach Heideggers Subjektivismus bloß<br />

innerweltlich f<strong>und</strong>iertem) Seienden verfehlt. Diese Verfehlung <strong>der</strong><br />

ontologischen Basis des Seienden ist im Rahmen des Heideggerschen<br />

Gedankengangs schon in <strong>der</strong> Vernachlässigung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seinsmodi<br />

des Daseins (also solche, <strong>die</strong> nicht vom Seinsmodus des<br />

Selbstverständnisses als In-<strong>der</strong>-Welt-Seiendes erfaßt sind) in Sein <strong>und</strong> Zeit<br />

gr<strong>und</strong>gelegt. Abgesehen vom Problem Heideggers, mit seiner<br />

F<strong>und</strong>amentalontologie sowohl den Begriff <strong>der</strong> Geschichte ursurpatorisch<br />

verfehlt wie auch naturontologisch nur eine Halbwelt zustande gebracht<br />

zu haben, bleibt allerdings <strong>der</strong> Mangel seiner Daseinshermeneutik<br />

hinsichtlich einer transzendentalanalytischen Kritik <strong>der</strong><br />

Gesellschaftsontologie das Hauptärgernis. 239 Auf eine vollständige Kritik<br />

Heideggers kann ich mich hier aber nicht einlassen, 240 son<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />

Fragestellung beschränkt sich auf <strong>die</strong> Frage, ob Heideggers<br />

Wahrheitskonzeptionen überhaupt geeignet sind, <strong>die</strong> logische<br />

Wahrheitsfrage, also <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Wahrheitsfähigkeit von Aussagen,<br />

einer Beantwortung näher zu bringen. — Ich verwende dazu <strong>die</strong> Arbeit<br />

von Carl Friedrich Gethmann, Heideggers Wahrheitskonzept in seinen<br />

Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von Sein <strong>und</strong> Zeit (§ 44) denn dort<br />

wird <strong>die</strong> Kritik Heideggers an Husserls Anti-Psychologismus zum<br />

Ausgangspunkt genommen. In § 44a von Sein <strong>und</strong> Zeit bleibe Heidegger<br />

unscharf: »Die Kritik am ontologischen Konzept <strong>der</strong> Substanzialität<br />

(Wahrheit als Beständigkeit <strong>und</strong> Anwesenheit) erscheint textlich<br />

unentwirrbar verknäult mit einer distanzierten Stellungnahme zu Husserls<br />

Psychologismus-Kritik. Die Definition <strong>der</strong> Wahrheit als Übereinstimmung<br />

wird zunächst kritisiert, dann im Sinne eines „So-Wie“ reformuliert,<br />

schließlich verschwindet sie in <strong>der</strong> abschließenden Definition völlig.«<br />

(S. 104)<br />

239 Vgl. auch Michael Benedikt, Anthropozidee, Turia <strong>und</strong> Kant 1995, p. 43 ff.<br />

240 Vgl. dazu weiters: Michael Benedikt, Heideggers Halbwelten: Vom Expressionismus<br />

<strong>der</strong> Lebenswelt zum Postmo<strong>der</strong>nismus des Ereignisses, Turia <strong>und</strong> Kant Wien 1991.


-— 239 —<br />

Der fragliche Text in Sein <strong>und</strong> Zeit umfaßt gerade ca. 5 Druckseiten, <strong>der</strong><br />

Text <strong>der</strong> Marburger Vorlesung 1925/26, <strong>der</strong> sich etwa in <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong><br />

Paragraphen mit dem Wahrheitsthema befaßt, umfaßt etwa 94<br />

Druckseiten. Dort wird in den §§ 6-10 das Problem in § 44a im Kontext <strong>der</strong><br />

zeitgenössischen Diskussion ausführlicher behandelt. Heidegger gibt<br />

Husserls Kritik am Psychologismus in <strong>der</strong> Logik recht, Husserl habe aber<br />

„einen zu hohen Preis bezahlt“. »Husserl habe gegen den Psychologismus<br />

zu Recht auf den Unterschied von Urteilsvollzug <strong>und</strong> -gehalt hingewiesen,<br />

er habe jedoch <strong>die</strong> methodische Unterscheidung mit einer ontologischen<br />

Unterscheidung kof<strong>und</strong>iert, nämlich <strong>der</strong>jenigen von idealer <strong>und</strong> realer<br />

Seinssphäre. Husserl habe — so läßt sich Heideggers Kritik<br />

zusammenfassen — unbemerkt <strong>und</strong> darum ungerechtfertigt unterstellt,<br />

daß <strong>der</strong> Anti-Psychologismus (<strong>die</strong> Unterscheidung von Vollzug/Gehalt)<br />

nur als Idealismus (durch <strong>die</strong> Unterscheidung von real/ideal) zu haben<br />

sei. Das entspricht <strong>der</strong> tentativen Selbstkritik an den Prämissen seiner<br />

Psychologismus-Kritik, wie sie in seinen späteren logischen Schriften,<br />

nämlich in „Formale <strong>und</strong> transzendentale Logik“, <strong>und</strong> in den von Ludwig<br />

Landgrebe redigierten Texten, <strong>die</strong> unter dem Titel „Erfahrung <strong>und</strong> Urteil“<br />

erschienen sind, durchgeführt wird. [...] Husserl problematisiert in <strong>die</strong>sen<br />

Spätschriften ansatzweise <strong>die</strong> Hauptprämissen <strong>der</strong> „Logischen<br />

Untersuchungen“, wonach »<strong>die</strong> Logik sich auf das Denken <strong>und</strong> nicht auf<br />

<strong>die</strong> Sprache beziehe (Mentalismus) <strong>und</strong> wonach <strong>die</strong> Logik primär nicht<br />

Regeln vorschreibt, son<strong>der</strong>n Gesetze einer eigenen Seinssphäre beschreibt<br />

(Idealismus). Gegen den Mentalismus erwägt Husserl in <strong>der</strong> Schrift<br />

„Formale <strong>und</strong> transzendentale Logik“, ob nicht <strong>die</strong> Logik primär auf <strong>die</strong><br />

Sprache zu beziehen sei, wobei dann aber im Interesse <strong>der</strong> Vermeidung<br />

eines neuen Psychologismus zwischen Rede-Vorkommnis <strong>und</strong> Sprach-<br />

Schema zu unterscheiden ist« (S. 105). Bis dahin kann ich durchaus folgen,<br />

doch halte ich <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen Rede-Vorkommnis <strong>und</strong><br />

Sprach-Schema schon in den Logischen Untersuchungen (LU I)<br />

vorgebildet, wenn Husserl zwischen den inneren Monolog <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Ausdrucksintention (<strong>der</strong> kommunikativen, nicht <strong>der</strong> darstellenden<br />

Funktion) unterscheidet. Gethmanns Problemaufstellung ist meines<br />

Erachten nach gerade anhand des Husserlschen Textes aus <strong>der</strong> Britannica<br />

auch zwischen LU I <strong>und</strong> LU IV zu diskutieren möglich. 241 Meines<br />

Erachtens setzt <strong>die</strong> Unterscheidung in innerem Monolog <strong>und</strong><br />

241 Und zwar anhand des Konzeptes <strong>der</strong> reinen Grammatik, <strong>die</strong> Husserls allerdings in<br />

LU IV noch ungebrochen als Teil <strong>der</strong> idealen Sphäre ansieht; <strong>und</strong> zwar ausdrücklich<br />

als Erörterung <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Prädikatenlogik.


-— 240 —<br />

Ausdrucksfunktion <strong>der</strong> Sprache in LU I 242 bereits sogar implizite <strong>die</strong><br />

Möglichkeit einer transzendentalen Differenz voraus. Dies ist vielleicht<br />

deshalb so schwierig zu ersehen, da <strong>die</strong> Kriterien <strong>der</strong> Geltung (Evidenz) im<br />

Abschnitt <strong>der</strong> Untersuchung des inneren Monologes we<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

sinnerfüllende Intention in <strong>der</strong> äußeren Anschauung voraussetzt noch <strong>die</strong><br />

Erfüllung <strong>der</strong> kommunikativen Intention, son<strong>der</strong>n allein <strong>der</strong> einsamen<br />

Rede im inneren Monolog <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Kriterien nach logischer<br />

Wi<strong>der</strong>spruchsfreiheit <strong>und</strong> Gebbarkeit in innerer Aschauung überantwortet<br />

bleibt. Nach <strong>die</strong>ser Reduktion kann von einer transzendentalen Differenz<br />

nicht <strong>die</strong> Rede sein. Jedoch bleibt systematisch betrachtet <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

zu erwägen, nicht nur anhand <strong>der</strong> darstellenden Funktion son<strong>der</strong>n auch<br />

anhand <strong>der</strong> kommunikativen Funktion <strong>der</strong> Intentionalität eine<br />

transzendentale Differenz anzusetzen. Und das ist noch schwieriger zu<br />

verstehen, weil Kant das Verhältnis <strong>der</strong> Individuuen innerhalb <strong>der</strong><br />

Gattung nicht mit einer transzendentalen Differenz belegen wollte, da ihm<br />

sonst <strong>der</strong> Gemeinsinn <strong>und</strong> <strong>die</strong> unmittelbare Mitteilbarkeit des Gefühls<br />

abhanden gekommen wäre. 243 Husserl hat später in den Cartesianischen<br />

Medidationen versucht, <strong>die</strong>ses Problem durch den sogenannten<br />

Intermonadologismus zu entschärfen. Es reicht für hier aber allein <strong>die</strong><br />

darstellende Funktion <strong>der</strong> Intentionalität zu betrachten. Husserl entwickelt<br />

in den LU I rudimentär <strong>und</strong> ausführlicher in LU VI 244 das Konzept <strong>der</strong><br />

sinnerfüllenden Intention ausdrücklich in dem Spielraum, daß <strong>die</strong><br />

Sinnerfüllung zwar an <strong>der</strong> Anschauung gebildet wird, aber auch gerade<br />

aus <strong>der</strong> Abhebung vom Anschaulichen gedacht werden können muß. Das<br />

entspricht im Kantschen Gedankengang <strong>der</strong>jenigen Differenz, <strong>die</strong> mit dem<br />

Unterschied von Wahrnehmungsurteil <strong>und</strong> Erfahrungsurteil<br />

gekennzeichnet wird. Husserls Konzept ist aber noch unbestimmter als<br />

Kants systematisch getroffene Unterscheidung in Anschauung <strong>und</strong><br />

Erfahrung, <strong>die</strong> ihre größere Stringenz <strong>der</strong> Beschränkung auf sinnliche<br />

Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong>en impliziten Immanenz mit den Naturprozessen<br />

(Physik) verdankt, während Husserl gezielt den Begriff <strong>der</strong> Erfahrung vom<br />

Anfang an weiter steckt <strong>und</strong> gleich das Symbolische <strong>und</strong> Zeichenhafte<br />

miteinbezieht. Trotzdem bleibt hier sowohl für <strong>die</strong> Konstruktion in reiner<br />

242 Edm<strong>und</strong> Husserl, Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie<br />

<strong>und</strong> Theorie des Erkennens (LU I-VI), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 21913, hier<br />

LU I (Ausdruck <strong>und</strong> Bedeutung), § 8<br />

243 K.d.U., u.a. B 66 f.<br />

244 Edm<strong>und</strong> Husserl,, Logische Untersuchungen VI, Elemente einer<br />

Phänomenologischen Aufklärung <strong>der</strong> Erkenntnis, Max Niemeyer Verlag, Tübingen<br />

2 1921


-— 241 —<br />

Anschauung Kantens wie für <strong>die</strong> unvollständige Definition <strong>der</strong><br />

sinnerfüllenden Intentionen Husserls eine Differenz zwischen Denken,<br />

Konstruktion <strong>und</strong> Konstrukt einerseits <strong>und</strong> zwischen Konstrukt <strong>und</strong><br />

sinnerfüllen<strong>der</strong> Intention in transzendental-objektiver Geltung<br />

an<strong>der</strong>erseits. 245 Die Selbstinterpretation Husserls, <strong>die</strong> hier von Gethmann<br />

herangezogen wurde, geht also vermutlich an sich selbst vorbei, sollte sie<br />

in <strong>der</strong> Tat das Problem <strong>der</strong> sinnerfüllenden Intention innersprachlich <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong>art zum grammatikalischen Problem spezifiziert bewußtseinsimmanent<br />

lösen wollen. Es wird hiebei übersehen, daß für unser Bewußtsein nicht<br />

nur empirische Unabweislichkeiten son<strong>der</strong>n auch ideelle<br />

Unabweislichkeiten das F<strong>und</strong>ament des Faktischen (Evidenz) abgeben,<br />

was gerade hinsichtlich <strong>der</strong> Schwierigkeit, <strong>der</strong> Intentionalität des inneren<br />

Monologs ohne kommunikative Ausdrucksintention <strong>und</strong> ohne aktuell<br />

relevante äußere erfüllende Anschauung noch eine Formbestimmung<br />

geben zu können, von Bedeutung sein wird. Das Problem <strong>der</strong><br />

Formbestimmung <strong>der</strong> Intention besteht im inneren Monolog auf einer<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Weise, da auch nach <strong>der</strong> transzendentalen Reduktion z. B.<br />

<strong>die</strong> Erscheinungen <strong>der</strong> Objekte als solche erkennbar sind, <strong>und</strong> nur <strong>die</strong><br />

Transzenden<strong>die</strong>rung zu wirklichen Gegenständen ausgeklammert worden<br />

ist. Im inneren Monolog wird <strong>die</strong> Ausschließlichkeit <strong>der</strong> Orientierung <strong>der</strong><br />

Intentionalität auf Kategorialität <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Ordnung <strong>der</strong><br />

Erfüllungssynthesen allerdings in Frage gestellt. Diese Frage ist dreigeteilt:<br />

Zuerst sind einerseits verschiedene Arten von Erfüllungssynthesen <strong>und</strong><br />

auch verschiedene Kategoriensysteme anzunehmen, an<strong>der</strong>erseits muß<br />

danach <strong>die</strong> Frage gestellt werden, ob überhaupt aus den verschiedenen<br />

Arten von Erfüllungssynthesen ein System entsprechen<strong>der</strong> Kategoriearten<br />

mechanisch folgen muß. 246 Schließlich ist aber <strong>die</strong> Frage unabweislich, ob<br />

es eine Form <strong>der</strong> Intention gibt, <strong>die</strong> nicht kategorial bestimmt ist. Kant hat<br />

das nach Berücksichtigung aller relevanten Umstände in <strong>der</strong> Tat<br />

behauptet. — Wie noch weitere Kriterien gef<strong>und</strong>en könnten, will ich hier<br />

nicht weiter erörtern, son<strong>der</strong>n nur so viel sagen: Keinesfalls ist von selbst<br />

verständlich, daß das gesuchte Kriterium für <strong>die</strong> Formbestimmung <strong>der</strong><br />

Intentionalität im einsamen inneren Monolog abseits von empirischer<br />

Anschauung <strong>und</strong> kommunikativer Ausdrucksintention in <strong>der</strong> schlichten<br />

Bewußtseinsimmanenz des subjektiv vereinzelten Bewußtseins gef<strong>und</strong>en<br />

245 LU VI, cit. op., insbeson<strong>der</strong>e §§ 13-15<br />

246 Heidegger folgt nicht <strong>der</strong> von Husserl geäußerten Absicht, aus dem System von<br />

Regionalontologien (sei ein solches überhaupt möglich o<strong>der</strong> auch nur sinnvoll) noch<br />

das System <strong>der</strong> Einzelwissenschaften ableiten zu wollen. Dem schließe ich mich an.


-— 242 —<br />

werden muß, zumal man ja imstand ist, an abwesende Objekte <strong>der</strong><br />

Außenwelt zu denken. Ebenso vermag man in einsamer innerer Rede an<br />

mathematische o<strong>der</strong> grammatikalische Gegenstände zu denken, <strong>die</strong><br />

keineswegs aus <strong>der</strong> Immanenz (d. h. aus <strong>der</strong> Struktur des Bewußtseins)<br />

allein zu erklären sind. — Das Phänomen des Bewußtseins, insbeson<strong>der</strong>e<br />

des Selbstbewußtseins, ist bestenfalls als Problem erfaßt worden, aber von<br />

einer Aufklärung so weit entfernt wie ehedem. Was zum Bewußtsein zu<br />

sagen ist, hat Husserl in <strong>der</strong> Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins<br />

gr<strong>und</strong>gelegt, später hat Husserl versucht, <strong>die</strong> Immanenz <strong>der</strong><br />

transzendentalen Phänomenologie unabhängig von einem subjektiven<br />

(soll wohl wechselweise heißen, individuellen o<strong>der</strong> empirisch-konkreten)<br />

Bewußtsein zu f<strong>und</strong>ieren.<br />

So will mir allerdings nicht einleuchten, weshalb <strong>die</strong> sprachanalytische<br />

Reduktion auf <strong>die</strong> Differenz von Redevorkommnis <strong>und</strong> Sprach-Schema im<br />

Britannica-Artikel etwas an <strong>der</strong> Idealität <strong>der</strong> Grammatik aus den LU IV<br />

än<strong>der</strong>n sollte. Ich vermag <strong>die</strong> Äußerungen des mittleren Husserl also auch<br />

nicht als Aufhebung o<strong>der</strong> Lockerung <strong>der</strong> Unterscheidung von Idealität<br />

<strong>und</strong> Realität eindeutig festzumachen. — Trotzdem ist <strong>der</strong> Kritik<br />

Heideggers am Antipsychologismus Husserls gerade wegen <strong>der</strong><br />

inkriminierten Konf<strong>und</strong>ierung von idealer <strong>und</strong> realer Seinsspäre recht zu<br />

geben; allerdings bleibt <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong>se Kritik zwingend zu den<br />

Konsequenzen führen muß, auf <strong>die</strong> Heidegger verfallen ist. Der Kritik an<br />

<strong>der</strong> Idealität des Gehaltes gegenüber dem Vollzug ist aber noch aus einem<br />

an<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich zuzustimmen: Die Erörterung <strong>der</strong><br />

Phänomenologie erscheint idealiter Ich-los zu sein; das wurde in <strong>der</strong><br />

Literatur auch als Faktum behandelt, während ich auch Husserls spätere<br />

Rückkehr zur Erörterung des logischen Ich in den Cartesianischen<br />

Meditationen eher als Ergänzung denn als in Wi<strong>der</strong>spruch zur Ideenlehre<br />

stehend auffasse: Denn <strong>die</strong> Quelle <strong>der</strong> Konzentration kann nun nicht im<br />

Gegenstandsbereich <strong>der</strong> Phänomenologie selbst liegen; keineswegs darf<br />

geglaubt werden, daß mit <strong>der</strong> systematischen Unterscheidung in Noetik<br />

<strong>und</strong> Noematik <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Zusammenführung in <strong>der</strong> Noesis das selbst<br />

intellektuelle Ich völlig in <strong>die</strong> phänomenologische Haltung überführen<br />

werden könnte. Offenbar muß zwischen <strong>der</strong> Spontaneität <strong>der</strong><br />

Aufmerksamkeit <strong>der</strong> reinen interesselosen Betrachtung, welche sich von<br />

<strong>der</strong> Struktur des Materials reflexartig leiten läßt, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Spontaneität, <strong>die</strong><br />

von einem bestimmbaren Interesse o<strong>der</strong> Absicht geleitet wird, im<br />

weitesten Sinne unterschieden werden, wobei letztere auch den Fall


-— 243 —<br />

einschließen sollte, daß <strong>die</strong> Spontaneität eine bestimmte Vorstellung dem<br />

gebotenen Material zielgerichtet aufprägen will (produktive<br />

Einbildungskraft). Insofern muß <strong>die</strong> volle Betrachtung <strong>der</strong> eidetischen<br />

Variation bei Husserl <strong>die</strong> Retention <strong>und</strong> Protention miteinschließen, womit<br />

eben auch <strong>die</strong> Erinnerung ins Spiel kommt. Die Idealität <strong>der</strong><br />

transzendentalen Phänomenologie <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Reduktion kann sich somit<br />

nur auf <strong>die</strong> Prinzipien <strong>der</strong> Verfahren <strong>und</strong> <strong>der</strong>en geordnete Verhältnisse<br />

beziehen, aber we<strong>der</strong> auf den Vollzug selbst noch auf den Inhalt. Die Frage<br />

nach <strong>der</strong> Idealität des Inhalts ist eine davon geson<strong>der</strong>t zu untersuchende<br />

Problemstellung.<br />

Ich behaupte <strong>die</strong> Eigenständigkeit <strong>und</strong> Selbstständigkeit mathematischer<br />

Gegenstände, doch selbst im Reich mathematischer Gegenstände gibt es<br />

nur weniges, was näher überlegt als „ideal“ bezeichnet werden kann.<br />

Abgesehen davon, daß ein Großteil <strong>der</strong> Mathematik aus<br />

Annäherungsverfahren besteht, kann zwar <strong>die</strong> Tradition platonischer<br />

Körper ein Beispiel von Idealität in <strong>der</strong> Mathematik abgeben (sieht man<br />

weiters von <strong>der</strong> arithmetischen Irrationalität <strong>der</strong> Diagonalen ab),<br />

mitnichten aber ist das Problem des Infinitesimalen von Leibniz <strong>und</strong><br />

Newton auf eine Weise gelöst worden, <strong>die</strong> im philosophischen <strong>und</strong><br />

strengem Sinne „ideal“ genannt werden könnte. Das war auch Brentano<br />

bewußt <strong>und</strong> hat <strong>die</strong>s gegen Husserls erste Logischen Untersuchungen<br />

eingewandt. (Franz Brentano: Wahrheit <strong>und</strong> Evidenz, Hrsg. Oskar Kraus,<br />

Hamburg 1930. Vgl. den Brief aus Florenz vom 9. Januar 1905 an Husserl.<br />

Der Herausgeber hat <strong>die</strong>sen Brief mit einer Überschrift versehen: »Über <strong>die</strong><br />

Allgemeingültigkeit <strong>der</strong> Wahrheit <strong>und</strong> den Gr<strong>und</strong>fehler einer sogenannten<br />

Phänomenologie«, S. 153 ff.). Demnach wäre <strong>die</strong> Eigenständigkeit <strong>und</strong><br />

Selbstständigkeit <strong>der</strong> Mathematik selbst nicht ideal zu nennen, wie Husserl<br />

im Anschluß an Bolzano glaubt, aber doch nicht <strong>die</strong>se Eigenständigkeit<br />

<strong>und</strong> relative Selbstständigkeit des Gehalts des Urteilsvollzuges in einem<br />

wi<strong>der</strong>legt worden, wie Brentano, <strong>und</strong> offenbar im Anschluß an Brentano<br />

auch Heidegger glaubt. Damit bliebe auch nach <strong>die</strong>ser Kritik <strong>die</strong> von<br />

Husserl inten<strong>die</strong>rte ontologische Differenz zwischen Immanenz <strong>der</strong><br />

transzendentalen Phänomenologie nach <strong>der</strong> Reduktion <strong>und</strong> Transzendenz<br />

<strong>der</strong> natürlichen Einstellung unserer Welterfahrung vor <strong>der</strong><br />

transzendentalen Reduktion unbestimmt-allgemein gerechtfertigt; <strong>und</strong><br />

zwar auch ohne anhand <strong>der</strong> Unterscheidung von Gehalt <strong>und</strong> Vollzug auf<br />

<strong>die</strong> Differenz von Idealität <strong>und</strong> Realität zurückkommen zu müssen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>se Unterscheidung damit auch zu überanspruchen.


-— 244 —<br />

Darüberhinaus bleibt das Problem, den Gehalt eines jeden Urteils als ein<br />

vom Sein des Soseienden aussagen<strong>der</strong> Satz (zuerst eben bloß, ob <strong>die</strong><br />

ausgesagte Washeit existiert o<strong>der</strong> nicht) vom Gehalt eines Urteils, das ein<br />

mathematisches o<strong>der</strong> logisches Gesetz aussagt, inhaltlich <strong>und</strong> prinzipiell<br />

<strong>der</strong> Geltung nach überhaupt unterscheiden zu können. Das Motiv,<br />

weshalb <strong>der</strong> Gehalt einer Aussage <strong>der</strong> letzteren Gattung überhaupt eigens<br />

ursprünglich genannt werden sollte, bezieht sich aber auf <strong>die</strong> Apophantik<br />

von Mathematik <strong>und</strong> Logik <strong>und</strong> nicht unmittelbar auf »Existenz« o<strong>der</strong><br />

»Dasein«. Vielleicht wäre es eine Verbesserung gewesen, Husserl den<br />

Begriff „Reinheit“ an Stelle von Idealität vorzuschlagen, doch auch <strong>die</strong>se<br />

Reinheit ist nicht einmal <strong>der</strong> Apophantik <strong>der</strong> Formalwissenschaft in je<strong>der</strong><br />

Hinsicht zu sichern, um etwa von hier aus einen Gr<strong>und</strong> zur Behauptung<br />

<strong>und</strong> Prägung des Begriffs von Idealität zu finden (vgl. Konrad Cramer<br />

1985, Ist ein nicht-rein synthetisches Urteil a priori möglich?). Hier besteht<br />

offensichtlich das Problem weiter, daß ohne <strong>die</strong> F<strong>und</strong>ierung <strong>und</strong><br />

Rechtfertigung einer Kategorienlehre an <strong>der</strong> offenen Grenze apriorischer<br />

Geltung von Urteilsgehalte als Sätze in einem System des Sprachspieles<br />

überhaupt (also nicht mehr nur mathematische <strong>und</strong> logische Aussagen<br />

betreffend) sich <strong>die</strong> Sinngebung (das Kriterium <strong>der</strong> sinnerfüllenden<br />

Intentionsform) spekulativ zu verselbstständigen droht. Als einziger<br />

Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Behauptung einer Idealität von Urteilsgehalten überhaupt<br />

bleibt demnach nur mehr <strong>die</strong> Unabhängigkeit von <strong>der</strong> Zeit; <strong>die</strong>se<br />

»Reinheit« wird jedoch in <strong>der</strong> Transzendentalphilosophie zweimal als<br />

nicht entscheidendes Argument in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage erkannt. 247 — Es ist<br />

nun bei Heidegger gerade nicht <strong>die</strong> Mathematik o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Logik <strong>die</strong><br />

Leitwissenschaft, um <strong>der</strong> Wahrheitsfrage ein Ideal zu verschaffen:<br />

»[...], daß ein sogenanntes schlichtes Da-haben <strong>und</strong> Erfassen wie: <strong>die</strong>se<br />

Kreide hier, <strong>die</strong> Tafel, <strong>die</strong> Tür, strukturgemäß gesehen gar nicht ein<br />

direktes Erfassen von etwas ist, daß ich, strukturgemäß genommen, nicht<br />

direkt auf das schlicht Genommene zugehe, son<strong>der</strong>n ich erfasse es so, daß<br />

ich es gleichsam im vorneherein schon umgangen habe, ich verstehe es<br />

247 Wenngleich doch als unbedingter Moment in <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Akteinheit des<br />

urteilenden Bewußtseins (also des Selbstbewußtsein in <strong>der</strong> Apperzeption)<br />

verstanden. Vgl. zur relativen Zeitlosigkeit des reinen Bewußtseins das System von<br />

Retention <strong>und</strong> Protention aus Husserls Phänomenologie des inneren<br />

Zeitbewußtseins (hier zweiter Abschnitt, zweiter Teil „Substanz <strong>und</strong> Beharrlichkeit“,<br />

elftes Kapitel „Die Dialektik <strong>der</strong> Beharrlichkeit“).Vgl. aber auch hier im dritten<br />

Abschnitt, 4. Kap. (Die Schematen <strong>der</strong> Einbildungskraft) den doppeldeutigen<br />

Zeitcharakter <strong>der</strong> synthesis intellectualis gegenüber dem inneren Sinn <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

definitiven Zeitlosigkeit <strong>der</strong> reinen Verstandesbegriffe bei Kant.


-— 245 —<br />

von dem her, wozu es <strong>die</strong>nt.« (GA, Bd. 21, p. 146 f., Vgl. den Paralleltext in<br />

Sein <strong>und</strong> Zeit, p. 149)<br />

Gethmann ersieht daraus wohl zu Recht eine Absage von Heidegger an <strong>die</strong><br />

Anschauung als entscheidendes Moment <strong>der</strong> Wahrheitsfrage (S. 115). Der<br />

Umgang mit dem Soseienden als Zuhandenes macht jenes mit uns<br />

bekannt, das bloß Vorhandene aber wäre demnach noch gar nicht eigens in<br />

den Kreis des theoretischen Interesses gelangt. — Ob damit <strong>die</strong><br />

Anschauung für <strong>die</strong> Wahrheitsfrage in <strong>der</strong> Naturwissenschaft wie in <strong>der</strong><br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> inneren Regung des an<strong>der</strong>en an seiner äußeren Gestalt<br />

(ästhetisches Ideal) in <strong>der</strong> Tat für <strong>die</strong> Wahrheitsfrage irrelevant sein sollte,<br />

ist aber noch eigens zu untersuchen nötig, <strong>und</strong> geht aus einer<br />

Argumentation <strong>der</strong> von Heidegger vorgeführten Art keineswegs hervor.<br />

b) Das Allgemeine <strong>und</strong> das Schematische<br />

Heidegger streift <strong>die</strong> hier vertretene Auffassung <strong>der</strong> Problematik zwischen<br />

idealem Sein <strong>und</strong> bloßen Sein des Urteilsgehalts, wenn er schreibt: »Der<br />

Urteilsgehalt ist zwar nichts Reales <strong>und</strong> insofern ideal; aber er ist nicht<br />

ideal im Sinne <strong>der</strong> Idee, als wäre <strong>der</strong> Urteilsgehalt das Allgemeine, das<br />

γενσ, <strong>die</strong> Gattung zu den Urteilsakten.« (GA, Bd. 21, p. 61) In <strong>der</strong><br />

Konfusion <strong>der</strong> Konf<strong>und</strong>ierung von Ontologie <strong>und</strong> Ideal in <strong>der</strong><br />

Charakterisierung des Urteilsgehalts im Zuge des Anti-Psychologismus<br />

Husserl spiegelt sich nach Heidegger aber <strong>die</strong> Beschränktheit, daß in <strong>der</strong><br />

Philosophie seit Plato <strong>die</strong> Wahrheit nur im Horizont von Anwesenheit <strong>und</strong><br />

Verfügbarkeit gedacht worden ist. Der Fehler Husserls liege in <strong>der</strong><br />

Konf<strong>und</strong>ierung zweier jeweils für sich berechtigter Fragen:<br />

»(i)Wie verhält sich das generisch Allgemeine zum Speziellen <strong>und</strong><br />

Beson<strong>der</strong>en? (ii) Wie verhält sich <strong>der</strong> Urteilsgehalt zum Urteilsvollzug?«<br />

(Gehtmann, S. 108)<br />

Der Urteilsgehalt selbst muß nicht identisch, subsistent o<strong>der</strong> universiell<br />

gültig sein, er könne auch bloß okkasionell sein. Nur das letztere ist an <strong>und</strong><br />

für sich für den bloßen Urteilsgehalt in<br />

transzendentalphänomenologischer Betrachtung von Bedeutung, wie<br />

schon oben in meinen eingeschobenen Exkurs über <strong>die</strong> vermeintliche<br />

Idealität eines Urteilsgehalts in Rechnung gestellt wurde. Zweifellos muß<br />

ein Urteilsgehalt (Aussage <strong>und</strong> nicht Vorstellungsinhalt) mit sich identisch<br />

sein, <strong>und</strong> wenn er über Existierendes Wahres aussagt, besitzt <strong>der</strong><br />

Urteilgehalt auch eine Beziehung zur Subsistenz. Von <strong>die</strong>sen Fragen ist


-— 246 —<br />

nun deutlich <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> Frage hinsichtlich <strong>der</strong> universiellen Geltung<br />

<strong>die</strong>ser Quidditas (für sich je auch ohne logische Allgemeinheit real<br />

mögliche realitas) vom Umfang <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> allgemeinen Geltung<br />

des Gattungsbegriffes des Objekts (eben nicht mehr nur für <strong>die</strong>ses<br />

Individuum) zu unterscheiden. So ist aber auch <strong>die</strong> Okkasionalität we<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Garant für <strong>die</strong> individual-spezifische Bestimmung eines Substrates<br />

einer Aussage noch notwendigerweise frei von allgemeingültigen<br />

Bestimmungen. Die Frage, wie sich das generisch Allgemeine zum<br />

Speziellen <strong>und</strong> Beson<strong>der</strong>en verhalte, beantwortet Gethmann mit<br />

Heidegger aber nur traditionell, daß das Allgemeine im Beson<strong>der</strong>en<br />

enthalten sei (wohl: <strong>der</strong> Begriff des ersteren im Begriff des zweiteren).<br />

Diese intensional-logische Feststellung sagt aber noch gar nichts über <strong>die</strong><br />

Regel <strong>und</strong> Bedingung, mit <strong>der</strong> ein im Begriff des Beson<strong>der</strong>en mitgemeinte<br />

Allgemeinere auch im Begriff des Subsi<strong>die</strong>renden eigens heraushebbar<br />

wird, son<strong>der</strong>n gibt bloß ein formelles logisches Kriterium <strong>der</strong><br />

Diskutierbarkeit überhaupt an. 248 Husserl hat eben <strong>die</strong>selben von<br />

Heidegger nur implizit bedachten Strukturen <strong>der</strong> Reflexion in <strong>der</strong><br />

eidetischen Variation, später nur mehr als eidetische Reduktion<br />

vorkommend, durchaus als Problem <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Phänomenologie gesehen: Das Verhältnis vom in seiner Wesentlichkeit als<br />

singulär zu verstehenden Einzelfall zum Wesen des Allgemeinen bleibt für<br />

Husserl auch in <strong>der</strong> Ideenlehre ein zentrales Problem.<br />

Gethmanns Darstellung arbeitet schön heraus, daß <strong>die</strong> Unterscheidung in<br />

Genus <strong>und</strong> Spezies eine Funktion für <strong>die</strong> Festlegung <strong>der</strong><br />

Bedeutungsgrenzen (termini) <strong>der</strong> verwendeten Ausdrücke besitzt, <strong>und</strong><br />

insofern nicht nur eine formelle son<strong>der</strong>n auch eine semantische Beziehung<br />

darstellt. — Er vergißt dabei aber allem Anschein nach darauf, daß auch<br />

<strong>die</strong> nicht mittels Allgemeinheit des Genus ausgezeichnete Bedeutung zu<br />

an<strong>der</strong>en gleichermaßen kontigenten Bedeutungen ebenfalls syntaktische<br />

heraushebbare semantische Beziehungen besitzen wird, ohne damit einen<br />

als logisch allgemeingültig eigens ausgezeichneten Wahrheitsanspruch zu<br />

verbinden, geschweige denn daß er <strong>die</strong> kollektiven Bedeutungen<br />

berücksichtigt, denen man noch mit einigem Recht ebenfalls Allgemeinheit<br />

zugestehen muß, auch wenn <strong>die</strong>se nicht <strong>die</strong> Gattung des Subsi<strong>die</strong>renden<br />

bezeichnen. — Hingegen vermag Gethmanns Darstellung schließlich doch<br />

248 Nach den logischen Kriterien <strong>der</strong> vierten metaphysischen Erörterung des Raumes<br />

alleine betrachtet (d. h. ohne Kontinuitätsbedingung <strong>der</strong> Sinnlichkeit), müßten <strong>die</strong>se<br />

ausschließlich intensionallogischen Verhältnisse von logischen Vorstellungen als<br />

Anschauung qualifiziert werden.


-— 247 —<br />

den Unterschied von Allgemeinem <strong>und</strong> Beson<strong>der</strong>em von <strong>der</strong><br />

Unterscheidung von Akt <strong>und</strong> Gehalt festzuhalten: Letztere besage <strong>die</strong><br />

»Beziehung zwischen einem Ereignis <strong>und</strong> demjenigen Schema, als dessen<br />

Realisierung das Ereignis gedeutet wird. Sie entspricht daher <strong>der</strong><br />

Unterscheidung zwischen dem Vorkommnis einer Handlung <strong>und</strong> dem<br />

Schema, das <strong>der</strong> Ausführung <strong>der</strong> Handlung zugr<strong>und</strong>e liegt.« (S. 109).<br />

Dieses Schema muß allerdings Eigenschaften besitzen, <strong>die</strong> allgemein<br />

behauptet werden können.<br />

Diese Unterscheidung gelte unterschiedslos für kognitive Handlungen wie<br />

Urteilen <strong>und</strong> Behaupten, wie auch für sonstige Handlungen. Allerdings<br />

beinhaltet das Schematische durchaus das Problem des Allgemeinen im<br />

Beson<strong>der</strong>en auch im pragmatisch ausgerichteten Gang <strong>der</strong> Überlegung.<br />

Eben <strong>die</strong>se Schwierigkeit des Schematischen hat Kant sowohl im<br />

Duisburger Nachlaß für das sprachliche Schema wie in <strong>der</strong> Analytik <strong>der</strong><br />

ersten Kritik auch für das Schema <strong>der</strong> Einbildungskraft zureichend<br />

bedacht. Kant hat auch das Problem, das zwischen Individualität <strong>und</strong><br />

Allgemeinheit besteht, in mehreren Fassungen behandelt <strong>und</strong> schließlich<br />

im transzendentalen Ideal zwischen Ideal <strong>der</strong> reinen Vernunft <strong>und</strong><br />

prototypon transcendentale diagnostiziert. — Hier werden <strong>die</strong><br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Schwierigkeiten zwischen singulärer Individualität <strong>und</strong><br />

dem Beson<strong>der</strong>en eines Einzelnen anhand <strong>der</strong> Unterscheidung <strong>der</strong><br />

allgemeinen Bestimmung eines begrifflichen o<strong>der</strong> auch versinnlichenden<br />

Schemas anscheinend sowohl von Heidegger wie von Gethmann<br />

unterdrückt. 249<br />

c) Eidos <strong>und</strong> Genus<br />

Heideggers Kritik an Husserls Idealismus soll nun nach Gethmanns<br />

Darstellung eigentlich Lotzes Rezeption <strong>der</strong> Ideenlehre Platons treffen.<br />

Heidegger schreibt: »So beruht also <strong>der</strong> Irrtum Husserls, auf einen Schluß<br />

249 Edm<strong>und</strong> Husserl hat hierzu1907-1913 bereits eine deutliche Unterscheidung<br />

entwickelt. Paul Jansen formuliert <strong>die</strong>s folgen<strong>der</strong>maßen: »Vielleicht läßt sich für 1907<br />

bereits sagen: Die Differenz zwischen erkennendem Erleben (cogitatio) <strong>und</strong> dem ihm<br />

reell Immanenten einerseits <strong>und</strong> nicht-reell Immanenten Gegebenen an<strong>der</strong>erseits ist<br />

nicht mit <strong>der</strong> Differenz von Singulärem <strong>und</strong> Allgemeinen identisch. Im intentionalen<br />

Charakter des Subjektiven sind <strong>die</strong> reellen Eigentümlichkeiten des Erlebens <strong>und</strong><br />

seine nicht-reellen Gegenstandsbezugseigentümlichkeiten zusammengespannt zu<br />

einer unlösbaren Einheit, <strong>der</strong> sowohl singuläre wie allgemeine schaubare<br />

Gegebenheiten zugehören..« In:Paul Jansen, in <strong>der</strong> Einleitung zu: Edm<strong>und</strong> Husserl,<br />

Die Idee <strong>der</strong> Phänmenologie. Fünf Vorlesungen 1907. Nach dem Text <strong>der</strong><br />

Husserliana, Bd. II herausgegeben <strong>und</strong> eingeleitet von Paul Jansen, Meiner,<br />

Hamburg 1986,. p. XXII


-— 248 —<br />

gebracht, einfach darin, daß er so vorging: Idee gleich Geltung gleich Satz.<br />

Das ist <strong>die</strong> erste These. Der Untersatz: Idee gleich Allgemeines gleich<br />

Gestalt gleich Gattung. Schluß: Satz gleich Allgemeines, identisch mit Idee,<br />

<strong>und</strong> daraus: Satz gleich Gattung zu den Setzungen.« 250<br />

Schon <strong>der</strong> Obersatz ist zu diskutieren. Inwiefern soll für Husserl gelten:<br />

Idee gleich Geltung gleich Satz, <strong>und</strong> nicht: Idee gleich Satz gleich Geltung,<br />

wenn Husserl in den Logischen Untersuchungen <strong>die</strong> sinnerfüllende<br />

Intention für <strong>die</strong> Geltung des transzen<strong>die</strong>renden (empirisch) wie für <strong>die</strong><br />

Geltung des nicht-transzen<strong>die</strong>renden Bewußtseinsinhaltes (freilich nur<br />

vermeintlich ideal), <strong>und</strong> zwar in <strong>der</strong> Definition des Urteilsgehalts, selbst<br />

durchwegs vorausgesetzt hat? Heidegger bezieht sich offenbar auf den<br />

Husserl in <strong>der</strong> Wendung zur Transzendentalphilosophie zwischen 1907<br />

<strong>und</strong> 1913. Genau <strong>die</strong>ses Immanenzproblem bei <strong>der</strong> bloßen Betrachtung <strong>der</strong><br />

Bewußtseinsinhalte, gleich ob <strong>die</strong>se empirisch gewonnen o<strong>der</strong> nur in<br />

innerer Anschauung gegeben werden, wird in <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Phänomenologie zum Problem. Jedoch übersieht Heidegger, daß <strong>die</strong>se<br />

Immanenz <strong>der</strong> transzendentalen Phänomenologie gegenüber den<br />

Naturwissenschaften wie auch gegenüber <strong>der</strong> Lebenswelt gerade ihre<br />

Selbstständigkeit sichern soll, <strong>und</strong> Husserl mit <strong>der</strong> Unterscheidung in<br />

reelle <strong>und</strong> nicht-reelle Inhalte <strong>der</strong> Immanenz <strong>die</strong> Welthaltigkeit offen<br />

gelassen hat. Wie <strong>der</strong> Obersatz des von Heidegger vorgestellten<br />

Syllogismus auch immer formuliert wird, beide Varianten kranken daran,<br />

daß nicht klar wird, was hier unter einer Idee verstanden wird. Heidegger<br />

bezieht sich vermutlich darauf, daß Husserl den Urteilsakt selbst nicht<br />

primär logisch gefaßt hat, <strong>und</strong> so vermutlich geglaubt hat, den<br />

Urteilssinhalt ohne Erfüllungssynthese o<strong>der</strong> einem Kriterium <strong>der</strong><br />

eidetischen Reduktion mit <strong>der</strong> Idee des einfachen Vorstellungsinhaltes<br />

identifizieren zu können, übersieht aber, daß <strong>der</strong> allein zur logischen<br />

Wahrheitsentscheidung fähige Satz schließlich als <strong>die</strong> Idee selbst (dann<br />

aber bei Husserl schon als Immanenz des Wesens in<br />

transzendentalphänomenologischer Betrachtung) herausspringt, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

geeigneten Art <strong>der</strong> Erfüllungssynthese erst analytisch gegenüberzustellen<br />

wäre. Der Übergang von <strong>der</strong> Idee zum Satz hat nur <strong>die</strong> Bedingungen des<br />

Horizontes <strong>der</strong> Wahrheit eingeschränkt, aber nicht das Problem <strong>der</strong><br />

Erfüllungssynthesen (Schematismusproblem) gelöst. Ideen sind aber auch<br />

für Husserl nur <strong>die</strong> obersten Gattungsbegriffe <strong>und</strong> nicht sofort je<strong>der</strong><br />

Urteilsinhalt ist ein oberster Gattungsbegriff, <strong>und</strong> schon gar nicht<br />

250 Martin Heidegger, GA, Bd. 21, p. 61


-— 249 —<br />

unbedingt selbst solche Urteilsinhalte, <strong>der</strong>en transzen<strong>die</strong>ren zur<br />

»Wirklichkeit« man ihren Ideen gegenüberstellen kann <strong>und</strong> zu einem<br />

konkreten empirischen Gegenstand führen. Heidegger verwechselt<br />

zwischendurch den Vorstellungsinhalt mit dem Urteilsinhalt; eine<br />

Unterscheidung, <strong>die</strong> sowohl Bolzano wie Brentano deutlich genug zu<br />

treffen imstande waren. — Somit ist <strong>die</strong> Rede von Gestalt im Untersatz<br />

durchaus als verfehlt zu betrachten, denn für Husserl ist <strong>der</strong><br />

Zusammenhang zwischen natürlicher Erkenntniseinstellung, welche ihre<br />

Gegenstände naiv transzen<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> <strong>der</strong> transzendentalen<br />

Phänomenologie, welche ihre Gegenstände in reiner Immanenz besitzt,<br />

<strong>und</strong> gerade von jedem Transzen<strong>die</strong>ren freihält, einer systematischen<br />

Unterscheidung, also eines topos fähig, aber bleibt ein ungelöstes, wenn<br />

nicht gar ein unlösbares Problem. 251<br />

Der Untersatz aus dem Zitat von Heidegger ist also gar kein geeigneter<br />

Untersatz für <strong>die</strong>sen Obersatz, da erstens <strong>die</strong> Rede von Gestalten allein auf<br />

<strong>die</strong> sinnliche Anschauung verweist <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong><br />

Wesensschau nicht zwingend zur Allgemeinheit führt, son<strong>der</strong>n gerade <strong>die</strong><br />

Immanenz des Allgemeinen des Wesens auch in <strong>der</strong> immer singulären<br />

Gegebenheit des Schauens als nicht-reelle Immanenz von Husserl<br />

problematisiert wird. Die eidetische Variation führt in <strong>der</strong> eidetischen<br />

Reduktion eben nicht zum Allgemeinen des Gattungsbegriffes des<br />

Subsi<strong>die</strong>renden, vielmehr ist ein Allgemeinbegriff des betrachteten<br />

Individuums samt dessen Variationen in innerer Anschauung das Ergebnis<br />

<strong>der</strong> eidetischen Reduktion. Schließlich muß noch eingesehen werden, daß<br />

<strong>die</strong> Hierarchie solcher Allgemeinbegriffe nach Gattung <strong>und</strong> Art gar nicht<br />

für den Erkenntnisgang entscheidend sind son<strong>der</strong>n nur in <strong>der</strong> analytischen<br />

Darstellung <strong>die</strong> Bedeutung erlangen, <strong>die</strong> ihnen insgesamt oftmals<br />

251 »Es sei daran erinnert, daß Husserl im Spätwerk das phänomenologisch Psychische<br />

vom transzendental Subjektiven unterscheidet. Vom phänomenologisch Psychischen<br />

kann dem Husserlsche Spätwerk zufolge gesagt werden, daß in ihm <strong>und</strong> in seiner<br />

wissenschaftlichen Thematisierung <strong>die</strong> transzendentalphilosophische Entscheidung,<br />

daß <strong>die</strong> Welt — <strong>der</strong> Mensch eingeschlossen — sich im Subjektiven bildet, noch nicht<br />

gefallen ist. Das gilt, selbst wenn das phänomenologisch Psychische schon als ein an<br />

nichts An<strong>der</strong>sgeartetes stoßendes Universum eigener Art gefaßt ist. Die<br />

Beschränktheit <strong>der</strong> phänomenologischen Psychologie hängt damit zusammen, daß<br />

das phänomenologisch Psychische noch nicht als ein Subjektives aufgefaßt ist, das<br />

auch dem Menschen in <strong>der</strong> Welt gegenüber vorgängig konstitutiv ist. Der Titel<br />

Mensch bezeichnet, auch aus <strong>der</strong> Perspektive einer reinen phänomenologischen<br />

Psychologie, noch den Ort des Umschlages einer m<strong>und</strong>anen Wissenschaft, <strong>die</strong> es mit<br />

einem Weltbestandteil zu tun hat, zu einer präm<strong>und</strong>anen Universalwissenschaft, für<br />

<strong>die</strong> Menschen schon Konstitutionsprodukte eines vorgängigen absolut seienden<br />

Subjektiven sind.« P. Jansen, cit. op., p. XV


-— 250 —<br />

zugesprochen worden ist. Insofern ist <strong>der</strong> ganze Syllogismus als Leitfaden<br />

für eine Erkenntnistheorie hinfällig. Zieht man aber <strong>die</strong> vorgeschlagene<br />

Umformulierung des Obersatzes heran, wie sie zu den Logischen<br />

Untersuchungen Husserls besser passen würde, ergibt sich folgendes<br />

Problem: Der Untersatz soll nun — wohl gegen Husserls Idealität gerichtet<br />

— <strong>die</strong> Idee <strong>und</strong> ihr Allgemeines über das Allgemeine am Schematischen<br />

an einer Gestalt (Eidos) mit dem Allgemeinen <strong>der</strong> Gattung (Genus) des<br />

erscheinenden Gegenstandes verbinden. Gerade <strong>die</strong> Beanspruchung <strong>die</strong>ser<br />

Art vom Schematischen führt doch auch zur sinnlichen Anschauung als<br />

Entscheidungskriterium, ob nun wirklich von <strong>der</strong> Hypothese <strong>der</strong><br />

Vermutung über dem Gattungsnamen als Begriff <strong>die</strong>ser jeweils<br />

bestimmbaren Gestalt von <strong>der</strong> Einbildungskraft in <strong>der</strong> Erfahrung jene<br />

Merkmale vorgebildet worden ist, <strong>die</strong> mittels den Merkmalen <strong>der</strong><br />

Anschauung auch wirklich angebbar geworden sind. Diese analytische<br />

Darstellung setzt aber <strong>die</strong>jenige ursprüngliche Synthesis bereits voraus,<br />

<strong>der</strong> erst zu klären wäre, welche Ursprünge Idee, Schema <strong>und</strong><br />

Gattungsbegriff (genus des Gegenstandes) besitzen <strong>und</strong> wie <strong>die</strong>se<br />

f<strong>und</strong>ierend zusammenhängen. Heidegger bringt nicht ganz zu Unrecht an<br />

<strong>die</strong>ser Stelle <strong>der</strong> Überlegung <strong>die</strong> teleologische Reflexion ein, welche <strong>die</strong><br />

bereits konstituierte Anschauung erst als Anschauung eines praktischen<br />

Gegenstandes (bei Heidegger eben immer nur als Zuhandenes) zu denken<br />

erlaubt (also nicht als nur auf sinnliche Anschauung beruhend), obgleich<br />

damit <strong>die</strong> ausgebildeten Differenzen im Gebrauch von Allgemeinheit nur<br />

nochmals kompliziert werden.<br />

Der Schlußsatz, bei Heidegger bemerkenswerterweise gleich in doppelter<br />

Ausfertigung vorgestellt (»Satz gleich Allgemeines, identisch mit Idee, <strong>und</strong><br />

daraus: Satz gleich Gattung zu den Setzungen«) ist schon im ersten Glied<br />

kritisierbar: Wohl vermag über das Gemeinte eines sprachlichen Gebildes,<br />

eines Ausdrucks, <strong>der</strong> eine Aussage über etwas als Urteil o<strong>der</strong> bloß als<br />

Behauptung bedeutet, zu Recht gesagt werden, es beinhalte als Satz ein<br />

Allgemeines (hier noch eine weitere Konnotation zum möglichen<br />

Gebrauch des Allgemeinen: <strong>die</strong> Kollektivität, ansonsten <strong>die</strong><br />

Kommunizierbarkeit überhaupt in Frage gestellt sein würde); es kann<br />

weiters auch von einem jeden solchen Satz behauptet werden, er sage über<br />

eine Idee aus; keinesfalls aber wird mir von selbst verständlich, woher<br />

Heidegger den Gr<strong>und</strong> hernimmt, auch wenn <strong>der</strong> Satz Allgemeines<br />

allgemein aussagen sollte (also mit <strong>der</strong> Aussage auch Gesetzmäßiges vom<br />

immanent Gegenständlichen <strong>der</strong> Intention behauptet wird), zu behaupten,


-— 251 —<br />

<strong>die</strong>ses im Satz ausgesprochene Allgemeine sei notwendigerweise identisch<br />

mit einer Idee des Gemeinten als Individuelles <strong>und</strong> Vereinzeltes <strong>der</strong><br />

Setzungen. Das kann trotz <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> (nicht durchwegs auf gleiche<br />

Weise von Husserl behaupteten) Idealität <strong>der</strong> Gegenständlichkeit <strong>der</strong><br />

intentionalsimmanenten Form als sinnerfüllendes Kriterium eben nicht<br />

mehr behauptet werden. 252<br />

So schreibt Smail Rapic in <strong>der</strong> Einleitung von »Ding <strong>und</strong> Raum«: »Das<br />

Ergebnis <strong>der</strong> Vermittlung <strong>der</strong> phänomenologischen <strong>und</strong> transzendentalen<br />

Gegenstandsanalyse kann folgen<strong>der</strong>maßen zusammengefaßt werden: Der<br />

transzendental-phänomenologische Begriff <strong>der</strong> Intentionalität bestimmt<br />

den Gegenstand <strong>der</strong> Erfahrung als synthetische Einheit einer<br />

„Erscheinungsmannigfaltigkeit ... von einem bestimmten ideellen,<br />

unendlichen Typus“. Der vermeintliche Bezug unserer Erfahrung auf eine<br />

schlechthin transzendente, vom Bewußtsein unabhängige<br />

Gegenständlichkeit — innerhalb <strong>der</strong> „natürlichen Einstellung“ — gründet<br />

darin, daß in <strong>der</strong> Synthesis einer sinnlich gegebenen<br />

„Erscheinungsmannigfaltigkeit“ zur Einheit eines Gegenstandes ein<br />

Horizont bewährbarer Abschattungsmöglichkeiten „mitgemeint“ ist. Der<br />

Gegenstand <strong>der</strong> Erfahrung wird „als an sich [seien<strong>der</strong>] konstituiert“, d. h.<br />

als ein solcher, <strong>der</strong> nicht darin aufgeht, von mir vorgestellt zu werden, <strong>und</strong><br />

zugleich an<strong>der</strong>s bestimmt sein kann, als er mir erscheint (XI 214). Der<br />

Gedanke <strong>der</strong> ‚Konstitution an sich´ klärt den den transzendentalphänomenologischen<br />

Gr<strong>und</strong>begriff <strong>der</strong> „Transzendenz in <strong>der</strong> Immanenz“.<br />

Die „Transzendenz in <strong>der</strong> Immanenz“ erweist sich als <strong>der</strong> ursprüngliche<br />

Sinn <strong>der</strong> Transzendenz von Gegenständen überhaupt. „Transzendenz ist<br />

ein immanenter, innerhalb des Ego sich konstituieren<strong>der</strong> Seinscharakter“<br />

(I 32).« 253<br />

252 »Husserl dürfte <strong>die</strong>se kritisch monierte Sachlage so sehen, als ob Singulärsein <strong>und</strong><br />

Zeitlichsein zum erschaubaren Wesen eines Individuums gehörten, wogegen es<br />

an<strong>der</strong>en Wesen zukäme, <strong>die</strong>se Züge nicht aufzuweisen. In <strong>die</strong>ser Sicht <strong>der</strong> Sachlage<br />

kommen Singulärsein <strong>und</strong> Zeitlichsein nur als Allgemein-Gegenständliches in den<br />

Blick. Ihre Differenz zum Wesen bleibt für sie unwesentlich. Und Wesen besagt dann<br />

etwas, was sich einheitlich über Zeitliches/Singuläres <strong>und</strong> Zeitfreies/Allgemeines<br />

erstreckt, ohne daß <strong>die</strong>ser Unterschied an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> Bedingtheit durch den<br />

einheitlichen Wesensbegriff Rechnung getragen würde — was besagt, daß <strong>die</strong>ser<br />

Unterschied (phänomenologisch gesprochen) nicht als er selber zur Sprache<br />

kommt.«, cit. op., p. XXXVII.<br />

253 in: Edm<strong>und</strong> Husserl, Ding <strong>und</strong> Raum. Vorlesungen 1907., Hrsg. Karl-Heinz<br />

Hahnengress <strong>und</strong> Smail Rapic, Text nach Husserliana XVI, Hamburg: Meiner 1991.<br />

Die römischen Ziffern im Zitat beziehen sich auf <strong>die</strong> Bände <strong>der</strong> Gesammelten Werke<br />

Edm<strong>und</strong> Husserls, 1950 ff. (Husserliana).


-— 252 —<br />

Gethmann sagt zum syllogistischen Beispiel, mit welchem Heidegger<br />

Husserls Idealismus kritisieren wollte: »In <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

kritisiert Heidegger beson<strong>der</strong>s eingehend Lotzes Gleichsetzung von<br />

Geltung mit Bejahung, Wirklichkeit <strong>und</strong> Sein.« (S. 109) Rudolph Hermann<br />

Lotze vertrat in <strong>der</strong> Metaphysik einen teleologischen Idealismus: In einer<br />

Theorie <strong>der</strong> Einfühlung soll <strong>die</strong> Phantasie <strong>der</strong> schaffenden Weltseele als<br />

Quelle aller Schönheit dem unmittelbar anschaulichen Hervortreten <strong>der</strong><br />

Einheit von allgemeinen Gesetzen, <strong>der</strong> Stoffe <strong>und</strong> Kräfte wie des<br />

bestimmten Planes <strong>der</strong> Welt entsprechen. 254 Ich vermag mir noch<br />

vorzustellen, daß Heidegger mit Lotze auf einem ganz an<strong>der</strong>en Felde<br />

durchaus in Konflikt gekommen ist, <strong>der</strong> Zusammenhang mit Husserl ist<br />

mir allerdings rätselhaft. Glaubt Heidegger etwa, Husserl konkretisiert<br />

<strong>und</strong> ontologisiert <strong>die</strong> Epoché <strong>der</strong> transzendentalen Reduktion selbst zur<br />

Weltseele o<strong>der</strong> zur Ur<strong>substanz</strong>? — Gethmann erklärt für den gebotenen<br />

Zusammenhang aber den Vorrang <strong>der</strong> Kritik an Lotzes Geltungsbegriff<br />

<strong>und</strong> Husserls Rezeption desselben mit den Angriffen auf <strong>die</strong> bedeutsame<br />

Stellung des Konzepts <strong>der</strong> Anwesenheit seit Plato. (S. 110) Gerade <strong>die</strong><br />

Gleichsetzung von Bejahung <strong>und</strong> Wirklichkeit kann meines Erachtens<br />

Husserl aber trotz <strong>der</strong> Kritik auch an <strong>der</strong> Idealität <strong>der</strong><br />

Wesenszusammenhänge des Bewußtseins noch weniger unterstellt<br />

werden. Bemerkenswerterweise kann aber dem Programm <strong>der</strong><br />

existenzialontologischen Hermeneutik Heideggers in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage<br />

gerade nämliche Ineinssetzung von Wahrheit, Sein <strong>und</strong> Seiendem im<br />

Dasein gef<strong>und</strong>en werden: Allerdings zeigt Heidegger dort, wo er <strong>die</strong><br />

Ganzheit des Horizontes des Daseins nicht mehr über <strong>die</strong> Sorge (also<br />

schließlich als Verfallenheit) bestimmt, noch eines auf: nämlich, daß <strong>die</strong><br />

Sphäre <strong>der</strong> Potentialität <strong>der</strong> möglichen Seiendheit erst durch das in den<br />

Horizont des Bewußtseins eintretende Seiende indirekt sichtbar wird. So<br />

kann Heidegger zurecht sagen, <strong>die</strong> Lichtung ist seynsverbergend, indem<br />

das Seiende in <strong>der</strong> Lichtung <strong>die</strong> Potentialität des Seyns verbirgt, indem das<br />

Seiende ist, was es ist, <strong>und</strong> nicht, was es sein könnte, noch was überhaupt<br />

sein könnte. Das Unverborgene des Seienden selbst ist jedoch nur abermals<br />

das Substratum <strong>der</strong> Koordination <strong>der</strong> Fragen nach Wahrheit, Sein <strong>und</strong><br />

Seiendem. Und so wird immerhin ein Schema skizziert, in welchem das<br />

Sein nicht wegzudenken ist, aber im Anwesen doch nur in <strong>der</strong> Negation<br />

»verborgen« liegt. Die f<strong>und</strong>amentalontologische Ursprung <strong>der</strong> Wahrheit<br />

254 Eine umfassende Darstellung seiner Philosophie gibt Lotze im berühmt gewordenen<br />

„Mikrokosmus“ (Leipzig 1856-64)


-— 253 —<br />

liegt demnach in <strong>der</strong> Erscheinung selbst (ein hegelianisches Residuum).<br />

Das mag man in <strong>der</strong> Erkenntnisfrage als F<strong>und</strong>ament überhaupt ausgeben<br />

wollen o<strong>der</strong> nicht, es reicht aber we<strong>der</strong> zu einer ontologischen noch zu<br />

einer transzendentalanalytischen Fassung <strong>der</strong> Wahrheitsfrage, wenn<br />

Urteilen zu einer »logischen« Aussage, einem Satz, führen soll — wenn es<br />

sich also schlichtweg um ein Verstandesurteil im Sinne einer theoretischen<br />

Idee <strong>der</strong> Erkenntnis handelt. Heidegger aber ersetzt nun im ersten Schritt<br />

<strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Anschauung im Verstandesurteil durch seinen<br />

Pragmatismus anhand des unbestrittenen genetischen Vorranges des<br />

Zuhandenen hinsichtlich <strong>der</strong> Reihenfolge des Sich-Zugänglich-Machens.<br />

Im zweiten Schritt wird das Verstandesurteil vom teleologischen Urteil<br />

ersetzt, sodaß <strong>die</strong> Apophantik des Aussagens erweitert wird, bevor <strong>die</strong>se<br />

noch transzendentalanalytisch geklärt worden konnte. Allerdings läuft ein<br />

solches Vorhaben abermals in Gefahr, zwischen Erkenntnisgr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Seinsgr<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Begründbarkeit <strong>der</strong> Wahrheit nicht länger<br />

unterscheiden zu können. In einem dritten Schritt führt <strong>die</strong>s insofern<br />

folgerichtig zur Ersetzung des verstandesgemäß kategorialen<br />

Erkenntnisurteils in <strong>der</strong> logischen Aussage durch <strong>die</strong> Auslegung <strong>der</strong> Rede.<br />

Das aber mag eine ontogenetische wie phylogenetische (also auch<br />

»historische«) Vorstellung sein, aber keine Begründung einer<br />

Wahrheitstheorie.<br />

❆<br />

Im § 10 <strong>der</strong> Vorlesung besinnt sich Heidegger auf das<br />

Gründungsprogramm <strong>der</strong> Phänomenologie von Brentano, <strong>und</strong> durch<br />

Brentano, auf Aristoteles. Brentanos Einsicht des »Psychischen als<br />

Intentionalität« betrachte <strong>die</strong> Intentionalität gerade nicht als Beziehung<br />

zwischen zwei Seinsregionen, wie in <strong>der</strong> Unterscheidung in real <strong>und</strong> ideal.<br />

— Ich habe vorhin schon gezeigt, daß <strong>der</strong> Versuch einer Fixierung des<br />

Urteilsgehalts überhaupt als idealer Inhalt durch Husserl (in Nachfolge des<br />

Versuches Bolzanos <strong>der</strong> Exponation <strong>der</strong> Selbstständigkeit des Urteils- <strong>und</strong><br />

Vorstellungsinhaltes vom subjektiven Urteilsakt in <strong>der</strong> Elementarlehre <strong>der</strong><br />

Wissenschaftslehre) aus dem gleichen Gr<strong>und</strong> scheitern mußte, weshalb<br />

Brentano <strong>die</strong> mathematische Lösung des mathematischen<br />

Infinitesimalproblems aus guten Gründen nicht auch als philosophisch<br />

ideale Lösung ansehen konnte. Aber ich glaube auch gezeigt zu haben, daß<br />

erstens <strong>die</strong> Kritik an <strong>der</strong> prinzipiellen Idealität des Urteilsgehalts nichts an<br />

<strong>der</strong> Selbstständigkeit desselben im innersubjektiven wie auch im


-— 254 —<br />

intersubjektiven Gebrauch än<strong>der</strong>t; <strong>und</strong> daß zweitens auch Husserl selbst<br />

von <strong>der</strong> Idealisierung des nicht-reell immanenten Gegenstandes <strong>der</strong><br />

Intention durchaus Abstand genommen hat. Im Übrigen ist hier Brentano<br />

inkonsequent, da er an an<strong>der</strong>en Stelle auch im empirischen<br />

Wahrheitsurteil <strong>die</strong> nicht allgemeinen Partikel des Schemas im Bemerken<br />

mit anerzuerkennen vermag. Was in <strong>die</strong>sem Zusammenhang interessiert,<br />

ist <strong>die</strong> Unterscheidung in Geltung <strong>und</strong> Allgemeinheit.<br />

Gerade <strong>der</strong> Untersuchungsgang Husserls in den Logischen<br />

Untersuchungen hatte methodisch sein F<strong>und</strong>ament ursprünglich in <strong>der</strong><br />

Phänomenologie des Benennens, welches im logischen Gegenstand einer<br />

Vorstellung im Rahmen <strong>der</strong> Sprachphilosophie <strong>die</strong> ontologische<br />

Fragestellung gewissermaßen als Artefakt <strong>der</strong> Methode schon vor dem<br />

kategorialen Verstandesurteil unbefragt weiter transportiert. 255 Es ist aber<br />

auch außerhalb des anscheinend schon von Anfang an parallelisierten<br />

Verhältnisses von Genus (als Gegenstandsgattung) <strong>und</strong> Eidos (als<br />

konkretisierbare Anschauungsform o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Schema) im Rahmen <strong>der</strong><br />

phänomenologischen Untersuchung <strong>der</strong> nicht-reellen Immanenz des<br />

intentional verfaßten Bewußtseinslebens nach <strong>der</strong> eidetischen Reduktion<br />

noch <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Erfüllungssynthesis zu stellen, <strong>die</strong> nicht mit dem<br />

Schema <strong>der</strong> eidetischen Reduktion <strong>der</strong> Variationen zu einen individuell in<br />

<strong>der</strong> Vorstellung gegebenen Gegenstand ident sein kann. Kant hat <strong>die</strong>s im<br />

Zuge seiner Kategorienlehre für ein ausgezeichnetes Gebiet <strong>der</strong><br />

transzendentalen Phänomenologie des inneren Sinnes als<br />

Erfahrungsbedingung anhand <strong>der</strong> Sinnlichkeit vorzustellen versucht.<br />

Diese Kategorien gelten nicht allgemein distributiv wie<br />

Gattungsbestimmungen, noch kollektiv wie <strong>die</strong> Bedingungen <strong>der</strong><br />

Anschauungsformen, noch sind sie abstrakt. Insofern interpretieren sie <strong>die</strong><br />

255 Beachte das Prädikat einer Substanz als Wirkung <strong>der</strong> Substanz in Kantens<br />

analytischer Metaphysik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Interpretation des zureichenden Gr<strong>und</strong>es bei<br />

Leibniz als Gr<strong>und</strong>, ein Prädikat einem äußeren Gegenstand zuzusprechen. Vgl. aber<br />

das Schreiben von Leibniz an den Grafen von Hessen Rheinfels vom 14. Juli 1686:<br />

»Es ist immer nötig, daß es für den Nexus <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> eines Urteils eine Gr<strong>und</strong>lage<br />

gibt, <strong>die</strong> sich in den Begriffen <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> finden lassen muß (Benedikt: also<br />

zunächst nicht in <strong>der</strong> Symploke <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Wesen). Und das ist eben mein großes<br />

Prinzip, von dem ich meine, daß alle Philosophen es zugeben müssen, wovon auch<br />

das gewöhnliche Axiom, daß nichts ohne einen Gr<strong>und</strong> geschieht, <strong>der</strong> immer<br />

zurückgeführt werden kann <strong>und</strong> wovon <strong>die</strong> Tatsache (...), warum nämlich <strong>die</strong> Sache<br />

viel eher so als an<strong>der</strong>s verlaufen ist, nur einer <strong>der</strong> Folgesätze bleibt.« (Gerhardt, II,<br />

p. 62)<br />

Vgl. hier zweiter Abschnitt, erster Teil, drittes Kapitel (Die aussagenlogische<br />

Erörterung). Vgl. weiters dritter Abschnitt, zweites Kapitel, § 14 (Ursprüngliche<br />

Unterscheidungen in <strong>der</strong> Relation des Enthaltenseins.


-— 255 —<br />

Bedingungen einer bestimmten Art von techne im Rahmen eines Konzeptes<br />

von Wahrnehmung, wo nur <strong>die</strong>jenige Erfahrung vollgültig zählt, <strong>die</strong> sich<br />

auch machen läßt. Die Kantschen Kategorien betreffen also per<br />

definitionem nicht Wesensbestimmungen, <strong>die</strong> bestimmte konkrete<br />

Gegenstände in individuo betreffen könnten, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong>en<br />

Erfahrungsbedingungen. — Daß <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Objektwelt eben <strong>die</strong>se<br />

Bedingungen mitverursachend erfüllen muß, liegt im Rücken <strong>der</strong> Doktrin<br />

<strong>der</strong> bestimmenden Urteilskraft <strong>und</strong> jedenfalls auch in <strong>der</strong> vollständigen<br />

transzendentalen Reflexion nur in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Bedingungen von je<br />

aktueller objektiver Realität (bei Kant: kosmologische Ideen). Die<br />

Ausschaltung des »Ich« aber zieht schließlich in Husserls Phänomenologie<br />

wie in Heideggers existenzialontologische Hermeneutik das Problem nach<br />

sich, wie es rechtzeitig zum Verstandesurteil wie<strong>der</strong> einzuführen sei. —<br />

Offenbar ein problematisches Erbe <strong>der</strong> antiken griechischen Philosophie,<br />

wie nous <strong>und</strong> logos ursprünglich zusammenhängen.<br />

d) Die Inkonsequenz in <strong>der</strong> Husserl-Kritik: <strong>die</strong> Anschauung<br />

Sowohl nach <strong>der</strong> vorhin diskutierten Kritik Heideggers an Lotze <strong>und</strong><br />

dessen überschätzten Wirkung auf Husserl, 256 wie auch schon nach <strong>der</strong><br />

Rasanz, mit welcher <strong>der</strong> Leser von Sein <strong>und</strong> Zeit in den fälschlicherweise<br />

allein als sinnstiftend angesehenen Pragmatismus des alltäglichen<br />

Besorgens als F<strong>und</strong>ament des hermeneutischen Vorverständnisses<br />

(hermeneutisches »Als«) eingewiesen wird, nehmen sich folgende Stellen<br />

aus den behandelten Vorlesungen eigentümlich aus:<br />

»Anschauung gibt <strong>die</strong> Fülle, im Unterschied zur Leere des bloßen<br />

Vorstellens <strong>und</strong> überhaupt nur Meinens.« 257<br />

»Im Ausweisen werden Leervorgestelltes <strong>und</strong> Angeschautes zur Deckung<br />

gebracht.« 258<br />

256 Offenbar unterschätzt Heidegger <strong>die</strong> Relevanz von Bernard Bolzano für Husserl.<br />

257 Martin Heidegger, GA, Bd. 21, p. 105<br />

258 cit. op., p. 107. Vergleiche dazu auch Robert Zimmermanns Ästhetik, worin<br />

Zimmermann zwischen Herbart <strong>und</strong> Bolzano den Ausgleich sucht, um in einer<br />

»Ästhetik als Formwissenschaft« (Wien 1865) <strong>die</strong> Ästhetik als<br />

Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft des Geistesleben zu finden. Georg Jäger befindet über<br />

Zimmermanns Ansatz (in: Die Herbartianische Ästhetik - ein österreichischer Weg in<br />

<strong>die</strong> Mo<strong>der</strong>ne, in: Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer<br />

literarhistorischen Entwicklung. Ihr Profil im19.Jahrh<strong>und</strong>ert (1830-1880), Hrsg.<br />

Herbert Zeman, Graz 1982, S. 195-220): »Der Formalismus scheint vor allem in <strong>der</strong><br />

Lage, <strong>die</strong> realhistorische Dissoziation des klassisch-idealistischen Kunstcharakters zu<br />

reflektieren: <strong>die</strong> Freisetzung <strong>der</strong> Form ebenso wie des Inhalts in den Stilrichtungen


-— 256 —<br />

»Wahrheit ist <strong>die</strong> Selbigkeit des Gemeinten <strong>und</strong> Angeschauten.« 259<br />

Heidegger leugnet also nicht durchwegs <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Anschauung<br />

in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage, hält aber an<strong>der</strong>s als Tugendhat <strong>die</strong> Husserlsche<br />

Erklärung <strong>der</strong> sinnerfüllenden Intention allein mittels Anschauung (ein<br />

Irrtum Tugendhats, aber offenbar in gewissen Maße auch Heideggers) für<br />

nicht ausreichend, allerdings nur, weil <strong>die</strong>se bloß als Übergang von idealer<br />

Geltung zu realer Geltung (also einfach mittels sinnlicher Anschauung) zu<br />

denken sei (das entspäche zumindest noch strategisch <strong>der</strong> selbst nichtkategorialen<br />

Unterscheidung von noumenon <strong>und</strong> phaenomenon durch<br />

Kant): Für Heidegger bleibt offen, wie das Ableitungsverhältnis von<br />

Anschauung zu Aussage (<strong>und</strong> Gemeinten) zu verstehen ist <strong>und</strong> was dabei<br />

mit »Anschauung« <strong>und</strong> »Aussage« in einem formalisierbaren Sinn genauer<br />

gemeint ist. (Gethmann, S. 111)<br />

Zu <strong>die</strong>ser Einschätzung wurde schon oben auch hinsichtlich des<br />

Verhältnisses von »Auslegung« <strong>und</strong> »Aussage« das Nötigste angemerkt,<br />

jedoch bleibt noch zu sagen: Husserl wie Heidegger übersehen, daß Kant<br />

selbst schon <strong>die</strong>se Differenz von sinnlicher Anschauung <strong>und</strong> Erscheinung<br />

zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Erfahrung für das Soseiende (das Substrat<br />

<strong>der</strong> Washeit) sowohl als bloß innerweltlich Vorhandenes allein anhand <strong>der</strong><br />

(sinnlichen) Anschauung <strong>und</strong> <strong>der</strong>en weiter ausgreifenden Thesen- <strong>und</strong><br />

Hypothesenbildung in <strong>der</strong> Erfahrung (erste Kritik), wie auch als<br />

Zuhandenes <strong>der</strong> selbst innerweltlichen Besorgungsstruktur des »man«<br />

(zweite Kritik) zwischen ästhetisch-pathologischer <strong>und</strong> ästhetischpraktischer<br />

Reflexion auf <strong>die</strong> Vorstellung (dritte Kritik) behandelt <strong>und</strong><br />

damit <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Argumentation vorgezeichnet hat. Heidegger<br />

verabsäumt also nicht nur in den zentralen Teilen des Buches »Kant <strong>und</strong><br />

Problem <strong>der</strong> Metaphysik« son<strong>der</strong>n auch in den Vorlesungen 1925/26 <strong>die</strong><br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>die</strong> sich nach (im außerdeutschen Bereich schon gleichzeitig mit) dem<br />

Realimus entwickeln.«(S. 209) Anhand des Begriffpaares von »Leerstellen des<br />

Gemeinbildes« <strong>und</strong> »Concretionen durch Einzelanschauungen« (ZIMMERMANN 1865,<br />

§ 280) zieht Jäger eine Verbindung zum tschechischen Strukturalismus (Artefakt <strong>und</strong><br />

Konkretisation bei Mukarovsky) <strong>und</strong> zum polnischen Ästhetiker Ingarden, <strong>der</strong><br />

nachzugehen wertvoll wäre (S. 214).<br />

Daß <strong>die</strong> Wirkungsgeschichte Zimmermanns sich über Twardowsky auf <strong>die</strong> polnische<br />

Logik <strong>und</strong> den Schülerkreis Brentanos hinaus auch auf Husserl zu erstrecken scheint,<br />

siehe in: G.W. Cernoch, Zimmermanns Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Herbartschen Ästhetik. Eine<br />

Brücke zwischen Bolzano <strong>und</strong> Brentano, in: Verdrängter Humanismus <strong>und</strong><br />

verzögerte Aufklärung, in: Verdrängter Humanismus - verzögerte Aufklärung, Bd. 3,<br />

Bildung <strong>und</strong> Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus.<br />

Philosophie in Österreich (1820-1880), Hrsg. Michael Benedikt, Reinhold Knoll,<br />

Verlag Edituria Triade, Klausen-Leopoldsdorf, Ludwigsburg, Klausenburg 1995<br />

259 cit. op., p. 109


-— 257 —<br />

Fragestellung nach dem Gehalt eines Urteils gemäß <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

nach reflektieren<strong>der</strong> <strong>und</strong> bestimmen<strong>der</strong> Urteilskraft ausdrücklich<br />

einzurichten. Das aber heißt a fortiori, Husserl wie Heidegger übersehen<br />

auch, daß <strong>die</strong> Differenz zwischen theoretischer <strong>und</strong> praktischer Vernunft<br />

nicht allein zwischen Verstand (Physik) <strong>und</strong> Begehrungsvermögen (Ethik)<br />

aufzulösen ist. 260 Eine solche Differenz hat sich nicht nur auf verschiedene<br />

»Gegenstandsbereiche« <strong>der</strong> Intentionalität son<strong>der</strong>n auch auf verschiedene<br />

Methoden zu beziehen, soll aber dabei womöglich gerade dadurch noch<br />

<strong>die</strong> Synthesis <strong>der</strong> Akteinheit als eine <strong>der</strong> kategorialen Synthesis vorgängige<br />

Synthesis im Anschluß an <strong>die</strong> transzendentale Reflexion (wovon <strong>die</strong><br />

transzendentale Analytik ein Teilstück wäre) vorstellen. Damit wäre aber<br />

vielmehr <strong>die</strong> Vorstellung einer ursprünglichen Einheit <strong>der</strong> theoretischen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> praktischen Vernunft, allerdings auch nicht unbedingt selbst als<br />

Vernunft, gegeben <strong>und</strong> nicht eine nachvollziehbare Akteinheit des<br />

ursprünglich vorausgesetzten Selbstbewußtseins, woraus alles weitere<br />

analytisch folgt: Dazu wäre offenbar doch eine synthetische Metaphysik<br />

nötig, <strong>die</strong> über eine »transzendentale Psychologie«, <strong>die</strong> zwischen rationaler<br />

Psychologie <strong>und</strong> rationaler Physiologie das innere Seelenleben<br />

konstituieren (rekonstruieren) soll, noch hinausgeht <strong>und</strong><br />

weltkonstituierend sein will.<br />

e) Insuffizienz <strong>der</strong> pragmatischen Reflexion des Urteils<br />

(Dienlichkeit als Ausweis <strong>der</strong> Erschlossenheit. Heideggers Pragmatismus<br />

in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Wahrheitskriterien, Gethmann, S. 111 f.)<br />

Heideggers pragmatischer Ansatz in <strong>der</strong> Logik ist in § 44 von Sein <strong>und</strong><br />

Zeit, genauer in <strong>der</strong> Vorlesung vom Wintersemester 1925/26, §§ 12-14, von<br />

Aristoteles ausgehend zu verfolgen. »Heidegger stellt sich am Beginn des<br />

§ 11 <strong>der</strong> Vorlesung ausdrücklich <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong> Aussagewahrheit, wie<br />

260 Dieter Henrich, hat im bekannten Aufsatz: Der Begriff <strong>der</strong> sittlichen Einsicht <strong>und</strong><br />

Kants Lehre vom Faktum <strong>der</strong> Vernunft, (in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von<br />

Erkennen <strong>und</strong> Handeln, Hrsg. Gerold Prauss, Neue Wissenschaftliche Bibliothek:<br />

Philosophie, Kiepenheuer <strong>und</strong> Witsch, Köln 1973, p. 223 ff.) vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Auffassung von Hutchinson, das Gute <strong>und</strong> das Schöne sei nicht allein<br />

Angelegenheit rationalen Schlußfolgerns, son<strong>der</strong>n wäre durchaus traditionell gemäß<br />

<strong>der</strong> vis repraesentatio zu denken, welche das Interesse von <strong>der</strong> Methode <strong>der</strong><br />

Versicherung in <strong>der</strong> Erkenntnis trennt <strong>und</strong> doch einer gemeinsamen Wurzel<br />

zuzusprechen wäre, Kant als einen Denker skizziert, <strong>der</strong> zunächst entgegen<br />

Hutchinson bis in Gr<strong>und</strong>legung <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten einen rein rationalen<br />

Gr<strong>und</strong> für das Gute annimmt, <strong>und</strong> dann erst allmählich in verschiedenen Versuchen,<br />

<strong>die</strong> freilich systematisch aufeinan<strong>der</strong> bezogen werden, den Begriff <strong>der</strong> Vernunft von<br />

den Vorstellungen in <strong>der</strong> rationalen Metaphysik zu emanzipieren beginnt.


-— 258 —<br />

sie von Aristoteles expliziert wird, mit <strong>der</strong> „pragmatischen“<br />

Gr<strong>und</strong>struktur in Zusammenhang zu bringen, welche als „erfüllende“<br />

Anschauung gemäß Husserl <strong>der</strong> Aussage vorausliegen soll« (S. 112).<br />

Dieser Verweis auf »Pragmatik« vermengt nicht nur <strong>die</strong> rethorischen<br />

Wurzeln <strong>der</strong> Aussageformen, welcher <strong>der</strong> aristotelischen Logik von<br />

platonisch-akademischer Seite her zu Gr<strong>und</strong>e liegen, mit <strong>der</strong> bloßen Doxa:<br />

Die freilich hinsichtlich den Naturwissenschaften wie den<br />

Formalwissenschaften verschieden anzusetzenden Wahrheitsfragen sind<br />

mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> spezifischen Aussageform über ethisch relevante<br />

Verhältnisse zu sich selbst <strong>und</strong> zu an<strong>der</strong>en zu konfrontieren. Das Konzept<br />

<strong>der</strong> »Ausweisung« <strong>der</strong> Richtigkeit <strong>der</strong> Intentionalität ist nun nach<br />

Heidegger selbst kein Akt des Schauens, son<strong>der</strong>n ein Akt des Sich-<br />

Verstehens-auf-etwas. Insofern würde sich <strong>die</strong>ser Ausweg für das<br />

Problem, wie könnte <strong>der</strong> Ethik in <strong>der</strong> erkenntnistheoretischen Reflexion<br />

ein eigener Gegenstand gef<strong>und</strong>en werden, ebenso anbieten, 261 wie <strong>der</strong><br />

vielfach beschrittene Weg, <strong>die</strong> Ethik methodisch als ein Problem <strong>der</strong><br />

Ästhetik zu behandeln. Letzteres wäre in <strong>die</strong>ser Form allerdings nichts als<br />

<strong>die</strong> Reduktion <strong>der</strong> Akteinheit auf ein an<strong>der</strong>es Moment <strong>der</strong>selben, sollte <strong>die</strong><br />

Definition <strong>der</strong> »Ausweisung« bloß zur klassifikatorischen Unterscheidung<br />

<strong>der</strong> Erfüllungssynthesen <strong>die</strong>nen. — Kants Argumentationsgang scheint<br />

davon gar nicht mehr betroffen, da er schon in <strong>der</strong> ersten Kritik nicht nur<br />

Anschauungsform, Begriffe <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätze für den Gebrauch <strong>der</strong><br />

Verstandesbegriffe in <strong>der</strong> Erfahrung deutlich genug auseinan<strong>der</strong> gehalten<br />

hat, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> ersten Kritik auch das Feld <strong>der</strong> Phänomenologie nicht<br />

nur implizite zureichend eingeschränkt hat. In <strong>der</strong> praktischen Vernunft<br />

wird (obgleich <strong>die</strong>se in <strong>der</strong> Maximenlehre in zwei Teile zerfällt) abermals<br />

schon das bloße Einleuchten des Richtigen (geschweige denn <strong>die</strong><br />

pragmatische Ausweisung des Richtigen) nachhaltig durch <strong>die</strong><br />

ursprüngliche Billigung des Guten distanziert, was <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

Stellung des Universalisierungsprinzips in den Interpretationen des<br />

kategorischen Imperativs neu aufwirft. 262 — Heideggers Kritik an Husserl<br />

findet jedoch etwas Meinbares bzw. etwas Treffbares im Gemeinten,<br />

gerade weil sowohl von Seiten <strong>der</strong> Logik als Wahrheitsfähigkeit im Sinne<br />

<strong>der</strong> Einheit von Geltungs- <strong>und</strong> Existenzbehauptung (also auch ohne<br />

261 Eben <strong>die</strong> Unterscheidung betreffend, <strong>die</strong> eine mögliche theoretische Erkenntnis des<br />

Richtigen in sittlicher Hinsicht <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihrerseits als usprünglich angesetzten<br />

Billigung des Guten auseinan<strong>der</strong>zuhalten vermag.<br />

262 Ein solcher Gegenzug ist aus dem Verhältnis von Anschauung <strong>und</strong> Antizipation in<br />

<strong>der</strong> konstitutiven Kategorie schon bekannt.


-— 259 —<br />

Bedingung <strong>der</strong> aktuellen Anwesenheit — wenngleich auch immer für<br />

<strong>die</strong>se Bedingung paßfähig) wie von Seiten <strong>der</strong> praktischen Vernunft an<br />

Husserls Evidenzauffassung bereits Kritik geübt worden ist; <strong>und</strong> zwar<br />

obwohl Heidegger selbst eben <strong>die</strong>ser schon an Brentanos<br />

Evidenzauffassung zu übende Kritik zum Opfer fallen droht. Hingegen<br />

besitzt <strong>die</strong> Anschauung bei Kant noch in A für einen Moment <strong>der</strong> Analyse<br />

<strong>die</strong> einfache Doppeltheit zwischen Wahrnehmung bloßer Sinnlichkeit <strong>und</strong><br />

Wahrnehmung als <strong>die</strong> Mitteilung wirklicher Verhältnisse. 263 Das »Sich-<br />

Verstehen-auf etwas« Heideggers <strong>der</strong>angiert allerdings <strong>die</strong> zur<br />

Unterscheidung <strong>der</strong> Urteilsarten mühsam aufrecht erhaltene<br />

Unterscheidung von Anschauung <strong>und</strong> Erfahrung Kantens zugunsten des<br />

vermeintlichen Primats <strong>der</strong> praktischen Zwecksetzung im alltäglichen<br />

Umgang mit dem Vorhandenen als Zuhandenem. Das mag genetisch (o<strong>der</strong><br />

eher doch nur genealogisch) Geltung beanspruchen, in <strong>der</strong> Erkenntnisfrage<br />

verdeckt ein solcher Zugang mehr, als <strong>die</strong> Einsicht in <strong>die</strong> Einbettung<br />

konkret gesellschaftlicher Umstände zur Erhellung da noch beitragen<br />

kann. 264<br />

In <strong>der</strong> ersten Unbestimmtheit <strong>der</strong> Formulierung Heideggers scheint also in<br />

<strong>der</strong> Tat eine Erweiterung gegenüber Kant zu liegen, wenn man Kant nur<br />

aus <strong>der</strong> ersten Kritik heraus zu verstehen vermag. Heidegger bringt aber<br />

zur Unterscheidung <strong>der</strong> »Ausweisung« <strong>der</strong> Anschauung nur das haptische<br />

Element als Erweiterung in Spiel, als würde <strong>die</strong> Anschauung Husserls<br />

(<strong>und</strong> auch Kantens) nur visuell <strong>und</strong> optisch verstehbar sein, <strong>und</strong> vermag<br />

so erst recht nicht <strong>die</strong> Akteinheit <strong>der</strong> Intentionalität als den eigentlich<br />

gesuchten Formbegriff des darstellenden Schemas zu erfassen. 265<br />

263 Und zwar in <strong>der</strong> »absoluten Einheit« aus dem Kapitel »Von <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong><br />

Apprehension in <strong>der</strong> Anschauung« (A 99)<br />

264 Zur Erinnerung: »Für Heidegger ist daher <strong>der</strong> Übergang vom f<strong>und</strong>ierenden Modus<br />

<strong>der</strong> Anschauung zum f<strong>und</strong>ierten Modus <strong>der</strong> Aussagewahrheit umzuinterpretieren<br />

als „Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken“. (Sein <strong>und</strong><br />

Zeit, S. 360) Dieser Umschlag ist das entscheidende Moment <strong>der</strong> „ontologischen<br />

Genesis“ <strong>der</strong> Aussage, <strong>die</strong> Heidegger Husserls „Genealogie <strong>der</strong> Logik“<br />

entgegenstellt. Diese ontologische Genesis verläuft — wie bei Heidegger allgemein<br />

— als methodische Bewegung von einem eminenten zu einem defizienten Modus.«<br />

(Gethmann, cit. op., S. 113)<br />

265 Meiner Auffassung nach ist <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> intentionalen Verflechtung von<br />

einem transzendentalen Phänomen wie <strong>der</strong> »Akteinheit« nicht in einem Schritt zu<br />

entsprechen. Einer <strong>der</strong> möglichen Ansätze zur weiteren Untersuchung des<br />

Bewußtseins als Akteinheit sehe ich etwa in: Werner Flach, Thesen zum Begriff <strong>der</strong><br />

Wissenschaftstheorie, Bouvier Verlag, Bonn 1979. Das korrelative Verhältnis <strong>der</strong><br />

Wissensmomente <strong>der</strong> Intention, <strong>der</strong> Aufgabe, <strong>der</strong> Leistung, des Gehalts<br />

untereinan<strong>der</strong> sei als eine Bedingungsreihe <strong>und</strong> das Wissen so als eine in <strong>und</strong> bei<br />

ihrer unbedingten (generellen) Geltungsstruktur verän<strong>der</strong>liche Aussage zu


-— 260 —<br />

Heidegger will dann nicht einmal ein Anschauungskonzept mehr gelten<br />

lassen, obwohl <strong>die</strong>ses zwar nicht unmittelbar zur Bedeutungs- <strong>und</strong><br />

Sinnstiftung selbst mehr notwendig erscheint, aber doch sowohl für <strong>die</strong><br />

eidetische Reduktion wie erst überhaupt zur Überprüfung von<br />

Hypothesen zureicht, son<strong>der</strong>n er versucht überhaupt <strong>die</strong> Anschauung im<br />

Rahmen einer Untersuchung <strong>der</strong> Modalität zu umgehen. Heidegger<br />

übersieht hier <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> sinnlichen Anschauung (<strong>und</strong> wie sie<br />

exakt in Stellung zu bringen ist) für den Umschlag vom umsichtigen<br />

Umgang mit den Dingen zur theoretischen Erkenntnis. Heidegger geht<br />

von einer primären Erschlossenheit des Soseienden als Zuhandenen aus,<br />

was noch sinnvoll erscheinen könnte, doch er hält <strong>die</strong>se Erschlossenheit<br />

auch im Rahmen <strong>der</strong> methodischen Wahrheitsfrage ernsthaft für<br />

eminenter als den für ihn defizienten Modus theoretischer Erkenntnis.<br />

Damit verkennt Heidegger nicht nur den Unterschied von genetischem<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> zureichendem Gr<strong>und</strong>, son<strong>der</strong>n er leugnet noch den<br />

aufklärenden Charakter <strong>der</strong> Wissenschaft.<br />

Trotzdem ist nicht nur für Heidegger <strong>der</strong> eminente Modus <strong>der</strong> primären<br />

Erschlossenheit selbst zu Recht kein rein kognitiver Akt im Sinne eines<br />

Urteilens über Geltung <strong>und</strong> Existenz. Erst gegenüber dem Verstehen als<br />

<strong>die</strong>se primäre Erschlossenheit zwischen <strong>der</strong> Ekstase <strong>der</strong> Zukunft <strong>und</strong> dem<br />

Vorlauf zum Tode erfolge <strong>die</strong> Auslegung als intentionaler <strong>und</strong><br />

thematisieren<strong>der</strong> Akt <strong>der</strong> Selbstexplikation (Hermeneutik als Verständnis<br />

<strong>der</strong> eigenen Stellung) (S. 113). Heidegger präsentiert nicht nur <strong>die</strong><br />

hermeneutischen Selbstauslegung als alleiniges F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong><br />

Intentionalität (was u. U. richtig verstanden noch zu recht erfolgt sein<br />

könnte), son<strong>der</strong>n noch dazu <strong>die</strong>se Selbstauslegung als den eigentlichen<br />

Gr<strong>und</strong> des „theoretischen Entdeckens“. Letzteres ist angesichts <strong>der</strong><br />

zentralen Bedeutung <strong>der</strong> primären Intentionalität auf ein sinnlich<br />

gegebenes Objekt für <strong>die</strong> Struktur des Bewußtseins im Urteilsakt in dem<br />

von Heidegger hergestellten Zusammenhang mit <strong>der</strong> Wahrheitsfrage<br />

allerdings völlig aus <strong>der</strong> Luft gegriffen; ersteres kann zumindest auf den<br />

f<strong>und</strong>ierenden Aspekt des »Hinzusetzens« o<strong>der</strong> des »Zusammennehmens«<br />

im Rahmen <strong>der</strong> transzendentalphilosophischen Reflexion auf das »ich<br />

denke« verweisen, obwohl das »ich denke« Kantens (§ 16 <strong>der</strong><br />

transzendentalen Deduktion) gerade nicht <strong>die</strong> Selbstauslegung des<br />

begreifen. Das ist <strong>der</strong> allgemeine Methodenbegriff (<strong>die</strong> erste Einsicht in das<br />

geltungsdifferent aufgebaute Wissen). (p. 44)


-— 261 —<br />

Denkens im Rahmen <strong>der</strong> um <strong>die</strong> Pragmatik erweiterten »natürlichen<br />

Einstellung« ausmacht. Heidegger inszeniert aber ein Doppelspiel:<br />

»Gegenüber <strong>der</strong> Auslegung ist <strong>die</strong> „Aussage“ ein Akt, <strong>der</strong> dadurch<br />

entsteht, daß von <strong>der</strong> Zweck-Mittel-Einbettung abgesehen wird, welche<br />

<strong>die</strong> Auslegung zum Thema hat. Der defiziente Modus <strong>der</strong> Aussage<br />

gegenüber <strong>der</strong> Auslegung liegt also in <strong>der</strong> Abgehobenheit <strong>der</strong> Aussage<br />

vom unmittelbaren situativen Kontext. Auf <strong>die</strong>se Weise entsteht <strong>die</strong><br />

Struktur <strong>der</strong> logischen Elementarsätze; das „apophantische Als“ ist im<br />

„hermeneutischen Als“ genetisch-methodisch f<strong>und</strong>iert.« (S. 114)<br />

Derart wird <strong>der</strong> Aussage, <strong>die</strong> doch Ergebnis eines Urteils, <strong>und</strong> somit<br />

eigentlich auch nach Heideggers Überlegungen erst damit von aus sich<br />

selbst bestimmbaren intentionalem Charakter sein soll, <strong>die</strong> besorgende<br />

Auslegung als Material des vorgängigen Verstehens selbst vorangestellt,<br />

das allerdings ihrerseits bei aller Eminentheit ihrer subjektiv genetischen<br />

Vorgängigkeit erst <strong>der</strong> Auslegung zur Apophantik einer Aussage bedürfte,<br />

um <strong>die</strong> logische Bedingung eines wahrheitsfähigen Urteils überhaupt zu<br />

erfüllen — ohne <strong>die</strong>se aber stünde <strong>die</strong> Bestimmbarkeit <strong>der</strong> Form <strong>der</strong><br />

Intentionalität in Frage, <strong>die</strong> doch auch zur Auslegung gehören sollte. Nun<br />

ist <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Überlegung insofern trotz aller Doppeldeutigkeit <strong>der</strong><br />

Verwendung des Begriffes <strong>der</strong> Intentionalität insofern klar, als daß<br />

Heidegger für uns als Seinsgr<strong>und</strong> des Erkenntnisstrebens zuerst <strong>die</strong><br />

praktische Orientiertheit in <strong>der</strong> Welt anspricht. Nur sofern <strong>die</strong> praktische<br />

Orientierung zu einer Frage <strong>der</strong> Vernunft wird, wird auch das theoretische<br />

Urteilsvermögen konf<strong>und</strong>ierend (ohne deshalb allein ideale Urteilsinhalte<br />

betreffen zu müssen), um das, was Heidegger schließlich gegenüber <strong>der</strong><br />

Auslegung (als würde <strong>die</strong>se sprachlos erfolgen) als Aussage bezeichnet<br />

hat, überhaupt im logischen Sinne als Aussage (Proposition, Urteil)<br />

exponieren zu können. Heideggers Strategie ist also nur zweierlei<br />

vorzuwerfen: Erstens exponiert er den Begriff »Aussage« zuerst<br />

traditionell als logischen Terminus mit einen geregelten Bezug zur<br />

Wahrheit, um dann aus <strong>die</strong>sem Begriff jede hermeneutisch verwendbare<br />

o<strong>der</strong> hermeneutisch verwendete Äußerung regressiv abzuleiten, <strong>der</strong><br />

angeblich als Auslegung, obgleich ursprünglicher im Bezug zur Wahrheit<br />

stehend, <strong>die</strong> Entscheidungsfähigkeit nach wahr <strong>und</strong> falsch völlig abgehen<br />

sollte. Zweitens unterstellt Heidegger <strong>der</strong> Eingebettetheit solcher<br />

Äußerungen (seien sie nun sprachlicher o<strong>der</strong> nicht sprachlicher Natur),<br />

nur weil <strong>die</strong>se in ihrer Zweckmäßigkeit für sich nur einem inneren,<br />

eigenem Zweck unterliegen können sollten, allein daraus auch schon, den


-— 262 —<br />

Ursprung <strong>der</strong> Vernunft als solche auszumachen, wovon <strong>die</strong> theoretische<br />

Vernunft ihrerseits nur als abgeleitet zu erscheinen hätte. Heidegger<br />

verwechselt hier angesichts einer geköpften praktischen Vernunft<br />

Erkenntnisgr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Seinsgr<strong>und</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Frage nach dem Gr<strong>und</strong><br />

von Erkenntnis.<br />

Der Seinsgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis liegt erstens nicht allein in <strong>der</strong> letztlich<br />

praktischen Orientiertheit des erwachenden Bewußtseins <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />

narrativen Auslegung <strong>und</strong> Überhöhung, son<strong>der</strong>n m. E. immer schon in<br />

Prinzipien des reinen Bewußtseins, <strong>die</strong> historisch erst anlässlich zu<br />

entdecken waren <strong>und</strong> desweiteren auch für uns erst immer wie<strong>der</strong> neu zu<br />

entdecken sind, da in <strong>der</strong> Tat <strong>der</strong> Seinsgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis in einen<br />

materialen <strong>und</strong> in einen formalen Gr<strong>und</strong> zerfällt. Heidegger hat nun in<br />

einem entscheidenden Moment <strong>der</strong> Reflexion des Daseins nur den<br />

ureigensten materialen Gr<strong>und</strong> (eben schon <strong>die</strong> hermeneutische<br />

Gr<strong>und</strong>verfaßtheit in <strong>der</strong> Selbstauslegung des Daseins) bedacht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen<br />

als alleinigen Gr<strong>und</strong> ausgegeben; aber er hat noch dazu nach dem Wegfall<br />

<strong>der</strong> formalen Aspekte <strong>der</strong> Wahrheitsfähigkeit im vollständigen<br />

Verstandesurteil <strong>die</strong> formalen Aspekte einer bloß auslegenden Rede<br />

übersehen, <strong>die</strong> auch für eine mythische Rede gelten. Die schmale Basis, <strong>die</strong><br />

mir erlaubt, folgende Überlegung zu exponieren ohne meine Gründe alle<br />

selbst nennen zu müssen, liegt in den Gründen, z. B. auch in den Träumen<br />

in einer ursprünglich semantisch zu verstehenden Weise einen Sinn<br />

vermuten zu müssen (communio primavea), <strong>der</strong> nicht etwa allein<br />

gehirnphysiologisch als selbst völlig äußerlicher Prozess <strong>der</strong> inneren<br />

biophysikalisch-energetischen Ökonomie des Gehirns darstellbar ist. —<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage meiner These ist erstens <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amentalität eines<br />

Sinnhorizontes für jede Bedeutung <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong> Annahme, daß <strong>die</strong><br />

letzte einfache Idee <strong>der</strong> systematischen Durchgestaltung des<br />

Zusammenhanges von Bedeutung <strong>und</strong> Sinnhorizont als Ideal nicht nur für<br />

<strong>die</strong> aufsteigende Linie von empereia , phronesis <strong>und</strong> theoria <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong><br />

theoria ist. 266 Ich sehe also zunächst den Zusammenhang eines Traum-<br />

Themas, <strong>die</strong> Geschichten, <strong>die</strong> mit einem Bild o<strong>der</strong> einem offenen Text in<br />

Zusammenhang stehen (untereinan<strong>der</strong> aber nicht vollständig in<br />

Zusammenhang stehen), <strong>die</strong> Systematik einer Ideenlehre o<strong>der</strong><br />

266 altgriechisch empeireia: Objektkonstituierende Wahrnehmung mit<br />

Erfahrungskomponenten; phronesis: praktische Klugheit; erste<br />

Reflexionsgelegenheit <strong>der</strong> Erfahrung <strong>und</strong> insofern praktische Gelegenheit zur techne<br />

<strong>und</strong> zur theoria.


-— 263 —<br />

Regionalontologie, in einer Reihe mit <strong>der</strong> Idee von <strong>der</strong> Theorie als Prinzip<br />

des strengen systematischen Zusammenschlusses aller<br />

Bedeutungselemente. Insofern ist <strong>der</strong> Traum wie <strong>die</strong> theoretische Reflexion<br />

sowohl in Zusammenhang mit dem mehr o<strong>der</strong> weniger mit praktischer<br />

Sorge erfüllten Alltag stehend zu denken, demgegenüber bei<strong>der</strong>seits eine<br />

Weise <strong>der</strong> Exaltation zugesprochen werden muß, <strong>die</strong> sich nicht völlig wie<br />

Heideggers Ekstasen in <strong>die</strong> je als historisch bedachte Zeit zurückbiegen<br />

läßt. — Ich gehe also, mich darin von Heidegger unterscheidend, davon<br />

aus, daß nicht nur <strong>die</strong> mythische Rede für sich gleichfalls einen formalen<br />

Aspekt hat (etwa ein Grenzprinzip zwischen Kohärenz einerseits <strong>und</strong><br />

Verbindbarkeitserweiterung an<strong>der</strong>erseits), welche den Wahrheitsbezug<br />

regelt (wenn auch nicht in <strong>der</strong> eindeutigen Weise wie im Falle <strong>der</strong><br />

»Aussage« des theoretischen Erkenntnisinteresses), son<strong>der</strong>n daß <strong>die</strong>ser<br />

formale Aspekt auf eine Variation <strong>der</strong> gleichen hermeneutischen<br />

Prinzipien zurückzuführen ist, <strong>die</strong> sich im erkenntnistheoretischen<br />

Interesse (nunmehr als hermeneutisches Interesse unter an<strong>der</strong>en) in reiner<br />

Theorie als Dogma o<strong>der</strong> in den Erfahrungswissenschaften als Kanon<br />

zeigen. 267<br />

Heidegger aber besitzt keine logische Urteilstheorie, son<strong>der</strong>n erörtert das<br />

Urteilsvermögen historisch-genetisch, ohne zu einer systematischen<br />

Unterscheidung möglicher Urteilsweisen zwischen Glauben <strong>und</strong> Wissen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong>en spezifischen Bezug zur Wahrheit (wie noch Hegel) zu gelangen.<br />

Zu kritisieren ist daran, daß er dabei <strong>die</strong> Behandlung <strong>der</strong><br />

Wahrheitskriterien vernachläßigt hat, wie sie etwa in so verschiedene<br />

Ansätzen wie von Kant, Herbart, Bolzano <strong>und</strong> Brentano im Vergleich<br />

zwischen ästhetischen, theoretischen <strong>und</strong> praktischen Urteilen durchaus<br />

im Zentrum <strong>der</strong> Untersuchungen gestanden sind. In <strong>der</strong> Ablehnung <strong>die</strong>ser<br />

Untersuchungen geht Heideggers Anti-Psychologismus zu weit. Wichtig<br />

an Heideggers Zugangsweise ist allerdings <strong>die</strong> Offenlegung, daß das<br />

Bewußtsein immer schon in Bezug zu Wahrheit <strong>und</strong> Irrtum steht, <strong>und</strong> daß<br />

er stärker als sein Lehrer Edm<strong>und</strong> Husserl den Schwerpunkt <strong>der</strong><br />

Darstellung daraufhin gelegt hat, daß <strong>die</strong> Entwicklung von<br />

Urteilsverfahren, <strong>die</strong> möglichst instantialisierbar hinsichtlich eines<br />

267 Karl Mannheim mißt insofern konsequent <strong>der</strong> theoretisch-konstruktiven<br />

»Einstellung« zwar durchaus eine beson<strong>der</strong>e Stellung zu, doch wird unter dem<br />

Druck <strong>der</strong> verschieden möglichen Zuordnungen von »Einstellungen« zu<br />

soziologisch relevanten Formationen <strong>die</strong> inhaltliche, aber auch <strong>die</strong> formale Identität<br />

für Mannheim offenbar nochmals fragwürdig. Karl Mannheim, Strukturen des<br />

Denkens, Hrsg.: David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr, Frankfurt/Main 1980, stw<br />

298, Einleitung


-— 264 —<br />

geschlossenen Theoriensystems sind, das Feld <strong>der</strong> Bewußtseinsleistungen<br />

auch in philosophisch-anthropologischer Hinsicht verfehlen. In <strong>die</strong>ser<br />

Haltung befindlich hat Heidegger, so könnte man sagen, befangen von <strong>der</strong><br />

Einsicht des ursprünglich existenziell zwischen Wahrheit <strong>und</strong> Irrtum<br />

Stehens des (individuellen) Daseins, offenbar dem Urteil hinsichtlich des<br />

erkenntnistheoretischen <strong>und</strong> logischen Anspruchs nicht <strong>die</strong> nötige<br />

Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, wenn er das Urteilen <strong>und</strong> den<br />

Ursprung <strong>der</strong> Vernunft zumal letzlich nahezu völlig dem »man« des<br />

kollektiven Besorgens überantwortet.<br />

f) Die Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Falschheit<br />

Gethmann sieht in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> möglichen Falschheit eine Parallele von<br />

Kant zu Heidegger: es scheint bei beiden plötzlich zum Problem zu<br />

werden, daß <strong>die</strong> Falschheit bei Befolgung <strong>der</strong> vorgeschriebenen<br />

Reflexionsregeln gar nicht mehr möglich sei. Das ergibt sich auch aus <strong>der</strong><br />

(falschen) Umkehrung des Übergangs von einer empirisch-subjektiven<br />

Aussage zu einer »Ausage an sich« als präexistente Wahrheit, <strong>der</strong> sich<br />

Heidegger bei Lotze gegenübersieht (Gethmann S. 121/122). 268 Hier wäre<br />

auch an <strong>die</strong> Differenzen zwischen Bolzano <strong>und</strong> Brentano in <strong>der</strong> Frage des<br />

»Ist-Sagens« zu erinnern, <strong>die</strong> im Falle einer reellen Unterscheidung <strong>der</strong><br />

semientia in entia rationis sine f<strong>und</strong>amentum in re <strong>und</strong> enti rationis cum<br />

f<strong>und</strong>amentum in re weiterhin einer Erklärung harrt. 269 Einstweilen reicht<br />

zwischen Existenz <strong>und</strong> Geltung im Erkenntnisurteil <strong>die</strong> Frage: Inwiefern<br />

hat <strong>die</strong> Rede als Aussage ohne vollständigen Urteilsvollzug eine<br />

Beziehung zum gemeinten Sachverhalt? Dazu ist zu erinnern, daß <strong>der</strong><br />

Urteilsvollzug letztlich existenzial immer schon als Aneignung <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit zu verstehen ist <strong>und</strong> insofern mit dem ens tamquam verum<br />

im Zielpunkt übereinkommt. Das schließt freilich den pragmatischen<br />

Standpunkt mit ein. In Frage steht dabei immer, was unter »Wirklichkeit«<br />

nun genau zu verstehen sei, <strong>und</strong> welche Kriterien man <strong>die</strong>sen<br />

Verständnisweisen beibringen kann. Gethmann sieht drei<br />

268 Eine solche Umkehrung scheint Bolzano nur in seiner Elementarlehre zu beför<strong>der</strong>n,<br />

wenn er zu bedenken gibt, daß auch ein empirisches Ereignis im Nachhinein als<br />

logisch wie kausal begründetes Ereignis im als ideal zu denkenden Gedächtnis<br />

aufbewahrt ist.<br />

269 Hier wird offenbar nicht nur Bolzanos Beitrag zur Logik <strong>und</strong> zur Wissenschaftslehre<br />

unterschlagen, son<strong>der</strong>n auch dessen clandestine Wirkungsgeschichte über Robert<br />

Zimmermann in Richtung polnische Philosophie (Twardowsky in <strong>der</strong> Logik,<br />

Ingarden in <strong>der</strong> Ästhetik) <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Schüler Franz Brentanos: neben Höfler, Marty<br />

<strong>und</strong> Meinong ist hier eben insbeson<strong>der</strong>e Edm<strong>und</strong> Husserl zu nennen.


-— 265 —<br />

Strukturmomente <strong>der</strong> Falschheit in den Vorlesungen Heideggers vom<br />

Wintersemester 1925/26 (§ 13c):<br />

Erste Strukturbedingung. Geht auf <strong>die</strong> bloße Konstatierung eines<br />

Vorstellungsinhaltes <strong>und</strong> noch nicht auf ein kategoriales Urteil. Hat formal<br />

Ähnlichkeit mit dem Gr<strong>und</strong>urteil Kants, unterscheidet sich davon aber<br />

darin, daß das Gr<strong>und</strong>urteil immer schon über nicht-subjektive Fakten<br />

urteilt. Wäre aber schon durch das bloße Mitbemerktsein in einer<br />

Vorstellung von Etwas bei Brentano hinsichtlich <strong>der</strong> Existenz- o<strong>der</strong><br />

Geltungsfrage eines evidenten Urteiles über <strong>die</strong>ses Etwas als einzelner<br />

Gegenstand überinterpretiert. — Daraufhin interpretiert Husserl:<br />

Vermeinen, Heidegger: Entdeckend-sein als Gr<strong>und</strong>charakterisierung <strong>der</strong><br />

Intentionalität. (S. 123) Das Vermeinen ist jene Formulierung, <strong>die</strong> von<br />

einen vorweg bestimmbaren Inhalt <strong>der</strong> Vorstellung ausgeht; das<br />

Entdeckend-sein beschreibt für sich allein einen bestimmten Aspekt einer<br />

Intentionalität, <strong>die</strong> selbst sich einen Inhalt erst verschaffen muß. Im ersten<br />

Fall hat Husserl <strong>die</strong> Möglichkeiten des Zusammenwirkens von sinnlicher<br />

Täuschung <strong>und</strong> Irrtum im Vermeinen deutlich gezeigt, im zweiten Fall<br />

wird zwar auf eine Charakteristik <strong>der</strong> Intentionalität verwiesen, <strong>die</strong> in <strong>der</strong><br />

Phänomenologie des öfteren übersehen worden zu sein scheint — nämlich<br />

in <strong>der</strong> ersten Kritik Kantens (Ergänzung in <strong>der</strong> zweiten <strong>und</strong> vorallem in<br />

<strong>der</strong> dritten Kritik) o<strong>der</strong> in den Logischen Untersuchungen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Ideenlehre Husserls (Ergänzung durch das System von Retention <strong>und</strong><br />

Protention im inneren Zeitbewußtsein) — , doch aber selbst alleine nicht<br />

zwischen Gerichtetheit auf Etwas <strong>und</strong> <strong>der</strong> völligen Unbekanntheit des<br />

Etwas <strong>die</strong> ursprüngliche Definition <strong>der</strong> Intentionalität ausmachen kann.<br />

Desweiteren ist das Entdeckend-sein nicht eine Eigenschaft des<br />

Intentionalen, welche eine Charakteristik <strong>der</strong> Intentionalität in relativer<br />

Selbstständigkeit von <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> genetisch wie deskriptiv primären<br />

Intentionalität als eigener Formbegriff zu entwerfen erlaubt, wie das z. B.<br />

in <strong>der</strong> Geometrie <strong>und</strong> Arithmetik als Formalwissenschaften möglich ist.<br />

Die Frage nach dem Wesen <strong>der</strong> Aufmerksamkeit läßt sich nicht einseitig<br />

auf <strong>die</strong> Erk<strong>und</strong>ung des Unbekannten <strong>und</strong> Zukünftigen ausrichten,<br />

wenngleich psychologisch mit <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong> selbst zuerst noch<br />

zwecklosen Neugier eine spezifische Art <strong>der</strong> Intentionalität erschlossen<br />

werden kann, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Fragestellung nach <strong>der</strong> Charakteristik <strong>der</strong><br />

Intentionalität, <strong>die</strong> von einer Rede als Aussage <strong>und</strong> Satz (logisches Urteil)<br />

ausgehend erschlossen werden kann, hinausgeht. — Es bleibt <strong>die</strong> Frage,<br />

inwiefern mit <strong>die</strong>sen Charakteren des Vermeinens <strong>und</strong> des Entdeckend-


-— 266 —<br />

seins <strong>die</strong> Erfüllbarkeit <strong>der</strong> Intentionalität schon analytisch als verb<strong>und</strong>en<br />

zu denken möglich wäre; das »Entdeckend-sein« als Charakteristik <strong>der</strong><br />

Intention reicht jedenfalls nicht zu, zur Wahrheitsfrage in <strong>der</strong> letztlich auch<br />

von Heidegger beanspruchten Weise des Aussagens als logisches Urteilen<br />

etwas Entscheidendes beizutragen.<br />

Zweite Strukturbedingung. »Das Woraufhin <strong>der</strong> Leerintention ist nicht selbst<br />

<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Erfüllung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Entäuschung.« (S. 123) — Das ist<br />

zweifelos für alle genannten Autoren von Kant bis Husserl richtig.<br />

Allerdings übersieht Gethmann allem Anschein nach <strong>die</strong> Defizienz<br />

Heideggers in <strong>der</strong> Intention des »Entdeckend-sein« zum »Woraufhin«:<br />

Letzteres geht bereits notwendigerweise von einer bestimmbaren<br />

Vorstellung aus <strong>und</strong> steht so bereits im Feld des »Vermeinens«, ersteres ist<br />

aber eben nicht notwendigerweise mit einer bestimmbaren Vorstellung<br />

verb<strong>und</strong>en. Vgl. dazu einerseits Lockes allgemeines Dreieck <strong>und</strong> den<br />

Begriff von einem Zentauren, aber an<strong>der</strong>erseits <strong>die</strong> Leerintention des<br />

Entdeckend-seins ohne gerichtete Aufmerksamkeit. — Geht aber das<br />

Entdeckend-sein womöglich von einer bestimmbaren Vorstellung aus,<br />

ohne daß von <strong>die</strong>ser bereits als erfüllte Intention <strong>die</strong> Rede sein kann,<br />

würde das »Entdeckend-sein« gegenüber <strong>der</strong> obigen Darstellung bloß <strong>die</strong><br />

Suche nach dem Vorkommnis (Ereignis), das <strong>die</strong> Intention zu erfüllen<br />

vermag, bedeuten.<br />

Dritte Strukturbedingung. Leibniz würde <strong>die</strong>se für das<br />

Kompossibilitätsprinzip halten, allein würde er es nicht auf den Horizont<br />

des Beisammen-sein-könnens im Sinne des exhibitionistischen »Sehenlassens<br />

vom an<strong>der</strong>en her« 270 beschränken wollen. Diese Formulierung läßt<br />

bloß <strong>die</strong> parasitäre Wechselseitigkeit des Im-an<strong>der</strong>n-bei-sich-seins<br />

vermuten, <strong>die</strong> schon Hegels Überlegungen zwischen<br />

staatsphilosophischen <strong>und</strong> religionsphilosophischen Zusammenhängen<br />

vergiftet haben. Heidegger setzt hier aber <strong>die</strong> Auslegung doch wie<strong>der</strong><br />

völlig von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Wahrnehmung her an (S. 124): Die Zuhandenheit<br />

des innerweltlichen Seienden soll nach Heidegger über <strong>die</strong> bloße<br />

Vorhandenheit mittels <strong>der</strong> erst über das Verständnis des Zuhandenen<br />

möglich werdenden Bestimmbarkeit <strong>der</strong>en Washeit (also dann doch<br />

wie<strong>der</strong> in aller Eigentlichkeit auch als Vorhandenes) in <strong>der</strong> pragmatischen<br />

Auslegung das Übergewicht in <strong>der</strong> Formanalyse <strong>der</strong> Intentionalität<br />

bekommen. Insofern ist auch <strong>die</strong> Unterschätzung <strong>der</strong> formalen<br />

Anschauung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anschauungsform Kantens im Sinne des<br />

270 Martin Heidegger, GA, Bd. 21, S. 105


-— 267 —<br />

Heideggerschen Gedankenganges konsequent motiviert gewesen, auch<br />

wenn Heidegger entgegen <strong>die</strong>ser Systematik letztlich auf den Rückgriff auf<br />

Anschauung nicht verzichten konnte. Zur Falschheit o<strong>der</strong> zum Irrtum<br />

kommt es, da »<strong>die</strong> Auslegung das anfänglich entdeckte Seiende auch<br />

verdecken« kann (S. 124). —Man hat sich zu fragen, ob Heidegger <strong>die</strong>ses<br />

»anfänglich entdeckte Seiende« sowohl gegenüber <strong>der</strong> »Auslegung« wie<br />

gegenüber <strong>der</strong> »logischen Aussage« entsprechend in Stellung gebracht hat.<br />

Kant hingegen denkt noch daran, <strong>die</strong>se Möglichkeit <strong>der</strong> Falschheit mit <strong>der</strong><br />

For<strong>der</strong>ung nach lückenloser Anwendung <strong>der</strong> Schematen <strong>der</strong> Kategorien<br />

auszuschließen, sodaß ein Irrtum entwe<strong>der</strong> auf eine sinnliche Täuschung<br />

o<strong>der</strong> auf einen Fehler in <strong>der</strong> lückenlosen Argumentation zurückzuführen<br />

sein müßte; auf den Rückgang zu <strong>der</strong> Hermeneutik des bloßen Auslegens<br />

verfällt Kant freilich in <strong>der</strong> Wahrheitsfrage nicht. Insofern sollen <strong>die</strong><br />

Kategorien dazu <strong>die</strong>nen, Täuschung <strong>und</strong> Irrtum im Gebrauch <strong>der</strong><br />

Verstandesbegriffe auszuschließen. Im Rahmen <strong>die</strong>ser Reflexion vermag<br />

auch eine Verstellung nur mehr hinsichtlich <strong>der</strong> Bedingungen ihrer<br />

Möglichkeit betrachtet werden. Zur Verdeckung des Seienden durch <strong>die</strong><br />

Auslegung kann es im Zuge <strong>der</strong> kategorialen Reflexion Kants schon<br />

deshalb nicht kommen, weil eben von <strong>der</strong> lückenlosen Anwendbarkeit <strong>der</strong><br />

Kategorien gerade <strong>die</strong> Entdeckung des Allgemeinen des Seienden vor<br />

je<strong>der</strong> Bestimmung des allgemeinen Wesens des Einzelnen versprochen<br />

worden ist. Dieses Allgemeine des Seienden ist aber nicht ident mit dem<br />

Allgemeinen des Genus. Man muß eher sagen, das Allgemeine <strong>der</strong><br />

Kategorien liege insofern im Schema des Erfüllenden <strong>der</strong> Intention, als<br />

man sagen könnte, das Allgemeine des Schemas ließe sich mit <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit des Genus des Gegenstandes ident setzen. — Diese<br />

Allgemeinheit des Schemas aber ist in <strong>der</strong> transzendentalen Reflexion<br />

unmittelbar gebbar <strong>und</strong> nur <strong>die</strong> Allgemeinheit des Genus kann trotz<br />

Befolgung <strong>der</strong> Regeln des Schematismus auch falsch sein. Heidegger<br />

vermag nun <strong>die</strong> Unterscheidung in das Allgemeine <strong>der</strong> Anschauung, des<br />

Zweckes <strong>und</strong> des Genus nicht mit <strong>der</strong> nötigen Schärfe zu treffen, noch <strong>die</strong><br />

verschiedenen Schematen in ihrem Zusammenwirken im Rahmen einer<br />

Untersuchung <strong>der</strong> Urteilskraft vorstellig zu machen. Heideggers Beitrag<br />

bleibt aber, <strong>die</strong> intentionale Struktur des Bewußtseins auf den<br />

Grenzzustand des »Entdeckend-seins« einerseits <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ausrichtung <strong>der</strong><br />

Aufmerksamkeit auf den Horizont des Daseins an<strong>der</strong>erseits erweitert zu<br />

haben, auch wenn er sowohl in deskriptiver wie in genetischer Hinsicht


-— 268 —<br />

das Ursprüngliche des Bewußtseins mit seinem möglichen Horizont des<br />

Ganzen vertauscht hat.<br />

Abschließend konstatiert auch Gethmann eher lapidar, daß Heidegger<br />

trotz <strong>der</strong> zwischendurch auch schon von ihm ausgeschlossenen<br />

Anschauung mittels <strong>der</strong> Differenz von hier Sorgestruktur <strong>und</strong> da<br />

Verfallenheit einerseits <strong>und</strong> (gewaltsamer) Wie<strong>der</strong>eintritt in das<br />

Sonnenlicht selbst gestalteter Geschichte an<strong>der</strong>erseits mittelbar doch an<br />

den Wahrheitsdifferenzen zwischen Vorstellung <strong>und</strong> Anschauung<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Verstellung als Vermittlung von Aktualität festhält <strong>und</strong><br />

insofern am Geschäft <strong>der</strong> Aufklärung teilnimmt. Heideggers<br />

Untersuchungen haben zwar <strong>die</strong> subjektiv-metaphysische Seite des<br />

Wahrheitsproblems bereichert, konnten selbst aber we<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> logischen<br />

Bedingung <strong>der</strong> Erkenntnis noch zu <strong>der</strong>en Stellung im Reflexionsgang<br />

etwas beitragen: Daß <strong>die</strong> wissenschaftliche Wahrheit als Depotenzierung<br />

betrachtet werden kann, wird allerdings von mir nur insofern ausdrücklich<br />

angegriffen, als daß<br />

1. Soziologisch <strong>die</strong> Freiheit <strong>der</strong> Wissenschaft, aus verschiedensten<br />

Interessen heraus unterstützt, eine wesentliche Rolle in <strong>der</strong> Aufklärung<br />

gespielt hat,<br />

2. Hermeneutisch Heidegger <strong>die</strong> Potenz des Daseins schließlich selbst<br />

mit <strong>der</strong> zukünftig erwarteten Eigentlichkeit <strong>der</strong> Gegenwart als<br />

Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> Vergangenheit heillos depotenziert hat (Die zwei —<br />

vertanen — Öffnungen des Daseins: Physik <strong>und</strong> Geschichte), <strong>und</strong><br />

3. Logisch <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong> wissenschaftlichen Wahrheit (Logik), <strong>die</strong><br />

zweifelos am Ende <strong>der</strong> Urgeschichte <strong>der</strong> Philosophie selbst ursprünglich<br />

wesentlich geworden ist, von Heidegger ernsthaft versucht wird, aus <strong>der</strong><br />

Ontik des Daseins abzuleiten.<br />

Das reine Bewußtsein des Verstandesgebrauches (Vernunft — als oberes<br />

Begehrungsvermögen — unter Verstand) ist keine wie auch immer<br />

geartete Ableitung aus einem wie auch immer potenten Bewußtsein,<br />

son<strong>der</strong>n ist eine Fulguration, <strong>die</strong> we<strong>der</strong> logisch, physikalisch, chemisch,<br />

biologisch, verhaltenstheoretisch o<strong>der</strong> evolutionstheoretisch ableitbar ist.<br />

Dem wie auch immer gearteten vorgängigen (ursprünglichen) Bewußtsein<br />

aber kann nun je nach Bedarf ein soziales, ökonomisches, politisches o<strong>der</strong><br />

auch archaisches, triebhaftes, schließlich auch ein mythisches Urwesen als<br />

Substrat unterschoben werden.

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