AK_Geometrie_Tagungs.. - Mathematik - Pädagogische Hochschule ...
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Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />
<strong>Tagungs</strong>band der Herbsttagung 2009<br />
des Arbeitskreises <strong>Geometrie</strong><br />
der Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
Matthias Ludwig, Reinhard Oldenburg<br />
(Hrsg.)
Inhaltsverzeichnis<br />
Matthias Ludwig<br />
Editorial.......................................................................................... 1<br />
Reinhard Oldenburg<br />
Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong> – Versuch einer<br />
Ortsbestimmung.............................................................................. 5<br />
Michael Neubrand<br />
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-)<br />
<strong>Geometrie</strong>: Versuch einer theoretischen Klärung........................ 11<br />
Heinrich Winter<br />
Würfel & Co –<br />
Kunst und Natur in den Symmetrien von Körpern....................... 35<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz .............................. 77<br />
Eva-Maria Plackner<br />
Die Weißblatterhebung – ein Instrument zur Erhebung des<br />
Vorwissens von Kindern zu geometrischen Begriffen in der<br />
Grundschule.................................................................................. 97<br />
Markus Ruppert<br />
Biometrische Erkennungssysteme – Ein geeignetes geometrisches<br />
Thema zur Vermittlung von Basiskompetenzen im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht ................................................................. 109<br />
Jan Wörler<br />
Konkrete Kunst im Schülerprojekt geometrische Zusammenhänge<br />
erkennen & weiterentwickeln...................................................... 125
Inhaltsverzeichnis<br />
Michael Schneider<br />
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen ....................... 143<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Förderung von geometriespezifischen Kompetenzen -<br />
eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes an Haupt- und<br />
Realschulen................................................................................. 155<br />
Autorenverzeichnis...................................................................... 175
Editorial<br />
Matthias Ludwig<br />
Was erwarten wir, was unsere Kinder nach dem Besuch der Sekundarstufe I auf<br />
jeden Fall in <strong>Geometrie</strong> beherrschen sollen? Welche Fähigkeiten und Kompetenzen<br />
im Bereich der <strong>Geometrie</strong> sollen sie unabhängig davon, ob sie eine<br />
Hauptschule, Realschule oder Gymnasium besucht haben, erworben haben.<br />
Welche Grundlegungen für das verstehensorientierte Lehren und Lernen im<br />
<strong>Geometrie</strong>unterricht sind elementar? Für manche Schüler mag der korrekte und<br />
sinnhafte Umgang mit Größen eine wichtige Grundlage für die Vorbereitung auf<br />
den Weg im Beruf sein. Für andere wiederum sind geometrische Sätze Voraussetzungen<br />
für das Weiterlernen in der Sekundarstufe II.<br />
Alle Freunde des <strong>Geometrie</strong>unterrichts waren zur Herbsttagung 2009 in Königswinter<br />
aufgerufen, sich darüber Gedanken zu machen, welche Inhalte wichtig<br />
sind und warum es gilt, sie zu unterrichten. Schon auf der Jahrestagung der<br />
Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> in Oldenburg im Frühjahr 2009 hat<br />
sich der Arbeitskreis <strong>Geometrie</strong> mit der Neuauflage des Winter´schen <strong>Geometrie</strong>kanons<br />
(Winter 1999, 1996) befasst. Diesen Kanon kann man durchaus als<br />
ersten Entwurf von Basiskompetenzen in <strong>Geometrie</strong> auffassen. Auch wenn die<br />
Inhalte dieses Kanons damals schon und heute natürlich erst recht weit über das<br />
hinausragen was in den derzeitigen Bildungsplänen bzw. Lehrpläne in Österreich,<br />
Schweiz oder Deutschland zu finden ist.<br />
Auf der Herbsttagung 2009 gab es neben den Vorträgen diesmal auch Arbeitsphasen<br />
in denen die Teilnehmer versucht haben, ihre Sichtweisen und Meinungen<br />
zu den Basiskompetenzen in <strong>Geometrie</strong> zu einer Position zu verdichten.<br />
Reinhard Oldenburg hat diesen Versuch einer Ortsbestimmung im einleitenden<br />
Beitrag zusammengefasst und festgestellt, dass sich der Basiskompetenzbegriff<br />
einerseits auf die handwerkliche Nutzung von Werkzeugen aber auch auf<br />
die formalen Begriffe der Formenlehre beziehen kann aber auch das geometrische<br />
Problemlösen wurde als geometrische Basiskompetenz erkannt.<br />
Heinrich Winter hat seinen Vortrag von der GDM 2009 zu einem Artikel ausgearbeitet,<br />
der in seiner ihm typischen exemplarischen Arbeitsweise aufzeigt,<br />
wie man den Begriff der Symmetrie am Beispiel des Würfels und seinen Verwandten<br />
von einer Basiskompetenz bis zu tiefgreifender mathematischer Er-<br />
Ludwig, M. (2010). Editorial. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010).<br />
Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.1-4
Editorial<br />
kenntnis ausbauen kann. Dass dabei wirklich nur der Würfel notwendig lässt<br />
den Leser immer wieder staunen.<br />
Der Beitrag „Grundlegende Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der<br />
(Schul-) <strong>Geometrie</strong>: Versuch einer theoretischen Klärung“ vom Hauptvortragenden<br />
Michael Neubrand weist dagegen in eine andere Richtung. Neubrand<br />
zeigt, dass man um die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schüler in der <strong>Geometrie</strong><br />
zu erfassen theoretische Anhaltspunkte braucht. So zeigt er, dass vor der<br />
Konstruktion von Aufgaben zu geometrischen Kompetenzen - übrigens erst<br />
recht, wenn man auf "Basis"-Kompetenzen abzielt - eine gründliche fachdidaktisch<br />
orientierte Analyse zu stehen hat.. Dazu gehört eben auch die Bestimmung<br />
der grundlegenden Inhalte Für die <strong>Geometrie</strong> ist - wie alle wissen - dieses Problem<br />
recht schwierig, einfach wegen der Komplexität und Multiperspektivität der<br />
<strong>Geometrie</strong>.<br />
Svetlana Nordheimer bringt mit ihrem Beitrag „Vernetzen als Basiskompetenz<br />
im <strong>Geometrie</strong>unterricht“ eine ganz andere, aber genauso notwendige Sichtweise<br />
in den Kompetenzbegriff. Somit geht es in diesem Artikel vor allem um die<br />
Verzahnung der epistemischen und sozialen Ebene der Vernetzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Auf der epistemischen Ebene werden Inhalte von verschiedenen<br />
Kapiteln als Knoten modelliert. Auf der sozialen Ebene erscheinen einzelne<br />
Schüler als Knoten. Beim Lösen und Formulieren von mathematischen Aufgaben<br />
in Gruppen sollten sowohl Inhalte wie auch Schüler miteinander in Beziehung<br />
gesetzt werden. Die Autorin löst dieses Problem durch die Konstruktion<br />
einer schülerzentrierten Unterrichtsmethode zur Vernetzung von mathematischem<br />
Wissen in der SEK I liegt. Ergänzt wird der Beitrag durch die Darstellung<br />
von zwei schulischen Erprobungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht mit Schülern,<br />
die diagnostizierte Lernschwierigkeiten aufweisen.<br />
Das Erkennen, Benennen und Darstellen geometrischer Figuren ist eine der<br />
wesentlichen geometrischen Kompetenzen, mit deren Erwerb bereits in der<br />
Grundschule begonnen wird. Die von den Kindern bei der Begriffsbildung<br />
durchlaufenen Zwischenphasen können beispielsweise durch Standortbestimmungen<br />
erhoben werden. Dass die innovative Methode der Weißblatterhebung<br />
sehr viel versprechend ist zeigt Eva-Maria Plackner in ihrem Beitrag „Die<br />
Weißblatterhebung - ein Instrument zur Erhebung des Vorwissens von Kindern<br />
zu geometrischen Begriffen in der Grundschule“.<br />
2
3<br />
Matthias Ludwig<br />
Einen ähnlichen Vernetzungsansatz wie ihn Nordheimer postuliert versucht<br />
auch Markus Ruppert an einem ganz konkreten Beispiel „Biometrie - Eine<br />
Möglichkeit Basiskompetenzen im <strong>Geometrie</strong>unterricht zu vermitteln“ umzusetzen.<br />
Ruppert verweist darauf, dass biometrische Erkennungssysteme immer<br />
mehr Einzug in unseren Alltag erhalten. Die Grundprinzipien, die sich hinter der<br />
Funktionsweise, insbesondere von Gesichtserkennungssystemen verbergen,<br />
liefern dabei gute Möglichkeiten für geometrische Modellierungsprobleme, bei<br />
denen auch neue Entwicklungen von dynamischer <strong>Geometrie</strong>-Software, etwa<br />
die Integration eines Tabellenkalkulationsprogramms, ausgenutzt werden können.<br />
Beschrieben wird anhand eines konkreten Projekts, welche Vernetzungsmöglichkeiten<br />
von mathematischen und insbesondere geometrischen Basiskompetenzen<br />
dieses Themenfeld bietet.<br />
Jan Wörler zeigt mit seinem unterrichtspraktischen Beispiel einen konkreten<br />
Versuch geometrische Basiskompetenzen vernetzend zu vermitteln. »Primzahlenbild<br />
1-9216«, »Farbfraktal«, »Fibonacci-Reihe« – bereits die Titel vieler<br />
Werke der Konkreten Kunst verweisen darauf, dass eine besonders enge Verbindung<br />
dieser Kunstgattung zur <strong>Mathematik</strong> besteht. Diese Verbindungen<br />
aufzudecken, zu untersuchen und dynamisch weiter zu entwickeln erfordert eine<br />
Vielzahl mathematischer Fähigkeiten, aber auch Basiskompetenzen. Im Beitrag<br />
„Konkrete Kunst im <strong>Geometrie</strong>unterricht“ wird neben theoretischen Aspekten<br />
auch die praktische Umsetzung im Rahmen einer Schülerprojektwoche beleuchtet<br />
Problemlösen wird explizit in den KMK-Bildungsstandards erwähnt. Michael<br />
Schneider geht in seinem Artikel „Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen“<br />
auf den Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen ein und<br />
fokussiert den Kontext auf die geometrischen Denkaufgaben von Paul Eigenmann.<br />
Er stellt dabei den Bezug her zum Kontext der Basiskompetenzen her und<br />
fragt ganz konkret in wieweit die Fähigkeit solche Denkaufgaben zu lösen zu<br />
den geometrischen Basiskompetenzen gehört. Schneider schließt mit modifizierten<br />
Eigenmann-Aufgaben für den Einsatz in der Schule.<br />
Jürgen Steinwandel stellt sich in seinem Beitrag „Förderung von geometriespezifischen<br />
Kompetenzen - eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes an Realschulen“<br />
die Frage, konstruktive Kompetenzen in der Sekundarstufe I mit dem<br />
Lineal/Geodreieck und dem Zirkel aktuell an baden-württembergischen Schulen<br />
gepflegt werden? Dieser Frage wird mit einer kleinen Untersuchung mit unterschiedlichen<br />
Erhebungen nach gegangen. So werden Lehrpläne, Abschlussprü-
Editorial<br />
fungen und Schulbücher analysiert. Eine kleine empirische Erhebung, erste<br />
Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung an einer Grund- und Realschule<br />
bzw. eigene Erfahrungen werden anschließenden in einem Fazit gebündelt.<br />
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Basiskompetenzen jede Überlegungen<br />
wert sind und wir nach dieser Tagung noch lange nict genau Beschreiben<br />
können wir wie weit wir den Begriff der Basiskompetenzen fassen können<br />
und vor allem wie diese Kompetenzen sinnvoll und zeitgemäß unterrichtet<br />
werden können.<br />
Literatur<br />
Winter, H. (1996). <strong>Mathematik</strong>unterricht und Allgemeinbildung. In: Mitteilungen der<br />
Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> Nr. 61, 1996 zum Download:<br />
http://blk.mat.uni-bayreuth.de/material/db/46/muundallgemeinbildung.pdf<br />
Winter, H. (1999). Ein Kanon für den <strong>Geometrie</strong>unterricht in den Sekundarstufen.<br />
MNU(1), 1996, als Beilage. Download auf der MNU-Webseite:<br />
http://www.mnu.de/index.php?option=com_content&view=article&id=137:kanongeometrieunterricht&catid=39:aktuelles&Itemid=40<br />
4
Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong> – Versuch einer Ortsbestimmung<br />
Teilnehmer der Arbeitsgruppen<br />
Zusammengetragen von Reinhard Oldenburg<br />
Zusammenfassung. Während der Herbsttagung 2009 wurde versucht, den Begriff Basiskompetenz<br />
für die <strong>Geometrie</strong> zu spezifizieren. Dabei zeigte sich einerseits, dass ein<br />
Blick auf <strong>Geometrie</strong>unterricht von der Kompetenzperspektive aus nützlich ist, dass dieser<br />
Zugang aber auch charakteristische Probleme und Beschränkungen hat.<br />
Zum Begriff Basiskompetenz<br />
Der Begriff Basiskompetenz ist noch nicht eindeutig fixiert. Eine mögliche<br />
Interpretation sieht ihn als die Kompetenz, die man erreichen muss, um den<br />
Mindeststandards zu genügen. Eine andere Sichtweise betont den Aspekt der<br />
Basis und sieht Basiskompetenzen, also solche Kompetenzen, auf die noch<br />
aufgebaut wird, die also als Voraussetzung für spätere Lern- oder Handlungssituationen<br />
notwendig sind. In diesem zweiten Sinne kann eine Basiskompetenz<br />
auch kognitiv anspruchsvoll sein und insbesondere hängen sie von den Zukunftsplanungen<br />
der Schüler ab.<br />
Basiskompetenzen und Problemlösen<br />
Problemlösen ist eine anspruchsvolle Tätigkeit und deswegen kann man zunächst<br />
vermuten, es handle sich nicht um eine Basiskompetenz. Dem kann man<br />
aber auf Grundlage beider obigen Begriffsformen widersprechen. Auch Schüler,<br />
die nur den Mindeststandard erreichen, sollten über gewisse Problemlösefähigkeiten<br />
verfügen und im Sinne des zweiten Verständnisses von Basiskompetenz<br />
kann man viele Beispiele anführen, in denen kleine Problemlösefähigkeiten<br />
Voraussetzung für erfolgreiches Agieren sind.<br />
In der Gruppe wurde aber auch diskutiert, dass Problemlösen nicht zuerst eine<br />
Kompetenz sondern eine Einstellung ist. Persönlichkeitsmerkmale wie Frustrationstoleranz<br />
und Sackgassenakzeptanz bzw. Beharrlichkeit sind entscheidend<br />
beim Problemlösen. Da <strong>Mathematik</strong> nicht nur aus Abarbeiten von Routineaufgaben<br />
besteht, müssen die Schüler die Bereitschaft erwerben, Umwege zugehen.<br />
Oldenburg, R. (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong> - Versuch einer<br />
Ortsbestimmung. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen<br />
in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.5-10
Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />
Auf der Metaebene gehören auch gewisse Kenntnisse von Problemlöse-<br />
Strategien zu Basiskompetenzen. Strategien wie Probieren und Variieren sind<br />
auch außerhalb der <strong>Mathematik</strong> relevant. Ebenfalls hierhin gehört die Reflexionsfähigkeit<br />
über das eigene Vorgehen. Beispielsweise sollte man sich klar<br />
machen können, welche Größen gegeben und welche gesucht sind. Eine solche<br />
Strukturierungsfähigkeit schafft Überblick. Dazu gehören, auch in der ersten<br />
Interpretationsart:<br />
• nützliche Hilfsmittel kennen<br />
• bisheriges Wissen / Erfahrung durchgehen<br />
• Teilfiguren / Teilprobleme erkennen<br />
• Figuren erweitern/ergänzen<br />
• einen Aspekt in einen größeren Zusammenhang stellen<br />
• Identifizieren der gegebenen und benutzten Voraussetzungen<br />
• Variieren mit Abschätzen der Folgen (Variationsfähigkeit)<br />
Illustriert wurden diese Basiskompetenzen am Beispiel eines Rangierproblem<br />
(2 Waggons, Lok, rangieren), das das mit "Bausteinen" spielen und kombinieren<br />
exemplarisch vormacht. Ähnlich gelagert ist die Suche in einem Labyrinth.<br />
Basiskompetenzen aus der Formenkunde<br />
Es wurde versucht, zu definieren, was im Bereich der Formenkunde als Basiskompetenz<br />
gelten könnte:<br />
• Kompetenz, ebene und räumliche Körper (Gegenstände) wahrnehmen<br />
und beschreiben können<br />
• Begriffsapparat (von der Grundschule an)<br />
• gerade, gekrümmt (später: Krümmung), glatt (später: differenzierbar),<br />
senkrecht, parallel, schief….<br />
• Übliche Kataloge von Relationsbegriffen<br />
• Operationen mit Objekten in Bezug zu Eigenschaften<br />
• Genau beschreiben: Messen, Messfehler<br />
• Körper darstellen können<br />
• Schrägbilder herstellen und interpretieren; Maße entnehmen<br />
• Kompetenz Figuren und Körper herzustellen<br />
6
• Zusammenfügen, Schneiden,…, Basteln<br />
7<br />
Reinhard Oldenburg<br />
• Welche Körper können durch Rotation entstehen (Rotationskörper<br />
nicht nur beim Integral)<br />
• Katalog an interessanten Formen<br />
• Parabolantennen, Kettenline, Spiralen, …<br />
Basiskompetenzen wurden dabei im Sinne der zweiten Begriffsfassung verstanden,<br />
und eine explizite Abhängigkeit von weiteren Anwendungen, zB von Modellbildungen,<br />
und vom individuellen Lernprozess konstatiert.<br />
Basiskompetenzen im Umgang mit geometrischen Werkzeugen<br />
Kompetenzen <br />
Fähigkeiten<br />
Geodreieck /<br />
Meterstab /<br />
Maßband<br />
Genauigkeitsrelevanter<br />
Einsatz<br />
des entsprechendenMessmittels<br />
+ entsprechendes<br />
Runden<br />
Unter Beachtung<br />
der Eigenschaftenzeichnen<br />
folgender<br />
Grundformen:<br />
Dreiecke mit<br />
Seitenvorgaben<br />
und mit Winkelvorgaben<br />
Vierecke<br />
Zirkel DGS<br />
Konstruktion<br />
Senkrechte<br />
Konstruktion<br />
Mittelsenkrechte<br />
Konstruktion<br />
Winkelhalbierende<br />
Schnittpunkte<br />
zweier Kreisbögen <br />
Streckenübertrag<br />
Streckenübertrag<br />
Senkrechte<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelhalbierende<br />
Zugmodus<br />
Ortskurve<br />
Algebrafenster<br />
Umgang mit<br />
grundsätzlichem<br />
Funktionsumfang<br />
und Programmphilosophie<br />
Messen (Strecke,<br />
Winkel)<br />
Fenstertechnik<br />
Umgang mit Maus<br />
und Tastatur<br />
Konstruktionen<br />
ohne<br />
Konstr.-<br />
Werkzeug
Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />
Fertigkeiten<br />
Messen (Strecke,<br />
Winkel)<br />
Strecken zeichnen<br />
Streckenmitte<br />
bestimmen<br />
Parallele im<br />
Abstand s<br />
Lotgerade,<br />
Senkrechte<br />
Kreisbogen<br />
mit Radius<br />
zeichnen<br />
Basiskompetenzen zum Umgang mit Ortslinien<br />
8<br />
Gruppe Zeichnen<br />
Gruppe Konstruieren<br />
Gruppe Abbildung<br />
Das Ortslinienwerkzeug von DGS ist ein mächtiges Werkzeug, das aber nur auf<br />
der Basis bestimmter Kompetenzen voll genutzt werden kann:<br />
• Handlungsalgorithmen verfolgen<br />
• beobachten, beschreiben<br />
• mathematisch (geometrisch) umsetzen, deuten<br />
• in ein DGS übertragen<br />
• Wahl eine Koordinatensystem<br />
• Vernetzung von Gleichung und Graph<br />
• Allgemeiner Abbildungs (Funktions-)begriff<br />
• Kritische Haltung zu Computerergebnissen<br />
Fazit zu Basiskompetenzen<br />
Einsatz +<br />
Beherrschung<br />
der<br />
Grund-<br />
funktionen<br />
Im Laufe der Diskussion wurde klar, wie schwierig der Begriff der Basiskompetenz<br />
ist. Nicht zuletzt ist offen, zu welchem Zweck er verwendet werden soll. Im<br />
Sinne der ersten Definition kann man an eine Evaluation des Schulsystems denken.<br />
Wird das Ziel erreicht, bei allen Schülern die Basiskompetenzen zu erreichen?<br />
Im Sinne der zweiten Definition könnte man als Schulbuchautor die Kompetenzentwicklung<br />
strukturieren. Beispielsweise könnte zu Beginn eines Schuljah-
9<br />
Reinhard Oldenburg<br />
res geprüft werden, ob die jahrgangsstufenspezifischen Basiskompetenzen auch<br />
wirklich vorhanden sind. Außerdem kann man sich fragen, ob man es schaffen<br />
kann, die neuen Inhalte eines Schuljahres so zu strukturieren, dass möglichst<br />
wenig Basis nötig ist.<br />
Trotz aller offenen Fragen: Die Teilnehmer waren sich einig: der Begriff der<br />
Basiskompetenz ist nützlich, weil er einen neuen Blick auf den <strong>Geometrie</strong>unterricht<br />
ermöglicht und zu regen Diskussionen Anlass gibt – wie auf der Herbsttagung<br />
bewiesen wurde.
Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />
10
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong>:<br />
Versuch einer theoretischen Klärung<br />
Michael Neubrand<br />
Abstract: Der folgende Text ist eine nachträgliche Skizze des Einleitungsvortrags am<br />
2. Oktober 2009 bei der Jahrestagung des Arbeitskreises <strong>Geometrie</strong> der Gesellschaft für<br />
Didaktik der <strong>Mathematik</strong> in Königswinter. Die Tagung behandelte „Basiskompetenzen in<br />
der <strong>Geometrie</strong>“, eine ebenso aktuelle wie traditionelle Thematik. Der Vortrag hatte sich<br />
zum Ziel gesetzt, das Feld der Schulgeometrie in Hinblick auf Inhalte, Arbeitsweisen und<br />
Kompetenzen abzustecken, aber weder der Vortrag noch jetzt diese nachträgliche Fassung<br />
beanspruchen, diesbezüglich auch nur einigermaßen erschöpfend zu sein. Vortrag<br />
und Text sind letztlich ein Plädoyer dafür, sich immer wieder einer offenen „Multiperspektivität“<br />
der <strong>Geometrie</strong> zu stellen und diese nicht zu leichtfertig auf wenige Kompetenzen<br />
zurückzuschneiden. Vortrag und Text plädieren aber umgekehrt ebenso dafür,<br />
es nicht bei allgemeinen Desideraten zu belassen, sondern immer wieder auch nach dem<br />
Faktischen und dem konkret Umsetzbaren zu fragen.<br />
Motto<br />
Der Vortrag stand unter diesem generellen Motto:<br />
Auch und gerade, wenn man über „Basiskompetenzen“ nachdenkt, darf man<br />
nicht nur in Kategorien von Stoffkatalogen und wünschenswerten Qualifikationen<br />
denken. Vielmehr kann man sich beim Abstecken des Feldes „Schulgeometrie“<br />
an diesen drei grundlegenden Aspekten orientieren:<br />
• Alle Überlegungen sollen sich letztlich auf das Lehren und Lernen beziehen<br />
lassen.<br />
didaktischer Aspekt.<br />
• Alle Überlegungen sollen der Multiperspektivität der <strong>Geometrie</strong> Rechnung<br />
tragen.<br />
epistemologischer Aspekt.<br />
• Alle Überlegungen sollen sich auf einen sehr allgemeinen „literacy“-<br />
Begriff stützen, der auch innerfachliche Aspekte einbezieht.<br />
pädagogischer Aspekt.<br />
Neubrand, N. (2010). Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-)<br />
<strong>Geometrie</strong>: Versuch einer Theoretischen Klärung.. In: Ludwig, M., Oldenburg,<br />
R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker,<br />
S.11-34
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
Einstimmung: Was „braucht“ man eigentlich für die Tischler-Aufgabe?<br />
Es ist allzu leicht – und falsch! – mit dem Begriff „Basiskompetenzen“ nur das<br />
unmittelbar Anwendbare zu assoziieren. Schon die geometrischen Kompetenzen,<br />
die tatsächlich „unmittelbar gebraucht“ werden, enthalten weit mehr als<br />
bloße Fertigkeiten. Am folgenden Beispiel lässt sich das gut demonstrieren, der<br />
„Tischler-Aufgabe“ (siehe J. & M. Neubrand, 2007):<br />
Die Tischler-Aufgabe:<br />
Ein Tischler will oft, dass eine Schublade, eine Türfüllung, der Rahmen<br />
eines Schrankes oder Regals, eine Tischplatte, ... genau rechteckig zusammengebaut<br />
werden.<br />
Tischler gehen dafür so vor (Abbildung 1):<br />
Zuerst sichern sie, dass sich je zwei gleich lange Seiten a und b gegenüber<br />
liegen. Dies ist das leichtere Problem, denn man kann ja mit dem<br />
Zollstock ziemlich genau abmessen.<br />
Abb. 1: Werkstück des Tischlers<br />
Aber nun kann sich das Werkstück „verziehen“.<br />
a<br />
b b<br />
f e<br />
a<br />
Deshalb misst der Tischler auch die beiden Diagonalen e und f . Sind<br />
diese ebenfalls gleich lang, dann ist das Werkstück tatsächlich „im<br />
rechten Winkel“.<br />
Man muss zu diesem Vorgehen des Tischlers noch nicht einmal explizit die<br />
Frage stellen: „Stimmt das?“ Allein das Verwenden (noch nicht einmal das<br />
„Verstehen“) des Vorgehens des Tischlers setzt schon Kompetenzen voraus, die<br />
weit mehr sind als reduzierte „basics“:<br />
12
Anwenden setzt zwar Basis-Wissen voraus:<br />
Was ist ein rechter Winkel?<br />
Was bedeutet Länge?<br />
Was ist ein Rechteck?<br />
13<br />
Michael Neubrand<br />
Aber erkennen, worum es geht, kann man nur bei einer Sicht auf die Figur (das<br />
Werkstück), die mehr ist als ein statisches Abbild, mehr als das Benennen der<br />
Figur selbst:<br />
Wie kann sich die (eine) Figur verändern, wenn einige Größen festgehalten<br />
werden, einige schwanken?<br />
Innerhalb welcher Schar von Figuren ist das Rechteck anzusiedeln?<br />
Was ändert sich, was bleibt erhalten, wenn sich das Werkstück „verzieht“,<br />
wenn eine Figur systematisch verändert wird?<br />
Sind das noch „Basiskompetenzen“? Ja, denn offenbar verlangt die Praxis die<br />
Fähigkeit, solche Regeln sinnvoll zu verwenden. Aber die sinnvolle Verwendung<br />
bedingt offenbar grundlegende Verständniselemente, die über das Lernen<br />
von Rezepten hinausgehen. Kommen solche Fragestellungen in den <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
dann kann die mathematikdidaktische Stoßrichtung nur sein, vielfältige<br />
Erfahrungen anstoßen, um die Tischler-Regel aus einem allzu engen<br />
Praxis-Kontext zu holen. Diese Erfahrungen müssen einerseits konkret genug<br />
bleiben, aber dennoch auf allgemeine Beziehungen zielen: Aus dem „Rezept“<br />
soll eine verstandene „Strategie“ werden. 1 Dennoch hat es wenig Sinn, nun in<br />
die „wirkliche“ Werkstatt zu gehen, aber Basteln und Experimentieren, sagen<br />
wir mit Stäben, Gelenken, Gummibändern, ... , das ist wichtig.<br />
Nicht einmal eine praxisnahe Regel für die konkrete Handwerkstätigkeit kann<br />
somit verstanden werden, wenn nur isoliertes Wissen über einige Grundbegriffe<br />
vorliegt. Auch und gerade auf einfachstem inhaltlichem Niveau sind Verknüpfungen<br />
des Gewussten zu anderen Wissenselementen und zu reflektierten Erfahrungen<br />
mit konkreten Gegenständen das Entscheidende. Solche Vernetzungen<br />
herzustellen muss nicht mit „schwierig“ sein. Einfache Querverbindungen ge-<br />
1 Das ist der „aufklärerische Impetus der Schule“, auf den Heinrich Winter immer wieder<br />
hingewiesen hat (Winter, 1975, 1985, 1995).
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
nügen. Wichtig ist, auch elementarstes Wissen zusammen(!) mit seinen Einbettungen<br />
zu thematisieren. 2<br />
Schon bei diesem einfachen Beispiel werden unterschiedliche Funktionen und<br />
Aspekte der <strong>Geometrie</strong> angesprochen:<br />
• Praxis<br />
• Begründung<br />
• Begriffe<br />
• Experimente<br />
• ...<br />
Das verlangt nach systematischer Erschließung des Feldes „(Schul-)<strong>Geometrie</strong>“,<br />
wofür im folgenden Abschnitt ein Modell angeboten wird.<br />
Die Multiperspektivität der Schulgeometrie:<br />
Sichtweisen – Zugänge – Tätigkeiten<br />
Nach drei Dimensionen (siehe Abbildung 2) kann man das Feld der Schulgeometrie<br />
aufschließen (Neubrand, 1991; siehe auch Graumann & al., 1995; Mammana<br />
& Villani, 1998):<br />
Generelle Sichtweisen<br />
von <strong>Geometrie</strong><br />
Zugänge („Approaches“)<br />
zur <strong>Geometrie</strong><br />
Abb. 2: Drei Dimensionen des Feldes Schulgeometrie<br />
2 In J. & M. Neubrand (2008) wird dazu ein für Schülerinnen und Schüler der Hauptschule<br />
geeignetes Arbeitsblatt zur Tischleraufgabe vorgestellt, das die Einführung in die<br />
Regel mit der Verknüpfung elementarer geometrischer Kenntnisse verbindet.<br />
14<br />
Tätigkeiten<br />
in der <strong>Geometrie</strong>
Sichtweisen<br />
15<br />
Michael Neubrand<br />
Schon die <strong>Geometrie</strong> als mathematisches Teilgebiet ist nicht uniform. Es gibt –<br />
und das zeichnet die <strong>Geometrie</strong> unter den anderen mathematischen Teilgebieten<br />
in besonderer Weise aus – die unterschiedlichsten Sichtweisen. Diese Vielfalt<br />
von Aspekten ist durchaus erstaunlich. Sie macht den <strong>Geometrie</strong>-Unterricht<br />
einerseits schwer und anspruchsvoll (Graumann & al., 1995); für die Analyse<br />
von Unterricht bietet sie aber auch Chancen:<br />
• Lehrerinnen und Lehrer können sich bei der Unterrichtsgestaltung daran<br />
orientieren;<br />
• die Einordnung und Bewertung von Unterricht kann anhand solcher<br />
Sichtweisen substantiiert und präzisiert werden;<br />
• schließlich müssen eine Reihe dieser Sichtweisen Bestandteil des bei<br />
den Schülerinnen und Schülern zu erzeugenden <strong>Mathematik</strong>bildes<br />
werden, das um so reichhaltiger wird, je ausgewogener diese Aspekte<br />
im Unterricht vorkommen.<br />
Eine ausführliche Liste von Sichtweisen der <strong>Geometrie</strong> hat Vollrath (1992)<br />
zusammengestellt; an diese hält sich die folgende Aufzählung. Auch Schupp<br />
(1991) hat ähnliche Beschreibung vorgelegt. Man kann demnach <strong>Geometrie</strong><br />
sehen …<br />
• als „fertiges“ mathematisches Teilgebiet, als Vorrat verschiedener,<br />
ausgearbeiteter mathematischer Theorien,<br />
• als ein Feld, in dem Begriffe zu finden, Theorien zu entwickeln, logische<br />
Abhängigkeiten aufzudecken, mathematischen Arbeitsweisen zu<br />
realisieren sind,<br />
• als Lieferant von mathematischen Problemen unterschiedlicher Art und<br />
Schwierigkeit (die „Steinbruch“-Idee),<br />
• als ein Vorrat von Theorien, die die Planung und Konstruktion von<br />
technischen Geräten verschiedener Art ermöglichen (besonders eindringlich,<br />
gerade durch die historische Distanziertheit Adams<br />
(1985/1795)),<br />
• als Bereitstellung von Theorien über den uns umgebenden Raum; d.h.<br />
<strong>Geometrie</strong> erwachsend aus naturwissenschaftlichen Erfahrungen und<br />
diese deutend,<br />
• als ein Produkt der Geistesgeschichte, als kulturelle Leistung,
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
Zugänge<br />
• als einen Vorrat von Formen, die es zu beobachten, zu interpretieren,<br />
zu erzeugen gilt, und die man außerhalb der <strong>Geometrie</strong> nutzen kann.<br />
Nicht uniform sind ebenso die Möglichkeiten, im <strong>Mathematik</strong>unterricht (und<br />
auch darüber hinaus) zu geometrischen Fragestellungen zu kommen. Auch hierbei<br />
zeichnet sich die <strong>Geometrie</strong> gegenüber anderen mathematischen Teildisziplinen<br />
durch eine besondere Multiperspektivität aus.<br />
Man kann zur <strong>Geometrie</strong> kommen …<br />
• von Realitätsbezügen her:<br />
Dann aber sollte man deren Vielfalt ausnützen: Technik, Geographie,<br />
Sonne-Mond-und-Sterne, Kunst, etc.. Im <strong>Mathematik</strong>unterricht werden<br />
Realitätsbezüge oft leider nur zum Motivieren oder zum Anregen benutzt;<br />
zentral ist aber, dass man sie auch zur Begriffsbildung einsetzt<br />
(vgl. Winter, 1995).<br />
• vom Interesse an und der Erschließung von inneren Zusammenhängen<br />
her.<br />
Dann steht im <strong>Mathematik</strong>unterricht oft das (nachträgliche) Erklären<br />
im Vordergrund, die Darstellung und Begründung von Sachverhalten.<br />
Man kann das Erschließen innerer Zusammenhänge aber auch für aktive<br />
Zugänge zu neuem mathematischem Wissen nützen, etwa indem logisches<br />
Ordnen neue Begriffe, Sätze, Beweise etc. erzeugt (vgl. Neubrand,<br />
1981; 1990).<br />
• vom Wunsch etwas zu beherrschen her.<br />
Dann sieht man im <strong>Mathematik</strong>unterricht oft nur das Üben. Auch dieses<br />
kann aber „produktiv“ sein, wenn es operativ aufgefasst wird und<br />
zu vielfältigen selbstgesteuerten Aktivitäten Anlass gibt. Solche Übungsformen<br />
sind in der <strong>Geometrie</strong> gut realisierbar, etwa mit dieser<br />
Aufgabe: In einen Kreis werden ein gleichseitiges Dreieck und ein<br />
Quadrat einbeschrieben (siehe Abbildung 3); durch Überschneidungen<br />
entstehen zahlreiche Stecken, die alle untereinander im Zusammenhang<br />
stehen und die man berechnen kann:<br />
16
Abb. 3: Kreis, gleichseitiges Dreieck und Quadrat<br />
• vom Material her (auch: Computer) und von Messgeräten her.<br />
17<br />
Michael Neubrand<br />
Die Aufgabe des <strong>Mathematik</strong>unterrichts ist es, die Geräte zu benutzen,<br />
die Erfahrungen zu ordnen, aus den Beobachtungen Schlüsse zu ziehen.<br />
Auch hier gilt es, die in der <strong>Geometrie</strong> gegebene Vielfalt auszunutzen.<br />
• von der Neugierde nach Erforschen, Entdecken, Problemlösen her.<br />
• vom Wunsch nach „Verstehen“ (über das Gelernte reflektieren) her.<br />
Gerade zu diesen beiden Punkten gibt es in der <strong>Geometrie</strong> vielfältige Möglichkeiten.<br />
Tätigkeiten und Kompetenzen<br />
Schließlich kann man die <strong>Geometrie</strong> auch unter dem Aspekt der in ihr ausgeführten<br />
mathematischen Tätigkeiten betrachten. Solche Tätigkeiten sollen dann<br />
zu Kompetenzen führen. Auch hier gilt: Die <strong>Geometrie</strong> bietet ein reichhaltiges<br />
Potential für solche Tätigkeiten und mithin ein breites Reservoir an Möglichkeiten,<br />
geometrische Kompetenzen auszubilden. Voraussetzung diese Vielfalt auszunützen<br />
ist die Bewusstheit darüber.<br />
Die <strong>Geometrie</strong> kennt als mathematische Aktivitäten …<br />
• reflektierte(!) konkrete Tätigkeiten: Falten, schneiden, kleben, rollen,<br />
zusammensetzen, bewegen, etc.,<br />
• diese konkreten Tätigkeiten – nach gemachten Erfahrungen – auch<br />
symbolisch auszuführen,<br />
• die spezifische Tätigkeit des Zeichnens mit ausgewählten (und entsprechend<br />
reflektierten) Zeichengeräten: Zirkel & Lineal, aber auch andere,<br />
incl. DGS,
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
• die spezifische Tätigkeit des „Sehens“ und des Operierens mit dem Gesehenen,<br />
• alle Tätigkeiten, die mit dem „Visualisieren“ zu tun haben (vgl. z.B.<br />
die zahlreichen Anregungen aus den Klagenfurter Visualierungs-<br />
Workshops (etwa Kautschitsch, 1989) oder das folgende Beispiel eines<br />
„visuellen Beweises“ – Abbildung 4).<br />
Abb. 4:“The rolling circle squares itself” (Nelsen, 1993)<br />
Es gibt aber in der <strong>Geometrie</strong> noch eine besondere Art, mathematische Tätigkeiten<br />
in den Unterricht einzubauen. Das liegt daran, dass gerade in der <strong>Geometrie</strong><br />
– mehr, expliziter und leichter elementar zugänglich zu machen als in anderen<br />
mathematischen Teilgebieten – einige allgemeine mathematische Arbeitsweisen<br />
authentisch zum Ausdruck kommen. Benno Artmann hat sogar von <strong>Geometrie</strong><br />
als „Vorbild für <strong>Mathematik</strong>“ (Artmann, 1978) gesprochen. Zu diesen in der<br />
<strong>Geometrie</strong> authentisch und dennoch elementar darstellbaren Tätigkeiten gehören<br />
…<br />
• das Aufklären von Phänomenen,<br />
• das Ordnen von Chaos,<br />
• das Herstellen von Beziehungen zwischen verschiedenen Aussagen, oft<br />
sogar schärfer: das Aufdecken verborgener Beziehungen,<br />
• die Präzisierung qualitativer Beziehungen,<br />
18
19<br />
Michael Neubrand<br />
• das Hinausgehen über Bekanntes, das Erweitern des Horizonts, das<br />
Verallgemeinern,<br />
• das Umschlagen einer Fragestellung, die beantwortet scheint, in ein<br />
neues Problem (oft ausgelöst durch neue „Mittel“),<br />
• die Suche nach einem aufklärenden Gedanken für ein ganzes Gebiet.<br />
Vgl. Neubrand (1991) für Hinweise auf Beispiele sowohl aus dem „elementaren“<br />
geometrischen Bereich wie auch parallel dazu aus der „höheren“ <strong>Mathematik</strong>.<br />
<strong>Geometrie</strong> in den Bildungsstandards, in den US-„Principles & Standards“<br />
und im britischen Geometry-Report<br />
In die deutschen Bildungsstandards geht die <strong>Geometrie</strong> vorwiegend unter der<br />
Leitidee „Raum und Form“ ein. Es heißt dort (KMK, 2003, 2004):<br />
(L 3) Leitidee Raum und Form<br />
Schülerinnen und Schüler ...<br />
• erkennen und beschreiben geometrische Strukturen in der Umwelt,<br />
• operieren gedanklich mit Strecken, Flächen und Körpern,<br />
• stellen geometrische Figuren im kartesischen Koordinatensystem dar,<br />
• stellen Körper (z. B. als Netz, Schrägbild oder Modell) dar und erkennen<br />
Körper aus ihren entsprechenden Darstellungen,<br />
• analysieren und klassifizieren geometrische Objekte der Ebene und des<br />
Raumes,<br />
• beschreiben und begründen Eigenschaften und Beziehungen geometrischer<br />
Objekte (wie Symmetrie, Kongruenz, Ähnlichkeit, Lagebeziehungen)<br />
und nutzen diese im Rahmen des Problemlösens zur Analyse<br />
von Sachzusammenhängen,<br />
• wenden Sätze der ebenen <strong>Geometrie</strong> bei Konstruktionen, Berechnungen<br />
und Beweisen an, insbesondere den Satz des Pythagoras und den<br />
Satz des Thales,<br />
• zeichnen und konstruieren geometrische Figuren unter Verwendung<br />
angemessener Hilfsmittel wie Zirkel, Lineal, Geodreieck oder dynamische<br />
<strong>Geometrie</strong>software,
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
• untersuchen Fragen der Lösbarkeit und Lösungsvielfalt von Konstruktionsaufgaben<br />
und formulieren diesbezüglich Aussagen,<br />
• setzen geeignete Hilfsmittel beim explorativen Arbeiten und Problemlösen<br />
ein.<br />
Die einzelnen Kompetenzen bleiben allerdings – wie bei einer solchen summarischen<br />
Übersicht zunächst nicht anders zu erwarten – relativ unverbunden nebeneinander<br />
stehen. Nähere Begründungen und Strukturierungen fehlen; Prinzipien,<br />
wie „gedanklich operieren“ oder „begründen“ (nach unterschiedlichen<br />
Systematiken wie Kongruenz oder Symmetrie) stehen unvermittelt neben stofflichen<br />
Elementen wie den extra erwähnten Sätzen von Pythagoras und Thales.<br />
Der Informationsgehalt der Bildungsstandards wird zu den Lehrerinnen und<br />
Lehrern hauptsächlich über Aufgabenbeispiele transportiert (Blum & al., 2006).<br />
Das kann durchaus – worauf implizit bereits in Blum & al. (2006, vgl. S. 33-35)<br />
hingewiesen wird – bedenkliche Einschränkungen nach sich ziehen. Zum Lehren<br />
und Lernen gehören nämlich neben dem stofflichen Kanon und den prozessbezogenen<br />
Kompetenzen auch allgemeine mathematische Denkweisen und eine<br />
Einbindung des Stoffes in größere, auch für die Lernenden sichtbare Zusammenhänge<br />
(vgl. Neubrand, 2009).<br />
Wie real die Gefahr der Einschränkung der Ideen der Bildungsstandards beim<br />
Übergang zum konkreten und realen <strong>Mathematik</strong>unterricht ist, zeigen Aufgabenbeispiele<br />
wie das obige (siehe Abbildung 5), das – wenn es bei solchen Aufgaben<br />
bleibt – eine große Einengung der Ideenwelt der <strong>Geometrie</strong> anzeigt, indem<br />
nämlich nur noch auf Rechnerisches und Außermathematisches Bezug<br />
genommen wird und keinerlei Ansatzmöglichkeiten zur Reflexion (Form der<br />
Pyramide, Eigenarten der Formeln, etc.) mehr erkennbar sind.<br />
20
Abb. 5: aus: Stark-Verlag, 2009 a<br />
21<br />
Michael Neubrand<br />
Die US-amerikanischen „Principles & Standards“ (NCTM, 2000) gehen weitaus<br />
strukturierter vor. Wörtlich heißt es (NCTM, 2000):<br />
Geometry Standard<br />
Instructional programs from prekindergarten through grade 12<br />
should enable all students to …<br />
• analyze characteristics and properties of two- and three-dimensional<br />
geometric shapes and develop mathematical arguments about<br />
geometric relationships;<br />
• specify locations and describe spatial relationships using coordinate<br />
geometry and other representational systems;<br />
• apply transformations and use symmetry to analyze mathematical<br />
situations;<br />
• use visualization, spatial reasoning, and geometric modeling to solve<br />
problems.<br />
Man kann klar die vier zentralen Denkweisen unterscheiden, die durch die <strong>Geometrie</strong><br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht in besonderer Weise ausgebildet werden sollen.<br />
Es sind dies allgemeine Funktionen des <strong>Mathematik</strong>unterrichts, die aber<br />
jeweils spezifisch geometrisch realisiert werden können:<br />
• analytisch denken:<br />
Formen – Figuren – innere Eigenschaften von Figuren.
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
• darstellen und beschreiben:<br />
Raum – Orientierung – Darstellung durch Koordinaten und andere Verfahren.<br />
• beweglich denken:<br />
Beweglichkeit – Beziehungen im Großen – Symmetrien.<br />
• die geometrischen Möglichkeiten nutzen:<br />
Sehen – Erkennen – Veranschaulichen.<br />
Ein Vergleich der beiden Ansätze zeigt, dass die Bildungsstandards relativ ungeordnet<br />
bestimmte Kompetenzen aneinander reihen. Unterschiedliche Ebenen<br />
werden nicht auseinandergehalten; Beispiele stehen neben allgemeinen Überlegungen;<br />
eine gemeinsame Klammer fehlt. Der Hintergedanke, warum die Leitidee<br />
„Raum & Form“ und nicht „<strong>Geometrie</strong>“ genannt wird, bleibt recht vage. Es<br />
fehlt der Hinweis, was geometrisches Denken als Grundlage für Visualisierungen<br />
über die <strong>Geometrie</strong> hinaus leisten kann. Somit besteht vor allem die Gefahr<br />
der Verengung bei der konkreten Umsetzung. Im Begleitbuch zu den Bildungsstandards<br />
(Blum & al., 2006) kommt keine explizite Gesamtbeschreibung von<br />
„Raum und Form“ vor, wie es etwa bei Daten & Zufall geschieht.<br />
Die “Principles & Standards” hingegen definieren vier klare Funktionen der<br />
<strong>Geometrie</strong>. Diese immer gleichen „Standards“ werden dann systematisch nach<br />
Klassenstufen ausdifferenziert, so dass allein von daher eine größere Breite<br />
angesprochen (auch realisiert??) werden kann. Eindeutig liegt der Fokus der<br />
„Principles & Standards“ auf „understanding“ im Sinne einer Vernetzung der<br />
einzelnen Gegenstände der <strong>Geometrie</strong> über größere curriculare und gedankliche<br />
Distanzen hinweg.<br />
Dass es gerade in der <strong>Geometrie</strong> auf die fachimmanenten Randbedingungen<br />
ankommt, betont auch der „Report“ der britischen Royal Society von 2001. Drei<br />
Grundprobleme, die sich zwar auch in anderen mathematischen Teilgebieten<br />
stellen, sind in der <strong>Geometrie</strong> besonders virulent (Royal Society, 2001):<br />
• abundance:<br />
Der große Facettenreichtum der <strong>Geometrie</strong> kann zu Eklektizismus oder<br />
zur Auswahl eines allzu engen Lehrgangs führen.<br />
• coherence:<br />
Beides, Breite und Tiefe sind im mathematischen und im didaktischen<br />
Sinn zu sichern. <strong>Geometrie</strong> kann also nicht beliebig ausgedünnt werden.<br />
• progression:<br />
<strong>Geometrie</strong> im Unterricht ist als Einheit und im gesamten curricularen<br />
Zusammenhang zu konzipieren.<br />
22
23<br />
Michael Neubrand<br />
Gerade die letzten beiden Punkte scheinen mir in den deutschen Bildungsstandards<br />
viel zu kurz zu kommen, so dass wir tatsächlich mit der zuerst genannten<br />
Gefahr der Verengung real konfrontiert sind. Übrigens empfiehlt die Royal<br />
Society abschließend: „We recommend that the title of the attainment target<br />
Ma3 of the National Curriculum be changed from ‘Shape, space and measures’<br />
to ‘Geometry’.“ (Royal Society, 2001).<br />
Umsetzung von geometrischen Basiskompetenzen in der deutschen Option<br />
von PISA-2003<br />
Will man die aufgezeigte Breite der geometrischen Kompetenzen konkret in<br />
Aufgaben umsetzen, z.B. in Leistungsuntersuchungen wie PISA, aber auch in<br />
zentralen Prüfungen in den Bundesländern, in Vergleichsarbeiten, ja selbst in<br />
Ansätzen auch noch in Klassenarbeiten und schulischen Leistungsüberprüfungen,<br />
steht man vor recht konkreten Problemen. Einerseits soll die soeben umrissene<br />
kognitive Breite vorhanden sein. Anderseits sind aber „Test“-Aufgaben zu<br />
konstruieren, die von den Schülerinnen und Schüler nicht „geniale“ Ideen verlangen<br />
können, auch keine allzu langen Argumentationsketten, keine aufwendigen<br />
Zeichnungen etc., die aber dennoch auf Wissen und Fähigkeiten zurückschließen<br />
lassen. Es kann also nicht mehr nur um realitätsorientierte Berechnungsaufgaben,<br />
wie im obigen Beispiel (Abbildung 3) gehen; auch das innermathematische<br />
Potential der <strong>Geometrie</strong> muss angemessen zur Geltung kommen,<br />
denn auch das ist „grundbildungsrelevant“, wie die eingangs diskutierte Tischler-Aufgabe<br />
zeigte.<br />
Mit im Kern analogen Ideen, nämlich die inhaltliche Breite der <strong>Geometrie</strong> auszunutzen,<br />
geht Wittmann (1999) an die Konstruktion eines <strong>Geometrie</strong>-<br />
Curriculums heran. Zu den Grundideen der Elementargeometrie zählt er dabei<br />
nicht nur innergeometrische Stoffbereiche, sondern er betont, dass die <strong>Geometrie</strong><br />
nicht nur ein Zweig der <strong>Mathematik</strong> sei, sondern auch vom Standpunkt der<br />
Allgemeinbildung aus wichtig: <strong>Geometrie</strong> ist „fundamental“, indem sie in vielfachen<br />
Zusammenhängen auftritt, gerade auch im Zusammenhang mit dem<br />
allgemeinen Lernziel Mathematisieren. Mathematisieren ist aber bei ihm nicht<br />
Selbstzweck sondern sowohl Zugang (zu Begriffen) wie auch Bewährung (der<br />
inneren Konsistenz).<br />
In der deutschen Zusatzstudie zu PISA-2003 (Prenzel & al., 2004) wurde u.a.<br />
eine umfangreiche Sammlung an geometrischen Aufgaben gestellt. Die Ergebnisse<br />
zu diesen Aufgaben sind bisher nicht öffentlich dargestellt, so dass im<br />
Folgenden lediglich ein kurzer Einblick gegeben wird. Vor der Aufgaben-<br />
Konstruktion standen systematische Überlegungen, die verschiedenen Dimensionen<br />
der <strong>Geometrie</strong> im Aufgabenmaterial anzusprechen. Im Folgenden werden
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
– ohne hier auf das volle Aufgaben-Spektrum einzugehen – Beispiele zu ausgewählten<br />
Aspekten angegeben und kurz diskutiert:<br />
• Aufgaben zum Grundwissen.<br />
Beispielaufgabe: „Rechteckeigenschaften“<br />
• Aufgaben zum Erkennen von Zusammenhängen als Vorstufe zum Beweisen.<br />
Beispielaufgabe: „Trapezfläche“<br />
• Aufgaben zu Berechnungen, mit Modellierungscharakter.<br />
Beispielaufgaben: „L-Fläche“, „Wandfläche“ (siehe Ulfig, 2007),<br />
„Tischdecke“<br />
Schließlich folgt ein Beispiel außerhalb von PISA:<br />
• Aufgaben außerhalb der üblichen Berechnungs-Aufgaben, hier mit<br />
Anknüpfung an die „zentrale Idee“ (Bender, 1983) des „Passens“.<br />
Beispielaufgabe: „Beregnete Fläche“<br />
Aufgabenbeispiel zum Grundwissen (aus PISA-2003-Deutschland)<br />
Rechteckeigenschaften<br />
Schreibe möglichst viele Eigenschaften von Rechtecken auf:<br />
Es ist bemerkenswert 3 , dass immerhin knapp 10 % der deutschen Schülerinnen<br />
und Schüler zu dieser elementaren Frage keine, über 10 % nur falsche Antworten<br />
geben können. ¾ der Schülerinnen und Schüler beschränken sich ausschließlich<br />
auf Eigenschaften von Winkeln und Seiten. Unter 10 % nennen auch Eigenschaften<br />
von Diagonalen, Mittelinien und/oder Symmetrien.<br />
3 Es werden hier nur grobe Orientierungszahlen – ohne Schulformen, Gewichtungen,<br />
Differenzierungen – angegeben. Es ist dies also keine Auswertung der PISA-Ergebnisse!<br />
24
25<br />
Michael Neubrand<br />
Aufgabenbeispiel zum Erkennen von Zusammenhängen als Vorstufe zum Beweisen<br />
(aus PISA-2003-Deutschland)<br />
A<br />
Trapezfläche<br />
In einem Schulbuch steht:<br />
Die Formel für die Berechnung des Flächeninhalts eines<br />
Trapezes ergibt sich aus der folgenden Zeichnung:<br />
D C<br />
h<br />
Erkläre, wie man aus dieser Zeichnung erkennen kann, dass die Formel für die<br />
Berechnung der Trapezfläche A = m ⋅ h lautet.<br />
Selbst bei großzügiger Codierung kommt man hier nur noch auf ca. ¼ der Schülerinnen<br />
und Schüler, die eine hinreichende Erklärung abgeben können. Die<br />
Hälfte der Schülerinnen und Schüler lässt diese Aufgabe aus, kann der Fragestellung<br />
also nicht wirklich einen Sinn abgewinnen. Dennoch sind solche<br />
„Schulbuchseiten“ ja nicht frei erfunden; sie sind sogar nahe an dem, was üblicherweise<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht präsentiert wird.<br />
Aufgabenbeispiele zu Berechnungen mit Modellierungscharakter (aus PISA-<br />
2003-Deutschland)<br />
Solche Beispiele hat Frauke Ulfig bereits vor zwei Jahren beim <strong>AK</strong> <strong>Geometrie</strong><br />
vorgetragen (Ulfig, 2007). Eines der herauszuhebenden Ergebnisse ist, dass<br />
Fehllösungen von (Haupt-) Schülerinnen und Schülern oft nicht allein auf lokalem<br />
Nicht-Wissen beruhen, sondern auf sehr allgemeinen Fehlvorstellungen,<br />
z.B. darüber, was in der <strong>Geometrie</strong> eine „Figur“ sei.<br />
Eine bereits mehrfach diskutierte Aufgabe (siehe Prenzel & al., 2004, S. 59 f),<br />
hinter der letztlich ein sehr einfacher (Teilaufgabe a)) und ein recht verwickelter<br />
(Teilaufgabe b)) Modellierungsprozess stehen, ist die Aufgabe „Tischdecke“:<br />
m<br />
B
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
Tischdecke<br />
Auf einem quadratischen Tisch liegt eine quadratische Tischdecke.<br />
An allen vier Kanten hängt die Decke 10 cm so über, wie es die Zeichnung zeigt:<br />
80 cm<br />
a) Wie groß ist die Tischfläche?<br />
b) Wie groß ist die Tischdecke? Gib ihren Flächeninhalt an.<br />
26<br />
10 cm<br />
(Zeichnung nicht maßgenau)<br />
Teilaufgabe a) wird bei PISA in Deutschland erwartungsgemäß von der Hälfte<br />
der Schülerinnen und Schüler richtig gelöst. Mehr als die Hälfte der Schülerinnen<br />
und Schüler überspringen hingegen die sehr viel komplexere Teilaufgabe<br />
b). Selbst von denen, die die Aufgabe bearbeitet haben, bekommen nur noch ca.<br />
15% korrekte Lösungen zustande. Davon gehen 2/3 über die Diagonale der<br />
Tischdecke, 1/3 über die Kantenlänge der Tischdecke. Eine genauere Inspektion<br />
der PISA-Daten kann also auch Strategien und bevorzugte Lösungswege aufdecken.<br />
Beispielaufgabe zum „Passen“ außerhalb der üblichen Berechnungs-Aufgaben<br />
Die folgende Aufgabe stammt aus der zentralen Prüfung ZP-10 von 2008 für<br />
Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (siehe Stark-Verlag 2009 b oder<br />
www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/zp10/pruefungsaufgaben/).<br />
Die Aufgabe zeigt einerseits deutlich auf, wie gut man mit geometrischen Themen<br />
anspruchsvolle und dennoch durch den Kontext relativ einfach zugängliche<br />
Aufgaben konstruieren kann. Hinter dem dominierenden außermathematischen<br />
Kontext steht nämlich letztlich das Erkennen der geometrischen Konfiguration,<br />
die sich gegenseitig berührende Kreise gleichen Durchmessers einnehmen. Diese<br />
Konfiguration zu durchschauen (Idee: „Passen“) ist die eigentliche kognitive<br />
Leistung hinter der Aufgabe. Andererseits zeigt die Aufgabe aber auch, wie<br />
schwer es ist, dieses Potential der <strong>Geometrie</strong> wirklich so umzusetzen, dass<br />
Schülerinnen und Schüler damit in geometrisches Denken hineingeführt werden.
27<br />
Michael Neubrand<br />
Abb. 6: Aufgabe aus den zentralen Prüfungen <strong>Mathematik</strong> 2008, Klasse 10,<br />
Gymnasium, Nordrhein-Westfalen.<br />
Die Umsetzung der genannten Ideen in die Aufgabe ist tatsächlich problematisch<br />
4 , sowohl von der Formulierung her, wie vom Erkenntnisgewinn aus den<br />
Lösungsquoten. So ergeben sich sowohl die in der Zeichnung angebenden<br />
1416 m als auch h aus der Kreiskonfiguration selbst; warum soll nur das eine<br />
bestätigt werden? Das „Sehen“ und die Form-Analyse selbst werden nicht wirklich<br />
ernst genommen; der Berechnungsgedanke dominiert. Ob die 60°-<br />
Konfiguration der Kreise erkannt wird, kann aus der Bearbeitung nicht entnommen<br />
werden, es genügt ja, wenn die Schülerinnen und Schüler den Pythagoras<br />
anwenden. Die Aufgabe verdient also durchaus ein Nachdenken über alternative<br />
Ideen, die man in diese Situation einbringen könnte, z.B.: Wo treten (versteckt)<br />
60°-Winkel auf? Und warum?<br />
4 An anderer Stelle werde ich in Kürze ausführliche Analysen zu dieser Aufgabe vorle-<br />
gen
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
Basiskompetenzen und das Problem der Mindeststandards:<br />
Ein in der GDM diskutierter Katalog, Kritik daran, Ausblick<br />
Natürlich verweist das <strong>Tagungs</strong>thema „Basiskompetenzen“ auch auf die aktuelle<br />
Diskussion um Mindeststandards. Diese Diskussion scheint keineswegs abgeschlossen.<br />
Vielmehr gibt es m.E. eine ganze Reihe von ungelösten und noch<br />
nicht einmal tief und breit diskutierten Problemen. Es kann hier also nur um<br />
einige weitere Impulse zu dieser Thematik gehen.<br />
Im Duktus eines „Absteckens des Feldes der Schulgeometrie“, worum es in<br />
diesem Beitrag gehen soll, ist vor allem zu bedenken:<br />
(a) Die Problematik der Mindeststandards sollte – man vergleiche zur Begründung<br />
etwa wieder die eingangs angesprochene Tischler-Aufgabe – nicht zu eng<br />
diskutiert werden. Am umfassendsten scheint das Positionspapier der Gesellschaft<br />
für Fachdidaktik (GfD, 2009) vorzugehen, indem es auf diese vier zentralen<br />
Gesichtspunkte einer Befähigung zur aktiven Beteiligung am beruflichen<br />
und öffentlichen Leben sowie zur Gestaltung des privaten Lebens hinweist:<br />
• Identitätsbildung (reflektierter Zugang zur Welt)<br />
• Alltagsbewältigung (mehr als „Alltagswissen“)<br />
• Ausbildungsreife<br />
• Partizipation (am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben).<br />
Ähnlich breite Perspektiven werden auch in den Beiträgen des einschlägigen<br />
Themenheftes der Zeitschrift „Lernchancen“ (Reiss, 2007; darin auch J. & M<br />
Neubrand, 2007) eingenommen und dennoch bis zu unterrichtstauglichen Arbeitsvorschlägen<br />
herunter gebrochen.<br />
(b) Stets ist man in dieser Diskussion mit der Spannung zwischen deskriptiven<br />
Beschreibungen und normativen Projektionen konfrontiert, wie sie z.B. Alexander<br />
Wynands in seinem Diskussionspapier (Wynands, 2009) aufzeigt. Will man<br />
deskriptiv zum Ende kommen, sind Stoffkataloge wie in den Arbeiten von<br />
Hans-Dieter Sill in all ihrer Detailliertheit durchzugehen und zu diskutieren (Sill<br />
u.a., 2005 a, b; 2007).<br />
(c) Vom technischen Standpunkt aus kann man 5 über das Erreichen von Mindeststandards<br />
auch so diskutieren: Ein bestimmter „cutpoint“ soll auf einer Ska-<br />
5 … und wird man schließlich auch auf die eine oder andere Weise tun müssen, wenn es<br />
um die Definition des bildungspolitischen Handlungsbedarfs geht.<br />
28
29<br />
Michael Neubrand<br />
la der mathematischen Leistungsfähigkeit mindestens erreicht werden. Doch<br />
inwieweit ist dies der richtige Weg? Wie wird dann damit im öffentlichen Raum<br />
umgegangen? Solche Definitionen beinhalten politische Probleme, die man<br />
offensiv diskutieren muss. Andererseits ist klar: Ohne empirisch untermauerte<br />
Daten geht es im politischen Feld nicht.<br />
(d) Das eigentliche Problem steckt im Nachweis, dass es für Schülerinnen und<br />
Schüler tatsächlich ein „Risiko“ ist, bestimmte Kenntnisse nicht zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt zu haben? Hier besteht durchaus auch fach-didaktischer<br />
Forschungsbedarf, denn man muss die aus den 1970-er-Jahren bekannten<br />
Schwierigkeiten mit dem „lernzielorientierten Ansatz“ überwinden.<br />
(e) Eines aber haben die Betrachtungen in den voranstehenden Paragraphen<br />
ergeben: Nicht nur in der <strong>Geometrie</strong> (aber da vielleicht besonders) erreicht man<br />
Mindeststandards nur, wenn nicht nur Aufgaben-Beispiele trainiert und nicht<br />
nur Stoffrahmen definiert werden, sondern auch die Art der <strong>Mathematik</strong> bedacht<br />
und prozessbezogene Kompetenzen mit einbezogen werden. Das ist die mathematikdidaktische<br />
Herausforderung! (vgl. Neubrand, 2009).<br />
Auf diesen Grundlagen (a-e) sollen abschließend zwei Vorlagen aus der aktuellen<br />
Diskussion gegenübergestellt werden, obwohl noch kein abschließendes<br />
Urteil gefällt werden kann.<br />
In einer GDM-internen, aber offenen Arbeitsgruppe haben Andreas Pallack u.a.<br />
eine Liste zu den Mindeststandards bei der Leitidee „Raum und Form“ der Bildungsstandards<br />
vorgelegt. Diese Liste enthält:<br />
• Bekannte ebene Figuren (Quadrat, Rechteck, Dreieck, Kreis) – auch<br />
anhand von Gegenständen oder Abbildungen aus der Umwelt – benennen<br />
• Deckungsgleiche Figuren identifizieren<br />
• Bekannte ebene Figuren (Quadrat, Rechteck, Kreis) anhand einer vorgegebenen<br />
Skizze oder anhand konkreter Angaben mit angemessenen<br />
Hilfsmitteln (Geodreieck, Zirkel) zeichnen<br />
• Bekannte Körper (Würfel, Quader, Pyramide) anhand ihrer Schrägbilder<br />
oder anhand gegenständlicher Abbildungen aus der Umwelt identifizieren<br />
• Achsen-und Punktsymmetrien – auch in der Umwelt – identifizieren<br />
• Zueinander parallele bzw. zueinander senkrechte Geraden identifizieren
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
• Einfache Beziehungen zwischen bekannten Polyedern (Würfel, Quader,<br />
Prisma, Pyramide oder daraus zusammengesetzter Körper) und deren<br />
Netzen herstellen<br />
• Die Koordinaten eines Punktes ablesen sowie zu vorgegebenen Koordinaten<br />
den entsprechenden Punkt im Koordinatensystem eintragen<br />
(ganzzahlig)<br />
• Planquadrate aufgrund von Spalten- und Zeilenangaben in Landkarten<br />
identifizieren<br />
Betrachtet man die in dieser Liste vorkommenden Verben („Tätigkeiten“?), so<br />
findet man benennen - identifizieren - zeichnen – ablesen; Beziehung“ kommt<br />
nur zwischen Netz und Polyeder vor. Wir finden also keinen Bezug zu den prozessbezogenen<br />
Kompetenzen der Bildungsstandards. Es kommt auch kein noch<br />
so einfaches Begründen vor. Alles ist (implizit oder explizit) mit Umweltbezug<br />
versehen, was die Sache aber u.U. komplexer macht und von mathematischen<br />
Tätigkeiten und vom mathematischen Wissen – die selbstverständlich situativ<br />
aufgebaut werden müssen, aber eben das Situative übersteigen – eher ablenkt.<br />
In der gleichen Arbeitsgruppe kursiert auch eine von Alexander Wynands und<br />
Siegbert Schmidt erstellte Liste von Basisqualifikationen zur Leitidee „Messen“<br />
– nach dem oben Gesagten durchaus mit großen geometrischen Anteilen:<br />
• Maßangaben (für Geldwerte, Längen, Flächeninhalte, Volumina, Massen,<br />
Zeitspannen, Winkel) realen Dingen zuordnen.<br />
• zu Alltagskontexten passende Größenangaben (zu wesentlichen Einheiten:<br />
mm, cm, m, km; cm², m² ; l, m³, g, kg, t) schätzen und angeben.<br />
• Längen, Entfernungen und Winkel (mit dem Geodreieck) messen.<br />
• Winkel in einfachen Fällen berechnen.<br />
• Werte von Messskalen (auf Zollstock/Maßband, Messbecher, Waagen,<br />
Temperaturskalen, Tank-Inhalt-Anzeige, …) ablesen (und sinnvoll<br />
runden).<br />
• Größen (Längen, Flächeninhalte, Volumina, Gewichte, Geldwerte,<br />
Zeitspannen) vergleichen und umrechnen.<br />
• Flächeninhalts- und Umfangsberechnungen einfacher Figuren (Quadrat,<br />
Rechteck, Dreieck, Kreis) sowie einfacher zusammengesetzter Figuren<br />
durchführen.<br />
• Unter Beachtung des Maßstabs Entfernungen auf Landkarten bestimmen.<br />
30
31<br />
Michael Neubrand<br />
• Oberflächeninhalts- und Volumenberechnungen bei Würfeln, Quadern<br />
und Zylindern durchführen.<br />
Wir finden hier weit mehr Aktivitäten, die dem kognitiven Vernetzen zuspielen<br />
können. Die Diskussion um Mindeststandards in der <strong>Geometrie</strong> (in der <strong>Mathematik</strong>)<br />
scheint also keineswegs abgeschlossen. Die Frage der Sicherung von<br />
Multiperspektivität auch bei den Basiskompetenzen ist offenbar das zentrale<br />
Problem, das weiter zu diskutieren ist.<br />
Von der „Tischler-Aufgabe“ zur Ausbildung von Basiskompetenzen<br />
Die Tischler-Aufgabe zu Anfang hat gezeigt, dass nicht einmal eine praxisnahe<br />
Regel verstanden kann werden, wenn nur isoliertes Wissen über einige Grundbegriffe<br />
vorliegt. Stets ist daher bei der Ausbildung von Basiskompetenzen<br />
darauf zu achten, dass Verknüpfungen, auch des elementarsten Wissens, zur<br />
Regel im <strong>Mathematik</strong>unterricht werden. Solche Vernetzungen herzustellen kann<br />
mit einfachsten Querverbindungen initiiert werden, wie diese Beispiele aufzeigen<br />
können:<br />
• Begriffsbildung:<br />
Quadrat und Rechteck sind bekannt als Basisfiguren, aber auch: Ein<br />
Quadrat ist auch ein Rechteck, nicht jedes Rechteck ein Quadrat.<br />
• Begriffsbildung:<br />
Umfang und Fläche sind Basisbegriffe, aber auch: Es kann bei einer<br />
Figur (Rechteck) der Umfang größer und dennoch die Fläche kleiner<br />
werden.<br />
• Begriffsbildung:<br />
Eine Pyramide sieht „so wie in Ägypten“ aus, aber auch: Die Basisfläche<br />
könnte auch ein Fünfeck sein und man kann dann immer noch von<br />
einer Pyramide sprechen.<br />
• Berechnungstypen, Umgehen mit Formeln:<br />
Bei der Berechnung des Flächeninhalts eines Rechtecks geht man nach<br />
der Regel Grundlinie x Höhe vor (… und warum?), aber auch: beim<br />
Parallelogramm, aber nicht: bei einem Drachenviereck (… und warum?).<br />
• Berechnungstypen:<br />
Bei der Berechnung des Volumens eines Quaders gilt Grundfläche x<br />
Höhe, aber auch, wenn ein Prisma mit einer nicht mehr rechteckigen<br />
Grundfläche vorliegt.
Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />
• Erkennen und Analysieren von Körpern:<br />
Zusammengesetzte Körper kommen als Figuren vor, aber auch: es gibt<br />
Strategien, einen Standardkörper in Stücke zu zerlegen, und für diese<br />
Zerlegungen gibt es mehr als nur eine Möglichkeit.<br />
• Netze von Körpern:<br />
Dies ist ein Netz, aber auch: Gibt es noch ein anderes?<br />
Man muss es sich somit zur Regel machen, von jedem Basisgegenstand aus<br />
„lokale“ Schritte ins Verwandte, Analoge oder Konträre zu gehen und erste<br />
kleine Ansätze ins Allgemeine aufzuzeigen.<br />
Literatur<br />
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32
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Schwerin: Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern.<br />
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Hallbergmoos: Stark Verlag.<br />
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34
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Heinrich Winter<br />
Vortrag auf der Sitzung des Arbeitskreises <strong>Geometrie</strong>, März 2009<br />
Herrn Kollegen LUTZ FÜHRER zum 65. Geburtstag gewidmet<br />
Vorbemerkung. Ich habe LUTZ FÜHRER für zahlreiche wertvolle Anregungen zum<br />
<strong>Geometrie</strong>unterricht ebenso zu danken wie für Ermunterungen, die meine Bemühungen<br />
betrafen. Vor allem aber hat er mich davon überzeugt, dass der <strong>Mathematik</strong>unterricht nur<br />
dann von Bedeutung sein kann, wenn der Lehrer ein lebendiges Verhältnis zur <strong>Mathematik</strong><br />
(einschließlich ihrer Geschichte und ihrer vielfältigen Anwendungen) besitzt und<br />
wenn er seine erzieherischen Aufgaben, die über das Stoffliche hinausgehen, ernst<br />
nimmt. Dazu gehört die Einbettung des Stoffes in die Gesamtheit der menschlichen<br />
Kultur. Dieser Aufsatz ist ein Versuch dazu.<br />
Der Spielwürfel<br />
Symmetrie, ob man ihre Bedeutung weit oder eng<br />
fasst, ist eine Idee, vermöge derer der Mensch<br />
durch die Jahrtausende seiner Geschichte versucht<br />
hat, Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit zu<br />
begreifen und zu schaffen.<br />
HERMANN WEYL<br />
Er dürfte wohl die weltweit bekannteste Erscheinungsform des Würfels sein.<br />
Und der Würfel ist unter den Polyedern zweifellos der Primus und ein ausgesprochener<br />
Glücksfall für die Didaktik, da er vom Kindergarten bis zur Universität<br />
ein Faszinosum darstellt, das immer wieder zu neuen Fragen und Spielen<br />
verführt und neue Sichtweisen eröffnet.<br />
Einfach nur Würfeln<br />
Warum würfeln wir heute durchweg mit dem Spielwürfel, wenn wir ein handliches<br />
Zufallsgerät brauchen? Die nächst gelegenen Konkurrenten wären die vier<br />
anderen Platonischen Körper. Aber das Tetraeder rollt gar nicht auf der ebenen<br />
horizontalen Unterlage, hat nur vier Ausfälle, die zudem noch auf der Unterseite<br />
Winter, H.(2010). Würfel & Co – Kunst und Natur in den Symmetrien von<br />
Körpern. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in<br />
der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.35-76
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
liegen. Das Ikosaeder auf der anderen Seite rollt zu lange, bis es zum Stehen<br />
kommt und hat zwanzig Ausfälle, die man jedoch auf zehn reduzieren kann, was<br />
große Vorteile hat. Die beiden anderen Polyeder, das Oktaeder und das Dodekaeder,<br />
kämen schon eher als Spielwürfel in Betracht (jedenfalls im Stochastikunterricht),<br />
aber bezüglich Schnelligkeit in der Wahrnehmung des Wurfergebnisses<br />
und vor allem bezüglich der unmittelbaren Überzeugung der Gleichwahrscheinlichkeit<br />
der Elementarereignisse, in der sich die Symmetrien des Würfels<br />
ausdrücken, ist der Würfel als Spielwürfel wohl nicht zu schlagen. Möglicherweise<br />
sind wir aber auch auf Grund der eigenen Erfahrungen unbewusst voreingenommen.<br />
Betrachten wir die obige Fragestellung mit mathematischen Augen, so taucht in<br />
der Frage nach dem Rollvermögen das Kippen als Einzelakt auf und damit die<br />
Aufgabe: Wie groß ist der Kippwinkel der Platonischen Polyeder? Das erfordert<br />
zunächst die Definition des Schnittwinkels zweier sich schneidender Ebenen. In<br />
Abb.1 ist der heuristische Kernpunkt erkennbar: die Rückführung der räumlichen<br />
Situation auf die analoge in der Ebene. Ist g die Schnittgerade der beiden<br />
Ebenen E1 und E2, dann liefert eine auf g senkrecht stehende Ebene E3 in den<br />
beiden Schnittgeraden s1 und s2 die Schenkel des gesuchten Winkels α (Abb.1).<br />
Abb. 1: Schnittwinkel zwischen<br />
Ebenen<br />
Abb. 2: Kippwinkelϕ des Tetraeders<br />
Die Bestimmung der Größe der Kippwinkel kann praktisch über Zeichnen und<br />
Messen erfolgen, wozu jeder direkt imstande ist, oder rechnerisch-theoretisch,<br />
36
37<br />
Heinrich Winter<br />
was Vorwissen voraussetzt: Satz des Pythagoras, Trigonometrie, u.a. (Abb.2).<br />
Hier seien nur die Ergebnisse (gerundet auf Hundertstelgrad) mitgeteilt:<br />
Körper Tetraeder Hexaeder Oktaeder Dodekaeder Ikosaeder<br />
Kippwinkel 109,47° 90° 70,53° 63,43° 41,82°<br />
Diese Kippwinkel sind in allen Fällen die Supplementwinkel der zugehörigen<br />
Flächenwinkel, also der Winkel zweier benachbarter Flächen der Polyeder<br />
(Wittmann 1987, 266ff.). Die Gleichheit der sog. Flächenwinkel war das erste<br />
Gesetz über Kristalle, das die Kristallkunde von mythisch-mysteriöser Betrachtung<br />
zur Wissenschaft aufsteigen ließ, formuliert vom Dänen Nicolaus Steno im<br />
Jahre 1669 (Bohm 1977, 7f.).<br />
Falls es jemandem auffällt, dass sich die Kippwinkel von Tetraeder und Oktaeder<br />
zu 180° ergänzen, könnte ein Vorausblick auf einen sehr interessanten Satz<br />
erfolgen: Mit Tetraedern und Oktaedern im Verbund kann man den ganzen<br />
Raum überlappungsfrei und restlos füllen (parkettieren). Wie macht man das?<br />
(Bender / Schreiber S. 136f). Außer dem Würfel schafft das kein Platonischer<br />
Körper allein.<br />
Ein bescheideneres, aber auch reizvolles Problem: Kann man Flächennetze des<br />
Würfels auf einem passenden ebenen quadratischen Gitter allein durch Kippbewegungen<br />
(ohne abzusetzen!) erzeugen? (Bauersfeld u.a. 1973, 58f.)<br />
Darüber hinaus ist je ein kartesisches Koordinatensystem mit dem Mittelpunkt<br />
des Würfels als Ursprung installiert, so dass wir nach allgemeinem Gebrauch in<br />
der <strong>Mathematik</strong> den rechts stehenden Würfel als Rechtsdreher, den linken als<br />
Linksdreher bezeichnen können. Die mögliche Existenz von zwei Typen ist<br />
vielen Würfelspielern gar nicht bekannt, auch Verkäufer in Spielläden haben oft<br />
keine Ahnung, sogar manchen Würfelherstellern ist es neu. Nach meinem Eindruck<br />
nimmt die Anzahl der Rechtsdreher in der fabrikmäßigen Herstellung zu.<br />
Ob die Existenz zweier Typen von irgendeiner Bedeutung für den Würfelspieler<br />
ist, wage ich nicht zu sagen. Jedenfalls kenne ich keine Literatur über entsprechende<br />
Untersuchungen, z.B.: Werden Rechtshänder durch Linksdreher benachteiligt?<br />
Reichhaltig jedoch ist die Literatur darüber, wie man im MU den Spielwürfel<br />
nicht als Zufallsmaschine nutzt, sondern als einen Gegenstand, mit dem<br />
sich interessante geometrisch-arithmetische Lernumgebungen organisieren lassen.
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Die Siebener-Regel<br />
Im Alltag wird sie als etwas Selbstverständliches<br />
einfach hingenommen. Werden<br />
aber Spielwürfel aus Pappe selbst<br />
hergestellt, so wird – in der Regel mit<br />
Erstaunen – festgestellt, dass es zwei<br />
Typen von Würfeln gibt, die Siebener-<br />
Regel also nicht den Spielwürfel eindeutig<br />
festlegt. Ein allgemeiner Beweis ist in<br />
Abb.3 zu erkennen. Dass der eine Würfel<br />
das Spiegelbild des anderen ist, zeigt<br />
Abb.4.<br />
Abb. 3: 2 Typen von Spielwürfeln Abb. 4: Rechtsdreher und Linksdreher<br />
Hier nur einige Beispiele (viele Anregungen in Degner/Kühl 1988; Bauersfeld<br />
u.a. 1973; Gardner 1973):<br />
• Setze 8 (gleichartige) Würfel zu einem großen Würfel zusammen.<br />
a) Welches ist die höchste/niedrigste Augensumme, die der große Würfel<br />
auf allen sechs Seitenflächen insgesamt vorweisen kann?<br />
b) Auf wie viele Arten lässt sich die Augensumme 49 (und 50) erreichen?<br />
c) Versuche, so zusammen zu setzen, dass jede Seitenfläche des großen<br />
Würfels aus vier gleichen Seitenflächen der kleinen Würfels besteht.<br />
• Setze 27 (gleichartige) Würfel zu einem großen Würfel zusammen und<br />
beantworte entsprechende Fragen wie oben.<br />
• Baue aus 12 (gleichartigen) Spielwürfeln alle möglichen Quader und<br />
bestimme jeweils ihre minimal und maximal mögliche Augensumme<br />
der sichtbaren Oberfläche. In Abb. 5 ist ein Lösungsweg für den<br />
4x3x1-Quader zu sehen.<br />
38
Abb. 5: Minimale und maximale Augensumme des 4x3x1-Quaders<br />
39<br />
Heinrich Winter<br />
Hier sollte das Niveau des freien Probierens überschritten werden zugunsten<br />
verallgemeinerter Vorgehensweisen, z.B. die Klassifizierung der 12 Würfel in<br />
drei Typen und das Benutzen einer klärenden ikonischen Symbolik. Lösung:<br />
Minimale Augenzahl: 102, maximale Augenzahl: 164.<br />
• Es gibt acht verschiedene Würfelvierlinge (Figuren aus vier gleich großen<br />
Spielwürfeln). Finde sie auf und baue sie so zusammen, dass jeweils<br />
das Maximum (Minimum) der sichtbaren Augensummen erzielt<br />
wird. Spielt es eine Rolle, ob die Würfel von demselben Typ sind?<br />
• Wie viele Typen von Würfeln gäbe es, wenn die Siebener-Regel als<br />
Zwangsregel aufgehoben würde? Spielte das eine Rolle für den Spielwürfel<br />
als Zufallsmaschine?<br />
Bilaterale Symmetrie – rechts und links<br />
Bilaterale Symmetrie im Sinne von H. Weyl<br />
Von bilateraler (zweiseitiger) Symmetrie eines räumlichen Gegenstandes sprechen<br />
wir, wenn er eine Spiegelungsebene besitzt, also eine Ebene, die den Gegenstand<br />
in zwei Teile (Hälften) so zerlegt, dass die eine Hälfte als Spiegelbild<br />
der anderen gedeutet werden kann und die Hälften nicht durch Drehungen ineinander<br />
überführbar sind. Der doppelte Spielwürfel, der gemäß der Domino-<br />
Regel aus einem Rechtsdreher und einem Linksdreher zusammengesetzt wird,<br />
ist unser erstes Beispiel für bilaterale Symmetrie und damit zusammenhängend<br />
auch für das Rechts-Links-Thema. Da ist freilich noch nicht zu ahnen, welche<br />
Rolle in Kunst und Natur unser Thema spielt. Zunächst erinnern wir uns an die<br />
räumliche Spiegelung an einer Ebene (vgl. noch einmal Abb.4, in der die Spiegelungsebene<br />
Σ senkrecht auf der Zeichenebene steht). Σ teilt den Raum in zwei<br />
Halbräume. Ist nun P irgendein Punkt des Raumes, so gilt: Ist P (Urpunkt) aus<br />
Σ, so ist sein Bildpunkt P'=P; also ist Σ Fixpunktebene. Ist P nicht aus Σ, vielmehr<br />
aus dem Inneren einer der beiden Halbräume, dann liegt sein Bildpunkt P'<br />
auf dem Lot von P auf die Spiegelungsebene Σ, und Σ halbiert die Strecke PP ' .
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Die so definierte Ebenenspiegelung hat viele gute Eigenschaften: Vor allem ist<br />
es eine involutorische (identisch mit ihrer Umkehrabbildung) Kongruenzabbildung<br />
(Isometrie), die die Händigkeit wechselt. Es sollte hier auch untersucht<br />
werden, welche Bilder gerichtete Geraden besitzen, welche Bilder ebene Polygone<br />
mit gegebenem Umlaufsinn sind. Eine Spiegelungsebene kann mit einer<br />
getönten Glasscheibe vor Augen geführt werden. Überhaupt ist das Thema<br />
Spiegel hochinteressant und beziehungsreich (Wittmann 1984).<br />
Als erstes wirklich wichtiges Phänomen der bilateralen Symmetrie nennen wir<br />
den Körper des Menschen: So unterschiedlich wir gebaut sein mögen, unsere<br />
von außen sichtbare Gestalt ist normalerweise in erstaunlicher Präzision spiegelsymmetrisch:<br />
Eine (natürlich unsichtbare) Ebene parallel zu den Feldlinien der<br />
Erdgravitation und parallel zu unserer Hauptlaufrichtung spaltet uns in eine<br />
rechte und linke Hälfte. Wir sind insofern Paarwesen: Zu jedem Teil einer Körperhälfte,<br />
z. B. einem Bein oder einem Ohr, gibt es einen spiegelgleichen in der<br />
anderen Hälfte, und ist der Teil genau in der Mitte gelegen, wie z.B. die Nase<br />
oder der Mund, dann besteht er aus zwei zueinander spiegelgleichen Hälften.<br />
Was wäre, wenn wir doppelzüngig wären?<br />
Diese bilaterale Symmetrie unseres Körpers ist sehr einfach (nur eine Symmetrieebene),<br />
aber von großem Nutzen. Auf einem Bein könnten wir nur mit Mühe<br />
und nur kurzzeitig stehen, und mit vier Beinen müssten wir auf die aufrechte<br />
Haltung verzichten und damit auf einen höheren Grad an Übersicht. Wenn ein<br />
Bein kürzer ist als das andere, muss für Gehen und Stehen mehr Energie eingesetzt<br />
werden. Mit zwei Augen und zwei Ohren sehen und hören wir mehr und<br />
besser.<br />
Speziell besitzen wir (normalerweise) eine rechte und eine linke Hand (Abb.6),<br />
und wir lernen vom Kindesalter an, diese Hände für vielerlei Tätigkeiten (greifen,<br />
festhalten, pressen, reißen, streicheln u.v.m.) in Gebrauch zu nehmen.<br />
Abb. 6: Rechte und linke Hand<br />
40
41<br />
Heinrich Winter<br />
Darüber hinaus können wir mit den Händen allgemein Rechts- und Linksdrehung<br />
unterscheiden und haben damit eine lebendige Basis für das Verständnis<br />
von mathematisch positiven vs. mathematisch negativen Koordinatensystemen.<br />
Es ist natürlich gleichgültig, welche Körperhälfte wir rechts bzw. links nennen,<br />
es gibt da keine Qualitätsunterschiede an sich (etwa rechts als richtig und gut,<br />
links als abwegig und linkisch). Deshalb können wir uns ohne Skrupel der mathematischen<br />
Konvention anschließen.<br />
Mehr noch als die Hände wird das Gesicht des Menschen auf seine bilaterale<br />
Symmetrie geprüft; das Gesicht ist ja in unserem Kulturkreis die beständig offene<br />
Partie unseres Körpers. Kleine Abweichungen werden in aller Regel sofort<br />
bemerkt und oft als Fehler betrachtet, man selbst möchte eben möglichst ein<br />
reguläres, schönes Antlitz vorweisen (koste es, was es wolle). Jedenfalls werden<br />
(erstaunlicherweise?) in einschlägigen empirischen Untersuchungen konstruierte<br />
symmetrische Gesichter ganz deutlich höher geschätzt als Darstellungen noch so<br />
schöner realer Personen. Da wundert es nicht, wenn Maler, Graphiker und Bildhauer<br />
regelrechte Konstruktionsleitlinien für das Gesicht entwickelten; ein Beispiel<br />
zeigt Abb.7.<br />
Abb. 7: Geometrische Konstruktion eines Kopfes nach der Beuroner Malerschule<br />
Andererseits weiß jedermann, dass kleine Abweichungen von der „Norm“ nicht<br />
abstoßen müssen, sondern im Gegenteil das Aussehen interessanter machen<br />
können. Früher geschah das u.a. durch den Gebrauch von Schönheitspflästerchen<br />
und anderen eher harmlosen Eingriffen, und schon im alten Ägypten
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
schminkten sich die Damen. Heute haben wir Schönheitschirurgen, Kosmetikpharmazeuten,<br />
Stilisten, Schönheitsfarmen, Gymnastikstudios, Ernährungsberater<br />
u.v.m., um die Natur zu „korrigieren“. Bald werden auch die Gentechniker<br />
aufmarschieren. Jedenfalls leben ganze Industriezweige von unserer Sorge um<br />
ein schönes Aussehen. Hat jemand gar kein eindeutig bilateralsymmetrisches<br />
Gebiss (z.B. eine Zahnlücke), dann wird das sogleich mit unserem Gesundheitssystem<br />
in Verbindung gebracht.<br />
Warum treiben so viele Menschen diesen Aufwand zur Verbesserung des Aussehens?<br />
Für die meisten Biologen ist das klar: Schönheit ist ein positiver Faktor<br />
im Kampf ums Dasein und im Kampf um die eigene Fortpflanzung, sie hilft im<br />
Streben um Beliebtheit, Einfluss und Macht. Das ist aber sicher nicht die ganze<br />
Wahrheit, noch nicht einmal im Reich der Tiere, wo ja auch die bilaterale Symmetrie<br />
beherrschend ist. Wir Menschen heute sind nicht allein instinktgeleitete<br />
Tiere, auch nicht allein mit höherer Intelligenz ausgestattete und zum Symbolgebrauch<br />
fähige Wesen, sondern Personen (lat. personare: widerhallen, ertönen,<br />
eine Rolle spielen), die Werturteile fällen und begründen können, die Verantwortung<br />
übernehmen und sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Leben<br />
an der Verbesserung der Zustände in dieser Welt aktiv arbeiten. Dabei fällt das<br />
Streben nach mehr Schönheit keineswegs (etwa als blanker Luxus) unter den<br />
Tisch, im Gegenteil: Dieses Streben ist das Mittel, um vom Naturkind zur Person<br />
aufzusteigen. Dazu lese man noch einmal Schillers Briefe über die ästhetische<br />
Erziehung des Menschengeschlechts. Um es kurz zu fassen: Wahre Schönheit<br />
ist der Glanz von Wahrheit, also vernunftorientiert.<br />
Anders als unsere bilateralsymmetrische Hülle sieht unser Körperinneres aus.<br />
Da gibt es neben bilateraler Symmetrie (wie z.B. das Knochengerüst) zahlreiche<br />
Asymmetrien; am bekann-testen ist wahrscheinlich das Herz, das „links schlägt“<br />
(wie Oskar zu Recht verkündet), und das selbst verschraubt aussieht (vgl. Weyl<br />
1955, 34). Ziemlich symmetrisch ist auch der komplizierte Verdauungskanal<br />
(vom Mund bis zum After). Vor allem der etwa 4m lange Dünndarm und der<br />
sich anschließende 1,5 m bis 2 m lange Dickdarm sind vielfältig geschlängelt<br />
(Abb.8).<br />
42
Abb.8: Blick ins Innere des Menschen<br />
43<br />
Heinrich Winter<br />
Die Asymmetrien in unserem Körper sind durch unsere phylogenetische Entwicklung<br />
entstanden. In einer sehr frühen Zeit gab es einen im Prinzip geradlinigen<br />
Kanal vom Mund zum After (Biologen verstehen unter Bilateria niedere<br />
Tiere vom Schlage des Blutegels). Im Zuge der Entwicklung änderten sich Inhalte<br />
und Formen der Nahrungsaufnahme in der Weise, dass der Verdauungsvorgang<br />
länger andauerte, was eine Verlängerung des Darms erzwang und dies<br />
nur zustande kommen konnte, wenn der Kanal „geschlängelt“ wurde.<br />
Bilaterale Symmetrie weisen in großer Fülle auch Gegenstände des täglichen<br />
Lebens auf, es sind gewissermaßen „Fortsetzungen“ der menschlichen Gestalt:<br />
Messer, Gabel, Löffel, Zangen, Stühle, Schränke u.v.a.m., nicht zu vergessen<br />
unser Lieblingsgegenstand, das Auto.<br />
Bilaterale Symmetrie in der Kunst<br />
Die Geschichte der Malerei und Bildhauerei hat von den Anfängen bis heute<br />
u.a. ein beherrschendes Sujet: den menschlichen Körper. Es kann dabei offen<br />
bleiben, ob eine altgriechische Statue einer Göttin als Nachbild realer Frauen<br />
entstand (deskriptive Genese) oder ob die Statue nach Regeln konstruiert wurde<br />
und als nachzuahmendes Ideal fungieren könnte (normative Genese) oder<br />
eine Mischung von beidem. Ein berühmtes Beispiel ist die Aphrodite von Knidos<br />
(Abb.9), ursprünglich von Praxiteles um 340 v.Chr. geschaffen; hier eine
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
römische Nachbildung, die in den Vatikanischen Museen zu sehen ist. Interessant<br />
für uns sind Gerüchte (oder mehr?), wonach die schöne Phryne für Praxiteles<br />
Modell gestanden habe, dann aber habe Praxiteles sein Werk (vielleicht<br />
nach dem Kanon des Polyklet) gründlich überarbeitet. Anschließend habe er<br />
zum Vergleich Phryne neben seine Statue gestellt, und seine Skulptur habe<br />
größeren Beifall bei den Besuchern erfahren als die leibhaftige Phryne. Immerhin<br />
schreibt Plinius d. Ä., dass viele Menschen eigens nach Knidos reisten, um<br />
die Frauengestalt mit dem vollendeten Körper zu bewundern (Herzog 1990, 56).<br />
Und die Frage nach der „Schönsten im ganzen Land“ ist bis heute aktuell. Seit<br />
dem Mittelalter gilt vielen die UTA im Naumburger Dom als die schönste Frau<br />
aller Zeiten.<br />
Bilaterale Symmetrie finden wir auch in reichem Umfang in der Architektur.<br />
Hervorragende Beispiele sind sakrale Gebäude (Kirchen, Tempel, Klöster usw.)<br />
und weltliche Großbauten (Paläste, Schlösser, Rathäuser, Museen, Tore usw.).<br />
Wir beschränken uns hier auf je ein Beispiel. Die Kathedrale Notre-Dame in<br />
Paris wurde zwischen 1200 und 1240 errichtet, und ihre beiden Westtürme sind<br />
bis heute leider unvollendet geblieben. Sie gilt (neben weiteren Kathedralen u.a.<br />
in Chartres, Reims) als eines der prächtigsten und zur Nachahmung führenden<br />
Sakralbauten der frühen Gotik. Im Gegensatz zur vorausgehenden Romanik ist<br />
nicht mehr die Vierung (Schnittfläche zwischen Längs- und Querschiff) mit<br />
dem aufgesetzten Dachreiter von zentraler Bedeutung, vielmehr die Westfassade,<br />
die unsere Abb.10 zeigt, mit ihrem Paar mächtiger Glockentürme. Diese<br />
Fassade (lat. facies: Gesicht, Vorderseite) ist reich, vielleicht überreich gegliedert<br />
und alles andere als eine einheitliche geschlossene Wandfläche (vielleicht<br />
nur mit einigen Schießscharten unterbrochen). Von besonderem Interesse sind<br />
für uns diejenigen Teile der Fassade, die selbst wieder bilaterale Symmetrie<br />
aufweisen, vor allem die drei Portale, die von Wimpergen (giebelförmige Bekrönungen<br />
von Türen und Fenstern) hauptsächlich aus menschlichen Figuren so<br />
gerahmt sind, dass sie als in Stein gehauene religiöse Unterweisungen gelten. So<br />
sind im Tympanon (Bogenfeld über dem Portal) des Haupteingangs die Krönung<br />
und das Sterben Mariens dargestellt<br />
44
45<br />
Heinrich Winter<br />
Abb. 9: APHRODITE VON KNIDOS. Foto der römischen Nachbildung<br />
. Ansonsten bietet die bilaterale Symmetrie des ganzen Baues nur einen Rahmen,<br />
der gefüllt werden kann mit Figuren, die für sich betrachtet wesentlich<br />
höher mit Symmetrien ausgestattet sind. Am auffälligsten ist hier die große<br />
Westrose (Durchmesser 9,60m), eine Einheit von Arkade, Rad und Rose, in<br />
zwei Ringe gefasst, innen 12, außen 24 Glassegmente, die die Helligkeit im<br />
Gebäude vergrößert und durch ihre Schönheit die Menschen vor der Kathedrale<br />
zum Besuch einlädt. Die Seitenwände der Kathedrale, die wir im Bild nicht<br />
sehen, sind durch hohe und hochstrebende Fenster reich gegliedert, so dass das<br />
Innere voller Licht ist und der Blick der Menschen nach oben gerichtet wird.
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
(Letztlich wird man den Bau nur verstehen können, wenn man seinen religiösen<br />
Hintergrund versteht.)<br />
Abb. 10: Kathedrale Notre-<br />
Dame in Paris<br />
Abb. 11: Schloss Charlottenburg in Berlin<br />
Als Beispiel für bilaterale Symmetrie in der Profanarchitektur habe ich das<br />
Schloss Charlottenburg von Berlin gewählt (Abb.11). Es ist benannt nach Sophie<br />
Charlotte (1668-1705), Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, als 16-<br />
Jährige durch Heirat Kurfürstin von Brandenburg, ab 1701 Königin in Preußen.<br />
Ihr Mann, Kurfürst Friedrich Wilhelm III., Sohn des Großen Kurfürsten, setzte<br />
sich 1701 in Königsberg selbst die Königskrone auf (nach Abstimmung u.a. mit<br />
dem Habsburger Kaiser) und nannte sich fortan Friedrich I., König in Preußen.<br />
Danach bemühten sich die schöne junge Königin und ihr Mann nach Kräften<br />
und jeder auf seine Weise, das Leben durch und durch königlich zu gestalten, so<br />
wie es in den Zeiten des Absolutismus üblich war. Dabei entstand und wuchs<br />
das später so genannte Schloss Charlottenburg (aus einem relativ kleinen einfachen<br />
Sommerlustschlösschen Lietzenburg): der fast 50m hohe Kuppelturm,<br />
gekrönt von der Göttin Fortuna, als Blickfang und Wahrzeichen des Schlosses,<br />
die im ganzen 505 m langen Seitenflügel, zunächst nur Räume für das Personal,<br />
später dann prächtige Rokoko-Festsäle, die zu den schönsten Deutschlands<br />
zählen, weiterhin Säle mit Sammlungen, eine Orangerie und ein Theater und<br />
natürlich fürstlich ausgestattete Wohnräume (trotz calvinistischer Konfession).<br />
Die besten Baumeister und Gärtner wurden engagiert: u.a. Eosand, Schinkel,<br />
von Knobelsdorf, Langhans, Godeau. Auf dem beachtlich großen Ehrenhof steht<br />
46
47<br />
Heinrich Winter<br />
(erst seit 1951) das Reiterbild des Großen Kurfürsten von Schlüter, ein viel<br />
gepriesenes Kunstwerk des Barock. Für heutige Besucher ist eine Besichtigung<br />
sicher ein seltenes ästhetisches Erlebnis, aber es sollte dabei nicht übersehen<br />
werden, dass das alles vom Hochadel (allen voran Sopie Charlotte) für den<br />
Hochadel errichtet worden ist. Normale Bürger wurden zu den z.T. ausgelassenen<br />
Festen und Feiern nicht nur nicht eingeladen, sondern sollten von der äußeren<br />
Pracht des Schlosses so eingeschüchtert werden, dass sie von der Gottähnlichkeit<br />
(König von Gottes Gnaden!) der herrschenden Oberschicht geradezu<br />
überwältigt wurden und dankbare Habenichtse blieben. Immerhin hat Sophie<br />
Charlotte (und ihr erstes Kammerfräulein Henriette Charlotte von Pöllnitz) mit<br />
Leibniz korrespondiert und sein Anliegen, die Gründung einer Societät der<br />
Wissenschaften (heute noch Berlin-Brandenburgische Akademie) nach den<br />
Vorbildern in Paris und London nach langen Kämpfen im Jahre 1700 durchgesetzt.<br />
Das muss als Ruhmesblatt gewürdigt werden.<br />
Eine letzte Bemerkung: Man kann das Schloss Charlottenburg als eine Art Gegenstück<br />
zum weltweit noch bekannteren Brandenburger Tor ansehen. Dank der<br />
Quadriga haben wir es wieder mit bilateraler Symmetrie zu tun, aber nicht in<br />
barocker Pracht sondern in klassizistischer Einfachheit nach dem Vorbild der<br />
Propyläen der Akropolis (was Kritiker bestreiten). Die Französische Revolution<br />
und die Aufklärung haben ihre Spuren hinterlassen.<br />
Links und rechts in der lebenden Natur<br />
Glanzpunkte sind die wirklich schönen Schmetterlinge, bunten Vögel und Fische.<br />
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind nahezu alle unsere Tiere bilateral<br />
symmetrisch gebaut, und wir wissen auch warum. Besondere Bewunderung<br />
finden die gewundenen Geweihe von Hirschen, Schafen, Elchen usf., die in aller<br />
Regel exakt spiegelsymmetrisch sind. Das Nonplusultra könnte der große Kudu<br />
(„König der Antilopen“) sein, dessen beide korkenzieherartigen Hörner bis zu<br />
1,80m lang werden können (Abb.12).<br />
Die Bedeutung der Schraubenlinie (wie auch der Schraubenfläche und Spiralen<br />
verschiedener Art) für das Erfassen räumlicher Beziehungen kann nicht überschätzt<br />
werden. Sie ist neben dem Kreis und der Geraden die einzige Linie, die<br />
so in sich bewegt werden kann, dass dabei kein Punkt außerhalb von ihr berührt<br />
wird. Dabei denken wir uns die Schraubenlinie (wie auch die Gerade) nach<br />
beiden Seiten unbeschränkt ausgedehnt. Es ist schon eindrucksvoll, dass wir mit<br />
den Augen nicht feststellen können, ob eine Schraube geschraubt wird, oder sich<br />
gar nicht bewegt. Über die Bedeutung von Schraubenlinien in Alltag und Technik<br />
(Warum heißen sie auch Eichhörnchenlinien?) findet man eine Fülle von<br />
Beispielen und von luziden Analysen in Bender/Schreiber (1985). Das Buch ist
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
überhaupt eine unverzichtbare Lektüre für alle, die <strong>Geometrie</strong> lernen oder lehren.<br />
Für die Erweiterung der Thematik auf Spiralen verschiedener Art empfehle<br />
ich wärmstens Heitzer (1998).<br />
Dieses Beispiel legt es nahe, sich<br />
mit der Schraubenlinie (als der<br />
einfachsten räumlichen Spirale) zu<br />
befassen: Eine Schraubenlinie<br />
entsteht (als eine Spur), wenn ein<br />
Punkt sich gleichmäßig um eine<br />
Gerade (Achse) dreht und gleichzeitig<br />
ebenso gleichmäßig eine<br />
Schiebung (Translation) parallel<br />
zur Achse ausführt (Abb.13). Sie<br />
windet sich auf der Oberfläche<br />
eines Zylinders.<br />
Abb. 12: Der große Kudu Abb. 13: Schraubenlinie in Grund- und<br />
Aufriss<br />
Hier interessiert uns in erster Linie die Tatsache, dass es zwei Typen von<br />
Schraubenlinien gibt, die nicht mittels einer eigentlichen Bewegung ineinander<br />
überführt werden können sondern nur durch eine Ebenenspiegelung (Abb.13):<br />
Ich bewege mich auf einer Rechtsschraube, wenn ich mich parallel zur Achse in<br />
48
49<br />
Heinrich Winter<br />
deren Richtung bewege und dabei die Achse im Gegensinn des Uhrzeigers umkreise.<br />
Kürzer: Bei der Rechtsschraubung ist die Achse immer links von mir.<br />
Noch anders: Die Rechtsschraube geht von unten links nach oben rechts. Für die<br />
Linksschraube gilt das spiegelverkehrt Gleiche. Eine der schönsten linksgewendelten<br />
Treppen können wir in einem Treppenturm des Schlosses in Blois bewundern;<br />
hier soll sich ja auch die berühmte Ballade Der Handschuh von<br />
SCHILLER zugetragen haben. Der Spiralweg in der Kuppel des Reichstagsgebäudes<br />
ist rechtsgewendelt. Über die Gründe für die Entscheidung Rechts- oder<br />
Linkstreppe ist viel spekuliert worden, wobei es eine große Rolle spielt, dass<br />
eine Rechtstreppe (Linkstreppe) von unten nach oben als Linkstreppe (Rechtstreppe)<br />
erfahren wird, wenn man die selbe Treppe von oben nach unten benutzt.<br />
Da Schraublinien nur immer als Rechts- oder Linkschrauben in selbständigen<br />
Körpern auftreten, spricht man anstelle von Spiegelgleichheit von Enantiomorphie<br />
(gr. enantios: entgegengesetzt). Werden Körper auf ihre mögliche Kristallform<br />
untersucht, so gehört die Frage, ob es eine Links- und eine Rechtsrealisierung<br />
gibt, zum Standard. In den 32 Kristallklassen gibt es elf, in denen Enantiomorphie<br />
auftritt.<br />
Es gibt auch rechts- und linkswindende Pflanzen, Pflanzen also, die sich um<br />
andere Pflanzen oder um Stangen so oder so herumwinden (oder auch um sich<br />
selbst). Das Besondere dabei ist, dass beide Typen in der Natur vorkommen,<br />
dass aber die Entscheidung für rechts oder links innerhalb einer Pflanzenart<br />
immer (oder fast immer) dieselbe ist. So ist der Hopfen, der zum Bierbrauen<br />
gebraucht wird, (vielleicht zum Verdruss der bayrischen Brauer) durchgehend<br />
linksdrehend, dagegen ist die Stangenbohne beharrlich rechtsdrehend (Abb.<br />
14.1: Hopfen; Abb.14.2: Stangenbohne).<br />
Auf den ersten Blick mag diese Artbindung der Händigkeit allenfalls (vorwissenschaftliche)<br />
Gartenfreunde interessieren. In der Technik ist die Angelegenheit<br />
klar: Damit kein Chaos ausbricht, muss man normieren, sich gesetzlich<br />
einigen, etwa bei Glühbirnen nur eine Sorte Schraubgewinde an der Birne und<br />
gleichzeitig in der Fassung, etwa Rechtsgewinde, zu produzieren. Auch andere<br />
technische Schrauben sind rechtshändig, nur in begründbaren Ausnahmefällen<br />
linkshändig. Die überwiegende Rechtshändigkeit hängt natürlich damit zusammen,<br />
dass die Menschen in ihrer Majorität Rechtshänder sind, also verschiedenste<br />
„Handarbeiten“ von Geburt an vorzugsweise mit der rechten Hand erledigen.<br />
Hier könnte man wieder in die Falle „rechts = richtig = normal“ und<br />
„links = fehlerhaft = abnorm“ tappen. Aber erstens ist der Anteil der Linkshänder<br />
nicht (vernachlässigbar?!) klein, man spricht von 25%, und zweitens konnte<br />
bisher niemand beweisen, dass Linkshänder in irgendeiner Hinsicht weniger<br />
leistungsfähig seien als Rechtshänder. (Obama ist Linkshänder!). Wie sollen<br />
Linkshänder erzogen werden und wie müsste sich die Umwelt eventuell ändern?
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Wir üben m.W. heute zwar nicht mehr den Zwang aus, auf jeden Fall rechtshändig<br />
schreiben zu lernen, aber gleichzeitig geschieht zu wenig, um alltägliche<br />
Lebensumstände für Linkshänder erträglicher zu machen. Das müsste etwas<br />
mehr sein als eine Schnabeltasse für Linkshänder im Altersheim. Am überzeugendsten<br />
wäre aber in meinen Augen die Erziehung zur Beidhändigkeit in Freiheit,<br />
wie sie in Japan betrieben wurde und vielleicht noch wird. Auch ganz große<br />
Geister wie Leonardo da Vinci , ursprünglich Linkshänder wurde beidhändig.<br />
Abb. 14: Hopfen linksdrehend und Stangenbohne rechtsdrehend<br />
50
51<br />
Heinrich Winter<br />
Und unter den Tennisspielern gibt es nicht nur Rechts – und Linkshänder (letztere<br />
gefürchtet, besonders von Linkshändern!), sondern auch (zunehmend)<br />
Beidhänder. (Einer meiner früheren Tennispartner war imstande, bei Bedarf sein<br />
Rakett blitzschnell von der rechten in die linke Hand zu wechseln, um so meine<br />
wohl zu kümmerlichen Angriffsbälle doch noch zu erreichen, was er in der<br />
Regel auch schaffte).<br />
Es gibt indes wesentlich ernsthaftere Probleme in der Rechts-Links-Thematik,<br />
die allerdings zunächst nicht mit blankem Auge zu erkennen sind, weil sie in der<br />
Mikrowelt der Moleküle oder gar Atome angesiedelt sind, in der Welt der Kristallographie.<br />
Links und rechts in der Kristallographie<br />
Der berühmte Arzt und Forscher Louis Pasteur (1822-1895) – ja, der mit der<br />
lange haltbaren Milch – entdeckte (im Alter von 25 Jahren), dass die Weinsäure<br />
(Weinstein) in zwei Formen auftritt, nämlich in der Rechts- und in der Linksform.<br />
Die beiden Formen unterscheiden sich in chemischer und physikalischer<br />
Hinsicht nicht. Beide sind optisch aktiv, jedoch – und das ist der einzige aber<br />
wichtige Unterschied – dreht die eine Form die Polarisation des Lichts nach<br />
rechts, die andere nach links. Daraus schloss Pasteur, dass auch die Moleküle<br />
„entgegengesetzt“ gebaut, nämlich Spiegelbilder voneinander sein müssten, so<br />
wie rechter und linker Handschuh. Das war eine geniale Idee, die später auch<br />
exakt bewiesen wurde. Das Besondere dieser Jahrhundertentdeckung war ihr<br />
konstruktiver Charakter:<br />
Abb. 15: Links- und rechtsgerichtete Weinsäure-Enantiomorphie<br />
Die Linksform stellte er nämlich gewissermaßen selbst her, indem er unter dem<br />
Mikroskop eine Sammlung von Kristallen untersuchte, die aus alten Weinfässern<br />
stammten und nicht optisch aktiv waren. Nach der Kristallisierung in einer<br />
Lösung sortierte er mit der Pinzette die Kristalle in zwei Sorten. Beide Sorten
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
erwiesen sich als optisch aktiv, jedoch mit entgegen gesetzter Windung. Die<br />
optisch rechtsdrehende Weinsäure war die, die in den gärenden Trauben vorkam,<br />
die andere war offenbar noch nie in der Natur aufgetreten. Darunter hat<br />
bestimmt niemand leiden müssen, aber jetzt wurde die Frage nach den Gründen<br />
für die Handlungsweise der Natur gestellt. Woher „weiß“ der Hopfen, dass er<br />
links drehen muss? Warum produziert die Natur nur (oder fast nur) optisch<br />
rechtsdrehende Weinsäure? Und warum ist das Haus der Weinbergschnecken<br />
fast immer rechts gewunden? Die rationalste Antwort, was die Philogenese<br />
angeht, ist stochastischer Natur. Bei sonst gleichen Bedingungen „entscheiden<br />
gewisse schwer zu kontrollierende Zufälligkeiten“ (Weyl 1955, 36) das Geschehen.<br />
Die Ontogenese wird dann von den Genen gesteuert.<br />
Geradezu um Leben und Tod kann es in der Frage gehen, inwieweit die beiden<br />
Formen zweier zugehöriger Gegenstände zueinander passen (wie Schuhpaar<br />
zum Fußpaar, wo es immerhin Schmerzen und Wunden gibt, wenn der rechte<br />
Fuß in den linken Schuh gezwängt wird). Gewichtiger ist es bei der Ernährung.<br />
Die natürlichen Aminosäuren in unsrem Körper sind durchweg links gewendet.<br />
Man kann rechtsgewendete Aminosäuren herstellen und in Nahrungsmitteln<br />
unterbringen. Aber der Körper verdaut sie nicht. Analoges geschieht mit dem<br />
Zucker, der im Körper rechtsgewendet ist. Also: „Würden wir statt der natürlichen<br />
Aminosäuren und Zucker ihre Spiegelbilder zu uns nehmen, müssten wir<br />
verhungern.“ (REIN 1993, 22) Ein ganz heikles Kapitel ist die Händigkeit bei<br />
Medikamenten. Am bekanntesten und tragischsten war die Contergan-<br />
Katastrophe in den Jahren 1956 bis 1961, deren schreckliche Folgen bis heute<br />
nicht ausgestanden sind. Details findet man in Brunner (1999, 120ff.).<br />
Symmetrien des Würfels – Einführung in die Gruppentheorie<br />
In sich selbst überführen<br />
Bekanntlich ist der Höhepunkt in Euklids Elementen (Buch XIII) die Lehre von<br />
den regulären Polyedern, die wir heute Platonische Körper nennen, weil sie in<br />
PLATOs Timaios besprochen und auf eine kosmologische Art ausgedeutet wurden.<br />
Damit haben wir es mit einem Thema zu tun, das mindestens seit 2500<br />
Jahren Lehrgut in Schulen und <strong>Hochschule</strong>n ist (eine gute Übersicht findet man<br />
bei Toepel 1991). Adam/Wyss (1984, 65) unterscheiden irdische (Tetraeder,<br />
Hexaeder, Oktaeder) von goldenen (Dodekaeder, Ikosaeder) Platonischen Polyedern,<br />
eine nicht nur ästhetische Zweiteilung. Das Wort Symmetrie (gr. symmetros:<br />
abgemessen, verhältnismäßig, gleichmäßig) kommt bei Eulid im heutigen<br />
Verständnis nicht vor, vielmehr werden Konstruktionen begründet ausge-<br />
52
53<br />
Heinrich Winter<br />
führt und Größen (Winkel, Streckenlängen, Flächeninhalte, Volumina) verglichen<br />
und berechnet.<br />
Es hat erstaunlich lange gedauert, bis der Symmetriegehalt eines Gegenstandes<br />
mit Bewegungen des Gegenstandes auf sich selbst beschrieben wurde. Erst im<br />
19. Jahrhundert und im Zusammenhang mit der aufblühenden Gruppentheorie,<br />
Darstellenden und Analytischen <strong>Geometrie</strong>, Topologie und Kristallographie<br />
geschah der Wandel hin zu einer dynamischen Sicht.<br />
Kommen wir also zur Sache. Hängt man einen Würfel (ein Modell, nicht zu<br />
klein, etwa aus Holz) mit einem Faden so auf, dass es „gleichmäßig und schön“<br />
aussieht, so kann entdeckt werden, dass es drei verschiedene Möglichkeiten<br />
gibt, den Würfel in Gleichgewichtslage zu bringen (Abb.16): Anknüpfungspunkt<br />
des Fadens ist a) der Mittelpunkt einer Seitenfläche, b) eine Ecke und c)<br />
der Mittelpunkt einer Kante.<br />
Abb. 16: Hängender (und stehender) Würfel im Gleichgewicht<br />
Das reizt zu mancherlei Aktivitäten, die nicht nur experimenteller Natur sind,<br />
etwa: Wie viele Seitenflächen, Ecken und Kanten man mindestens/höchstens<br />
sehen? Oder: Wie kann man die Gleichgewichtslagen erklären? (Denkt an Hebelwaagen.)<br />
Besonders reizvoll sind Drehungen. Bei langsamem Drehen kann<br />
beobachtet werden, dass sich immer wieder dieselben Ansichten wiederholen.<br />
Eine ganz andere Beobachtung kann bei schnellem Drehen des in einer Ecke<br />
befestigten Würfels gemacht werden: Sein Schatten an der Wand zeigt die Silhouette<br />
eines Körpers, der aussieht wie manche Schornsteine oder Papierkörbe<br />
(einschaliges Hyperboloid; Steinhaus 1957, 180).
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Um die Wiederholungen genauer zu studieren, gehen wir zum stehenden Würfel<br />
über (Abb.16), ein Übergang vom Kontinuierlichen ins Diskrete. Im Falle a) ist<br />
das sehr einfach, man markiert auf einem waagechten Brett ein Quadrat, kongruent<br />
zu den Quadraten des Würfels. Im Fall b) müssen wir eine Vorrichtung<br />
mit einem kleinen gleichseitigen Dreieck, etwa aus Leisten, die wir auf dem<br />
Brett befestigen, bauen. Im Fall c) genügen zwei zueinander parallele Leisten<br />
auf dem Brett, die den Würfel aufrecht auf einer Kante stehend halten. Jetzt<br />
gelangen wir rasch zu einem ersten Ergebnis, die Anzahl der Drehsymmetrielagen<br />
betreffend. Im Falle a) sieht das so aus: Aufstellen des Würfels mit irgendeiner<br />
seiner 6 Seitenflächen auf die markierte Unterlage. Das geht mit derselben<br />
Seite auf 4 Arten. Das führt zum Ergebnis: Es gibt 4•6 = 24 Möglichkeiten, den<br />
Würfel in sich selbst zu überführen. Ganz analog kann man in den Fällen b) und<br />
c) vorgehen. Bei b) erhalten wir 3•8 = 24, bei c) 2•12 = 24 Bewegungen. Es gibt<br />
noch weitere Varianten, z. B. mit Flächendiagonalen. Und vor allem können wir<br />
mit derselben Methode auch die vier anderen Platonischen Körper untersuchen.<br />
Wir erhalten dann die kleine Liste:<br />
Körper Tetraeder Hexaeder Oktaeder Dodekaeder Ikosaeder<br />
Anzahl der<br />
Bewegungen<br />
12 24 24 60 60<br />
Drehachsen als Symmetrieorgane<br />
Die gerade ausgeübte Methode zur Bestimmung der Anzahl der Bewegungen<br />
des Würfels bedarf dringend der Ergänzung, da die Symmetrieorgane als Agenten<br />
der Bewegungen kaum in Erscheinung treten. Die hängenden Würfel helfen<br />
uns weiter, indem wir den Faden zu einer (unendlichen) Geraden im Raum idealisieren<br />
und als Drehachse ansehen. Jeder Punkt dieser Geraden geht bei jeder<br />
Drehung in sich selbst über, d.h. jeder ihrer Punkte ist ein Fixpunkt.<br />
Abb. 17: Zähligkeit der Achsen des Würfels<br />
54
55<br />
Heinrich Winter<br />
Wie viele Drehachsen gibt es? Zunächst einmal gibt es drei Typen von Drehachsen,<br />
nämlich a) 4-zählige, b) 3-zählige, c) 2-zählige, die in der Abb.17 nur<br />
als (Dreh-) Punkte erscheinen. Eine Achse ist dabei n-zählig, wenn der Vollwinkel<br />
(Winkel einer vollen Umdrehung, also 360°-Drehung) aus n gleichgroßen<br />
Teilwinkeln besteht, wenn n ein Teiler von 360 ist. Wir haben somit in a)<br />
Vierteldrehungen, in b) Dritteldrehungen, in c) Halbdrehungen.<br />
Wie viele Drehachsen gibt es von jeder Sorte? Das ist leicht zu finden, nämlich<br />
von a) 3, von b) 4 und von c) 6 Drehachsen. Damit gilt:<br />
Der Würfel besitzt 13 Drehachsen.<br />
Mit diesem Ergebnis können wir noch einmal und anders die Anzahl der Drehungen<br />
bestimmen. Achtung: Die Ruheabbildung D0 wird nur einmal gezählt.<br />
Bringen wir nun die Drehachsen nach Typen geordnet ins Bild wie in Abb. 18,<br />
so können wir die 24 Drehungen bezeichnen, um auf einfache Weise über sie<br />
sprechen zu können:<br />
Typ a : D , D , D<br />
Typ b :<br />
Typ c :<br />
D<br />
0<br />
a1<br />
r<br />
x1<br />
, D<br />
a2<br />
s<br />
t<br />
x2<br />
, D<br />
, D<br />
b1<br />
u<br />
x3<br />
, D<br />
b2<br />
, D<br />
v<br />
y1<br />
, D<br />
c1<br />
, D<br />
D , D , D , D , D , D<br />
w<br />
, D<br />
y2<br />
c2<br />
, D<br />
, D<br />
y3<br />
d1<br />
, D<br />
, D<br />
z1<br />
d 2<br />
, D<br />
,<br />
z 2<br />
, D<br />
Dabei lesen wir D als Drehung, D 0 als Ruhebewegung oder Identität, kurz<br />
id, D x1<br />
als Drehung (mit rechtem Drehsinn) um die x-Achse um 90° usw.<br />
Abb. 18: Lage der Drehachsen des Würfels, nach Zähligkeit geordnet<br />
Alle 13 Drehachsen schneiden sich im Mittelpunkt M des Würfels, der also bei<br />
jeder der 24 Drehungen in sich ruht, Fixpunkt ist. Jede Strecke durch M, die<br />
zwei Punkte der Oberfläche verbindet, wird in M halbiert, speziell die 4 Raumdiagonalen.<br />
Jeder Punkt der Oberfläche hat einen Antipoden, der ihm gegenüber<br />
liegt. Das ist eine bedeutsame Symmetrieaussage: Der Würfel ist räumlich<br />
z3<br />
,
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
punktsymmetrisch. In der Ebene ist die Punktsymmetrie gleichwertig mit einer<br />
Halbdrehung. Hier im Raum ist es aber nicht möglich, die Punktspiegelung<br />
durch Drehungen im Raum darzustellen. Da brauchten wir schon den 4dimensionalen<br />
Hyperraum.<br />
Vom Mittelpunkt zu reden, bedeutet auch, von Kugeln zu reden, die bei Euklid<br />
eine so große Rolle spielen. Hier können wir gleich 3 Kugeln um M herum<br />
auszeichnen: Die Umkugel geht durch alle 8 Ecken, die Kantenmittenkugel<br />
durch alle 12 Kantenmitten, die Inkugel durch die Mittelpunkte aller 6 Seitenflächen.<br />
(Aussage eines 10-jährigen Schülers: „ Der Würfel ist eine Kugel mit 8<br />
Ecken, die Kugel ist ein Würfel ohne Ecken“). Daraus könnte u.a. die Aufgabe<br />
erwachsen: Schmücke einen kahlen Würfel so aus, dass die Symmetrie nicht<br />
gestört wird, der Würfel aber kugeliger aussieht, als er in Wirklichkeit ist.<br />
Auch die 4 anderen Platonischen Körper besitzen diese 3 Kugeln. Es ist die<br />
Gelegenheit, über Kepler und seine frühen astronomischen Deutungen zu sprechen<br />
und natürlich auch vielerlei Rechnungen anzustellen.<br />
Drehungen als Abbildungen<br />
Einen tieferen Einblick in die Symmetrie können wir erwarten, wenn wir Drehungen<br />
als Abbildungen, als Funktionen im 3-dim. Raum verstehen. Eine Drehung<br />
an einer Achse ist danach eine Abbildung des Raumes auf sich. Die Achse<br />
ist Fixpunktgerade: Jeder Punkt auf ihr ist sein eigener Bildpunkt. Jeder andere<br />
Punkt (Urpunkt) des Raumes besitzt einen (durch die Drehvorschrift ) eindeutig<br />
bestimmten Bildpunkt, und jeder Punkt des Raumes ist Bildpunkt eines eindeutig<br />
bestimmten Urpunktes, d.h. die Abbildung ist bijektiv. Sie hat weitere gute<br />
Eigenschaften, vor allem die Abstandstreue (Isometrie, Kongruenz): Ist f die<br />
Drehabbildung, so gilt für alle Punktepaare X, Y die Gleichung f ( X ) f ( Y)<br />
= XY . Man kann viele weitere Eigenschaften von f untersuchen, etwa längs<br />
solcher Fragen: Was ist das f-Bild einer Ebene, die auf der Achse senkrecht<br />
steht, die parallel zur Achse verläuft, die von der Achse in einem Punkt geschnitten<br />
wird?<br />
Fokussieren wir uns nun auf die 8 Ecken des Würfels, wobei die Ecken standardmäßig<br />
in der Anfangslage mit den Buchstaben A bis H benannt worden<br />
sind.<br />
In Abb.19a handelt es sich um die 90°-Drehung um die x-Achse, kurz 1<br />
x<br />
D .<br />
Jeder der 8 Pfeile repräsentiert ein (Ur)Punkt- Bildpunkt – Paar. So bedeutet der<br />
56
57<br />
Heinrich Winter<br />
Pfeil AB , dass bei der Abbildung D x1<br />
A der Urpunkt und B der Bildpunkt<br />
von A ist. Suggestiver sind die Sprechweisen „A wird in B überführt“ oder „A<br />
wandert nach B“. Unabhängig von der ja zufälligen Namensgebung müssten wir<br />
sagen. „Der Punkt vorn, links, unten hat als Bildpunkt den Punkt vorn, rechts,<br />
unten.“<br />
Wir erkennen zwei voneinander getrennte Vierer-Zyklen, und das bringt zum<br />
Ausdruck, dass die beiden auf der Achse senkrecht stehenden Seitenflächen als<br />
Ganzes gesehen je in sich selbst übergehen, mithin Fixfiguren sind. Die 4 anderen<br />
Seitenflächen, die einen Mantel bilden, tauschen nachbarlich fortschreitend<br />
ihre Plätze aus, und der Mantel als eine Figur betrachtet ist wiederum eine Fix-<br />
figur. Der ganze Würfel ist Fixfigur der Drehung. x1<br />
außerhalb der x-Achse, jede Ecke geht in eine andere über.<br />
Abb. 19: Drehungen des Würfels in der Pfeilsprache<br />
D hat keine Fixpunkte<br />
Diese Zeichnung sollten durch symbolische Darstellungen ergänzt werden, etwa<br />
durch Schemata mit zwei Zeilen, in denen jeweils die acht Eckenbezeichnungen<br />
vorkommen, oben die Namen der Urpunkte und jeweils darunter die Namen der<br />
Bildpunkte. Das Beispiel in Abb.19a sieht dann so aus:
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
D x1<br />
⎛ A<br />
= ⎜<br />
⎝ B<br />
B<br />
F<br />
C<br />
G<br />
D<br />
C<br />
E<br />
A<br />
F<br />
E<br />
G<br />
H<br />
58<br />
H ⎞<br />
⎟<br />
D ⎠<br />
Da wird besonders deutlich, dass eine solche Abbildung als eine Umtauschhandlung<br />
von acht Symbolen angesehen werden kann, als eine Permutation (lat.<br />
permutatio: Austausch, Umstellung).<br />
Analog kann man die Beispiele der Abb.19b (zwei Dreier-Zyklen und zwei<br />
Fixpunkte) und Abb.19c (vier Zweier-Zyklen, kein Fixpunkt) bearbeiten. Die<br />
weiteren Beispiele (Abb.19d,e,f) dürften ausreichen, alle 24 Deckdrehungen des<br />
Würfels möglicherweise in Partnerarbeit zu zeichnen und aufzuschreiben. Die<br />
Pfeildiagramme stellen neue Erkenntnisse in Aussicht, wenn wir etwa fragen:<br />
Wie lautet die Umkehrabbildung einer gegebenen Deckdrehung? Welches sind<br />
die erzeugenden Abbildungen eines Zyklus? Die Besonderheit der identischen<br />
Abbildung („Ruhebewegung“) tritt fast spektakulär ins Auge, es gibt keine eigentlichen<br />
Pfeile, sondern nur Ringe. Der gesamte Raum ist erstarrt.<br />
Deckdrehungen als Rechenobjekte<br />
Deckdrehungen beschreiben Symmetrieeigenschaften des Würfels, nun sollen<br />
diese Deckdrehungen als Gegenstände betrachtet werden und auf Beziehungen<br />
untereinander untersucht werden. Das bedeutet, es wird eine höhere semantische<br />
Stufe angestrebt.<br />
Der Schlüssel dazu ist wiederum ein dynamisches Moment. So wie es in der<br />
Grundschule nicht ausreicht, wenn die Kinder nur Zahlen der Reihe nach aufsagen<br />
und bebildern können, vielmehr Beziehungen in der Menge der Zahlen<br />
lernen müssen, insbesondere Verknüpfungen und deren Gesetzmäßigkeiten, so<br />
wollen wir hier jetzt die Menge W = {D0, Dx1, …, Dw} der 24 Deckdrehungen<br />
des Würfels nach einer Verknüpfungsstruktur hin untersuchen.<br />
Die fast natürliche Verknüpfung von Abbildungen ist die Verkettung (Hintereinanderausführung),<br />
motiviert auch durch ganz durchsichtige Beispiele in einem<br />
Zyklus, da bleiben wir ja in einer Ebene. So sollte es keine Mühe machen,<br />
den Vierer-Zyklus der Drehungen um die z-Achse zu strukturieren: zuerst Dz1,<br />
dann anschließend Dz2 ergibt zusammen Dz3, die Drehwinkel werden addiert<br />
90°+180° = 270°. Oder: zuerst Dz2, dann anschließend Dz3 ergibt Dz1. Man kann<br />
die vier Drehungen um die z-Achse als eine Teilstruktur erfahren: Zwei beliebige<br />
Drehungen hintereinander geschaltet, ergibt stets wieder eine von den vier<br />
Drehungen (vgl. Abb.17).<br />
Das Hintereinanderschalten wird in der Pfeilsprache durchsichtig: An die Spitzen<br />
der ersten Drehung wird der Anfang der zweiten angeschlossen und dadurch
59<br />
Heinrich Winter<br />
der Pfeil der Ergebnisdrehung bestimmt (Abb.20). In Abb.20a ist das Resultat<br />
der Hintereinanderschaltung von Dx1 und Da1 (in dieser Reihenfolge) dargestellt,<br />
wir schreiben dazu kurz: Dx1 ○ Da1 = Dr. Der Kringel ○ ist das Verknüpfungszeichen,<br />
so wie das Pluszeichen + das Addieren von Zahlen symbolisiert.<br />
Abb. 20: Drei Ergebnisse von Verknüpfungen zweier Deckdrehungen des<br />
Würfels<br />
In der Sprache der 2-Zeilen Schemata sieht das Beispiel in Abb.20a so aus:<br />
Dx1 o a1<br />
⎛<br />
⎜ A<br />
D =<br />
⎜<br />
⎝ B<br />
=<br />
⎛ A<br />
⎜<br />
⎝ E<br />
B<br />
H<br />
B<br />
F<br />
C<br />
G<br />
C<br />
G<br />
D<br />
C<br />
D<br />
F<br />
E<br />
A<br />
E<br />
A<br />
F<br />
E<br />
F<br />
D<br />
G<br />
H<br />
G<br />
C<br />
H ⎞ ⎛ A<br />
⎟ ⎜<br />
⎟<br />
o<br />
D<br />
⎜<br />
⎠ ⎝ A<br />
H ⎞<br />
⎟<br />
B ⎠<br />
B<br />
E<br />
C<br />
F<br />
D<br />
B<br />
E<br />
D<br />
F<br />
H<br />
G<br />
G<br />
H ⎞<br />
⎟<br />
C ⎠<br />
Beispiel: Was ist letztlich das Bild von B? Antwort: B wird zunächst nach F<br />
überführt und F dann weiter nach H, also ist H letztlich das Bild von B. Schematisch:<br />
B a F a H (in 2 Abbildungsschritten); B<br />
Schritt)<br />
a H (in einem<br />
Aber Achtung: Es handelt sich hier nicht um die Matrizenmultiplikation, wie sie<br />
in der Analyt. <strong>Geometrie</strong> mit Zahlen üblich ist.<br />
Man kann auf diese Weise jede Abbildung aus W mit jeder Abbildung aus W<br />
verketten und bekommt immer wieder eine Abbildung aus W. Es ist aber unnötig,<br />
alle 24•24 = 576 Verkettungen auszurechnen und aufzuschreiben (etwa in<br />
einer Gruppentafel). Wichtiger sind hier Bemühungen um allgemeine Einsichten,<br />
die von Problemaufgaben ausgehen, etwa:
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
• Was ist das Ergebnis, wenn man irgendeine Drehung um eine 4-zählige<br />
Drehachse mit irgendeiner Drehung um eine 3-zählige Achse verkettet<br />
(und andere Kombinationen)?<br />
• Untersucht die Frage nach der Kommutativität des Verkettens. Beachte:<br />
(W, ○) ist dann und nur dann kommutativ, wenn bei jeder Verkettung<br />
die Reihenfolge der Abbildungen vertauscht werden dürfte.<br />
• Untersucht Dreierverkettungen, z.B. zuerst Dx1, dann Da1, dann Dt. Was<br />
kann man allgemein über die Assoziativität von vermuten?<br />
• Mit welcher Drehung muss man Dy3 verketten, wenn das Ergebnis Db2<br />
sein soll? Es soll also die Gleichung Dy3 ○ x = Db2 gelöst werden.<br />
• Was ergibt sich, wenn man irgendeine der Drehungen, z.B. Dw mit allen<br />
24 Abbildungen von W verkettet, also Dw○W bildet? Bitte, zunächst<br />
nicht einzeln aufschreiben, sondern begründen, dass die Lösung<br />
W heißen muss.<br />
• Begründet, dass es zu jeder Deckdrehung aus W eine Deckdrehung aus<br />
W gibt, die die erste rückgängig macht.<br />
Wir können hinsichtlich der Struktur (in der üblichen Funktionensprache) zusammenfassen:<br />
1. Abgeschlossenheit: Für alle Drehungen f und g aus W gilt: f○g ist auch aus<br />
W, ebenso g○f.<br />
2. Neutrales Element: D0 = Id ist einziges neutrales Element mit f○D0 = D0○f = f<br />
für alle f aus W.<br />
3. Inverse Elemente: Zu jeder Deckdrehung f aus W gibt es genau eine inverse<br />
Deckabbildung f -1 mit f –1 ○f = f○f –1 = D0 = Id<br />
4. Assoziativität: Man kann mehr als zwei Deckdrehungen aus W verketten und<br />
braucht sich um Klammern nicht zu scheren: f○(g○h) = f○ (g○h) = f○g○h.<br />
A: „Das ist aber reichlich abstrakt“ B: „Das ist gut! Nur, wer sich<br />
mit Abstraktionen befasst kann auch konkrete Zusammenhänge<br />
verstehen.“<br />
Die Struktur von W mit der Rechenvorschrift heißt Gruppe. Da W 24 Elemente<br />
enthält, ist es eine endliche Gruppe von der Ordnung 24. Es gibt auch unendliche<br />
Gruppen, so z.B. die Menge aller Drehungen um eine räumliche Achse mit<br />
der Verkettung als Rechenoperation, oder die Menge aller ganzen Zahlen mit<br />
der Addition als Verknüpfung.<br />
60
61<br />
Heinrich Winter<br />
Wir haben oben die Deckdrehungen mit Hilfe der Ecken des Würfels beschrieben.<br />
Man kann aber andere Teile des Würfels heranziehen, etwa seine vier<br />
Raumdiagonalen. Wir nummerieren sie (AG = 1, BH = 2, CE = 3 und DF = 4)<br />
und fragen uns, auf wie viele Arten sich die vier Diagonalen permutieren lassen.<br />
Beispiele:<br />
D 0<br />
⎛1<br />
= ⎜<br />
⎝1<br />
2<br />
2<br />
3<br />
3<br />
4⎞<br />
⎟<br />
4⎠<br />
D x1<br />
⎛<br />
= ⎜<br />
⎝<br />
1<br />
2<br />
2<br />
3<br />
3<br />
4<br />
4⎞<br />
⎟<br />
1⎠<br />
D a1<br />
⎛1<br />
= ⎜<br />
⎝1<br />
Das ist mühselig, wenn auch gut zur Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens.<br />
Aber zum Beweis der Vermutung, dass man so alle 24 Drehungen<br />
auffinden kann, überlegen wir, wie viele der Diagonalenpermutationen a) keine ,<br />
b) eine, c) zwei und d) mehr als zwei Fixdiagonale(n) enthalten. Für d) (3 oder 4<br />
Fixdiagonalen) kommt nur Id in Frage. Keine Fixdiagonale enthalten die neun<br />
echten Drehungen um die 4-zähligen Achsen, je eine Fixdiagonale enthalten die<br />
acht echten Drehungen um die Diagonalen, und je zwei Fixdiagonalen haben die<br />
sechs echten Drehungen um die Kantenmittenachsen. Damit haben wir bewiesen:<br />
Jede Diagonalenpermutation entspricht eineindeutig einer Eckenpermutation,<br />
und die Menge der Diagonalenpermutationen hat im Prinzip dieselbe Gruppenstruktur<br />
wie die der Eckenpermutationen. Da in der zweiten Zeile der 4-2-<br />
Matrizen alle möglichen Anordnungen von 4 Dingen (Zahlen) stehen, können<br />
wir erweitern zum Satz:<br />
Die Gruppe der Drehungen des Würfels ist gestaltgleich (isomorph, abstrakt<br />
gesehen gleich) zu einer jeden Menge von Anordnungen von vier Dingen irgendwelcher<br />
Art mit der Verkettung.<br />
Insofern hat der Würfel ein maximales Maß an Symmetrien auch im Vergleich<br />
zu den übrigen Platonischen Körpern. Allgemein heißt eine endliche Gruppe<br />
symmetrisch, wenn sie gestaltgleich ist mit einer Gruppe, deren Elemente aus<br />
allen Anordnungen von n Dingen besteht. Solche Gruppen bezeichnet man mit<br />
S und ihre Ordnung ist n! Wir können deshalb (abstrakt gesehen) die Dreh-<br />
n<br />
gruppe des Würfels mit S 4 bezeichnen, es ist ja 4! = 24. Symmetriegruppen<br />
spielen die tragende Rolle in der <strong>Mathematik</strong> der Geflechte oder Zöpfe, die<br />
einerseits spielerischer Natur sind, andererseits aber Bedeutung in der Biologie<br />
besitzen (vgl. Gardner 1973, 20ff.; Knörrer 1996, 26ff.).<br />
Teile des Würfels und Untergruppen der Würfelgruppe<br />
Kaum eine der lernenden Auseinandersetzungen mit den Symmetrien des Würfels<br />
gestattet so viele verschiedenartige Raumerfahrungen und Entdeckungsmöglichkeiten.<br />
Der Einstiegsauftrag mag lauten: Sucht Teile des Würfels,<br />
2<br />
3<br />
3<br />
4<br />
4⎞<br />
⎟<br />
2⎠
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
gleichgültig ob ein- oder zwei oder dreidimensional, die selbst symmetrisch<br />
sind, aber deren Symmetrien zugleich auch Symmetrien des Würfels sind. Da<br />
könnten als erstes die Zyklen ins Auge springen, z.B. der Viererzyklus um die z-<br />
Achse herum. Als passende Teile des Würfels kommen hier in Frage: die beiden<br />
Diagonalen der Deckfläche oder Grundfläche (eindimensional), das Quadrat der<br />
Deckfläche oder Grundfläche (zweidimensional), die gerade Viereckspyramide<br />
unter der Deckfläche oder über der Grundfläche (dreidimensional).<br />
Diese Beispiele können um viele andere erweitert werden, vor allem durch<br />
symmetrieverträgliche Ausschmückungen. In jedem Falle ist die Teilfigur 4fach<br />
drehsymmetrisch. Ihre Zyklen bilden eine Gruppe der Ordnung 4, die man<br />
die zyklische Gruppe der Ordnung 4 nennt: C4 = {Dz1, Dz2, Dz3, D0}.<br />
Abb. 21 präsentiert eine vollständige und schon geordnete Sammlung von dreidimensionalen<br />
Teilkörpern, aus der alle echten Untergruppen (alle Untergruppen<br />
mit Ausnahme von C1 = {D0} und W selbst der Würfelgruppe entnommen<br />
werden können. Da gibt es eine Reihe von grundsätzlichen Fragestellungen. Es<br />
gilt ja, die Abb.21 zu verstehen.<br />
1. Welche und wie viele Drehsymmetrien hat der Teilkörper? (Ordnung der<br />
Untergruppe)<br />
2. Wie viele gleichberechtigte Lagen kann der Teilkörper im Würfel einnehmen?<br />
3. Wie viele verschiedene Untergruppen gibt es unter den Lagen von 2.?<br />
Die Antworten für das Beispiel 21a (dreiseitiges Prisma als Teilkörper):<br />
1. Es gibt nur eine Drehachse, die Kantenmittenachse r. Da D0 immer zu den<br />
Untergruppen gehört, ist die Untergruppe C2 = {Dr, D0} von der Ordnung 2.<br />
2. Es gibt 12 gleichberechtigte Lagen, so viele, wie es Kanten gibt.<br />
3. Es gibt 12: 2 = 6 verschiedene Untergruppen, denn einander gegenüber liegende<br />
Kanten haben dieselbe Drehachse. Es gibt also sechs Untergruppen der<br />
Ordnung 2; bitte alle sechs aufschreiben.<br />
Ähnlich ist die Situation in Abb.21b (dreiseitiges Prisma): Wieder gibt es nur<br />
eine 2-zählige Drehachse Dy, damit die Untergruppe C2 = {Dy, D0}, und wieder<br />
gibt es zwölf gleichberechtigte Lagen, von denen aber je vier dieselbe Drehachse<br />
besitzen. Deshalb erhalten wir hier nur drei Untergruppen der Ordnung 2, und<br />
zwar? Insgesamt hat damit der Würfel 6+3 = 9 verschiedene Untergruppen der<br />
Ordnung 2, die aber zueinander isomorph sind, weil sie alle nur das neutrale und<br />
ein zu sich selbst inverses Element besitzen.<br />
62
Abb. 21: Alle echten Untergruppen von W<br />
63<br />
Heinrich Winter<br />
Das nicht reguläre Tetraeder in Abb.21c hat die 3-zählige Achse d als einziges<br />
Symmetrieorgan, und damit die Drehgruppe C3 = {Dd1, Dd2, D0}. Es gibt acht<br />
gleichberechtigte Lagen und vier verschiedene Untergruppen der Ordnung 3.<br />
Klar sollte auch Abb.21d (gerade vierseitige Pyramide) sein: eine 4-zählige<br />
Drehachse (z-Achse), sechs gleichberechtigte Lagen, drei verschiedene zyklische<br />
Untergruppen.<br />
In Abb.21e (sechsseitiges Prisma) geschieht etwas Neues: Es gibt Drehachsen<br />
verschiedenen Typs, nämlich x-Achse, v-Achse und w-Achse, die paarweise<br />
senkrecht aufeinander stehen. Damit ergibt sich die nicht-zyklische Gruppe K =<br />
{Dx2, Dv, Dw, D0} der Ordnung 4, eine sog. Kleinsche Gruppe (benannt nach<br />
Felix Klein, 1849-1925), in der jedes Element invers zu sich selbst ist. Wir finden<br />
sechs gleichberechtigte Lagen und insgesamt drei verschiedene Untergruppen<br />
der Kleinschen Art.<br />
Besonders bemerkenswert ist Abb.21 f mit einem echten Quader als Teilkörper<br />
und den drei Hauptachsen x, y, z, so dass sich die Kleinsche Vierergruppe K =<br />
{Dx, Dy, Dz, D0} ergibt. Wieder haben wir sechs gleichberechtigte Lagen, die in<br />
Abb.22 gezeichnet sind. Das Besondere ist: In jeder Lage treten dieselben<br />
Hauptachsen x, y, z auf; so gibt es nur eine Untergruppe (und nicht drei wie in<br />
21d und 21e). Diese Kleinsche Vierergruppe heißt deshalb invariante Untergruppe<br />
(oder Normalteiler). Ob eine Gruppe eine echte invariante Untergruppe<br />
besitzt, ist in vertiefteren Studien der Gruppentheorie (Galois-Theorie) von<br />
größtem Interesse. Die Drehgruppen von Dodekaeder und Ikosaeder besitzen<br />
keine echten invarianten Gruppen.
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Abb. 22: Die sechs gleichberechtigten Lagen des echten Quaders als Teilfigur<br />
Das nicht reguläre Tetraeder in Abb.21g realisiert vier Untergruppen der Ordnung<br />
6, die quadratische Säule in Abb.21h drei Untergruppen der Ordnung 8.<br />
Spannend ist schlussendlich das reguläre Tetraeder in Abb.21i. Es hat vier 3zählige<br />
und drei 2-zählige Symmetrieachsen (nämlich welche?), und seine Untergruppe<br />
ist von der Ordnung 12. Diese Untergruppe des Würfels ist also die<br />
Drehgruppe des Tetraeders. Das Tetraeder tritt in zwei gleichberechtigten Lagen<br />
auf, siehe Abb. 23a und 23b. Das zweite Tetraeder realisiert (für sich betrachtet)<br />
dieselbe Drehgruppe wie das erste, und das heißt, dass wieder eine invariante<br />
Untergruppe vorliegt. Wir könnten deshalb auch erstes und zweites Tetraeder<br />
untereinander vertauschen.<br />
64
Abb. 23: Zwei Tetraeder und ihr Durchdringungsstern<br />
65<br />
Heinrich Winter<br />
Unschwer ist zu erkennen, dass das eine Tetraeder das Bild des anderen ist,<br />
wenn man eine Punktspiegelung am Mittelpunkt (SM) des Würfels vornimmt.<br />
Das ist aber eine uneigentliche Bewegung und also hier inakzeptabel. Gibt es<br />
eine Drehung des Würfels, die das eine Tetraeder in das andere überführt? Ihre<br />
Achse müsste 2-zählig sein (warum?) und dürfte nicht zu den Symmetriedrehachsen<br />
der Tetraeder gehören (warum nicht?). Mit etwas Geschick und Glück<br />
findet man zwei solcher Drehachsen (nämlich welche?). .<br />
Zum Genießen: Wenn man die beiden Tetraeder einer Durchdringung unterzieht,<br />
erhält man einen achtstrahligen Stern (Abb.23c), den schon KEPLER<br />
kannte und natürlich Stellaoctangula nannte. Die Schale (konvexe Hülle) dieses<br />
schönen Sterns ist der Würfel, und der Kern (der gemeinsame Teil) ist ein Oktaeder,<br />
dessen Drehgruppe ja isomorph ist zur Würfelgruppe. Das Volumen dieses<br />
Sternköpers ist halb so groß wie das des Würfels und doch besitzt er die volle<br />
Symmetrie des Würfels (das sollte uns aber nicht verwundern, weil sogar das<br />
dürre Gestänge der vier Raumdiagonalen bereits die Würfeldrehgruppe repräsentiert).<br />
Es sollte Spaß machen, den Stern zu bauen, etwa mit der Origamitechnik<br />
(FLACHSMEYER 2008, 140) oder auch anders.<br />
Im Rückblick auf dieses Teilkapitel sollte mindestens noch aufgefallen sein,<br />
dass die Ordnung sämtlicher Untergruppen ein Teiler der Ordnung von W, also<br />
von 24, ist. Es gilt hier offenbar: Ordnung der Untergruppe von W mal Anzahl<br />
der gleichberechtigten Lagen ist gleich 24. Das ist klar, weil die Gesamtheit<br />
aller Lagen den ganzen Würfel oder einen symmetriegleichen Teilkörper erscheinen<br />
lässt. Man demonstriere das am Durchdringungskörper, den die sechs<br />
Quader in Abb. 22 bilden.<br />
Dieser Zusammenhang zwischen Ordnung der Gruppe und Ordnung einer Untergruppe<br />
gilt allgemein in der Gruppentheorie, ausgedrückt im fundamentalen<br />
Satz von JOSEF-LOUIS LAGRANGE (1736-1813) über endliche Gruppen:<br />
Ist n die Ordnung einer Gruppe und m die Ordnung einer ihrer Untergruppen U,<br />
so ist m ein Teiler von n (und n:m = i wird Index von U genannt). Der klassi-
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
sche Ausschöpfungsbeweis über Nebenklassen von U kann an der Würfelgruppe<br />
vorgeübt werden. Der Umkehrsatz (wie lautet er?) gilt indes nicht, was an der<br />
Tetraedergruppe gesehen werden kann. Der Satz von LAGRANGE ist nützlich<br />
bei der Suche nach Untergruppen, da er den Suchraum reduziert. Außerdem<br />
folgt sofort aus ihm: Eine Gruppe von Primzahlordnung hat keine echten Untergruppen.<br />
Uneigentliche Deckabbildungen des Würfels<br />
Der Würfel besitzt insgesamt neun Spiegelebenen, drei in den Hauptrichtungen<br />
mit quadratischer Schnittfläche (Abb.24a, Typ a) und sechs mit rechteckiger<br />
Schnittfläche (Abb.24b, Typ b).<br />
Abb. 24: Uneigentliche Deckabbildungen des Würfels<br />
Natürlich bilden die neun 9 Spiegelungen keine Gruppe, auch nicht, wenn wir<br />
noch Id hinzufügen. Wenn ich zwei verschiedene Spiegelungen verkette, dann<br />
ergibt sich eine Drehung, deren Achse die Schnittgerade der beiden Ebenen ist<br />
und deren Drehwinkel doppelt so groß ist wie der Schnittwinkel der Ebenen.<br />
Soweit ist alles analog zu den Verhältnissen in der Ebene. Insbesondere der<br />
Satz: Jede Drehung des Würfels kann (sogar auf mehrere Arten) durch die Verkettung<br />
zweier Spiegelungen dargestellt werden.<br />
Insofern sind Spiegelungen sogar grundlegender als Drehungen, da durch sie die<br />
Drehungen erzeugt werden (können). Andererseits: Bisher stehen den 24 Drehungen<br />
nur 9 Spiegelungen als uneigentliche Deckabbildungen gegenüber. Das<br />
sieht ziemlich unausgewogen, asymmetrisch aus. Erinnern wir uns an die Symmetrien<br />
des ebenen Quadrats, da haben wir außer den vier Drehungen um den<br />
Mittelpunkt noch vier Geradenspiegelungen, die den Umlaufsinn umkehren und<br />
somit in der Ebene als uneigentliche Bewegungen zu gelten haben. Die Analogie<br />
umkehrend, müsste es demnach beim Würfel auch 24 uneigentliche Deckabbildungen<br />
geben. Kann man sich die 15 fehlenden beschaffen? Wieder kann<br />
uns das ebene Quadrat helfen. Durch die vier Spiegelgeraden wird es in acht<br />
66
67<br />
Heinrich Winter<br />
zueinander kongruente Dreiecke zerlegt. Dann müsste doch… Tatsächlich wird<br />
der Würfel durch alle neun Spiegelebenen in 48 zueinander kongruente Tetraeder<br />
zerlegt (Abb.24c). Offensichtlich kann jedes dieser Tetraeder durch eine<br />
eigentliche oder uneigentliche Deckbewegung in eins der 48 Tetraeder überführt<br />
werden. Ein Beispiel ist in Abb.24c eingetragen: ANRM a BNRM a<br />
CTSM.<br />
Wir haben einen neuen Abbildungstypen, die Drehspiegelung (hier würde besser<br />
Spiegeldrehung passen). Diese kann auch anders ausgeführt werden, z.B.<br />
durch drei verkettete Spiegelungen, und das noch auf verschiedene Arten. Es<br />
gehört etwas Ausdauer und wenig Fantasie dazu, die fehlenden 14 Drehspiegelungen<br />
als Dreifachspiegelung aufzuschreiben. Eine davon ist besonders zu<br />
erwähnen, die räumliche Punktspiegelung ( S M ), die sich durch die Verkettung<br />
von drei Spiegelungen an Ebenen, die paarweise senkrecht aufeinander stehen,<br />
darstellen lässt. Wir schließen mit dem Satz:<br />
Die volle Symmetriegruppe WV des Würfels ist von der Ordnung 48, und ihre<br />
Untergruppe W ist ein Normalteiler in WV.<br />
Vom Design zur Kristallographie<br />
Die Billschen Würfelhälften<br />
Abb. 25: Spezielle Halbierungsschnitte durch den Würfel
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Der berühmte Designer und Architekt Max Bill (1908-1994) hat im Rahmen<br />
seiner Bemühungen, eine Theorie der Form zu schaffen, u.a. das Beispiel des<br />
Halbierens geeigneter Körper (vor allem Kugel und Würfel) gedanklich ausgearbeitet<br />
und auch konkret realisiert (Schumann 2007, 33ff.). Aus der unendlichen<br />
Fülle von Halbierungen des Würfels durch ebene Schnitte (durch den Mittelpunkt)<br />
lässt Bill nur solche Schnittebenen zu, die markante Punkte des Würfels<br />
enthalten, nämlich Ecken und Kantenmitten. Da gibt es nur 4 Möglichkeiten:<br />
Die Schnittfläche ist a) ein Quadrat, b) ein Rechteck, c) ein Rhombus, d) ein<br />
reguläres Sechseck (Abb.25).<br />
Mit den Würfelhälften lässt sich nun eine Unzahl von „Landschaften“ aufbauen,<br />
vor allem dann, wenn man zu jedem Typ mehrere Würfel gleicher Größe zerschneidet.<br />
Hier wollen wir uns auf die Typen c und d beschränken.<br />
Die beiden Würfelhälften vom Typ c<br />
Zunächst sollte man sich mit der Schnittfläche befassen (Abb.26c), also das<br />
Wissen über den Rhombus reaktivieren. Wie lang sind die beiden Diagonalen<br />
und wie lang die 4 Seiten? Wie groß sind die Innenwinkel? Flächeninhalt?<br />
Symmetrien? Ist der Rhombus ein spezielles Trapez? Was für ein Rhombus ist<br />
das Quadrat?<br />
Abb. 26: Zwei Würfelhälften und ihre Schnittfläche<br />
Die beiden Hälften sind (erstaunlicherweise?) wieder Hexaeder, besitzen aber<br />
nur 11 Kanten und 7 Ecken. Wo sind die verlorenen Stücke geblieben? Wieso<br />
muss jeder auch eine Ecke weniger haben, wenn er eine Kante verliert (Eulerscher<br />
Polyedersatz)? Gibt es noch weitere topologisch andere Hexaeder? (Nach<br />
Gardner 1973, 190 existieren noch fünf weitere). Jeder der beiden Halbwürfel<br />
besitzt nur ein echtes Symmetrieorgan; welches? Man könnte sie ineinander<br />
verschieben, deshalb liegt keine Enantiomorphie vor.<br />
Durch Herumspielen mit den beiden Hälften tritt die Frage auf: Wie viele verschiedene<br />
konvexe Körper (außer dem Würfel) kann man herstellen, wenn man<br />
68
69<br />
Heinrich Winter<br />
die beiden Halbwürfel unter Einhaltung der Dominoregel zusammensetzt? Begründet,<br />
dass es genau fünf sind. In Abb.27 sind drei davon im Schrägbild dargestellt.<br />
Abb. 27: Drei konvexe Körper je aus 2 Halbwürfeln vom Typ c<br />
Die Symmetrieorgane dieser Körper lassen sich leicht ablesen. Alle drei Körper<br />
stellen die idealen Urformen der drei sogenannten monoklinen Kristallklassen<br />
dar, nämlich – in den international gängigen Kürzeln – der Reihe nach 2, m, 2/m<br />
(KLEBER u.a. 1998, 69ff.), die ihrerseits auf viele Arten ausgeformt sein können.<br />
So gehören zur Klasse 2/m Gips, Diopsid, Kalifeldspat, Oxalsäure, u.v.a.<br />
Diese Klasse ist sogar „sowohl unter den Mineralen als auch unter den synthetischen<br />
Kristallen weit verbreitet und die mit Abstand häufigste Kristallklasse“<br />
(EBENDA, 71). Ihre Urform ist das Parallelepiped in Abb. 27c). Ausformungen<br />
der Klasse 2 sind u.a. die schon genannte Weinsäure (in linker und rechter Art,<br />
Enantiomorphie) und der Zucker; Ausformungen von der Klasse m sind u.a.<br />
Hilgardit und Klinoedrit.<br />
Ein Dodekaeder (Zwölfflächner) aus acht Halbwürfeln<br />
Spielen wir weiter mit unseren Halbwürfeln, so kann es fast nicht ausbleiben,<br />
aus acht Halbwürfeln ein Dodekaeder zusammenzusetzen, das recht symmetrisch<br />
und einfach schön aussieht. Es ist jedoch nicht das bekannte klassische<br />
Rhombendodekaeder (kurz KRD), dessen Drehgruppe zur Würfelgruppe isomorph<br />
ist.<br />
Unser 8-Würfelhäftendodekaeder (kurz 8WhD) hat zwar auch 24 gleich lange<br />
Kanten (wie lang?) und 12 Rhomben als Seitenflächen, jedoch sind letztere<br />
nicht paarweise kongruent zueinander, vielmehr gibt es zwei Sorten: 4 „kleine“<br />
und 8 „große“ (welche Flächeninhalte?). Es lohnt sich, die Morphologie des<br />
8WhD genauer zu untersuchen, um dann seine Symmetriegruppe bestimmen zu<br />
können (Abb.28 a). So gibt es drei Sorten von Ecken (welche?). Jede der 12<br />
Seitenflächen hat gegenüber eine zu ihr parallele kongruente Partnerin, so dass<br />
der Körper ein Inversionszentrum besitzt. Jedoch besitzt er weder Umkugel
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
noch Kantenmittenkugel noch Inkugel. Nur die „kleinen“ Rhomben bilden Paare,<br />
die durch eine 2-zählige Drehachse ineinander überführt werden können.<br />
Was ist mit den „großen“ Rhomben?<br />
Abb. 28: Zur Symmetrie des 8WhD<br />
Nun konkret zur Drehsymmetrie des 8WhD. Das in Abb.28a rot eingefärbte<br />
Quadrat ist auffällig, ist es doch das einzige von den 3 Mittenquadraten, das der<br />
ursprüngliche große Würfel aus 8 Würfeln mit Kantenlänge a vor dem Abschneiden<br />
der Hälften aufweist. Die durch die Mitte dieses Quadrats verlaufende<br />
und auf dem Quadrat senkrecht stehende Gerade ist eine 4-zählige Drehachse<br />
nicht nur des Quadrates sondern des ganzen 8WhD. Das ist schon einmal ein<br />
Teilergebnis. Wie in der Kristallographie üblich, betrachten wir diese Achse als<br />
Hauptachse und zeichnen sie als in der Zeichenebene liegend wie in Abb. 28 b<br />
und c. Da erscheint der 8WhD als eine Durchdringung von einer Doppelpyramide<br />
(28b) mit einem Doppelturm (28c). Wie man unschwer zeigen kann, besitzen<br />
beide Teilkörper dieselben Drehsymmetrien, die auch Symmetrien des<br />
8WhD sind, nämlich 4 Drehungen um die Hauptachse z, 4 Umklappungen (=<br />
Drehungen um 180°) um die beiden Achsen x und y sowie deren beide Winkelhalbierende.<br />
Der Kern der Durchdringung (= das gemeinsame Gebiet von Doppelpyramide<br />
und Doppelturm) ist der mittlere Teil des Doppelturmes, und das<br />
ist eine Quadratische Säule mit den Kantenlängen a, 2 a, 2 a. Deren Sym-<br />
70
71<br />
Heinrich Winter<br />
metrien sind nun genau die gefragten Symmetrien des 8WhD. Damit notieren<br />
wir:<br />
Die Gruppe der Drehsymmetrien des 8WhD ist von der Ordnung 8. Sie besteht<br />
aus 4 Drehungen um eine 4-zählige Achse und aus 4 180°-Drehungen (Umklappungen)<br />
an 4 2-zähligen Achsen.<br />
Wir könnten auch kürzer aufschreiben:<br />
Die Drehgruppe 8WhD ist isomorph zur Drehgruppe des räumlichen Quadrats.<br />
Während nämlich die Deckabbildungen des ebenen Quadrats aus 4 Drehungen<br />
um den Mittelpunkt und 4 (uneigentlichen!) Achsenspiegelungen bestehen, sind<br />
beim räumlichen Quadrat die 4 Achsenspiegelungen durch 4 Drehungen (Umklappungen)<br />
ersetzt. Darüber hinaus kann das räumliche Quadrat auf unendliche<br />
viele Arten in den Raum hinein symmetrieerhaltend ausgeschmückt und auch<br />
reduziert werden. Es kommt z. B. nicht darauf an, wie hoch der Doppelturm und<br />
wie hoch die Doppelpyramide ist. Im Extremfall kann der eine oder der andere<br />
Teilkörper oder können auch beide die Höhe 0 und damit auch das Volumen 0<br />
besitzen. Im letzteren Fall sprechen wir dann von einem Dieder = Zweiflächner,<br />
indem wir Unterseite und Oberseite des Quadrats unterscheiden. F. Klein hat<br />
sogar vom Dieder als dem 6. Platonischen Körper gesprochen (Klein, S. 129).<br />
Somit erhalten wir eine dritte Fassung des Satzes über die Symmetrien des<br />
8WhD:<br />
Die Drehgruppe des 8WhD ist (abstrakt gesehen) die Diedergruppe D 4 .<br />
Zu jedem n > 1 gibt es ein Dieder D n , dessen Drehgruppe von der Ordnung 2n<br />
ist. Die räumliche Drehgruppe einer Strecke ist D 2 und ist abstrakt gleich der<br />
Kleinschen Vierergruppe. Verifiziert das en detail. D 3 kennen wir eigentlich<br />
schon aus den Untergruppen des Würfels. Überprüft das. Allgemein braucht<br />
man ein reguläres ebenes Vieleck. Dieses besitzt einen Mittelpunkt, durch den<br />
eine Senkrechte errichtet wird als n-zählige Drehachse. Weiterhin besitzt das<br />
ebene n-Eck n Spiegelgeraden, die beim Verräumlichen zu n 2-zähligen Drehachsen<br />
(Klappachsen) werden. Genaueres über Diedergruppen findet man in<br />
Sielaff, besonders ausführlich wird die Gruppe D 3 besprochen.<br />
In der Kristallographie kann es wegen des Gitteraufbaus nur Drehgruppen von<br />
der Ordnung 4, 6, 8 und 12 geben und damit auch nur die Diedergruppen dieser<br />
Ordnungen. Tatsächlich kommen die möglichen auch alle in Kristallen vor,<br />
D z. B. im schon erwähnten Graphit, der zur dihexagonalen – dipyramidalen<br />
6<br />
Kristallklasse gehört. Unser 8WhD scheint es in reinerer Form als Mineral in
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
der Natur nicht zu geben, Sonderformen von Vesuvian kommen seiner Form am<br />
nächsten (mündliche Auskunft von Prof. Theo Hahn vom Kristallographischen<br />
Institut der RWTH in Aachen). Es wird als ditetragonal-dipyramidal klassifiziert.<br />
Gänzlich im Gegenteil zum 8WhD ist das klassische Rhombendodekaeder<br />
(KRD) hochsymmetrisch. In der üblichen Genese des KRD (als Ausstülpen der<br />
6 inneren quadratischen Pyramiden eines Würfels) überträgt sich die volle<br />
Symmetrie des Würfels auf das KRD, was im einzelnen zu belegen und auszugestalten<br />
ist. Z.B. gehen die 6 2-zähligen Achsen des Würfels in 6 Rhombenmittenachsen<br />
des KRD über. Der besseren Vergleichbarkeit wegen haben wir für<br />
beide Rhombendodekaeder in Abb. 29 dieselbe Kantenlänge gewählt.<br />
Abb. 29: 8WhD und KRD im Vergleich<br />
Der entscheidende aber keineswegs „kleine“ Unterschied liegt im Kernbereich,<br />
beim 8WhD ist es eine quadratische Säule, im KRD hingegen ein Würfel. Die<br />
Oberfläche des 8WhD besteht aus 2 Quadraten und 4 (echten ) Rechtecken.<br />
Wende ich hierauf die Ausstülpmethode (analog zum KRD) an, so liefern die<br />
beiden Quadrate 8 zueinander kongruente Rhomben, es bleiben dann noch 4<br />
weitere zueinander paarweise kongruente Rhomben einzusetzen mit derselben<br />
Kantenlänge aber abweichender Größe und Winkel.<br />
Da es (metrisch gesehen) unendlich viele echte quadratische Säulen gibt, gibt es<br />
auch unendlich viele Dodekaeder vom Typ des 8WhD. Das KDR ist der Sonderfall<br />
und es erfreut sich wegen seines hohen Symmetriegehalts großer kristallographischer<br />
Wertschätzung. Die bekannten Mineralien Diamant und Granat<br />
besitzen Urformen von der Gestalt des KRD (neben Würfeln und Oktaedern).<br />
Diamanten aus fast reinem Kohlenstoff sind nicht nur wegen des Funkelns die<br />
72
73<br />
Heinrich Winter<br />
„Könige der Edelsteine“ (Bohm, S. 90ff), sondern wegen ihrer einzigartigen<br />
Härte (Härtegrad 10) von erheblichem technischen Gebrauchswert (Tiefbohren,<br />
Schneiden, Glätten, Schleifen u.v.m. mit erhöhten Ansprüchen). Nebenbei: das<br />
Mineral Graphit, auch aus fast reinem Kohlenstoff, ist dagegen ausgesprochen<br />
weich (Härtegrad 1), weil der atomare Aufbau ein völlig anderer ist gegenüber<br />
dem des diamanten.<br />
Das Mineral Granat (Härtegrad 6 – 7,5) besitzt neben anderen Körperformen<br />
besonders auch das KRD als Urform, so dass das KRD gelegentlich sogar Granatoeder<br />
genannt wird. Granat ist chemisch ein Silikat mit vielerlei möglichen<br />
Zusätzen. Granatschmuck ist wegen der hochsymmetrischen Form, wegen der<br />
Variabilität in der Farbe und nicht zuletzt wegen seines Preises (bei mittlerem<br />
Einkommen bezahlbar) sehr geschätzt. In der Technik dient er unter anderem als<br />
Laserkristall, wie überhaupt möglichst reine und selbst gezüchtete Kristalle in<br />
unserer digitalen Welt geradezu als „Steine der Weisen“ (so der Titel des Katalogs<br />
der Ausstellung in Bonn im Jahr 2000 der Physik) fungieren.<br />
Der Oktaederstumpf<br />
Wie im Falle des 8WhD können wir auch 8 Würfelhälften zusammenbauen,<br />
wenn die Schnittfläche ein reguläres Sechseck ist. Zunächst wird man Wissen<br />
über das ebene reguläre Sechseck und das Sechseckgitter des Ebene reaktivieren,<br />
um dann zu begründen, dass wirklich ein reguläres Sechseck als Schnittfläche<br />
vorliegt und dass von diesem Sechseck nur 3 Drehungen (120°, 240°, id)<br />
auch Drehungen des ganzen Körpers aus 8 Würfelhälften sind (Scheinsymmetrie).<br />
Abb. 30: Körper aus 8 Würfelhälften – Oktaederstumpf, zwei Genesen
Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
in den Symmetrien von Körpern<br />
Die Oberfläche des Körpers besteht aus sechs Quadraten und acht regulären<br />
Sechsecken, je kongruent zueinander und paarweise orthogonal gegenüber liegend.<br />
Damit gibt es drei 4-zählige und vier3-zählige Drehachsen als Flächenmittenachsen.<br />
Achsen durch Ecken kann es nicht geben (warum nicht?). Untersuchen<br />
wir noch die Kanten! In jeder Ecke stoßen drei Flächen (ein Quadrat und<br />
zwei Sechsecke, man schreibt kurz 4, 6, 6) sowie drei Kanten zusammen. Es<br />
gibt damit (8 x 6 + 4 x 6) / 3 = 24 Ecken und (8 x 6 + 6 x 4) / 2 = 36 Kanten,<br />
und wieder bestätigt sich der Euler’sche Polyedersatz. Aber alle Seitenlinien der<br />
Quadrate sind untauglich, um Kantenmittenachsen zu liefern. Damit fallen 24<br />
Kanten weg, die restlich 12 Kanten zwischen den Sechsecken liefern sechs<br />
zweizählige Kantenmittenachsen, so dass sich insgesamt 3 x 3 + 4 x 2 + 6 +1 =<br />
24 Drehungen des Oktaederstumpfes ergeben. Damit gilt für die Drehsymmetrie<br />
des Oktaederstumpfes (Abb. 30b): Die Drehgruppe des Oktaederstumpfes hat<br />
die Ordnung 24 und ist isomorph (abstrakt gesehen gleich) der Drehgruppe des<br />
Würfels.<br />
Der Name „Oktaederstumpf“ wird klar, wenn man Abb. 30 b anschaut. Einem<br />
gegebenen Oktaeder werden die sechs „Ecken weggeschnitten“, d.h. das Oktaeder<br />
verliert sechs quadratische Pyramiden, deren Grundflächenseiten ein Drittel<br />
so lang sind wie die Oktaederkanten. Der Oktaederstumpf ist damit leicht zu<br />
zeichnen, wenn das Oktaeder im Schrägriss gegeben ist: Drittele die Kanten des<br />
Oktaeders, der Rest ergibt sich fast von selbst.<br />
Der Oktaederstumpf ist ein archimedischer Körper, d.h. seine Oberfläche besteht<br />
aus regulären Polygonen und alle Ecken sind paarweise äquivalent zueinander.<br />
Es gibt außer den Prismen und Antiprismen 13 verschiedene archimedische<br />
Körper, die bereits fast alle dem größten <strong>Mathematik</strong>er des Antike, Archimedes<br />
(um 287 bis 212 v. Chr.) bekannt waren.<br />
Natürlich ist der Oktaederstumpf wieder ein Raumfüller, da er aus Würfelhälften<br />
besteht. Wie sieht die räumliche Pflasterung aus? (siehe z.B. Steinhaus S.<br />
193 oder im Internet). Der Oktaederstumpf ist sogar in zweifacher Hinsicht ein<br />
besonderer Raumfüller: Erstens ist er von allen Raumfüllern der sparsamste<br />
hinsichtlich der Oberfläche pro 1 Volumeneinheit, an zweiter Stelle steht das<br />
KDR (Bienenwabenmuster) und erst an 6. Stelle kommt der Würfel (schriftliche<br />
Mitteilung von Prof. K.P. Müller, Karlsruhe). Diese Eigenschaft wird klar,<br />
wenn man sieht, dass der Oktaederstumpf stark kugelförmig ist, und die Kugel<br />
ist ja von allen volumengleichen Körpern von minimaler Oberfläche. Zweitens<br />
ist der Oktaeder der einzige Raumfüller, bei dem in jeder Ecke nur 4 Oktaederstümpfe<br />
zusammenstoßen. Damit handelt es sich um die „einfachste“ Parkettierung<br />
(Steinhaus, S. 191).<br />
74
75<br />
Heinrich Winter<br />
Der Oktaederstumpf ist eine ideale Urfigur von Kristallen, die zum kubischen<br />
Kristallsystem mit höchster Symmetrie gehören. Als Beispiel eines Minerals sei<br />
Bleiglanz (Algenit) erwähnt, das als Bleierz hoch geschätzt wurde und wird,<br />
weil Blei heute und auch in der Zukunft insbesondere in der Akkumulatorenindustrie<br />
(damit auch noch in der Autoindustrie) gebraucht wird.<br />
Bleiglanz ist auch in kristallographiehistorischer Hinsicht bemerkenswert.<br />
Schon der Freiburger Mineralogieprofessor Abraham Werner (1750-1817), der<br />
auch den hübschen Namen Bleiglanz einführte, zeigte, dass man Ordnung in die<br />
fast chaotische Welt der Mineralien bringen kann, wenn man von den einfachsten<br />
Körpern ausgeht und diese auf kontrollierte Weise abändert (Stewart/Golubitsky,<br />
S. 96ff). Er fand, dass Bleiglanz in platonischen bzw. archimedischen<br />
Körpern auftritt: Würfel (4, 4, 4), Würfelstumpf (3, 8, 8), Kuboktaeder<br />
(3, 4, 3, 4), Oktaederstumpf (4, 6, 6) und Oktaeder (3, 3, 3, 3). In dieser Reihenfolge<br />
kann man eine Metamorphose sehen vom Würfel zum Oktaeder, generiert<br />
durch wachsende „Abfälle“. Gemeinsam ist allen fünf Körpern, eine Symmetriegruppe<br />
zu besitzen, die isomorph zur Würfelgruppe ist.<br />
Wer kann, stelle ein Video zur oben genannten Metamorphose her. Jeder kann<br />
eine Durchdringungsfigur von Würfel und Oktaeder zeichnen und alle fünf oben<br />
genannten Körper in ihrem Zusammenhang sehen.<br />
Literatur<br />
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Würfel & Co – Kunst und Natur<br />
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Wittmann, E.-CHR. (1987). Elementargeometrie und Wirklichkeit, Braunschweig: Vieweg<br />
Abbildungsnachweis<br />
Abb. 7: Kaderavek, 1992, 53<br />
Abb. 8: Brockhaus, 1955, Band 7, Tafel Mensch IV<br />
Abb. 9: Herzog, 1990, 55<br />
Abb. 10: http://redmedia033.so-buy.com/ezfiles/redmedia033/img/img/67007/Notre.jpg<br />
Abb. 11:<br />
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/76/Schloss_Charlottenburg.jpg<br />
Abb. 12:<br />
http://www.adventurecamps.co.tz/photogalleries/ruaha/ruaha%20Other%20Animals<br />
Abb. 14: Brunner, 1999, 48 bzw. 46<br />
Abb. 15: Rein, 1993, 36<br />
76
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Zusammenfassung. Im Mittelpunkt dieses Artikels stehen Vernetzungen von geometrischen<br />
mit anderen Inhaltsbereichen im <strong>Mathematik</strong>unterricht, wobei der Schwerpunkt<br />
auf der Konstruktion einer schülerzentrierten Unterrichtsmethode zur Vernetzung von<br />
mathematischem Wissen in der SEK I liegt. Dafür wird zunächst auf Vernetzungen in der<br />
<strong>Mathematik</strong> und im <strong>Mathematik</strong>unterricht eingegangen. Daraufhin wird die „Kapitelübergreifende<br />
Rückschau“ als Möglichkeit zur Förderung von Vernetzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
vorgestellt. Dabei soll das Augenmerk auf der Verzahnung von mathematischen<br />
Inhalten mit geeigneten Sozialformen liegen. Ergänzt wird der Beitrag durch die<br />
Darstellung von zwei schulischen Erprobungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht mit Schülern,<br />
die diagnostizierte Lernschwierigkeiten aufweisen.<br />
Vernetzen in der Fachwissenschaft<br />
Im Logo der Internationalen Mathematischen<br />
Vereinigung stehen Borromäische<br />
Ringe für den Vernetzungsreichtum der<br />
<strong>Mathematik</strong>. Dabei stehen sie dem Entwickler<br />
des Logos John Sullivan zufolge<br />
zunächst für die Vernetzungen zwischen<br />
verschiedenen mathematischen Bereichen,<br />
dann für die Vernetzungen innerhalb der<br />
wissenschaftlichen Gemeinschaft der <strong>Mathematik</strong>er<br />
6 . Damit erhalten fachwissenschaftliche<br />
Vernetzungen in der <strong>Mathematik</strong><br />
zusätzlich zu der epistemischen eine<br />
weitere, soziale, Dimension. Borromäische<br />
Ringe sind als ein geometrischer (topologi-<br />
Abb. 1: „IMU-Logo“<br />
scher) Link in der Ebene unmöglich und<br />
nur unter Zuhilfenahme von einer weiteren Dimension adäquat darstellbar (Informationsdienst<br />
Wissenschaft).<br />
6 Mit der männlichen Form sind im Text durchgängig Vertreter von beiden<br />
Geschlechtern gemeint.<br />
Nordheimer, S. (2010).Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz. In: Ludwig,<br />
M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>,<br />
Hildesheim: Franzbecker, S.77-96
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
Eine Wissenschaftsdisziplin wird in der aktuellen Diskussion innerhalb der<br />
Wissenschaftsforschung nicht nur epistemisch, sondern auch soziologisch verstanden<br />
(siehe Stichweh 1981). In diesem Sinne betrifft dann <strong>Mathematik</strong> diejenige<br />
kommunikative Gemeinschaft von Personen, die als <strong>Mathematik</strong>er gelten,<br />
weil sie gewisse gemeinsame Annahmen über die Möglichkeiten, Probleme,<br />
Themen, Methoden, Praktiken, Daten und Gütekriterien der „wissenschaftlichen“<br />
Arbeit teilen und sich darin von anderen wissenschaftlichen Gemeinschaften<br />
abgrenzen können.<br />
Laut der Soziologin Bettina Heintz (2000) kommt dem Beweis eine besondere<br />
Funktion beim Vernetzen der <strong>Mathematik</strong> zu. Durch Beweisen als die ihr eigene<br />
Erkenntnis- und Arbeitsmethode grenzt sich <strong>Mathematik</strong> von anderen wissenschaftlichen<br />
Disziplinen ab. Damit verknüpfen Beweise nicht nur mathematische<br />
Objekte wie Sätze und Begriffe, sondern auch Wissenschaftler miteinander.<br />
Denn in den Beweisen haben <strong>Mathematik</strong>er ein ihrer Fachdisziplin eigenes<br />
Kommunikationsmittel. Somit verknüpfen Beweise die <strong>Mathematik</strong> nicht nur<br />
auf der epistemischen, sondern auch auf der sozialen Ebene. Sie sind damit für<br />
<strong>Mathematik</strong> kennzeichnend und können zum Ausgangspunkt der Diskussion<br />
über Basiskompetenzen gewählt werden.<br />
Betrachtet man den schulischen Kanon für <strong>Mathematik</strong>, so lässt sich feststellen,<br />
dass die meisten Beweise in der Sekundarstufe I bei geometrischen Themenbereichen<br />
angesiedelt sind. Der <strong>Geometrie</strong> als Beispiel für eine deduktive Theorie<br />
(Holland 1988) kommt somit eine besondere Aufgabe zu. Aufgrund geometrischer<br />
Beweise und der Multi-Perspektivität der <strong>Geometrie</strong> (Neubrandt 2010)<br />
kann sie als ein Mittel der Vernetzung von verschiedenen Bereichen der Schulmathematik<br />
betrachtet werden. Diese Besonderheiten der Schulgeometrie gewinnen<br />
auf dem Hintergrund der durch Winter (2001) formulierten allgemeinbildenden<br />
Grunderfahrungen an Bedeutung. Die Schüler sollen nach Winter<br />
<strong>Mathematik</strong> im Unterricht als ein an „inneren (deduktiven) Vernetzungen reiches<br />
Universum“ erfahren. Der <strong>Geometrie</strong> als erster deduktiver Wissenschaft<br />
räumt er dabei die Leitfunktion ein (Winter 1995). Nicht umsonst wählen auch<br />
Wagenschein (1997) und Wittenberg (1994) gerade geometrische Beispiele, um<br />
die Themenkreismethode, die der Zusammenhanglosigkeit des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
entgegenwirken soll, zu beschreiben. Die besondere Rolle der Beweise<br />
im <strong>Geometrie</strong>unterricht wird bei der Entwicklung und Vorstellung des zweiten<br />
Unterrichtsvorschlags noch einmal erwähnt.<br />
Standards<br />
Die Hervorhebung von Vernetzungen in der <strong>Mathematik</strong> als Fachwissenschaft<br />
geht weltweit parallel mit den Entwicklungen in der Didaktik der <strong>Mathematik</strong>.<br />
78
79<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Als eine von zehn Basiskompetenzen führen beispielsweise die „NCTM Principles<br />
and Standards for School Mathematics 2000 Vernetzungen (‘connections’)<br />
auf” (Brinkmann 2002, S. 19). Auch in dem südafrikanischen Curriculum<br />
werden innermathematische Vernetzungen betont (Mwkapenda 2008). In verschiedenen<br />
Rahmenlehrplänen deutscher Bundesländer findet man explizite<br />
Vernetzungen als Leitideen (Baden Württemberg, Gymnasium) bzw. Links<br />
zwischen den Leitideen (Berlin, Rheinland-Pfalz). Im Baden-<br />
Württembergischen Bildungsplan für die Hauptschule beispielsweise findet man<br />
eine Forderung, die implizit auch für diese Schule bestimmte Vernetzungsstandards<br />
formuliert: „Unter der Leitidee ‘Raum und Form’ werden geometrische<br />
Inhalte thematisiert, deren Verbindungen zu arithmetischen und algebraischen<br />
Gesetzmäßigkeiten aufgezeigt.” In den Tests aus den Vergleichsuntersuchungen<br />
wie TIMSS und PISA, sowie Vergleichsarbeiten wie beispielsweise VERA und<br />
zentralen Abschlussprüfungen wie Mittlerer Schulabschluss in Berlin werden<br />
auch den leistungsschwächeren Schülern innerhalb einer kurzen Zeitspanne<br />
Aufgaben, die sich auf viele verschiedene inhaltliche Kapitel beziehen, zugetraut.<br />
Manchmal ist zum Lösen einer Aufgabe eine Synthese von Inhalten aus<br />
verschiedenen Schulbuchkapiteln erforderlich (vgl. Vollrath 2001). Um die<br />
erwähnten Vernetzungsstandards anzustreben ist es sinnvoll, den Vernetzungsbegriff<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht zu präzisieren und theoretisch einzuordnen.<br />
Vernetzungsdefinition<br />
Einen theoretischen Ausgangspunkt für den auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht bezogenen<br />
Vernetzungsbegriff liefert Brinkmann (2002). Demzufolge wird Vernetzung<br />
als Prozess und Ergebnis des In-Beziehung-Setzens mathematischer<br />
Inhalte und Anwendungen auf der Ebene des Unterrichtsstoffes sowie auf der<br />
kognitiven Ebene des Schülers verstanden. Modelliert werden die Vernetzungen<br />
mit Hilfe von Graphen, wobei vor allem mathematische und nichtmathematische<br />
Inhalte und Objekte zu den zu vernetzenden Knoten werden.<br />
Die Kanten zeigen existierende Beziehungen auf. Solche Beziehungen lassen<br />
sich als Vernetzungen definieren. Die groben Kategorien beim Vernetzen mathematischer<br />
Unterrichtsinhalte sind zunächst außer- und innermathematische<br />
Vernetzungen.<br />
Im Zusammenhang mit der hier vorgestellten Unterrichtsmethode sind vor allem<br />
die innermathematischen anwendungsbezogenen Vernetzungen interessant. Die<br />
Anwendung mathematischer Inhalte zur Lösung von Aufgaben führt zur Vernetzung<br />
von Aufgaben mit Modellen. Die dazu gehörige Relation lautet „ist eine<br />
Modellierung von“. So können algebraische Aufgaben durch Übersetzung in<br />
geometrische Modelle gelöst werden und umgekehrt. Als Beispiel für Modell-
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
vernetzungen führt Brinkmann u.a. Geometrisierung auf (vgl. Brinkmann<br />
2002).<br />
Um einerseits mehr Kohärenz mit dem Verständnis von Vernetzungen in der<br />
Fachwissenschaft herzustellen und andererseits den Vernetzungsbegriff für die<br />
Praxis des <strong>Mathematik</strong>unterrichts fassbarer zu machen, werden hier einige Modifikationen<br />
des Brinkmannschen Begriffs vorgenommen. Vernetzungen, die<br />
Brinkmann beschreibt, finden vor allem auf der Ebene des mathematischen<br />
Wissens statt. Die soziale Ebene des <strong>Mathematik</strong>lernens und somit Vernetzungen<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht wird nicht explizit angesprochen.<br />
Soziokulturelle Lerntheorien postulieren (Wenger 1991 zitiert in Rehrl, Gruber<br />
2007), dass Wissen nicht losgelöst von sozialen Austauschprozessen thematisiert<br />
werden kann. Als Konsequenz werden auch in der Pädagogik Modelle des<br />
Lernens und Wissensaustausches vorgeschlagen, die mit Hilfe von Graphentheorien<br />
modelliert und untersucht werden. Es werden aber auch Unterrichtmethoden<br />
vorgeschlagen, die für den Wissensaustausch förderlich sind. Eine solche<br />
Methode ist beispielsweise das Expertenpuzzle, das die im Folgenden durch die<br />
Verknüpfung mit den konkreten Unterrichtsinhalten des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
zur Kapitelübergreifenden Rückschau entwickelt wird.<br />
Somit geht es in diesem Artikel vor allem um die Verzahnung der epistemischen<br />
und sozialen Ebene der Vernetzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Auf der epistemischen<br />
Ebene werden Inhalte von verschiedenen Kapiteln als Knoten modelliert.<br />
Auf der sozialen Ebene erscheinen einzelne Schüler als Knoten. Beim Lösen<br />
und Formulieren von mathematischen Aufgaben in Gruppen sollten sowohl<br />
Inhalte wie auch Schüler miteinander in Beziehung gesetzt werden. Als Kanten<br />
auf der sozialen Ebene treten dabei etwa „eine Aufgabe gemeinsam gelöst“<br />
bzw. „eine Aufgabe gemeinsam formuliert“ auf. Dadurch wird das Ergebnis des<br />
In-Beziehung-Setzens als eine formulierte bzw. gelöste Aufgabe (und somit zu<br />
den Themen zugeordnete) konkretisiert. Andererseits drückt das Formulieren<br />
und das Lösen der Aufgabe den Prozesscharakter der Vernetzung der Schulmathematik<br />
aus. Es besteht Grund zur Annahme, dass diese Veranschaulichung<br />
sowohl die Kommunikation unter den Schülern deutlich erleichtert, als auch die<br />
Chancen für die Implementierung der Begrifflichkeiten für die Unterrichtspraxis<br />
erhöht.<br />
Die Kohärenz zur <strong>Mathematik</strong> als Wissenschaftsdisziplin entsteht bei dieser<br />
Begriffsbestimmung dadurch, dass <strong>Mathematik</strong>er durch Kante „gemeinsame<br />
Veröffentlichung“ auf der sozialen Ebene vernetzt werden, aber auch verschiedene<br />
Bereiche der <strong>Mathematik</strong> miteinander vernetzen.<br />
Um Unterrichtssituationen zu gestalten, die soziale Ebene der Vernetzung fördern,<br />
ist es sinnvoll nach Unterrichtsmethoden zu forschen, die verschiedenen<br />
Formen des kooperativen Lernens mit den konkreten mathematischen und ins-<br />
80
81<br />
Swetlana Nordheimer<br />
besondere geometrischen Inhalten verknüpfen. Eine solche Methode könnte die<br />
Kapitelübergreifende Rückschau sein.<br />
Kapitelübergreifende Rückschau<br />
Eine Kapitelübergreifende Rückschau stellt einerseits eine Möglichkeit dar, den<br />
Vernetzungsstand der Schüler zu diagnostizieren und andererseits Vernetzungen<br />
zu fördern. Dabei wird die Segmentierung des Unterrichtsstoffes und des mathematischen<br />
Wissens eines einzelnen Schülers in Stoffgebiete auf der epistemischen<br />
Ebene, als Segmentierung der Klasse in der ersten Phase des Expertenpuzzles<br />
des Expertentrainings fortgesetzt. Die ganze Lerngruppe wird in drei bis<br />
sechs Gruppen eingeteilt. Jede kleine Gruppe bekommt die Aufgabe, sich<br />
schwerpunktmäßig mit den Inhalten aus einem Kapitel zu beschäftigen. Daraufhin<br />
können die Schüler Unterschiede und Gemeinsamkeiten unter den Kapiteln<br />
des Schulbuchs sowie verbindende Leitideen und Leitbegriffe bzw. Themenstränge<br />
mit Hilfe einer inhaltsbezogenen Kompetenztabelle entdecken<br />
(Vollrath 2001). Diese entsteht durch die Abwandlung des Inhaltsverzeichnisses<br />
des Schulbuches bzw. Heftes, indem die Überschriften aus dem Lehrbuch und<br />
die Aufgabenbezeichnungen in eine Tabelle eingetragen werden. Somit kann<br />
durch Ankreuzen der entsprechenden Inhalte angegeben werden, welche inhaltsbezogene<br />
Kompetenzen sich mit der Aufgabe ansprechen lassen (siehe<br />
Abb. 4).<br />
Im Anschluss daran bekommen die Schüler eine Möglichkeit in den neuen<br />
Kleingruppen zusammenzuarbeiten und selbständig Themenkreise und Themenkomplexe<br />
(Vollrath 2001) zu entdecken und diese als kapitelübergreifende<br />
Aufgaben zu formulieren. Anknüpfend an die Konstruktion werden im Folgenden<br />
die einzelnen Phasen der Methode vorgestellt.<br />
Vorbereitung: Zum Anfang lösen Schüler im Klassenverband eine Einstiegsaufgabe.<br />
Diese deutet den gemeinsamen Kontext der ganzen Einheit an. Den Schülern<br />
werden entsprechend der Anzahl der Schulbuchkapitel des Schuljahres<br />
Initialaufgaben vorgestellt.<br />
Expertentraining: Jeder Schüler entscheidet sich für eine der Initialaufgaben.<br />
Alle Schüler mit der gleichen Aufgabe setzen sich in einer Gruppe zusammen,<br />
um diese gemeinsam zu lösen und die Präsentation der Aufgabe vorzubereiten.<br />
Daraufhin füllt jede Gruppe die an das Inhaltsverzeichnis des Schulbuches angelehnte<br />
Kompetenztabelle aus.<br />
Expertenrunde: Die Gruppen werden neu zusammengestellt. Jetzt treffen sich in<br />
einer Gruppe Experten von verschiedenen Initialaufgaben bzw. Schulbuchkapiteln.<br />
Ziel der Phase ist es, in der neuen Gruppe durch Variation von gelösten
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
Initialaufgaben mindestens eine kapitelübergreifende Aufgabe zu entwickeln,<br />
die Lösung aufzuschreiben und inhaltliche Bezüge der Aufgabe zu bestimmen.<br />
Plenum: Anschließend werden die selbst erstellten Aufgaben im Plenum der<br />
ganzen Klasse vorgestellt und gewürdigt.<br />
Erprobung Gesamtschule 2008<br />
Im <strong>Mathematik</strong>unterricht der Erprobungsklasse wurden im Schuljahr 2007/08<br />
GA- und FE-Kurse 7 sowie Schüler mit pädagogischem Förderbedarf gemeinsam<br />
unterrichtet. Als besondere Integrationsmaßnahme wurden nicht nur Integrationsschüler<br />
sondern alle GA - Schüler im <strong>Mathematik</strong>unterricht von der Integrationspädagogin<br />
unterstützt. Zwei Schüler der Klasse hatten den Förderschwerpunkt<br />
Lernen und zwei Schüler den Förderschwerpunkt Verhalten. U. a. ergaben<br />
sich daraus für die ganze Lerngruppe Konzentrations- und Motivationsschwierigkeiten.<br />
Etliche Schüler und eine Schülerin besuchten die Schule nur selten.<br />
Eine Schülerin war etwa nur einmal pro Monat im Unterricht anwesend. Aus<br />
dieser Perspektive erfährt das Problem der Vernetzung eine zusätzliche Färbung,<br />
denn einige Schüler begegneten den zu vernetzenden Themen bei der<br />
Erprobung der Methode zum ersten Mal.<br />
Abb.2: Lösungsfigur Abb. 3: Tangram-Tisch<br />
7 FEGA ist das Kürzel zur Bezeichnung der Leistungsdifferenzierung in den<br />
einzelnen Fächern. Es gibt einen leistungsschwächeren GA-Kurs und einen leistungsstärkeren<br />
FE-Kurs. Je nach Zeugnisnoten werden die Schüler Berliner Gesamtschulen dem<br />
einen oder anderen Kurs zugeordnet.<br />
82
83<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Ausgehend von den Lernvoraussetzungen war es nicht möglich, den Unterricht<br />
nach dem Lehrbuch zu gestalten. Der Stoff wurde thematisch strukturiert und in<br />
Kapitel gegliedert. So wurden die Überschriften an der Tafel angeschrieben und<br />
sorgfältig durchnummeriert, damit die Schüler diese in ihren Heften notieren<br />
konnten. Nur eine Schülerin hatte jedoch ein Heft mit dem Inhaltsverzeichnis,<br />
in dem sie alle Arbeitsblätter und Hausaufgaben aufbewahrt hatte.<br />
In Anlehnung an das Heft dieser Schülerin ist die Kompetenztabelle für die<br />
Erprobung der Methode in dieser Klasse entstanden. Auf Wunsch der Lehrerin<br />
sollten in der Tabelle jedoch nicht nur Kreuze, sondern Formeln und Schlüsselbegriffe<br />
für die entsprechenden Themen eingetragen werden und (siehe Abb. 4).<br />
Als Einstiegsaufgabe in der Vorbereitungsphase wurden die Schüler im<br />
Klassenverband aufgefordert, mit Hilfe von sieben Tangram-Steinen ein Quadrat<br />
zu legen. Die Lösungsfigur ist in Abbildung 2 dargestellt.<br />
Der ursprünglich für ein Gymnasium entwickelte Satz von Initialaufgaben wurde<br />
an die Lernausgangslage der Klasse angepasst und entstand durch die Absprache<br />
mit der <strong>Mathematik</strong>lehrerin.<br />
Aufgabe 1: Um einen Tangram-Tisch aus Holz zu bauen, wird die gesamte<br />
Tangram-Figur vergrößert. Dabei wird die längste Seite des großen Dreiecks um<br />
x cm größer. Das Spiel und der Tisch werden zu einem Quadrat zusammengesetzt.<br />
a) Beschreibe die Differenz zwischen dem Umfang des Spiels und dem des<br />
Tisches als Term.<br />
b) Beschreibe die Differenz zwischen dem Flächeninhalt des Spiels und dem<br />
des Tisches als Term.<br />
Aufgabe 2: Um einen Tangram-Tisch aus Holz zu bauen, wird die gesamte<br />
Tangram-Figur vergrößert. Wie ändert sich der Flächeninhalt der gesamten<br />
Lösungsfigur, wenn man die längste Seite des großen dreieckigen Steins um 0,5<br />
m, 1 m, 1,5 m, 2 m, 2,5 m und 3 m vergrößert? Wie ändert sich dabei der Umfang<br />
der gesamten quadratischen Lösungsfigur?<br />
Aufgabe 3: Auf dem Markt ist ein neues Magnet-Dartspiel, das genau wie ein<br />
quadratisches Tangram-Puzzle aussieht. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit ein<br />
Parallelogramm bzw. ein Dreieck zu treffen?<br />
Expertentraining: Jede der drei den entsprechenden Aufgaben zugeordneten<br />
Gruppen bestand aus maximal fünf Schülern. Bei der Einteilung ließ sich feststellen,<br />
dass diese nicht nach den Präferenzen für die Aufgaben, sondern durch<br />
Sympathien und Antipathien innerhalb der Gruppe bestimmt wurden. Vielleicht
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
erklärt sich dadurch, dass die Phase des Expertentrainings als Chance zum persönlichen<br />
Austausch und nicht zum Lösen von Aufgaben genutzt wurde. Die<br />
meisten Schüler fanden die Texte zu lang und waren nicht bereit, diese zu lesen.<br />
Erst auf dem Weg zur Tafel bzw. an der Tafel haben sie Lösungsansätze produziert,<br />
die gelegentlich sogar richtig waren.<br />
Die Phase endete mit einem Unterrichtsgespräch zum Ausfüllen der Tabelle.<br />
Gerade an dieser Stelle ließ sich an der Aufmerksamkeit, dem Meldeverhalten<br />
und der Qualität der Beiträge feststellen, dass diese Phase bei den Schülern sehr<br />
gut ankam. Besonders interessant war, dass auch Schüler mit dem Förderschwerpunkt<br />
Lernen die Aufgaben den Überschriften zuordnen konnten und ein<br />
relativ gutes Überblickswissen zeigten. Die Schüler waren in der Lage die Aufgaben<br />
mit den in den Überschriften vorkommenden Begriffen zu vernetzen.<br />
Somit wurden die innermathematischen Vernetzungen zwischen verschiedenen<br />
Themenbereichen im Unterricht rückblickend explizit angesprochen und verdeutlicht.<br />
Didaktische Prinzipien, mit denen man lange Zeit den Schwierigkeiten der lernschwächeren<br />
Schüler im <strong>Mathematik</strong>unterricht zu begegnen versuchte, waren<br />
das Vorgehen in kleinsten Schritten und ständiges mechanisierendes Wiederholen.<br />
Dies führt nach Zech (1995, 19f) zur systematischen Überforderung hinsichtlich<br />
der begrifflichen Verarbeitung und der Speicherung im Gedächtnis.<br />
Durch die ausführliche Auswertung der Tabelle anhand der Beispiele wurden<br />
die Schüler innerhalb einer Stunde mit verschiedenen Inhalten konfrontiert. Sie<br />
bekommen eine Möglichkeit rückblickend Zusammenhänge zwischen verschiedenen<br />
Inhalten zu erkennen. Somit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass<br />
auch schwächere Schüler Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Themen<br />
erkennen.<br />
Ein Aha-Erlebnis war für einige Schüler beispielsweise die Erkenntnis, dass<br />
Terme und <strong>Geometrie</strong> durch die Formeln zur Berechnung von Volumen und<br />
Flächeninhalt zusammenhängen. Diese Tatsache ist für einen <strong>Mathematik</strong>lehrer<br />
selbstverständlich, es stellt aber für die Schüler in dem Moment eine überraschende<br />
Erkenntnis dar, dass man die in der Vergangenheit behandelten mathematische<br />
Themen in der Tat in dem zukünftigen Unterricht gebrauchen kann.<br />
Expertenrunde: Aufgrund der in der Phase des Expertentrainings aufgetretenen<br />
Schwierigkeiten mit der auf <strong>Mathematik</strong> bezogenen Kommunikation und der<br />
Tatsache, dass viele Schüler häufig nicht im Unterricht anwesend waren, wurde<br />
die Aufgabenstellung in der Expertenrunde an die Ausgangsbedingungen angepasst.<br />
Die Schüler waren aufgefordert allein oder in der Gruppe eine Aufgabe zu<br />
einem Tangram-Stein und dem Thema Körperberechnung zu entwickeln. Denn<br />
nach dem Berliner Rahmenlehrplan vernetzt der mathematische Pflichtbereich<br />
für die Klassenstufen 7/8 algebraische und geometrische Inhalte miteinander.<br />
84
85<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Erschwert waren die Rahmenbedingungen dadurch, dass zur Zeit der Expertenrunde<br />
ein entscheidendes Spiel der Europameisterschaft in Fußball stattfand.<br />
Die Schüler waren von dem Ausgang des Spiels sehr bewegt und hatten ein<br />
starkes Bedürfnis, sich darüber im Unterricht auszutauschen. Trotzdem ist eine<br />
auf mathematische Inhalte bezogene Kommunikation in der Expertenrunde<br />
zustande gekommen.<br />
So lässt sich an den folgenden handschriftlichen Aufzeichnungen erkennen, dass<br />
die Schüler in der Tat zusammen gearbeitet haben.
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
Abb. 4: Kompetenztabelle<br />
86
Abb. 5: Schüleraufgabe<br />
87<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Die Aufgabenstellung der Aufgabe von Enrico und Steglitz (Abb. 5) besteht<br />
darin ein Netz und den Oberflächeninhalt eines dreieckigen Steins mit gegebenen<br />
Maßen zu berechnen. Mit dem „Dreieck“ meinen die Schüler hier ein Prisma<br />
mit dreieckiger Grundfläche.<br />
Andererseits sieht man, dass die Verwendung der Bezeichnungen „Dreieck“,<br />
„Quadrat“ und „Parallelogramm“ für Tangram-Steine, die für diese Aufgabe als<br />
geometrische Körper identifiziert werden müssen, die Schüler irritieren kann.<br />
Weitere Aufgaben, die von den Schülern entwickelt worden sind:<br />
Baran: Wie groß ist die Oberfläche des kleinen quadratischen Steins?<br />
Alperen und Burak: Berechne das Volumen des großen dreieckigen Steins!<br />
Enrico, Khodar, Stegliz und Elvis: Berechne die Oberfläche des großen dreieckigen<br />
Steins! Zeichne das Netz dazu.<br />
Gülay: Zeichne das Schrägbild des dreieckigen Prismas.<br />
Mohammad, Amani, Tobias, Falk: Berechne das Volumen des Prismas mit der<br />
Grundfläche, die die Form eines Parallelogramms hat.<br />
Die Schüler variieren in der Wahl der geometrischen Körper, der gesuchten<br />
Größe und der Fragestellung.
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
Plenum: Die von den Schülern entwickelten Aufgaben wurden von den jeweiligen<br />
Gruppen bzw. einzelnen Schülern richtig gelöst. In der letzten Doppelstunde<br />
bekam jeder Schüler die Möglichkeit, die eigenen Aufgaben und ihre Lösungen<br />
an der Tafel zu präsentieren. Obwohl zum Ende des Schuljahres die Noten<br />
nicht mehr geändert werden konnten, war jeder anwesende Schüler bestrebt die<br />
eigene Aufgabe samt der Lösung an der Tafel zu präsentieren, was unter den<br />
beschriebenen Bedingungen und Motivationsschwierigkeiten als Erfolg zu werten<br />
ist, denn auf diese Weise konnte den Verhaltens- und Motivationsschwierigkeiten<br />
der Schüler entgegengewirkt werden.<br />
Abb. 6: Unsere Aufgabe<br />
Abbildung 7: Meine Aufgabe<br />
88
89<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Die Fotos zeigen einige Schüler bei der Präsentation von Lösungen der selbst<br />
entwickelten Aufgaben. Gemeinsame Arbeit und Präsentation vernetzten nicht<br />
nur Terme und geometrische Skizzen, sondern auch Schüler miteinander.<br />
Es zeigte sich, dass die ursprünglich für das Gymnasium entwickelte Methode<br />
mit Modifikationen an der integrierten Gesamtschule umgesetzt werden konnte.<br />
Es wäre zu überlegen, wie die Schüler schon in der Phase des Expertentrainings<br />
motiviert werden können, über Initialaufgaben zu kommunizieren. Eine Alternative<br />
könnte in dem Anbieten der enaktiven Ebene zur Lösung der Initialaufgaben<br />
bestehen.<br />
Erprobung Gesamtschule 2009<br />
In dem darauf folgenden Jahr wurden die GA- und FE-Kurse getrennt, so dass<br />
leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler nicht mehr gemeinsam unterrichtet<br />
wurden. Darüber hinaus haben einige Schüler die Schule verlassen. Der<br />
GA-Kurs, in dem die Kapitelübergreifende Rückschau noch einmal erprobt<br />
wurde, bestand aus sieben Schülern, darunter zwei Schüler mit dem Förderschwerpunkt<br />
Lernen und ein Schüler, der letztes Jahr aus dem Integrationsstatus<br />
mit dem Schwerpunkt Verhalten entlassen wurde. Aufgrund des Betriebspraktikums<br />
standen für die Erprobung nur drei Unterrichtstunden zur Verfügung.<br />
Auch in diesem Jahr wurde der ursprünglich für die Gymnasien entwickelte<br />
Satz der Initialaufgaben an die Lerngruppe angepasst, indem die Anzahl<br />
der Aufgaben von sechs auf drei reduziert wurde. Die Formulierungen der Aufgaben<br />
wurden gekürzt und die Anzahl der Stufen in dem Pythagoras-Baum<br />
reduziert. Im Hinblick auf die oben erwähnte Bedeutung des Beweises wurde<br />
auch im GA-Kurs die Beweisfigur für den symmetrischen Spezialfall des Satzes<br />
des Pythagoras als verbindendes Medium gewählt.<br />
Vorbereitung: In der Einstiegsaufgabe wurden die Schüler zunächst aufgefordert<br />
die Beweisfigur zu zeichnen und eigene Gedanken dazu aufzuschreiben<br />
(siehe Ruf, Gallin 1999, Plackner 2010). Somit wurden Elemente des Beweisens<br />
an den Anfang der wiederholenden Vernetzung gesetzt. In der 20-minütigen<br />
Einzelarbeit und dem anschließendem auswertenden Unterrichtsgespräch ist es<br />
den Schülern gelungen mit Hilfestellungen der Lehrerin und der Integrationspädagogin<br />
die Figur zu zeichnen und sich an folgende Fakten zu erinnern:
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
• Die Innenwinkelsumme im Dreieck ist gleich 180°.<br />
• Basiswinkel in einem gleichschenkligen Dreieck sind gleich.<br />
• Satz des Pythagoras (wobei die Bezeichnungen der Seiten variabel sind)<br />
• Die Winkel in dem konkreten Fall betragen 90° und 45°.<br />
• In der Figur lassen sich zwei Trapeze erkennen.<br />
• Trapez ist ein Viereck mit mindestens zwei parallelen Seiten.<br />
• Es gilt der Höhensatz (Die Schüler wussten nicht mehr wie er zu formulieren<br />
ist.)<br />
• Man kann den Umfang und den Flächeninhalt der Figur berechnen.<br />
Dadurch wurden ausgehend von dem Satz des Pythagoras verschiedene Inhalte<br />
der <strong>Geometrie</strong> miteinander vernetzt und mit Hilfe der Lehrerin wiederholt.<br />
Expertentraining: Die nächste Stunde wurde zum Lösen der Initialaufgaben<br />
verwendet, wobei die ganze Lerngruppe in drei Gruppen eingeteilt war. Ein<br />
Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen konnte sich in keine der Gruppen<br />
einordnen. Nach seinem Wunsch hat er in dieser Zeit individuelle Förderung<br />
von der Integrationspädagogin bekommen. Die Einteilung der Gruppen und<br />
Zuordnung der Aufgaben erfolgte durch die <strong>Mathematik</strong>lehrerin. Die Gruppen,<br />
denen die Aufgaben 2 und 3 zugeordnet waren, konnten die Aufgaben während<br />
der Stunde selbständig unter Zuhilfenahme von Lehrbüchern und ihren Aufzeichnungen<br />
aus dem Unterricht bearbeiten und stellten einige wenige Fragen<br />
an die Lernperson. Diese war im Wesentlichen damit beschäftigt die Gruppe mit<br />
der Aufgabe 1 zu unterstützen. Offensichtlich war die Aufgabe für die Schüler<br />
des GA-Kurses zu schwer. Es fiel ihnen schwer den Zusammenhang zwischen<br />
den Flächeninhalten von Dreiecken und Quadraten und den Termen wie<br />
a 2<br />
4 oder a 2 zu sehen. Demzufolge konnten sie nicht selbständig einen Term<br />
für den gesamten Flächeninhalt der Beweisfigur finden. Auch beim Lösen der<br />
quadratischen Gleichung brauchten sie eine Unterstützung der Lehrerin, selbst<br />
wenn sie die Formeln auswendig konnten. Somit zeigte sich erneut, dass die<br />
Vernetzungen zwischen den geometrischen Figuren und ihren Beschreibungen<br />
mit Termen für die leistungsschwächeren Schüler eine Herausforderung darstellt.<br />
Selbständige Übersetzung von geometrischen Fragestellungen in die<br />
Sprache der Algebra markiert vermutlich den Übergang zwischen den Anforderungsbereichen<br />
(in dem Fall zwischen den Schülern der GA- und FE-Kurse).<br />
Was nicht heißt, dass diese Art von Vernetzung auf dem Niveau überhaupt nicht<br />
thematisiert werden kann. Mit Unterstützung der Lehrkraft können auch diese<br />
Schüler Einblicke in die Thematik gewinnen.<br />
90
Abb.8: Arbeitsblatt<br />
91<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Die Gruppe, die sich mit der Ähnlichkeit beschäftigt hatte, erweiterte die Figur<br />
um eine weitere Stufe, wobei die von den Schülern gezeichneten Quadrate eher<br />
nicht-quadratischen Rechtecken ähnelten. Die Schwierigkeiten ergaben sich
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
vermutlich aus der ungewöhnlichen Position der Quadrate, dessen Seiten nicht<br />
wie es oft der Fall ist, parallel zu den Seitenrändern des karierten Blattes waren<br />
(siehe Lambert 2006). Die Schüler produzierten eine Reihe von Vermutungen<br />
und hatten sie mit Hilfe des Lehrbuchs fortgesetzt. Eine Vermutung lautete, dass<br />
alle Quadrate ähnlich sind. Es wurde vermutet, dass Quadrate mit halb so langen<br />
Seiten auch halb so kleine Winkel haben müssen. Dementsprechend sollten die<br />
Winkel der Quadrate in der zweiten Stufe kleiner sein. Die Zeichnung widersprach<br />
der Vermutung. Um das Problem zu lösen wandten sich die Schüler dem<br />
Lehrbuch zu. Demnach sollten ähnliche Figuren in allen Winkeln übereinstimmen.<br />
Das führte zu der nächsten Vermutung: Alle rechtwinkligen Dreiecke sind<br />
ähnlich. Diese Hypothese traf für den Spezialfall zu. Daraufhin haben die Schüler<br />
von der Lehrerin als Gegenbeispiel zwei rechtwinklige nicht-ähnliche Dreiecke<br />
bekommen und mussten wieder im Buch nachschlagen. Abgeschlossen<br />
wurde die Untersuchung mit dem schriftlichen Festhalten der Ähnlichkeitsmerkmale<br />
für Dreiecke und farbigen Markieren der ähnlichen Figuren.<br />
Die Gruppe, die sich mit der Stochastik befasste, wandte sich dem Hefter zu und<br />
konnte selbständig die Aufgabe bearbeiten. Die Konstruktion der dritten Aufgabe<br />
bezieht sich auf die Empfehlungen in dem Berliner Rahmenlehrplan zu dem<br />
Pflichtbereich Längen und Flächen bestimmen und berechnen (P2-9/10). Den<br />
nach der Beschreibung dieses Pflichtbereiches werden zusätzlich zu den algebraischen<br />
Vernetzungen Bezüge zu den stochastischen Pflichtbereichen Mit dem<br />
Zufall rechnen (P8-7/8) und Mit Wahrscheinlichkeiten rechnen (P8-9/10) vorgeschlagen.<br />
Ausgehend von den Schätzungen des Flächeninhalts wurden von<br />
den beiden Schülern dabei die Begriffe wiederholt und am Beispiel der Stichproben<br />
mit und ohne Einbeziehung des Lehrers veranschaulicht. Die Berechnung<br />
des gesamten Flächeninhaltes der Beweisfigur wurde nur am Rande angesprochen,<br />
auch die Interpretation der einzelnen Werte kam zu kurz.<br />
Die Erfahrungen mit den letzten beiden Gruppen zeigt, dass auch schwächere<br />
Schüler in der Lage sind, selbständig Vernetzungen innerhalb von abgegrenzten<br />
Gebieten mit Hilfe des Lehrbuchs herzustellen.<br />
Plenum: In den nächsten Stunden wurden die Lösungen der Initialaufgaben von<br />
den Schülern vorgetragen, besprochen sowie inhaltsbezogene Kompetenztabelle<br />
(ähnlich aufgebaut wie in der Erprobung des Vorjahres) ausgefüllt. Interessant<br />
ist, dass einige Schüler die Tabelle unaufgefordert bereits während der Auswertung<br />
ausfüllten. Somit erhielten die Schüler die Möglichkeit die Inhalte rückblickend<br />
miteinander zu vernetzen, indem sie ihren Mitschülern aufmerksam zuhörten.<br />
92
Zusammenfassung<br />
93<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Aus dem Vergleich der vorliegenden Erprobungen lässt sich feststellen, dass die<br />
Vorbereitungsphase in beiden Fällen erfolgreich verlaufen ist. Besonderes beim<br />
ersten Mal konnten die Schüler durch ein enaktives Medium adäquat angesprochen<br />
werden. Die Suche nach weiteren enaktive Medien als Ausgangspunkt für<br />
die Vernetzung von Unterrichtsinhalten wäre somit eine wichtige Aufgabe für<br />
weitere Untersuchungen. Bei der zweiten Erprobung wurde eine Zeichnung und<br />
ein Spezialfall eines Beweises als verbindendes Element gewählt. Es wäre von<br />
Vorteil die Beweisfigur auch auf der enaktiven Ebene zugänglich zu machen<br />
und ggf. den Schülern auch rückblickend eine Möglichkeit zu geben die Beweisfigur<br />
zu zerschneiden und zu kombinieren. Somit könnte eventuell der<br />
Übergang zu der symbolischen Ebene erleichtert werden. Darüber hinaus kann<br />
festgehalten werden, dass Elemente der Beweise oder Beweise von Spezialfällen<br />
auch im Unterricht mit den schwächeren Schülern einen Beitrag zu Entstehung<br />
von innermathematischen Vernetzungen leisten könnte.<br />
Die innermathematisch formulierten Aufgaben für das Expertentraining der<br />
zweiten Erprobung enthielten weniger Text. Somit waren diese für die Schüler<br />
motivierender als die aus der ersten Erprobung. Reduktion der Realitätsbezüge<br />
der Aufgaben bei der zweiten Erprobung zeigte keine negative Auswirkungen<br />
auf die Motivation der Schüler. Die Auswertung der Aufgaben, mit Hilfe der<br />
anhand des Inhaltsverzeichnisses erstellten Tabelle, hat sich in beiden Fällen für<br />
die meisten Schüler als fruchtbar erwiesen und trug, wie das Meldeverhalten<br />
zeigte, zur Entstehung von innermathematischen Vernetzungen einiger Schüler<br />
bei.<br />
Durch die selbständige Erstellung der Aufgaben bei der ersten Erprobung waren<br />
die Schüler auch in der Plenumsphase viel motivierter als bei der zweiten Erprobung,<br />
in der nur vorgegebene Aufgaben vorgestellt werden sollten. Es fiel<br />
der Lehrerin jedoch schwer den Schülern das Erstellen der Aufgaben bei dem<br />
begrenzten Zeitrahmen zuzutrauen.<br />
Disziplin- und Anwesenheitsprobleme stellen an Gesamtschulen manchmal<br />
einen Faktor dar, der Vernetzungen eher verhindert als fördert. Sind Schüler<br />
körperlich oder geistig nicht im Unterricht anwesend, so entstehen große Wissenslücken.<br />
Mit der Kapitelübergreifenden Rückschau können diese vermindert,<br />
jedoch nicht ausgeschlossen werden. Das Zutrauen, größere Stoffgebiete gemeinsam<br />
zu überblicken, sowie die Verlagerung der Verantwortung für die<br />
Konstruktion der Vernetzungen in die Schülergruppen, steigern deutlich die<br />
Motivation, gemeinsam nach Zusammenhängen in der <strong>Mathematik</strong> zu suchen.<br />
Während beim Bearbeiten der vorgegebenen Aufgaben der passive Wortschatz<br />
des Schülers berücksichtigt wird, kann beim Erstellen von eigenen Aufgaben
Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />
der aktive Wortschatz gefördert werden. Hierin besteht eine Analogie zum<br />
Sprachenlernen. Somit werden Schüler hinsichtlich der Fähigkeit gefördert,<br />
Vernetzungen in der mathematischen Fachsprache zu beschreiben. Dadurch<br />
lassen sich indirekt auch Modellierungsfähigkeiten verbessern.<br />
Als Kritik muss hinzugefügt werden, dass es sich schon bei der Erstellung von<br />
Initialaufgaben bemerkbar machte, dass es nicht einfach ist, Kontexte zu finden,<br />
die verschiedene Kapitel des Schulbuchs auf eine natürliche Weise miteinander<br />
verknüpfen. Vor allem beim Vernetzen von <strong>Geometrie</strong> und Stochastik macht<br />
sich diese Schwierigkeit besonderes deutlich bemerkbar (siehe den Satz der<br />
Initialaufgaben). Insofern gewinnen im Rahmen des Projektunterrichts (Ludwig<br />
1998, Wörler 2010, Rupprecht 2010) thematisierte natürliche Kontexte für mathematische<br />
Vernetzungen eine besondere Bedeutung. Aufgrund des angestrebten<br />
Realitätsbezugs gehört Projektunterricht nicht zum Alltags-, sondern zu<br />
einem Alternativprogramm des <strong>Mathematik</strong>unterrichts auf den allgemeinbildenden<br />
Schulen. Deshalb ist nach weiteren Unterrichtsmethoden zu suchen, die<br />
auch im Rahmen des in Stunden und Kapiteln gegliederten Alltagsunterrichts,<br />
den Schülern Möglichkeiten bieten Inhalte künstlich oder natürlich zu vernetzen.<br />
Somit könnte die innermathematische Vernetzung von mathematischen<br />
Inhalten durch geometrische Einkleidung von stochastischen und algebraischen<br />
Inhalten der Schulmathematik zur Förderung von mathematischen Basiskompetenzen<br />
beitragen.<br />
Die Rückschau hatte den Schülern bewusst gemacht, wie viel sie im vergangenen<br />
Schuljahr gelernt haben und wie viel davon noch in Erinnerung geblieben<br />
ist. Das war für das Lernen der <strong>Mathematik</strong> eine wichtige positive Verstärkung.<br />
Berücksichtigt man die Lern- und Motivationsschwierigkeiten der Erprobungsklasse,<br />
so besteht Grund zur Annahme, dass die empfohlene Unterrichtsmethode<br />
im Zusammenhang mit anderen Ausgangsbedingungen der Schüler, anspruchsvollere<br />
Ergebnisse liefern könnte. Deshalb erscheint es vorteilhaft sich mit der<br />
Ausarbeitung von weiteren konkreten Unterrichtsbeispielen einschließlich der<br />
Aufgaben und Modifikation der Methode der Kapitelübergreifenden Rückschau<br />
zu beschäftigen.<br />
Literatur<br />
Baptist, P., Winter, H. (2001). Überlegungen zur Weiterentwicklung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
in der Oberstufe des Gymnasiums. In: H.-E. Tenorth (Hrsg.), Kerncurriculum<br />
Oberstufe. <strong>Mathematik</strong> – Deutsch – Englisch. Basel: Belz. S.54-77<br />
Baumert, J., Klieme, E. (2001). TIMMS – Impulse für Schule und Unterricht. For<br />
schungsbefunde, Reforminitiativen. Praxisberichte. Videodokumete. Bundesministerium<br />
für Bildung und Forschung (BMBF).<br />
Bauer, L. A. (1988). <strong>Mathematik</strong> und Subjekt. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag<br />
94
95<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport. Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe<br />
I. Jahrgangsstufe 7-10. Hauptschule. Realschule. Gesamtschule. Gymnasium.<br />
<strong>Mathematik</strong>.<br />
Brinkmann, A. (2002 und 2008). Über Vernetzungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht – eine<br />
Untersuchung zu linearen Gleichungssystemen in der Sekundarstufe I. Duisburger<br />
elektronische Texte, 2002.<br />
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-<br />
5386/index.html<br />
Saarbrücken: VDM Verlag, 2008.<br />
Brinkmann, A. (2007. Vernetzungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht – Visualisieren und Lernen<br />
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96
Die Weißblatterhebung – ein Instrument zur Erhebung des<br />
Vorwissens von Kindern zu geometrischen Begriffen in der<br />
Grundschule<br />
Eva-Maria Plackner<br />
Zusammenfassung. Das Erkennen, Benennen und Darstellen geometrischer Figuren ist<br />
eine der wesentlichen geometrischen Kompetenzen, mit deren Erwerb bereits in der<br />
Grundschule begonnen wird. Die von den Kindern bei der Begriffsbildung durchlaufenen<br />
Zwischenphasen können beispielsweise durch Standortbestimmungen erhoben werden.<br />
Als innovative Methode wurde die Weißblatterhebung erprobt. Ergebnisse dieser Erprobung<br />
sind viel versprechend.<br />
Einleitung<br />
Spätestens seit der Aufnahme geometrischer Inhalte in Rahmenpläne und Richtlinien<br />
der Grundschule in den 1970er Jahren ist es ist unbestritten, dass bereits<br />
in der Grundschule nicht nur Rechenunterricht, sondern <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
mitsamt geometrischen Inhalten erteilt wird. Die Konzeption dieses Unterrichts<br />
sollte nach Franke (2000) kein enger, zeitlich vorgegebener Stoffplan sein, sondern<br />
vielmehr Kernideen (Grundideen) ausweisen, die im Sinne des Spiralcurriculums<br />
über alle vier Grundschulklassen und auch darüber hinaus durch treffende<br />
Unterrichtsbeispiele verwirklicht werden könnten.<br />
Geometrische Kernideen Grundschule<br />
Ein solches Konzept zur Curriculumskonstruktion, das im Projekt „mathe 2000“<br />
konkretisiert wurde, entwickelte WITTMANN, wobei er sich wesentlich auf folgende<br />
sieben Grundideen (auch „fundamentale Ideen“) der Elementargeometrie<br />
stützt (vgl. Wittmann, 1999):<br />
Geometrische Formen und ihre Konstruktion: Geometrische Figuren und Körper<br />
können auf unterschiedliche Weise erzeugt bzw. hergestellt und definiert<br />
werden. Durch ihre jeweilige Konstruktion werden ihnen Eigenschaften aufgeprägt<br />
(beispielsweise Erzeugung eines Würfels durch Zusammensetzung von<br />
Plackner, E.-M. (2010). Die Weißblatterhebung – ein Instrument zur Erhebung<br />
des Vorwissens von Kindern zu geometrischen begriffen in der Grundschule. In:<br />
Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>,<br />
Hildesheim: Franzbecker, S.97-108
Die Weißblatterhebung<br />
sechs Quadraten). Durch Zusammensetzung einfacher Grundformen können<br />
komplexere Konfigurationen gewonnen werden.<br />
Operationen mit Formen: Geometrische Figuren und Körper können verlagert,<br />
verkleinert oder vergrößert, auf eine Ebene projiziert, geschert, gestaucht oder<br />
gedehnt, verzerrt, in Teile zerlegt oder zu komplexeren Gebilden zusammengesetzt<br />
werden. Von besonderem Interesse dabei ist es, herauszufinden, welche<br />
neuen Beziehungen entstehen und welche Eigenschaften bei den Operationen<br />
erhalten bleiben oder sich in gesetzmäßiger Weise verändern.<br />
Koordinaten: Koordinatensystemen können verwendet werden, um die Lage<br />
von Punkten auf Linien, Flächen und im Raum mit Hilfe von Zahlen zu beschreiben.<br />
Maße: Längen, Flächen- und Rauminhalte können nach Vorgabe von Maßeinheiten<br />
gemessen werden.<br />
Muster: Geometrische Formen und ihre Maße können so in Beziehung gesetzt<br />
werden, dass geometrische Muster und Strukturen entstehen. Bereits auf inhaltlich-anschaulichem<br />
Niveau können diese Muster und Strukturen sauber begründet<br />
werden.<br />
Formen in der Umwelt: Reale Gegenstände, Operationen an und mit diesen und<br />
Beziehungen zwischen ihnen können mit Hilfe geometrischer Begriffe beschrieben<br />
werden (z.B. Erde als (angenäherte) Kugel). Des Weiteren werden<br />
durch technische Verfahren geometrische Formen hergestellt, die wiederum<br />
bestimmten Zwecken genügen (z.B. Kugellager).<br />
Geometrisierung: Sowohl raumgeometrische Sachverhalte als auch Zahlbeziehungen<br />
und abstrakte Beziehungen können in die Sprache der <strong>Geometrie</strong> übersetzt<br />
und geometrisch bearbeitet werden.<br />
Ein alternatives Verständnis von Kernideen findet sich bei GALLIN und RUF, in<br />
deren Konzept nicht die <strong>Mathematik</strong> oder ihre Verbindung zum alltäglichen<br />
Denken im Mittelpunkt steht, sondern eher die subjektiven Zugänge der Kinder<br />
als Ausgangspunkt dienen. Im Rahmen des Projekts „Lernen auf eigenen Wegen“<br />
stellte sich beispielsweise die Frage, wie die Kinder die abstrakten Flächenmaße<br />
mit persönlichen Erlebnissen in Verbindung bringen können. Kernideen<br />
in diesem Verständnis dienen als Instrument, mit denen eine Verbindung<br />
zwischen den Fragen der Lernenden und den Antworten des Fachgebietes hergestellt<br />
werden kann. Für das Thema der Flächenberechnung wurde die wirksame<br />
Kernidee „Platz haben und Platz brauchen“ generiert. Ausgangspunkt für<br />
einen individualisierenden Unterricht war somit die Fragestellung, wie groß die<br />
Fläche sein muss, damit sich ein Mensch an verschiedenen Orten, wie am Arbeitsplatz,<br />
im Restaurant, im Bus oder im Wohnzimmer, wohl fühlt (vgl.<br />
GALLIN/RUF 1998).<br />
98
99<br />
Eva-Maria Plackner<br />
Geometrische Kompetenzen in den Bildungsstandards für die Grundschule<br />
Die Ausrichtung an mathematischen Leitideen findet sich auch wieder in den<br />
bundesweit einheitlichen Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz für<br />
<strong>Mathematik</strong> für den Primarbereich, die zu Beginn des Schuljahres 2005/2006<br />
verbindlich eingeführt wurden. Es werden darin, orientiert an einer Idee von<br />
mathematischer Grundbildung, mathematische Kompetenzen beschrieben, die<br />
von den Kindern am Ende des vierten Schuljahres in der Regel erreicht werden<br />
sollen. In enger Verbindung mit den allgemeinen mathematischen Kompetenzen<br />
(Problemlösen, Kommunizieren, Argumentieren, Modellieren und Darstellen)<br />
stehen die inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzen, die sich auf fünf<br />
mathematische Leitideen beziehen (Zahlen und Operationen; Raum und Form;<br />
Muster und Strukturen; Größen und Messen; Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit).<br />
In den weiteren Ausführungen der Kompetenzen zur geometrischen Leitidee<br />
Raum und Form lassen sich Bezüge zu den oben dargestellten fundamentalen<br />
Ideen der <strong>Geometrie</strong> von Wittmann erkennen: sich im Raum orientieren; geometrische<br />
Figuren erkennen, benennen und darstellen; einfache geometrische<br />
Abbildungen erkennen, benennen und darstellen; Flächen und Rauminhalte<br />
vergleichen und messen (vgl. KMK, 2004).<br />
Hinter der Teilkompetenz geometrische Figuren erkennen, benennen und darstellen<br />
verbergen sich viele wesentliche Inhaltsbereiche des <strong>Geometrie</strong>unterrichts<br />
an Grundschulen. Es sind damit nicht nur ebene Figuren sondern auch<br />
räumliche Körper gemeint. Aus den in den Bildungsstandards ausgewiesenen<br />
Beispielen lässt sich die Forderung ableiten, dass die gefragten geometrischen<br />
Figuren nicht allein zu benennen und darzustellen sind. Es soll mit ihnen auch<br />
operiert werden und es sollen Zusammenhänge zwischen den Formen gefunden<br />
werden. Darüber hinaus soll nach ihrer Funktionalität gefragt werden. Dadurch<br />
wird sowohl über die Zweckmäßigkeit geometrischer Formen kommuniziert als<br />
auch argumentiert, warum einzelne Formen zweckmäßiger sind als andere.<br />
Dabei werden die geometrischen Eigenschaften umgangssprachlich beschrieben<br />
(vgl. Walther U.A., 2007, S. 124 f.).<br />
Begriffsbildung im <strong>Geometrie</strong>unterricht der Grundschule<br />
Begriffsbildung spielt in der <strong>Mathematik</strong> und auch im <strong>Geometrie</strong>unterricht eine<br />
große Rolle. In der Grundschule stehen dabei weniger Definitionen im Mittelpunkt,<br />
als vielmehr der Einbezug der Alltagserfahrungen der Kinder und eine<br />
umgangssprachliche oder auch zeichnerische Beschreibung der Begriffe. Dieses<br />
Einbeziehen der Umgangssprache zur Beschreibung geometrischer Begriffe ist
Die Weißblatterhebung<br />
legitim und ermöglicht es den Kindern, diese neuen Begriffe in bereits bestehende<br />
semantische Netze einzubinden und neue Wissensinhalte in Beziehung zu<br />
ihrem bisherigen Wissen zu speichern. So entwickeln die Kinder im Laufe der<br />
Zeit ihr Begriffssystem, indem sie durch vielfältige Aktivitäten, die sprachlich<br />
begleitet werden, weitere Erfahrungen sammeln. In den dabei durchlaufenen<br />
Zwischenphasen ist es möglich, eigene Bezeichnungen, die Assoziationen hervorrufen,<br />
zu verwenden, Vergleichsobjekte heranzuziehen oder auch Merkmale<br />
zu nennen, die für die Begriffsbildung nicht notwendig sind. Franke beschreibt<br />
dazu, wie einige Kinder ein Quadrat zunächst als Viereck mit vier Seiten beschreiben:<br />
„Wenn sie dann später erkennen, dass diese Seiten gleichlang, gegenüberliegende<br />
Seiten parallel und benachbarte Seiten senkrecht zueinander sind,<br />
ist der Begriff zwar überbestimmt, aber treffend beschrieben. So kann bei der<br />
Begriffsbildung in einem Zwischenstadium richtig sein, was später als unzulänglich<br />
erkannt wird.“ (Franke 2000, S. 83)<br />
Dieser beschriebene Verlauf der Begriffsbildung deckt sich auch weitgehend<br />
mit den von Vollrath beschriebenen Stufen des Begriffslernens, nach denen der<br />
Begriff zunächst als Phänomen erfasst wird, bevor der Begriff dann als Träger<br />
von Eigenschaften erkannt wird und schließlich zu einem Teil eines Beziehungsgefüges<br />
wird (vgl. Vollrath 1984, S. 111f.). Diese Entwicklung des Begriffssystems<br />
vollzieht sich nicht in stufig abgeschlossenen Stufen, sondern eher<br />
im Sinne einer kontinuierlichen Horizonterweiterung, die sich für die einzelnen<br />
Lernenden individuell unterschiedlich gestaltet. Die von den Kindern bei einer<br />
Begriffsbildung durchlaufenen Zwischenphasen können auf unterschiedliche<br />
Weisen erfasst werden. Einer der aktuellen Ansätze Lernstandserfassung in der<br />
<strong>Mathematik</strong>didaktik der Grundschule ist die so genannte Standortbestimmung.<br />
Die Methode der Standortbestimmung<br />
Standortbestimmungen sind eine Methode zur fokussierten Ermittlung von individuellen<br />
Lernständen. Eingesetzt werden sie dafür an zentralen Punkten im<br />
Lehr-/Lernprozess. Am Anfang einer längeren Sequenz zu einem Rahmenthema<br />
(z.B. der Orientierung im Zahlenraum bis 100 oder der Multiplikation großer<br />
Zahlen) kann durch eine Standortbestimmung das Vorwissen der Kinder ermittelt<br />
werden. Führt man sie am Ende einer solchen Sequenz durch, so sind die<br />
gewonnen Informationen vergleichbar mit denen bei einer klassischen Leistungsüberprüfung.<br />
Am seltensten werden Standortbestimmungen während einer<br />
Sequenz eingesetzt, wobei dieser Zeitpunkt für die Lernbegleitung der einzelnen<br />
Kinder besonders fruchtbar wäre.<br />
Eine Problematik der Praxis ist, dass Lehrpersonen die Standortbestimmungen<br />
mit Klassenarbeiten oder Tests usw. gleichsetzen. Diese traditionell bekannten<br />
100
101<br />
Eva-Maria Plackner<br />
Leistungsüberprüfungen dienen dazu, am Ende einer Unterrichtssequenz die<br />
Leistungen zu werten und eine Note zu vergeben. Im Gegensatz dazu erfüllen<br />
die Standortbestimmungen eine Doppelfunktion.<br />
• Die primäre Zielsetzung beim Einsatz von Standortbestimmungen für Lehrkräfte<br />
ist das Gewinnen von strukturierten Informationen über die Kompetenzen<br />
und auch Defizite der Kinder in der eigenen Klasse. Diese Informationen<br />
können dann gezielt als Planungshilfe für den nachfolgenden Unterricht<br />
genutzt werden. Zudem können sie die Grundlage für individuelle<br />
Förderungsmaßnahmen sein.<br />
• Die zweite Funktion, die Standortbestimmungen erfüllen und deren Bedeutung<br />
nicht zu gering eingeschätzt werden darf, ist, dass auch die Kinder<br />
selbst in zunehmendem Maße Transparenz über ihr eigenes Lernen, ihren<br />
Sachstand und über die neuen Inhalte erhalten. Sie erhalten Einblick in das,<br />
was gerade im Unterricht wichtig ist oder wird und wie gut sie persönlich<br />
mit diesen gestellten Anforderungen umgehen können.<br />
Um in einer Standortbestimmung tatsächlich strukturierte Informationen über<br />
die Kompetenzen und Defizite der Kinder zu erhalten, müssen bei der Konzeption<br />
der Standortbestimmung strukturierte Vorüberlegungen zum Aufbau derselben<br />
stattfinden. Üblicherweise geht es dabei um Überlegungen, wie genau<br />
welche Teilfähigkeiten erhoben werden sollen, in welcher Reihenfolge dies am<br />
sinnvollsten geschieht, welche Aufgaben dafür geeignet sind etc. (vgl. Sundermann/Selter,<br />
2006).<br />
Aus den strukturierten Vorüberlegungen geht im Extremfall eine ganze Reihe an<br />
einzelnen, meist eng gefassten und eher geschlossenen Teilaufgaben hervor, die<br />
ähnlich wie einzelne Testitems auf unterschiedliche Teilkompetenzen abzielen<br />
und diese einzeln abprüfen sollen. Die in einer Standortbestimmung verwendeten<br />
Aufgabenstellungen können selbstverständlich auch einen größeren Grad an<br />
Offenheit aufweisen. In den von Selter beschriebenen Aufgabendimensionen<br />
findet sich neben dem Kriterium der Offenheit von Aufgabenstellungen auch<br />
das Kriterium der Informativität der Aufgaben und das des Prozessbezugs. Mithilfe<br />
dieser drei Kriterien können Aufgabenstellungen analysiert und kategorisiert<br />
werden, wobei alle drei Dimensionen in unterschiedlicher Ausprägung<br />
miteinander in einer Aufgabe kombiniert sein können. Bei einem Großteil der<br />
Aufgaben, die traditionell zur Erfassung des Lernstandes eingesetzt werden,<br />
handelt es sich aber um Aufgaben bei denen es ein eindeutiges Ergebnis zu<br />
finden gilt (niedriger Grad an Informativität), der Lösungsweg kaum von Bedeutung<br />
ist (niedriger Grad der Offenheit) und es stärker darum geht, Wissen<br />
und Fertigkeiten abzuprüfen als prozessbezogene Kompetenzen, wie das Entdecken<br />
oder das Darstellen (niedriger Grad des Prozessbezugs).
Die Weißblatterhebung<br />
Das im Folgenden benutzte Instrument zur Standortbestimmung, die Weißblatterhebung,<br />
ist eine hochgradig offene Form der schriftlichen Befragung. Den<br />
Befragten wird nur ein einzelner Begriff oder auch ein Begriffspaar (z.B. „Quader“<br />
oder „Würfel und Quader“) verbunden mit der Aufforderung, alles auf<br />
einem leeren Blatt zu notieren, was man zu diesem Begriff (oder Begriffspaar)<br />
weiß, vorgegeben.<br />
Ausgangshypothesen und methodische Überlegungen<br />
Durch die offene und weit gefasste Fragestellung wird das Denken deutlich<br />
weniger eingeschränkt, als durch eine Vielzahl von enger gefassten Teilfragen,<br />
die einzelne Begriffsaspekte abfragen. Es ist zu vermuten, dass durch die Fragestellung<br />
keine Antworten suggeriert werden. Es ist außerdem anzunehmen, dass<br />
die Kinderlösungen hohe Informativität gewährleisten. Neben dem reinen Wiedergeben<br />
von Kenntnissen und Fertigkeiten werden auch prozessbezogene<br />
Kompetenzen wie das Darstellen, Beschreiben und Argumentieren implizit<br />
eingefordert.<br />
Im Vorfeld der Untersuchung stellte sich bereits die Frage, ob und inwieweit<br />
methodische Parametervariationen einen Einfluss auf die Antworten der Kinder<br />
haben.<br />
Auch wenn der Name der Weißblatterhebung möglicherweise die Verwendung<br />
einer bestimmten Papiersorte impliziert, sind doch auch Variationen dieses<br />
„weißen Blattes“ vorstellbar. So ist der Einsatz eines wirklich weißen und völlig<br />
leeren Blanko-Papiers denkbar, ebenso wie die Verwendung des im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
eher üblichen karierten Papiers.<br />
Auch die Formulierung des kurzen Arbeitsauftrags bietet trotz ihrer Prägnanz<br />
noch einen gewissen Variationsspielraum. Neben der Formulierung „Schreibe<br />
alles auf, was dir zu … in den Kopf kommt“ besteht auch die Möglichkeit den<br />
Arbeitsauftrag um das Verb „male“ zu ergänzen und die Aufforderung „Schreibe<br />
und male alles auf, was dir zu … in den Kopf kommt“ zu formulieren. Es<br />
stellt sich die Frage ob dieser explizite Hinweis auf die Möglichkeit des Zeichnens<br />
das Antwortveralten der Kinder beeinflusst, oder ob die geometrischen<br />
Begriffe ohnehin zum Anfertigen von Zeichnungen anregen.<br />
Design und Rahmenbedingungen der Untersuchung<br />
In der im Folgenden beschriebenen explorativen Studie (n = 588) wurde die<br />
Weißblatterhebung als Methode, d.h. als ein offenes Konzept der Standortbestimmung,<br />
erprobt. Gleichzeitig konnte überprüft werden, inwiefern die Metho-<br />
102
103<br />
Eva-Maria Plackner<br />
de geeignet ist, das Vorwissen der Kinder zu geometrischen Begriffen zu erheben.<br />
In 28 Schulklassen über alle vier Schuljahre hinweg wurden verschiedene<br />
Parameter dieser Standortanalyse variiert und deren Auswirkungen auf das gezeigte<br />
Wissen untersucht.<br />
Die Auswahl der verwendeten Begriffe bzw. Begriffspaare, die als Ausgangsimpuls<br />
gewählt wurden, orientierte sich am bayrischen Lehrplan für die Grundschule<br />
und den darin für die einzelnen Jahrgangsstufen besonders relevanten<br />
Begriffen. In den ersten beiden Schuljahren wurden geometrische Flächenformen<br />
ausgewählt, in den beiden folgenden Jahrgangsstufen geometrische Körper.<br />
Lediglich in der dritten Klasse wurde mit einem einzelnen Begriff gearbeitet, in<br />
allen anderen Jahrgangsstufen wurden Begriffspaare ausgewählt:<br />
1. Schuljahr: Dreieck und Viereck<br />
2. Schuljahr: Rechteck und Quadrat<br />
3. Schuljahr: Würfel<br />
4. Schuljahr: Würfel und Quader<br />
Um den Einfluss der methodischen Variationen auf die Antworten der Kinder<br />
ausloten zu können wurde in einem Teil der Klassen mit kariertem Papier, in<br />
einem anderen Teil der Klassen mit weißem Papier gearbeitet. Auch der ohnehin<br />
schon knappe Arbeitsauftrag wurde geringfügig variiert. In der Hälfte der<br />
Klassen war der Zusatz „und male“ im Arbeitsauftrag enthalten, in der anderen<br />
Hälfte wurde darauf verzichtet, die Kinder explizit auf die Möglichkeit des<br />
Zeichnens hinzuweisen. Lediglich in der ersten Klasse wurde auf diese Unterscheidung<br />
verzichtet und allen Kindern gleichermaßen die Aufforderung zum<br />
Malen mitgegeben, vor allem darum, weil die Studie in den ersten Wochen des<br />
Schuljahres durchgeführt wurde und ein großer Teil der Erstklässler im Schriftspracherwerb<br />
noch nicht weit genug war, um selbstständig einen aussagekräftigen<br />
Text zu einem mathematischen Inhalt zu verfassen.<br />
Bei der Durchführung der Standortbestimmung wurde darauf geachtet, dass den<br />
Kindern außer den mündlich gegebenen Arbeitsaufträgen keine zusätzlichen<br />
Hilfen gegeben wurden, die bereits mögliche Antworten impliziert hätten. Es<br />
wurde lediglich darauf hingewiesen, dass man in dem Falle, dass man zu einem<br />
Begriff gar nichts wisse, durchaus auch ein unbeschriebenes Blatt abgeben könne.<br />
Dieser Hinweis ist gerade für die Kinder in der Erstbegegnung wichtig, da<br />
sie durchweg noch keine Erfahrungen mit dem Instrument der Standortbestimmung<br />
zur Erhebung des Vorwissens gemacht haben. Somit wird die nötige<br />
Transparenz erreicht, hinsichtlich der Erwartungen, die durch diesen Arbeitsauftrag<br />
an die Kinder gestellt werden. Es muss deutlich werden, dass es an dieser
Die Weißblatterhebung<br />
Stelle um das ganz individuelle Vorwissen geht, das eventuell auch schlechthin<br />
zu einem bestimmten Begriff nicht vorhanden sein kann, und nicht (wie sonst<br />
eher üblich) um das Abprüfen von im Unterricht vermitteltem Wissen, das sich<br />
eigentlich jeder aus der Klasse zu eigen gemacht haben sollte.<br />
Ergebnisse der Exploration<br />
Die an der Exploration beteiligten Kinder konnten die Aufgabenstellung trotz<br />
ihres hohen Grades an Offenheit umsetzen und durchgängig ihre Antworten<br />
schriftlich festhalten. Die so entstandenen Weißblätter wurden nach folgenden<br />
Kriterien ausgewertet:<br />
• Formalitäten und äußere Merkmale (z.B. Nutzung des Papiers, Anteil von<br />
Text und Zeichnung,…)<br />
• detailliertere inhaltliche Auswertung (z.B. Kategorisierung der Zeichnungen,<br />
fachliche Korrektheit der verwendeten Fachtermini,…)<br />
Ergebnisse nach Formalkriterien<br />
Ein erstes formales Kriterium war die Nutzung des Blattes. Dabei zeigte sich,<br />
dass kariertes Papier von 84 % der Kinder hochkant verwendet wurde, wohingegen<br />
nur 61 % des weißen Papiers hochkant genutzt wurden und immerhin 39<br />
% der weißen Blätter im Querformat.<br />
Ein weiterer Aspekt der Blattnutzung war die Frage, inwieweit das Papier formatfüllend<br />
oder nur teilweise beschrieben wurde. Dabei zeigte sich deutlich,<br />
dass das weiße Papier eher dazu verleitete, formatfüllend zu arbeiten (76 %),<br />
wohingegen das Verhältnis auf kariertem Papier eher ausgewogen war, allerdings<br />
der Trend eher zu einer nur teilweisen Nutzung des Papiers ging (55 %<br />
der Kinder, die auf kariertem Papier arbeiteten, verwendeten es nicht formatfüllend).<br />
Auf beiden Papiersorten und auch unabhängig von der Formulierung der<br />
Fragestellung verwendeten die Kinder eine Kombination aus einem Textteil mit<br />
ergänzenden Zeichnungen. Lediglich in der ersten Klasse arbeitete ein relativ<br />
großer Teil der Kinder ausschließlich mit Zeichnungen, nur 40 % der Erstklässlerinnen<br />
und Erstklässler versahen diese mit kleinen Beschriftungen.<br />
Bei den Zeichnungen in allen Jahrgangsstufen handelte es sich meist um reine<br />
Freihandzeichnungen, wobei sich aber beobachten ließ, dass auf weißem Papier<br />
das Lineal häufiger verwendet wurde, als auf kariertem.<br />
Ergebnisse nach inhaltliche Kriterien<br />
Eine erste Annäherung an die inhaltlichen Kriterien erfolgte über die Einteilung<br />
der Antworten hinsichtlich des Kontextes in dem die Kinder die Fragestellung<br />
104
105<br />
Eva-Maria Plackner<br />
beantwortet hatten. Es wurden die Begriffe teilweise rein in Bezug auf die Alltagswelt<br />
erläutert („Das Rechteg siet aus wie ein Geschnk.“), teilweise wurde<br />
aber auch rein mathematisch argumentiert („Das Quadrat hat 4 gleich lange<br />
Seiden. Das Rechteck hat 2 kurze Seiden und 2 lange Seiden, oder andersrum.“).<br />
Meist wurde von den Kindern die Kombination aus beiden Herangehensweisen<br />
gewählt („Das Rechteck sieht aus wie eine schmale Schuplade. Das<br />
Quadrat ist so wie ein Spiegel mit vier gleich lange seiten.“). Am deutlichsten<br />
war dieser Trend in der dritten Klasse zu beobachten, wo 82 % der Kinder ein<br />
stark vom Spielwürfel geprägtes Verständnis des geometrischen Begriffs Würfel<br />
aufwiesen, sie aber gleichzeitig auch aus mathematischer Sicht die Eigenschaften<br />
des Körpers beschrieben. In der vierten Klasse war mit 62 % am stärksten<br />
die rein mathematische Herangehensweise zu beobachten, bei der die Eigenschaften<br />
von Würfel und Quader meist gegenübergestellt und dabei sowohl die<br />
Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede dargestellt wurden.<br />
Abb.1: Darstellung der Eigenschaften von Würfel und Quader<br />
In einem weiteren Auswertungszyklus wurden dann getrennt voneinander die<br />
Zeichnungen und auch die Texte hinsichtlich ihres Inhaltes und erstmals auch<br />
im Hinblick auf ihre inhaltliche, mathematische Korrektheit betrachtet.<br />
Bei der Kategorisierung der Zeichnungen auf den Weißblättern wurde zunächst<br />
unterschieden, ob es sich bei der vorliegenden Bearbeitung eher um eine Zeichnung<br />
oder ein Bild im Sinne der Kunst handelt, oder um eine Zeichnung, die<br />
eher von der <strong>Mathematik</strong> her gedacht angefertigt wurde. Zu den Zeichnungen<br />
mit künstlerischem Aspekt gehören gemalte Alltagsgegenstände als Repräsen-
Die Weißblatterhebung<br />
tanten (z.B. eine Tafel als Rechteck oder eine Triangel als Dreieck), das Zeichnen<br />
von angepassten Repräsentanten (z. B. dreieckige Tannenbäume oder verschiedene<br />
„Quadertiere“), sowie das Zeichnen von personifizierten Repräsentanten<br />
(z.B. Dreiecke mit Gesicht und Beinen).<br />
Mit Abstand die häufigste Kategorie dabei war das Zeichnen von Alltagsgegenständen<br />
als Repräsentanten, in der fast die Hälfte aller Kinder zu verorten ist,<br />
die von der Kunst her kommend, etwas zu den Begriffen malten. Nur 1 % der<br />
befragten Kinder zeichnete ohne einen erkennbaren Zusammenhang mit dem<br />
Thema.<br />
Abb. 2: Zeichnung mit personifizierten Repräsentanten für Dreieck und<br />
Viereck<br />
Die Zeichnungen der Kinder, die eher einer mathematischen Herangehensweise<br />
zuzuschreiben sind, ließen sich in die folgenden drei Kategorien einteilen: das<br />
Zeichnen von rein mathematischen Repräsentanten, das Zeichnen von Mustern<br />
zum Thema und das Anführen eines zeichnerischen Gegenbeispiels. Diese letzte<br />
Kategorie wurde zwar nur verhältnismäßig selten gewählt, aber dennoch gaben<br />
3 % der Kinder (verteilt auf alle Jahrgangsstufen) Gegenbeispiele an. Über die<br />
Hälfte der Kinder zeichneten rein mathematische Repräsentanten.<br />
Abb. 3: Zeichnung von rein mathematischen Repräsentanten für Dreieck<br />
und Viereck (mit besonderer Hervorhebung der Ecken in den beiden rechten<br />
Figuren)<br />
Analog zu der Einteilung der Zeichnungen ließen sich auch bei den Texten die<br />
Kategorien in zwei Gruppen zusammenfassen. Auch hier gab es Texte, die rein<br />
106
107<br />
Eva-Maria Plackner<br />
in der Fachwissenschaft zu verorten sind und Texte, die eher affektive und<br />
handlungsbezogene Aussagen zu den Begriffen beinhalten. Zu der zweiten<br />
Gruppe gehört das Nennen von Alltagsgegenständen mit dazu passender Form<br />
(die schriftliche Entsprechung zum Zeichnen von Alltagsgegenständen als Repräsentanten),<br />
das Nennen von Einsatzmöglichkeiten (z.B. mit dem Würfel kann<br />
gespielt werden, oder aus Quadern kann man etwas bauen), das Herstellen eines<br />
persönlichen Bezugs und das Erwähnen von Vorerfahrungen durch das Herstellen<br />
von Modellen. Besonders auffällig dabei war, dass insgesamt zwar nur relativ<br />
selten von der Herstellung von Modellen berichtet wurde, dass es aber einige<br />
Klassen gab, in denen z. B. im vorhergehenden Schuljahr ein Würfel gebastelt<br />
wurde und in diesen Klassen fast alle Kinder darauf Bezug nahmen. Auch bei<br />
den Texten hat nur 1 % der befragten Kinder ausschließlich Dinge ohne einen<br />
erkennbaren Zusammenhang zum Thema geschrieben.<br />
Zu den von der <strong>Mathematik</strong> her kommenden Kategorien gehören das Einordnen<br />
der Begriffe zu den Oberbegriffen (geometrische Figuren / Körper; 3 %), das<br />
Nennen von Gegenbeispielen (3 %), das Nennen von richtigen Eigenschaften<br />
(66 %) und auch das Nennen von falschen Eigenschaften (12 %). Es lässt sich<br />
feststellen, dass die Kinder in ihren Beschreibungen nicht auf einem rein umgangssprachlichen<br />
Niveau bleiben, sondern durchaus Fachbegriffe einfließen<br />
lassen. Dabei verwenden ganze 19 % der Kinder diese Fachbegriffe in ihrem<br />
gesamten Text präzise und fehlerfrei.<br />
Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick<br />
Die Ergebnisse zeigen, dass die Weißblatterhebung ein geeignetes Werkzeug<br />
zur Standortbestimmung ist. Die Arbeiten der Kinder sind im hohen Maße aussagekräftig<br />
in Bezug auf ihr derzeitiges Begriffsverständnis. Der offen gestellte<br />
Arbeitsauftrag konnte sie als Impuls dazu veranlassen, relevante Eigenschaften<br />
der Figuren und Körper zu beschreiben. Außerdem ließ sich in den sehr frei<br />
produzierten Kindertexte und –zeichnungen ein erstaunlich hohes Maß an mathematisch<br />
korrekt verwendeten Fachbegriffen feststellen. Die Kinder verwendeten<br />
die Begriffe dabei aus eigenem Antrieb und nur sehr selten wurden sie<br />
dabei falsch gebraucht.<br />
Von großem Interesse sind auch die Ergebnisse in zwei 4. Klassen, in denen<br />
kurz vor der Erhebung die thematisch zugehörige <strong>Geometrie</strong>sequenz stattfand.<br />
40 % der entsprechenden Weißblätter bildeten alle Lehrplanziele zum Thema<br />
Quader und Würfel vollständig ab, weitere 50 % bildeten sie immerhin teilweise<br />
ab. Das zeigt meines Erachtens eindrücklich, dass es nicht nötig ist, viele kleine<br />
Einzelfragen zu stellen, um ein umfassendes Bild des Leistungsstandes der Kinder<br />
zu einem Thema zu erhalten.
Die Weißblatterhebung<br />
Die Ergebnisse geben zudem Handlungsanweisung für unterrichtlich zur Verfügung<br />
gestellte Medien. Der Einsatz von Blanko-Papier im Gegensatz zum meist<br />
üblichen karierten Papier erweist sich als vorteilhaft, da es zu einer Strukturierung<br />
und Darstellung der schriftlich fixierten Gedanken anregt. Die Kompetenz<br />
des Zeichnens mit Lineal kann beispielsweise durch Blanko-Papier besonders<br />
gut gefördert werden, da ein weißes Blatt Papier viel stärker zur Verwendung<br />
des Lineals anregt als das karierte Papier. Außerdem ließ sich bei der Arbeit auf<br />
vollkommen weißem Papier ein kreativerer Umgang mit der Blattgestaltung<br />
feststellen. Die Kinder verwendeten das Papier nicht so häufig traditionell hochkant<br />
und schrieben nicht nur im oberen Teil des Blattes einige wenige Zeilen.<br />
Stattdessen breiteten sie ihre Gedanken häufiger über die ganze Fläche aus, die<br />
ihnen zur Verfügung stand und strukturierten dabei ihre Darstellungen deutlicher<br />
und zugleich auch individueller.<br />
Literatur<br />
Franke, M. (2000). Didaktik der <strong>Geometrie</strong>. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer<br />
Verlag.<br />
KMK (2004). Bildungsstandards im Fach <strong>Mathematik</strong> für den Primarbereich.<br />
Beschluss vom 15.10.2004. München, Neuwied: Wolters-Kluwer, Luchterhand<br />
Verlag.<br />
Ruf, U., P. Gallin (1998). Dialogisches Lernen in Sprache und <strong>Mathematik</strong>.<br />
Seelze-Veber: Kallmeyer.<br />
Sundermann, B; C. Selter (2006). Beurteilen und Fördern im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor<br />
Vollrath, H.-J. (1984). Methodik des Begriffslehrens im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Stuttgart: Ernst Klett Verlag<br />
Walther, G., M. van den Heuvel-Panhuizen, D. Granzer, O. Köller (Hrsg.)<br />
(2007). Bildungsstandards für die Grundschule: <strong>Mathematik</strong> konkret. Berlin:<br />
Cornelsen Verlag Scriptor<br />
Wittmann, E. Ch. (1999). Konstruktion eines <strong>Geometrie</strong>curriculums ausgehend<br />
von Grundideen der Elementargeometrie. In: Henning, H. (Hrsg.): <strong>Mathematik</strong><br />
lehren durch Handeln und Erfahrung. Oldenburg: Bültmann u. Gerriets, S. 205-<br />
223.<br />
108
Biometrische Erkennungssysteme – Ein geeignetes geometrisches<br />
Thema zur Vermittlung von Basiskompetenzen im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Markus Ruppert<br />
Zusammenfassung. Biometrische Erkennungssysteme halten immer mehr Einzug in<br />
unseren Alltag. Die Grundprinzipien, die sich hinter der Funktionsweise, insbesondere<br />
von Gesichtserkennungssystemen verbergen, liefern gute Möglichkeiten für geometrische<br />
Modellierungsprobleme, bei denen auch neue Entwicklungen von dynamischer<br />
<strong>Geometrie</strong>-Software, etwa die Integration eines Tabellenkalkulationsprogramms, ausgenutzt<br />
werden können. Beschrieben wird anhand eines konkreten Projekts, welche Möglichkeiten<br />
dieses Themenfeld bietet, ausgehend von geometrischen Problemstellungen<br />
mathematische Basiskompetenzen zu vermitteln.<br />
Biometrische Erkennungssysteme, wie sie in verschiedenen James Bond Filmen<br />
(z. B. Diamantenfieber 1971, Sag niemals nie 1983, Stirb an einem anderen Tag<br />
2002 oder Ein Quantum Trost 2008) vorkommen, sind in ihrer Entwicklung<br />
über das Stadium der reinen Fiktion längst hinaus. Auch die Zeiten, in denen<br />
Fingerabdruckdetektoren zum Schutz gesicherter Bereiche dem Bankenwesen<br />
oder Gesichtserkennungssysteme zu Fahndungszwecken der Kriminalistik vorbehalten<br />
waren, sind vorbei. Längst ist jeder neuere Laptop mit einem Fingerabdruckscanner<br />
ausgestattet, der die Zugangsberechtigung des Benutzers überprüft<br />
und in vielen Bereichen das Passwort ablöst. Nahezu jedes Bildverarbeitungs-<br />
und Archivierungsprogramm verfügt indes über eine einfache Gesichtserkennungs-Software,<br />
die das Sortieren von Bildern nach Personen erleichtern soll.<br />
Mit anderen Worten: Biometrische Systeme sind Teil unseres Alltags geworden.<br />
Im Folgenden werden zunächst knapp die Grundideen von biometrischen Erkennungssystemen<br />
im Allgemeinen (vgl. hierzu Behrens 2001, Nolde 2002 und<br />
Mihailescu/Weiss-Pidstrygach 2008) und von Gesichtserkennungssystemen im<br />
Speziellen dargestellt (vgl. hierzu Dickich 2001), bevor ein Schülerprojekt vorgestellt<br />
wird, bei dem von den Schülern ein Gesichtserkennungssystem entwickelt<br />
wurde.<br />
Ruppert, M. (2010). Biometrische Erkennungssysteme – Ein geeignetes geometrisches<br />
Thema zur Vermittlung von Basiskompetenzen im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der<br />
<strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.109-124
Biometrische Erkennungssysteme<br />
Funktionsweise biometrischer Erkennungssysteme<br />
Warum biometrische Erkennung?<br />
Im Gegensatz zu herkömmlichen Erkennungssystemen (wie etwa die Zugangssicherung<br />
am Geldautomaten oder im Internet mit einer PIN-Nummer oder<br />
einem Passwort), bei denen die Entscheidung über die Zugangsberechtigung<br />
immer auf der Grundlage personenbezogener (und damit im Prinzip übertragbarer)<br />
Merkmale geschieht, benutzen biometrische Sicherungssysteme grundsätzlich<br />
personengebundene Merkmale.<br />
Ein biometrisches Erkennungssystem kann auf zwei Arten betrieben werden:<br />
Im Identifikationsmodus wird ein eingehender Datensatz mit allen Datensätzen<br />
der im System befindlichen Personen verglichen, um die Identität einer bestimmten<br />
Person herauszufinden (Anwendungsbereich: Kriminalistik).<br />
Im Verifikationsmodus speist eine Person ihre Daten zusammen mit einer Behauptung<br />
über ihre Identität in das System ein. Diese werden mit dem entsprechenden<br />
in der Datenbank hinterlegten Datensatz verglichen – anschließend<br />
wird ihre Identität bestätigt oder verneint und damit der Zugang zu einem gesicherten<br />
Bereich gewährt oder abgelehnt (Anwendungsbereich: Bankenwesen).<br />
Warum Gesichtserkennung?<br />
Im Vergleich zur Erfassung anderer biometrischer Merkmale wie z. B. Fingerabdruck,<br />
Augenabdruck, Sprache oder der DNA weist die Gesichtsgeometrie<br />
einige entscheidende Vorteile auf:<br />
• Natürlichkeit: Der Mensch ist es gewohnt, andere Personen an ihrem Gesicht<br />
zu erkennen. Dies erleichtert zum einen die technische Umsetzung eines<br />
solchen Systems, zum anderen kann bei Ausfall oder Versagen des Systems<br />
auf diese Fähigkeit des Menschen zurückgegriffen werden.<br />
• Berührungslosigkeit und Unaufdringlichkeit: Im Idealfall bemerkt die<br />
betreffende Person die Zugangskontrolle überhaupt nicht. Dies erhöht die<br />
Akzeptanz eines Zugangskontrollsystems erheblich. Die technische Umsetzung<br />
ist hier jedoch noch nicht ausgereift.<br />
• Vorhandene Infrastruktur: Es können z. B. Bilder bereits vorhandener Überwachungskameras<br />
genutzt werden.<br />
110
Wie funktioniert Gesichtserkennung?<br />
111<br />
Markus Ruppert<br />
In der folgenden Abbildung wird schematisch dargestellt, wie prinzipiell ein<br />
Datensatz in einem Gesichtserkennungssystem erfasst wird:<br />
Abb. 1: Gesichtserkennung – Schematische Darstellung<br />
Der wichtigste Schritt ist dabei, wie oben beschrieben, die Extraktion geeigneter<br />
charakteristischer personengebundener Merkmale und deren Verarbeitung zu<br />
einem Datensatz (Enrollment).<br />
Es folgen der Datenvergleich mit der Datenbank und die Entscheidung über die<br />
Zulassung zum gesicherten Bereich (Verifikation) oder die Identifikation der<br />
Person (Abbildung 2).<br />
Abb. 2: Datenbankabgleich - Schematische Darstellung
Biometrische Erkennungssysteme<br />
Entwicklung eines Gesichtserkennungssystems als Schülerprojekt<br />
Der Prozess der Identifikation bzw. Verifikation mit Hilfe eines Gesichtserkennungssystems<br />
läuft also in fünf Teilschritten ab:<br />
• Lokalisierung (Gesichtsfindung)<br />
• Normalisierung<br />
• Merkmalsextraktion<br />
• Erzeugung eines Referenzdatensatzes<br />
• Vergleich mit der Datenbank<br />
Der technisch schwierigste Schritt ist dabei die Gesichtsfindung. Hier ist kein<br />
Ansatz denkbar, der nicht eines erheblichen technischen Aufwands bedarf. Die<br />
in professionellen Gesichtsfindungsprogrammen eingesetzte Methode des<br />
template-matching (vgl. Behrens 2001; Dickich 2003) kann kaum mit schülergerechten<br />
Hilfsmitteln umgesetzt werden. Für ein Schülerprojekt ist deshalb die<br />
Beschränkung auf Portrait-Aufnahmen sinnvoll. Zum einen ist es auch für Portrait-Aufnahmen<br />
noch schwierig genug die Vergleichbarkeit der Bilder zu gewährleisten<br />
und zum anderen hat dies den zusätzlichen Vorteil, dass die auftretenden<br />
Probleme beim Vergleich der extrahierten Merkmale (etwa durch Drehung<br />
des Kopfs) nicht zu groß werden. Die Normalisierung der Aufnahmen,<br />
sowie das Auffinden geeigneter charakteristischer Merkmale und deren Extraktion<br />
bieten authentische Möglichkeiten zum forschenden und nacherfindenden<br />
Lernen. Die Hürden, die bei der Entwicklung eines Gesichtserkennungssystems<br />
im Rahmen eines Schülerprojekts auftreten, sind dabei vergleichbar mit den<br />
Problemen professioneller Entwickler (Informationen der Firma Amrehn). Das<br />
Anlegen einer Datenbank und die Entwicklung eines geeigneten Vergleichsalgorithmus<br />
indes ermöglicht computergestütztes Arbeiten und lässt Verwirklichungen<br />
auf verschiedenen Anwendungsniveaus zu. So lassen sich die Datenbank<br />
und der Algorithmus einerseits mit Excel umsetzen, auf der anderen Seite<br />
ist auch eine Umsetzung mit MySQL und php denkbar, wenn auf entsprechende<br />
Kenntnisse aus dem Informatik-Unterricht zurückgegriffen werden kann. Im<br />
Folgenden wird ein Projekt vorgestellt, das im Rahmen der Schülerprojekttage<br />
am Institut für <strong>Mathematik</strong> und Informatik der Universität Würzburg durchgeführt<br />
wurde. Es soll aufgezeigt werden, wie sich die Schüler die Grundprinzipien<br />
eines Gesichtserkennungssystems und dessen geometrische Modellierung<br />
erschließen, unter Verwendung dynamischer <strong>Geometrie</strong>software und mit dem<br />
Einsatz von Datenbanksystemen ein eigenes Gesichtserkennungssystem entwickeln<br />
und schließlich Strategien finden, dieses schrittweise zu verbessern.<br />
Statt eines Berichts über den konkreten Projektverlauf soll an dieser Stelle die<br />
Betrachtung der Schlüsselprobleme, die sich bei der Entwicklung eines Ge-<br />
112
113<br />
Markus Ruppert<br />
sichtserkennungssystems ergeben, in den Mittelpunkt gestellt werden. Es sollen<br />
insbesondere die inhaltsbezogenen Kompetenzen herausgestellt werden, die zur<br />
Lösung der genannten Probleme erforderlich sind. Um zu verdeutlichen, wie<br />
breit gestreut die Kompetenzbereiche sind, die durch das Thema angesprochen<br />
werden können, erfolgt außerdem eine Zuordnung zu den in den KMK-<br />
Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss formulierten Leitideen (L1<br />
bis L5) des <strong>Mathematik</strong>unterrichts (KMK 2004). Es werden dabei auch allgemeine<br />
mathematische Kompetenzen angesprochen, die im Rahmen der Projektarbeit<br />
gefördert werden (KMK, K1 bis K6).<br />
Allgemeine math. Kompetenzen Inhaltsbezogene Kompetenzen<br />
K1 Argumentieren L1 Zahl<br />
K2 Problemlösen L2 Messen<br />
Tabelle 1: Allgemeine Kompetenzen und Leitideen (verkürzt)<br />
Problem 1: Vergleichbarkeit<br />
(Subsumiert unter den Leitideen)<br />
K3 Modellieren L3 Raum und Form<br />
K4 Darstellungen verwenden L4 Funktionaler Zusammenhang<br />
K5 Umgang mit symbolischen,<br />
formalen, technischen Elementen<br />
K6 Kommunizieren<br />
L5 Daten und Zufall<br />
Damit ein sinnvoller Vergleich eines eingehenden Datensatzes mit der Datenbank<br />
stattfinden kann, muss die Vergleichbarkeit der Bilder gewährleistet sein.<br />
So einfach dies formuliert ist, so schwierig ist hier eine Festlegung: Was bedeutet<br />
„Vergleichbarkeit“?<br />
Es ist keineswegs eindeutig, wie der Begriff der Vergleichbarkeit an dieser<br />
Stelle zu definieren ist. Die Formulierung einer Arbeitsgrundlage ist das Ergebnis<br />
mathematischer Argumentation - es muss ein Konsens in der Gruppe herbeigeführt<br />
werden (K1: Argumentieren, K6: Kommunizieren). Im Rahmen dieser
Biometrische Erkennungssysteme<br />
Diskussion muss die Problemstellung als geometrische Modellierungsaufgabe<br />
erkannt werden (K3: Modellieren). Inhaltlich muss sich die Gruppe also mit<br />
Fragen des Messens, insbesondere aber mit Standardisierungs- bzw. Normierungsfragen<br />
auseinandersetzen (L2: Messen), also mit allgemeinen mathematischen<br />
Konzepten von hoher Tragweite (man denke nur an die Betrachtung von<br />
normierten Basen in der analytischen <strong>Geometrie</strong>, an die Bedeutung der Normierung<br />
bei Wahrscheinlichkeitsfunktionen und deren Anwendung im Zusammenhang<br />
mit Lösungen der Schrödinger-Gleichung in der Quantenmechanik). Das<br />
Problem der Vergleichbarkeit von Fotografien muss im Rahmen der Modellierung<br />
auf den Vergleich geometrischer Standardobjekte reduziert werden (L3:<br />
Raum und Form).<br />
Eine Möglichkeit die, Vergleichbarkeit der Fotografien zu gewährleisten, ist die<br />
Standardisierung der Aufnahmebedingungen, d.h. es müssen z.B. die Abstände<br />
beim Fotografieren sowie die Auflösung der Kamera genau festgelegt werden.<br />
Außerdem müssen die „Fotomodelle“ um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck<br />
gebeten werden – eine Vorgehensweise, wie sie ähnlich für die<br />
Aufnahme von biometrischen Passbildern gewählt wird (vgl. Homepage der<br />
Bundesdruckerei).<br />
Eine andere Möglichkeit ist die Normierung eines bestimmten Abstandes innerhalb<br />
der Gesichtsgeometrie (z. B. des Augenabstandes). Durch dieses Vorgehen<br />
können unvermeidliche Ungenauigkeiten bei den Aufnahmebedingungen (z. B.<br />
Abstand Fotoapparat – Fotomodell) zwar kompensiert werden, allerdings fällt<br />
der Augenabstand als (möglicherweise ganz charakteristisches) Unterscheidungskriterium<br />
weg und alle anderen Merkmale werden nun relativ zum Augenabstand<br />
betrachtet.<br />
Problem 2: Auffinden geeigneter Vergleichsmerkmale<br />
An dieser Stelle ist eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen an charakteristische<br />
Merkmale im Rahmen eines biometrischen Erkennungsverfahrens<br />
erforderlich. Im Zusammenhang mit der Gesichtserkennung sind die folgenden<br />
Punkte von besonderem Interesse:<br />
• Universalität<br />
• Einzigartigkeit<br />
• Permanenz<br />
• Erfassbarkeit<br />
Die entscheidende Idee ist also die Festlegung markanter Punkte, die man erwartet<br />
in jedem Gesicht zu finden (z. B. Pupillen, Mundwinkel, Nasenspitze).<br />
Deren gegenseitige Lage soll einerseits in verschiedenen Situationen möglichst<br />
unveränderlich sein, andererseits aber die Einzigartigkeit der jeweiligen Ge-<br />
114
115<br />
Markus Ruppert<br />
sichtsgeometrie möglichst gut widerspiegeln, um die Wahrscheinlichkeit einer<br />
Wiedererkennung zu steigern.<br />
Um einen Vergleich anstellen zu können, gilt es also zunächst die Lage der<br />
markanten Punkte festzustellen. Dazu bedarf es allerdings einer Klärung, was<br />
unter der „Lage markanter Punkte“ zu verstehen ist. Dies kann einerseits die<br />
(absolute) Lage der Punkte in einem gedachten Koordinatensystem sein (vgl. A,<br />
links). Andererseits kann aber auch die (relative) Lage der markanten Punkte<br />
zueinander gemeint sein (vgl. A, rechts). Die Gruppe muss sich hier also mit<br />
Fragen nach einer geeigneten Darstellung des Modells in einem<br />
Koordinatensystem auseinandersetzen (L3, K4: Math. Darstellungen), um<br />
entscheiden zu können, mit welchen Daten der Vergleich der Datensätze<br />
letztlich stattfinden soll (K1, K6).<br />
Das Erfassen der Gesichtsgeometrie in Form der relativen Lage markanter<br />
Punkte liefert einen entscheidenden Vorteil: die Unabhängigkeit der Vergleich-<br />
barkeit der Gesichter von der Position auf dem Bild ( Translations- und Rotationsinvarianz<br />
innerhalb der Bildebene).<br />
Die Frage, ob auch vorkommende Winkel in Abbildung 3 geeignete Merkmale<br />
sind, die in den Vergleich mit einbezogen werden sollten, führt schnell auf Überlegungen<br />
zu kongruenten Figuren und zugehörigen Kongruenzsätzen (L3).<br />
Auf dieser Grundlage können sogar eigene Definitionen formuliert werden,<br />
welche die Beschreibung der Situation vereinfachen:<br />
Ein Netz von Punkten und Verbindungsstrecken heißt starr, wenn es durch<br />
die Länge der Verbindungsstrecken bis auf Kongruenz eindeutig festgelegt<br />
ist. (sinngemäße Formulierung eines Projektteilnehmers)<br />
In diesem Sinne ist ein Dreieck mit fest vorgegebenen Seitenlängen nach dem<br />
bekannten SSS-Kongruenzsatz ein starres ebenes Netz, ein Viereck mit vorgegebenen<br />
Seitenlängen jedoch nicht. Das Merkmalsnetz in Abbildung 3 ist ebenfalls<br />
starr. In einem starren Netz liefern demnach vorkommende Winkel keine<br />
zusätzlichen Informationen über die Form des Netzes, sind also als zusätzlich zu<br />
betrachtende Merkmale unbrauchbar und würden sogar eine ungewollte Gewichtung<br />
bestimmter Bereiche liefern. (Natürlich müsste man nun auch<br />
diskutieren, ob einige der gewählten Abstände in diesem Sinne überflüssig<br />
sind.)
Biometrische Erkennungssysteme<br />
Abb. 3: Absolute und relative Lage der markanten Punkte<br />
Die Schüler lernen an dieser Stelle auf der Grundlage bekannter Kongruenzsätze<br />
mathematisch zu argumentieren und Bewertungen vorzunehmen (L3, K1).<br />
Problem 3: Datenextraktion, Anlegen einer Datenbank<br />
Um die Merkmale in einer Datenbank speichern und letztlich miteinander vergleichen<br />
zu können, müssen die geometrischen Daten zunächst in numerische<br />
Daten umgewandelt werden. Hierbei kann die neue Version der dynamischen<br />
<strong>Geometrie</strong>-Software GeoGebra mit einem integrierten Tabellenkalkulationsfenster<br />
gute Dienste leisten. Die Koordinaten der Punkte können dynamisch in den<br />
Abb. 4: Extraktion der Daten mit Geogebra<br />
116
117<br />
Markus Ruppert<br />
Spalten des TKP dargestellt werden. Die Veränderung der Lage eines Punktes<br />
im <strong>Geometrie</strong>fenster bewirkt gleichzeitig eine Anpassung der Koordinaten im<br />
TK-Fenster. So können die normierten Bilder als Hintergrundbilder eingefügt<br />
und vermessen werden (Abbildung 4). Die Schüler müssen an dieser Stelle<br />
planen, wie die Daten aus dem Koordinatensystem entnommen werden sollen<br />
und wie technische Hilfsmittel in geeigneter Weise eingesetzt werden können,<br />
um die Daten zur Weiterverwertung aufzubereiten (L3, L5: Daten und Zufall,<br />
K5: Umgang mit technischen Elementen). Gemäß den obigen Überlegungen<br />
müssen beispielsweise die absoluten Daten mit Hilfe des TKP in relative Daten<br />
(Abstände) umgerechnet und in dieser Form in eine Datenbank eingespeist werden.<br />
Im einfachsten Fall kann auch das Anlegen der Datenbank im TKP geschehen<br />
(vgl. Abbildung 5), jedoch sind auch Lösungen mit relationalen Datenbanksystemen<br />
wie etwa MySQL denkbar (im Rahmen der Projekttage wurde das<br />
umgesetzt).<br />
Abb. 5: Ausschnitt aus der Datenbank mit charakteristischen Merkmalen<br />
Problem 4: Vergleich eines Datensatzes mit der Datenbank<br />
Soll nun eine Verifikation oder eine Identifikation stattfinden, müssen aus dem<br />
eingehenden Bild wiederum die festgelegten charakteristischen Merkmale extrahiert<br />
werden. Anschließend findet der Vergleich des eingehenden Datensatzes<br />
mit den Datensätzen aus der Datenbank statt. Es stellen sich also zunächst die<br />
Fragen<br />
• Wie können zwei Datensätze miteinander verglichen werden? (Verifikation)<br />
• Wie kann ein eingehender Datensatz mit der gesamten Datenbank verglichen<br />
werden? (Identifikation)<br />
Insgesamt ist also eine Methode zu entwickeln, die es erlaubt, den Grad der<br />
Übereinstimmung verschiedener Datensätze zu messen. Inhaltlich bedeutet das,<br />
die Schüler müssen eine sinnvolle Definition für den „Abstand“ zweier Datensätze<br />
finden. An dieser Stelle ist das Übersetzen einer Idee in die mathematische
Biometrische Erkennungssysteme<br />
Formelsprache zwingend erforderlich, weil der Datenvergleich ja letztlich automatisiert<br />
werden soll, also programmiert werden muss.<br />
Interpretiert man Datensätze mit m Merkmalen als Vektoren in einem mdimensionalen<br />
Vektorraum (über R), so lassen sich obige Überlegungen als<br />
Suche nach einer passenden Metrik verstehen:<br />
Mathematische Formulierung:<br />
Eine Datenbank bestehe aus n Datensätzen mit jeweils m Merkmalen. Dann<br />
bezeichnet mit und die Ausprägung des j-ten Merk-<br />
mals im i-ten Datensatz. Der zur Person i gehörige Datensatz aus der Daten-<br />
bank besteht also aus den Daten . Die Ausprägung des j-ten Merk-<br />
mals beim eingehenden Datensatz werde mit bezeichnet.<br />
Gesucht ist also zunächst eine Funktion<br />
R m R, ,<br />
die jedem Datensatz einen (nichtnegativen) Abstand vom eingehenden Da-<br />
tensatz zuordnet.<br />
Die Identität einer Person gilt dann als verifiziert, wenn der Abstand<br />
des eingehenden Datensatzes vom zugehörigen Datensatz aus der Daten-<br />
bank unterhalb einer vorher festgelegten Grenze bleibt, wenn also gilt:<br />
Im Identifikationsmodus ist derjenige Datensatz gesucht, der vom eingehen-<br />
den Datensatz den geringsten Abstand hat. Zu bestimmen ist also der Index<br />
für den gilt:<br />
Im Rahmen des hier vorgestellten Projekts entwickelten die Schüler als erste<br />
naheliegende Ideen zur Bestimmung des Abstands zweier Datensätze und<br />
die folgenden Funktionen<br />
118<br />
(Summe der Abweichungsquadrate)<br />
(Summe der Abweichungsbeträge)
119<br />
Markus Ruppert<br />
Die Ergebnisse erster Testläufe waren jedoch in beiden Fällen ernüchternd: Bei<br />
der Eingabe eines neuen Bildes ergaben sich praktisch keine Treffer, die Falschidentifikationsrate<br />
(FIR, vgl. Mihailescu/Weiss-Pidstrygach, 2008 und Homepage<br />
der Firma Bromba Biometrics) lag nahezu bei 100%. Im Rahmen einer ersten<br />
Analyse wurde von den Schülern schnell die ungeschickte Wahl der Vergleichsfunktion<br />
als Hauptursache für das unbefriedigende Ergebnis ausgemacht. Sind<br />
nämlich für ein bestimmtes Merkmal j die Werte und klein im Vergleich<br />
zu den anderen Merkmalsausprägungen, so fällt eine (relativ gesehen) große<br />
Abweichung bei der Summenbildung trotzdem kaum ins Gewicht<br />
gegenüber den anderen Abweichungen. Das Quadrieren bei der Summe der<br />
Abweichungsquadrate vergrößert diesen Effekt sogar noch. Insgesamt bedeutet<br />
das, dass Merkmale mit kleiner Ausprägung bei der Verwendung einer der beiden<br />
obigen Vergleichsnormen praktisch keinen Niederschlag finden.<br />
Bei der Entwicklung des Kernstücks eines jeden Gesichtserkennungssystems,<br />
dem Vergleichsalgorithmus, müssen die Schüler also mit der numerischen Darstellung<br />
der geometrischen Merkmale arbeiten (K4), wenn ein programmierbarer<br />
funktionaler Zusammenhang zur Messung des Abstands zweier Datensätze<br />
hergestellt werden soll (L2, L4: Funktionaler Zusammenhang). Um nun die<br />
Qualität des Algorithmus bewerten zu können, müssen die einflussnehmenden<br />
Größen und deren Gewicht identifiziert und beurteilt werden (L4, K1).<br />
Problem 5: Verbesserungen des Systems<br />
Liefern die ersten Testläufe kein zufriedenstellendes Ergebnis, müssen Möglichkeiten<br />
erörtert werden, die zur Verbesserung des Erkennungssystems führen<br />
können. An dieser Stelle kommen typische mathematische Strategien zum Einsatz.<br />
Es geht dabei um die Beantwortung von Fragen wie: „Welche Vereinfachungen<br />
lassen sich vornehmen?“, „Welche Modellannahmen waren zu grob?“,<br />
„Wie können bestehende Verfahren optimiert werden?“ (K1, K2, K6)<br />
Konkrete Ansätze, die beim betrachteten Projekt verfolgt wurden:<br />
Verkleinerung der Datenbank<br />
Um die Fehler- bzw. Erfolgsquote ihres Systems besser einschätzen zu können,<br />
gingen die Schüler dazu über, ihre Verbesserungen zunächst an einer stark reduzierten<br />
Datenbank (5 Datensätze) zu testen, um diese dann sukzessive zu vergrößern<br />
und dabei die Entwicklung der Fehlerrate zu kontrollieren.<br />
Bildung von Durchschnittswerten<br />
Um kleine Abweichungen bei der Kopfhaltung und in der Mimik einer Person<br />
mit im Datensatz zu berücksichtigen, fertigten die Schüler von jeder Person, die<br />
in der Datenbank gespeichert werden sollte, drei Fotografien an und bildeten für
Biometrische Erkennungssysteme<br />
den Referenzdatensatz schließlich von den ausgelesenen Daten jeweils einen<br />
Mittelwert.<br />
Verbesserung des Vergleichsalgorithmus<br />
Das größte Potenzial zur Verringerung der Fehlerquote sahen die Schüler in der<br />
Verbesserung der Vergleichsfunktion. Wie oben bereits beschrieben, erkannten<br />
sie schnell die Nachteile einer Betrachtung von absoluten Abweichungen. Der<br />
erste Schritt bei der Verbesserung des Vergleichsalgorithmus war deshalb der<br />
Übergang zu relativen Abweichungen. Es wurden die beiden folgenden Vergleichsfunktionen<br />
getestet (L4):<br />
also die Summe der quadratischen relativen Abweichungen und die Summe der<br />
relativen Abweichungsbeträge zwischen dem eingehenden Datensatz und<br />
einem Referenzdatensatz .<br />
Im Zuge der weiteren Diskussion wurde argumentiert, dass eine Abweichung<br />
bei Merkmalen, die recht genau zu bestimmen und weitgehend unabhängig von<br />
der Mimik sind (etwa der Augenabstand), stärker gewichtet werden müssen als<br />
Abweichungen bei anderen Merkmalen. Auch dies wurde in der Abstandsfunktion<br />
berücksichtigt (L4, L5):<br />
Dabei wurden die Gewichtungsfaktoren von den Schülern festgelegt.<br />
In einem letzten Schritt entwickelten die Schüler einen zweistufigen Algorithmus<br />
(Konkurrentenalgorithmus). Dabei werden auf der Grundlage obiger Abstandsfunktion<br />
zunächst die drei Datensätze mit dem geringsten Abstand zum<br />
eingehenden Datensatz ermittelt. Anschließend werden die drei „Konkurrenzdatensätze“<br />
auf ihre größten Abweichungen hin untersucht und daraufhin noch<br />
einmal bei veränderter Gewichtung der Abweichungen mit dem eingehenden<br />
Datensatz verglichen.<br />
120
Berücksichtigung der Dreidimensionalität<br />
121<br />
Markus Ruppert<br />
Eine weitere Idee der Schüler zur Verbesserung ihres Gesichtserkennungssystems<br />
konnte aus Zeitgründen nicht mehr umgesetzt werden: Neben den bereits<br />
gezeigten Portrait-Aufnahmen hielten die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig<br />
auch Profilaufnahmen aller Personen fest. Eine Auswertung dieser Aufnahmen<br />
hätte eine Darstellung der markanten Punkte mit dreidimensionalen Koordinaten<br />
erlaubt (vgl. Abbildung 7).<br />
Diese Weiterentwicklung vom zwei- zum dreidimensionalen Modell liefert<br />
vielversprechende neue Merkmale. Die Frage nach zusätzlichen Informationen<br />
durch Winkelbetrachtungen ist neu zu diskutieren (K3, L3). Starre zweidimensionale<br />
Netze, können ihre Starrheitseigenschaft, als Netze im Dreidimensionalen<br />
betrachtet, verlieren (vgl. Abbildung 6). Winkel können dann zusätzliche<br />
Informationen liefern.<br />
Abb. 6: Starr als 2D-Netz, nicht aber als 3D-Netz<br />
Abb.7: Absolute und relative Lage – Annäherung an eine räumliche Darstellung<br />
Zusammenfassung<br />
Die nachfolgende Tabelle macht in der Übersicht noch einmal deutlich, dass<br />
durch die Behandlung des Themas „Biometrie“ im <strong>Geometrie</strong>unterricht sowohl<br />
allgemeine mathematische Kompetenzen, als auch inhaltliche Kompetenzen
Biometrische Erkennungssysteme<br />
gefordert und gefördert werden können (dabei wurde zusätzlich zu obigen Betrachtungen<br />
angenommen, dass die Fähigkeit über mathematische Inhalte zu<br />
kommunizieren in jeder Projektphase benötigt und gefördert wird).<br />
Kompetenzen Allgemeine Inhaltsbezogene<br />
Problem K1 K2 K3 K4 K5 K6 L1 L2 L3 L4 L5<br />
1 x x x x<br />
2 x x x x<br />
3 x x x x<br />
4 x x x x x<br />
5 x x x x x x x<br />
Tabelle 1: Der Erwerb von Kompetenzen im Rahmen des Projekts<br />
Der Ausgangspunkt ist hierbei die geometrische Modellieraufgabe. Dies spiegelt<br />
sich auch in der Tabelle wider, denn zur Bewältigung der Probleme 1 und 2<br />
werden inhaltsbezogene Kompetenzen benötig, die sich den Leitideen mit geometrischem<br />
Schwerpunkt zuordnen lassen. Im Projektverlauf stellte sich heraus,<br />
dass auch Fähigkeiten aus anderen Inhaltsbereichen benötigt werden, um zu<br />
einem Projektergebnis zu kommen.<br />
Darüber hinaus werden durch dieses Projekt Fähigkeiten gefördert, die im<br />
Kompetenzkatalog der KMK nur implizit enthalten sind oder keinen Niederschlag<br />
finden:<br />
• Teamfähigkeit, Kooperation: Ein zufriedenstellendes Projektergebnis kann<br />
nur erzielt werden, wenn die einzelnen Projektgruppen jeweils ihren Beitrag<br />
leisten. Dadurch entsteht eine hohe Identifikation mit dem Produkt und der<br />
Gruppe.<br />
• Schöpferisches Tun, Kreativität: Die Schüler stellen ein Produkt her, bei dem<br />
nur die geforderte Funktionalität vorher festgelegt ist – der Weg zu deren<br />
Verwirklichung wird von den Schülern selbst gewählt. Dabei bieten sich viele<br />
Möglichkeiten kreative Ideen einzubringen (Auswahl charakteristischer<br />
Merkmale, Entwicklung des Vergleichsalgorithmus).<br />
• Umgang mit Misserfolgserlebnissen, Kritikfähigkeit: Die Beherrschung der<br />
Fehlerraten erfordert eine kritische Reflexion der eigenen Vorgehensweise.<br />
122
123<br />
Markus Ruppert<br />
• Steigerung intrinsischer Motivation durch Erfolgserlebnisse: Auch eine<br />
schwächere Schülergruppe kann ein Projektergebnis mit akzeptablen Falschidentifikationsraten<br />
erzielen. Ein Vergleich mit den Kenngrößen realer Erkennungssysteme<br />
kann hier helfen den Erfolg zu beurteilen.<br />
Natürlich muss berücksichtigt werden, dass das hier vorgestellte Projekt mit<br />
einer kleinen Gruppe besonders begabter und motivierter Schüler durchgeführt<br />
wurde. Im Rahmen der Würzburger „Projekttage“ hatten die Schüler mehrere<br />
Tage Zeit, sich intensiv mit der Themenstellung auseinanderzusetzen. Für die<br />
Umsetzung des Projekts mit einer größeren, weniger homogenen Schülergruppe<br />
in einem knapper bemessenen Zeitrahmen bieten sich die folgenden<br />
Möglichkeiten:<br />
• Der Auftrag an die „Entwickler“ kann stärker eingegrenzt werden. Beispielsweise<br />
die Arbeit mit Portrait-Aufnahmen kann bereits in der Auftragsstellung<br />
vorgegeben sein.<br />
• Die erforderlichen Entwicklungsphasen können durch die Zerlegung in<br />
„Teilaufträge“ vorgegeben werden (Herstellen geeigneter Aufnahmen, Finden<br />
charakteristischer Merkmale, Auslesen der Daten, etc.). Dadurch geht<br />
zwar die Diskussion innerhalb der Projektgruppe über die grundsätzliche<br />
Vorgehensweise etwas verloren, die inhaltlichen Diskussionen bezüglich der<br />
eigentlichen Modellierung müssen aber trotzdem geführt werden.<br />
• Es muss nicht ein Gesichtserkennungssystem entstehen. Das Entwickeln von<br />
mehreren „Konkurrenzprodukten“ durch voneinander unabhängige Projektgruppen<br />
bietet einerseits die Möglichkeit, bezüglich der verwendeten Werkzeuge<br />
und der vorhandenen Vorkenntnisse zu differenzieren, andererseits<br />
können abschließend verschiedene Produkte und Verfahren vorgestellt, miteinander<br />
verglichen und diskutiert werden.<br />
• Die technischen Hilfsmittel können vorgegeben werden. Die Lehrkraft kann<br />
hier auf das Vorwissen der Schüler angepasste Werkzeuge zur Verfügung<br />
stellen, ohne die inhaltlichen Anforderungen der Problemstellung wesentlich<br />
zu verändern. So könnte z. B. die Struktur der Datenbank inklusive einer<br />
Ein- und Ausgabemaske vorgegeben werden – die wertvolle Diskussion um<br />
charakteristische Merkmale und eine geeignete Vergleichsfunktion muss<br />
trotzdem geführt werden.<br />
Abschließend bleibt noch festzuhalten, dass das vorgestellte Projekt Grunderfahrungen<br />
ermöglicht, die im Sinne H. Winters einen allgemeinbildenden <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
charakterisieren. Bei der Entwicklung eines Gesichtserkennungssystems<br />
lernen die Schüler die <strong>Mathematik</strong> als „nützliche, brauchbare<br />
Disziplin“ kennen und erfahren an einem lebensnahen Kontext, wie „mathematische<br />
Modellbildung funktioniert und welche Art von Aufklärung durch sie<br />
zustande kommen kann“ (Winter, 2003, S.7). Sie lernen die Begriffs- und Re-
Biometrische Erkennungssysteme<br />
gelbildung innerhalb der <strong>Mathematik</strong> und die dadurch entstehende Architektur<br />
als „geistige Schöpfung, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art“ (ebda)<br />
und als zuverlässige Grundlage für eine kreative und erschaffende Arbeitsweise<br />
kennen. Sie erwerben im Umgang mit der Problemstellung „Problemlösefähigkeiten<br />
(heuristische Fähigkeiten), die über die <strong>Mathematik</strong> hinausgehen“ (ebda).<br />
Literatur<br />
Behrens, M.. (2001). Biometrische Identifikation. Braunschweig: Vieweg.<br />
Dikich, E. (2003). Verfahren zur automatischen Gesichtserkennung. Berlin: Logos.<br />
Kultusministerkonferenz (KMK, 2004). Bildungsstandards im Fach <strong>Mathematik</strong> für den<br />
mittleren Schulabschluss. München<br />
Mihailescu, P., Weiss-Pidstrygach, Y.(2008). Muster in der biometrischen Identifikation.<br />
In: Praxis der <strong>Mathematik</strong> in der Schule, Jg. 50, H. 23, S. 40-45.<br />
Nolde, V. (2002). Biometrische Verfahren. Köln: Deutscher Wirtschaftsdienst.<br />
Winter, H. (2003) <strong>Mathematik</strong> und Allgemeinbildung. In: Henn, H.-W. et al., Materialien<br />
für einen Realitätsbezogenen <strong>Mathematik</strong>unterricht. Hildesheim: Franzbecker.<br />
www.bundesdruckerei.de/de/service/service_buerger/index.html<br />
(Homepage der Bundesdruckerei – Informationen zu biometrischen Passbildern)<br />
www.bromba.com/knowhowd.htm<br />
(Homepage der Firma Bromba Biometrics)<br />
124
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
geometrische Zusammenhänge erkennen & weiterentwickeln<br />
Jan Wörler<br />
Zusammenfassung: »Primzahlenbild 1-9216«, »Farbfraktal«, »Fibonacci-Reihe« –<br />
bereits die Titel vieler Werke der Konkreten Kunst verweisen darauf, dass eine besonders<br />
enge Verbindung dieser Kunstgattung zur <strong>Mathematik</strong> besteht. Die Verbindungen aufzudecken,<br />
zu untersuchen und dynamisch weiter zu entwickeln erfordert eine Vielzahl<br />
mathematischer Fähigkeiten. Im Artikel wird neben theoretischen Aspekten auch die<br />
praktische Umsetzung im Rahmen einer Schülerprojektwoche beleuchtet.<br />
Was ist »Konkrete Kunst«?<br />
»Konkrete Kunst« ist eine spezielle Kunstgattung, die sich im frühen 20. Jh. aus<br />
den Gattungen Suprematismus und Kubismus entwickelte. Ihre Vorreiter gingen<br />
noch von realen Situationen, wie etwa von Landschaften oder Stillleben aus und<br />
abstrahierten sie z. T. so stark, dass nur wenige geometrische Formen oder<br />
symbolische Inhalte übrig blieben. Die Künstler der Konkreten Kunst gingen<br />
einen Schritt weiter, indem sie jeglichen Bezug zur Natur oder realen<br />
Gegenständen aufgaben und stattdessen die Wirkung von Farben und Formen<br />
ins Zentrum ihres Schaffens stellten. Konkrete Kunst ist also nicht abstrakt; sie<br />
will nichts anderes darstellen, als die Mittel aus denen sie gemacht ist, also<br />
Farbe, Form und deren Zusammenspiel.<br />
Ein strenges Manifest, das im April des Jahres 1930 durch den Niederländer<br />
Theo van Doesburg verfasst wurde und in der Zeitschrift »Art Concret«<br />
erschien, legt dabei fest, was erlaubt ist und was nicht. Danach müssen die<br />
Werke klar, nachprüfbar und universell sein. Um das zu erfüllen ist es<br />
notwendig, die Werke nicht wie früher schrittweise zu entwickeln<br />
(»Komposition«), sondern ihren Aufbau von vornherein zu planen<br />
(»Konstruktion«); zu jedem Werk der Konkreten Kunst existiert also eine Art<br />
Bauplan.<br />
Die Postulate führen ferner nahezu zwingend auf die Sprache der <strong>Mathematik</strong>,<br />
aus der sich – etwa nach den Regeln der Kombinatorik, des Zufalls, spezieller<br />
Zahlenfolgen oder aber geometrischer Abbildungen (Spiegelungen, Drehungen,<br />
Inversion,...) – Konstruktionsschemata ableiten. Demnach ist <strong>Mathematik</strong> ein<br />
zentrales Hilfsmittel beim Entwickeln und Erschaffen Konkreter Kunst.<br />
Wörler, J. (2010).Konkrete Kunst im Schülerprojekt- geometrische Zusammenhänge<br />
erkennen und weiterentwickeln. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.)<br />
(2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S. 125-<br />
142
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Die Forderung nach »Überprüfbarkeit« sichert schließlich dem (geneigten)<br />
Betrachter zu, die mathematischen Konstruktionsprinzipien in den Werken<br />
nachvollziehen und nacherleben zu können – ein Aspekt, der die Konkrete<br />
Kunst für den <strong>Mathematik</strong>unterricht besonders interessant macht.<br />
Konkrete Kunst & <strong>Geometrie</strong><br />
Die Verbindung zwischen Konkreter Kunst und <strong>Geometrie</strong> ist von zweierlei<br />
Natur: Zum einen dienen geometrische Formen, wie etwa Rechtecke und Kreise<br />
als Ganzes oder aber in Teilen als Bildgegenstände. Der deutsche Künstler Josef<br />
Albers (1888-1976) untersuchte z. B. über Jahrzehnte hinweg die Wirkung von<br />
Farben auf den Betrachter und die Umwelt, indem er die immer gleiche<br />
Konstruktion vierer ineinander geschachtelter Quadrate in verschiedensten<br />
Farbkombinationen ausführte; so entstand seine berühmte Serie »Hommage to<br />
the Square«.<br />
Abb. 1: Quadrat als Motiv – schematischer Aufbau eines Werkes<br />
aus Albers' »Serie Hommage to the Square«.<br />
Der andere Aspekt betrifft ein spezielles, geometrisches Konstruktionsverfahren,<br />
das bei vielen Konkreten Künstlern zur Erstellung ihrer Werke<br />
Verwendung findet. Dafür wird eine geometrische Grundform ausgewählt (in<br />
den meisten Fällen ein Quadrat), die als atomarer Baustein der<br />
Werkskonstruktion dient. Aus ihr wird durch einfaches Aneinanderlegen oder<br />
andere geometrische Abbildungen (Translation, Rotation, zentrische Streckung,<br />
Spiegelungen, Permutation) das gesamte Werk aufgebaut.<br />
Exemplarisch sei unter diesem Aspekt auf das Œuvre von Heijo Hangen<br />
(*1927) verwiesen: Er wählt als Grundform ein Sechseck, das er durch die<br />
Zerlegung eines Quadrates in zwei kongruente Teile erhält; die Parkettierungseigenschaft<br />
des Quadrates überträgt sich dabei auf die abgeleitete Form.<br />
126
127<br />
Jan Wörler<br />
Abb. 2 li.: Heijo Hangen leitet aus einem Quadrat ein Sechseck<br />
(Schraffierung) ab; es dient als Grundbaustein für seine Bilder. re.:<br />
Schematischer Aufbau zu »Bild-Nr. 7638«.<br />
Hangen verwendet in seiner Serie Zeitversetzte Bildkombination über Jahre<br />
hinweg ausschließlich die selbe Grundform. Damit werden die einzelnen Werke<br />
problemlos kombinierbar – auch wenn zwischen ihrer Entstehung viele Jahre<br />
liegen.<br />
Konkrete Kunst als Projekt der Sek I und Sek II<br />
Die bisher vereinzelt existierenden Konzepte zur Betrachtung Konkreter Kunst<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht richten sich vor allem an die Primar- und Unterstufe<br />
(vgl. etwa Rademakers 2005 oder Maak 2006). Die Kunstwerke dieser Gattung<br />
bieten aber – bei entsprechender Auswahl und Intensität der Betrachtung – ein<br />
derart reichhaltiges Spektrum mathematischer Themen (etwa: Daten & Zufall,<br />
Kombinatorik, Zahlenfolgen, Fraktale <strong>Geometrie</strong>, höherdimensionale<br />
analytische <strong>Geometrie</strong>, Inversion am Kreis,...), dass sich auch genügend<br />
Anknüpfungspunkte für die Mittel- und Oberstufe finden lassen.<br />
Das hier vorgestellte Projekt wurde daher für Oberstufenschülerinnen und<br />
schüler vorbereitet und in der »Schülerprojektwoche 2009« der Fakultät für<br />
<strong>Mathematik</strong> und Informatik an der Universität Würzburg durchgeführt. Ziel des<br />
Projektes war es, einzelne Werke unter mathematischen Gesichtspunkten zu<br />
untersuchen, die Bildkonstruktionen zu entschlüsseln und die gefundenen<br />
Zusammenhänge zu diskutieren. Dafür sind zum einen Kenntnisse aus<br />
verschiedenen Bereichen der <strong>Mathematik</strong> und entsprechender Darstellungsformen<br />
erforderlich, zum anderen aber auch Fähigkeiten wie Argumentieren,<br />
Beweisen und Modellieren (siehe dazu: Wörler 2009).<br />
Anhand zweier Werke der Konkreten Kunst werden im Folgenden einige (Teil)-<br />
Ergebnisse des Projekts, die in besonderem Bezug zum Themenfeld der<br />
<strong>Geometrie</strong> stehen, beleuchtet.
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Geometrische Abbildungen bei Camille Graeser<br />
Die Werke von Camille Graeser (1892-1980) erzählen oft kleine Geschichten,<br />
wecken Assoziationen: hier scheint eine Form verrutscht worden zu sein, dort<br />
ein Quadrat zur Seite zu kippen.<br />
Abb. 3: Nachkonstruktion der »Translokation B« von Camille Graeser<br />
Und so drängt sich auch in seinem Bild »Translokation B« die Vermutung auf,<br />
das rote Quadrat sei aus der Reihe der bunten Quadrate oben herausgefallen und<br />
hinge nun mit einer Ecke nach unten vor dem gelben Hintergrund.<br />
Der Konstruktionsplan ist in diesem Falle leicht ersichtlich: Das Bild ist mit<br />
einem Raster von 4 mal 4 Quadraten gleicher Größe überzogen. In der ersten<br />
Zeile des Rasters sind drei der vier Quadrate farbig vom Hintergrund<br />
abgehoben. Der Mittelpunkt des herausgefallenen Quadrats liegt genau auf<br />
einem der Gitterpunkte.<br />
Abb. 4: Schemazeichnung des Werkes »Translokation B«<br />
Und doch bleibt die Frage: Wie könnte man das rote Quadrat auf den freien<br />
Platz in der oberen Reihe (zurück-)bewegen?<br />
Einige Teilnehmer der Projektgruppe schneiden die Bauteile aus Papier aus und<br />
legen Sie wie Puzzleteile vor sich. Sie kommen schnell zum Ergebnis: Das rote<br />
Quadrat wird ‚nach oben‘ verschoben und dabei in die richtige Position gedreht.<br />
Aber wie lässt sich diese Bewegung mit mathematischen Mitteln beschreiben?<br />
128
129<br />
Jan Wörler<br />
Ist die Lösung eindeutig? Gibt es besonders elegante Lösungen, etwa solche, die<br />
mit möglichst wenigen Schritten auskommen?<br />
Andere Schülerinnen und Schüler nutzen den Computer um mit Hilfe von DGS<br />
das Auffinden, Formulieren und Überprüfen von vermuteten Zusammenhängen<br />
zu unterstützen: sie konstruieren die relevanten Bildelemente am Computer nach<br />
und suchen experimentell oder theoriegeleitet nach Antworten auf die Fragen<br />
(vgl. Roth 2007 und http://www.juergen-roth.de/dynageo/kunst/kunst01.html).<br />
Lösung I: Spiegelung<br />
Neben der Lösung »Drehung o Verschiebung« gibt es auch die Möglichkeit,<br />
ausschließlich Achsenspiegelungen zu betrachten: Zuerst spiegelt man dabei das<br />
herausgefallene Quadrat z. B. an einer Achse so, dass eine seiner Seiten parallel<br />
zum Gitterraster zu liegen kommt und setzt es dann mit einer zweiten<br />
Spiegelung nach oben an den richtigen Platz:<br />
Abb. 5: Zwei Achsenspiegelungen bringen das herausgefallene Quadrat an<br />
seinen ursprünglichen Platz zurück.
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Die Projektgruppe findet immer wieder neue Paare von je zwei<br />
Achsenspiegelung, die hintereinander ausgeführt ein Abbild des Quadrates an<br />
den richtigen Platz bringen. Die Lösungen werden als Screenshots gesammelt<br />
und per Beamer diskutiert. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede<br />
bestehen zwischen diesen Paaren? Die Antwort ergibt sich aus dem zweiten<br />
Lösungsweg.<br />
Lösung II: Drehung<br />
Einige der Lösungen legen die Annahme nahe, es könnte im Hinblick auf die<br />
Anzahl der Teilschritte eleganter sein, die zwei Achsenspiegelungen durch eine<br />
einzige Drehung zu ersetzen. Doch wo ist der Drehpunkt? Und um welchen<br />
Winkel muss man das Quadrat drehen? Bei der Lösungsfindung kann<br />
experimentelles Arbeiten mit DGS zum Einstieg hilfreich sein. Schnell werden<br />
so die Schnittpunkte der Spiegelachsen (s. o.) als Drehpunkte identifiziert.<br />
Allerdings ist auch hier die Lösung nicht eindeutig – eine Tatsache, die von<br />
Schülerinnen und Schülern in <strong>Mathematik</strong> nicht oft nicht erwartet wird, aber<br />
gerade deswegen zum Nachdenken, Argumentieren und Beweisen anregen<br />
kann.<br />
In der beschriebenen Projektgruppe werden zunächst drei Drehpunkte<br />
herausgearbeitet, um die das Quadrat mit 45°, 135° bzw. 225° gedreht werden<br />
muss. Die Vermutung, es könne »so weiter gehen« und »alle 90° weitere<br />
Drehpunkte geben« erhärtet sich, als durch Probieren ein Drehpunkt für den<br />
Drehwinkel 315° entdeckt wird. Eine Regelhaftigkeit vermutend (»Die<br />
Abstände folgen vielleicht einer e-Funktion!«), beginnt die Suche nach dem<br />
nächsten, dem fünften Drehpunkt – den man schließlich auch gefunden zu<br />
haben glaubt. Einige Zweifler aber entfachen eine heftige Diskussion, ob es sich<br />
wirklich um einen neuen Punkt handelt oder aber ein bereits vorhandener Punkt<br />
wiedergefunden worden sei. Gibt es unendlich viele solcher Drehpunkte? Und<br />
wenn nicht: wie viele sind es? Was zunächst experimentell erkundet wurde,<br />
schlägt daraufhin in eine systematische Untersuchung um: Wie kann man die<br />
Drehpunkte konstruieren? Wie hängt die Lage der Punkte mit den Drehwinkeln<br />
zusammen?<br />
Solche und ähnliche Fragen führen schließlich auch auf die durch einen Beweis<br />
gesicherte Gewissheit: es gibt genau vier Drehpunkte.<br />
130
Abb. 6: Wird das rote Quadrat um 45° um den Punkt S gedreht,<br />
dann kommt es in der oberen Reihe zum liegen.<br />
Abb. 7: Das Quadrat kann aber auch durch Drehung um 135°<br />
um den Punkt U zurück bewegt werden.<br />
131<br />
Jan Wörler
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Karl Gerstner & Beweisen in der <strong>Geometrie</strong><br />
Ein Zitat des Künstlers Karl Gerstner (*1930) zu einer seiner Werksserien zeigt<br />
paradigmatisch, wie eng Konkretes Schaffen an mathematische Theorien<br />
gekoppelt sein kann:<br />
»Im Laufe der Arbeit hatte ich [...] neue Möglichkeiten entdeckt, die<br />
vielversprechend waren, aber nie zu befriedigenden Ergebnissen führten.<br />
Dann kam mit dem Buch von Benoit Mandelbrot The Fractal Geometry of<br />
Nature die Idee des Fraktalen wie ein Donnerschlag auf. Das war, wonach<br />
ich vergeblich gesucht hatte: die ewig gleiche Struktur in verschiedenen<br />
Maßstäben.« (Karl Gerstner, 2006. In: Romain & Bluemler 2006).<br />
Abb. 8: Inhomogene Kreispackung; sie gibt das Thema<br />
in Karl Gerstner Werk »Farbfraktal [...]« vor.<br />
Seinem Werk Farbfraktal aus der Serie Hommage an Benoît Mandelbrot legt<br />
Gerstner eine spezielle Kreispackung zu Grunde. Es ist durch seinen Bezug zur<br />
fraktalen <strong>Geometrie</strong> zweifellos eines der mathematisch anspruchsvolleren<br />
Werke, seine Konstruktion im Detail hochkomplex. Beschränkt man sich bei der<br />
Analyse des Werkes allerdings zunächst nur auf gröbere Strukturen, so lässt sich<br />
der Aufbau mit einfachen geometrischen Mitteln entschlüsseln und beschreiben.<br />
Im Hinblick auf inhomogene Schülergruppen bietet die schrittweise Zunahme<br />
der Komplexität in der Nachkonstruktion gute Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung.<br />
Stufe I: Drei sich berührende Kreise<br />
Untersucht man das Werk hinsichtlich seiner Konstruktion, so ist die Kenntnis<br />
der Mandelbrot'schen Theorie zunächst nicht erforderlich. Es handelt sich um<br />
einen großen Kreis, dem weitere kleinere Kreise einbeschrieben worden sind.<br />
132
133<br />
Jan Wörler<br />
Eine erste Frage bei der Erkundung der Werkskonstruktion könnte lauten: Wie<br />
kann man einem gegebenen Kreis zwei möglichst große Kreise<br />
k und k von gleichem Radius so einbeschreiben, dass sich<br />
die drei Kreise gegenseitig berühren? Hier wird unmittelbar klar, dass die<br />
Mittelpunkte der gesuchten Kreise auf einer Geraden durch liegen und dass<br />
gelten muss. Der Einstieg in die Aufgabe bleibt damit leicht und gibt<br />
eine gute Möglichkeit die Begriffe Radius und Durchmesser zu wiederholen und<br />
zu festigen.<br />
Bereits die Frage nach einer Begründung, wieso alle drei Mittelpunkte auf einer<br />
Geraden liegen müssen und ob es auch andere Lagen denkbar sind, setzt aber<br />
ein tieferes Verständnis voraus. Was steckt hinter dem Ausdruck berühren<br />
eigentlich? Welche Lagebeziehung gibt es zwischen zwei Kreisen? Wieso muss<br />
der Mittelpunkt eines der kleinen Kreise auf der Verbindungslinie von und<br />
dem Berührpunkt, also dem Radius , liegen? Die Beantwortung der Fragen<br />
für einen der kleinen Kreise lässt sich schließlich auch auf die Lagebeziehung<br />
zwischen den beiden kleinen Kreisen übertragen – und führt so zur Lösung der<br />
Ausgangsfrage.<br />
Eine Variation ist denkbar: Was passiert, wenn man in der Fragestellung die<br />
Forderung »möglichst groß« fallen lässt? Es ist hilfreich, die Behandlung dieser<br />
Fragen mit dynamischer <strong>Geometrie</strong>software zu unterstützen.<br />
Stufe II: Fünf sich berührende Kreise<br />
Abb. 9: Fünf sich berührende Kreise
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Nach solchen Überlegungen zu der Lagebeziehung und dem Berühren zweier<br />
und dreier Kreise könnte man zu Gerstners Werk zurückgehen und die nächste<br />
Frage anschließen: Wie lassen sich in die im ersten Schritt gewonnene Figur<br />
nun zwei weitere Kreise von maximalem Radius einbeschreiben? Welchen<br />
Radius haben sie?<br />
Eine Lösung lässt sich dabei mit Hilfe des Satzes von Pythagoras finden: Man<br />
nimmt dazu an, der größte Kreis habe den Radius ; für die<br />
kleineren Kreise aus dem ersten Konstruktionsschritt folgt . Der gesuchte<br />
Kreis sei mit bezeichnet. Im Dreieck gilt dann wegen<br />
des rechten Winkels nach dem Satz des Pythagoras<br />
Ausmultiplizieren und vereinfachen führt schließlich auf den Radius der<br />
gesuchten Kreise:<br />
Stufe III: Neun sich berührende Kreise<br />
Abb. 10: Nur wenn ist darf der Satz des Pythagoras angewandt<br />
werden.<br />
In der Praxis wurde von den Schülerinnen und Schülern im nächsten Schritt –<br />
analog oben – der Satz des Pythagoras angewandt um den Radius der gesuchten,<br />
nächstkleineren Kreise zu berechnen. Allerdings muss beachtet werden, dass<br />
keineswegs klar ist, ob die Voraussetzungen des Satzes erfüllt sind! Man kann<br />
also entweder<br />
134
- nachweisen, dass der Winkel ist oder<br />
- alternative Wege zur Berechnung des Radius' einschlagen.<br />
135<br />
Jan Wörler<br />
Die Suche nach Beweisen und allgemeingültigen Zusammenhängen soll auf<br />
Zusammenhänge führen, die auch unter Variation der Ausgangskonfiguration<br />
erhalten bleiben. Im vorliegenden Fall sollen sich etwa Kreise auch dann<br />
paarweise berühren, wenn die Radien der Kreise aus Stufe I verändert werden.<br />
Im Folgenden werden drei mögliche Wege vorgestellt.<br />
Abb. 11: Die Allgemeingültigkeit einer Lösung erkennt man oft erst dann,<br />
wenn einzelne Teile dynamisch verändert werden.<br />
Berechnung mit dem Kosinussatz: Der Radius der nächstkleineren Kreise sei<br />
mit y bezeichnet, sein Mittelpunkt mit Dann gilt:<br />
Abb. 12: neun sich berührende Kreise
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Ferner ist aus dem vorangehenden Kapitel bekannt. Es sei<br />
Nach dem Kosinussatz lassen sich damit nun folgende<br />
Gleichungen aufstellen:<br />
Die Umformung der ersten Gleichung ergibt:<br />
Eine analoge Rechnung für die zweite Gleichung führt auf:<br />
Quadrieren und Zusammenfassen der Gleichungen ergibt den Zusammenhang<br />
und somit schließlich den gesuchten<br />
Radius :<br />
Verknüpfung von DGS und CAS: Der zweite Lösungsweg ist besonders<br />
deswegen reizvoll, weil er die enge Verzahnung von <strong>Geometrie</strong> und Algebra<br />
aufzeigt: Auf der Suche nach der Kurve, auf der alle Mittelpunkte von Kreisen<br />
liegen, die zwei vorgegebene berühren, stößt man dabei auf ein<br />
Gleichungssystem, das sich – beispielsweise mit Hilfe eines CAS – lösen lässt.<br />
Die Lösung wird danach mit DGS weiterbearbeitet.<br />
136
Abb. 13: Die Lage der Kreismittelpunkte lässt sich jeweils<br />
paarweise durch rechtwinklige Dreiecke beschreiben.<br />
137<br />
Jan Wörler<br />
Die Mittelpunkte der drei Kreise werden bei diesem Weg durch ihre x- und y-<br />
Koordinaten beschrieben. Da sich die Kreise paarweise berühren, lassen sich<br />
zusammen mit den Radien nach dem Satz von Pythagoras folgende drei<br />
Gleichungen aufstellen:<br />
Da in der betrachteten Situation zwei der drei Kreise vorgegeben sind, sind<br />
und festgelegt:<br />
Unter diesen Vorgaben lässt sich das Gleichungssystem am Rechner nach<br />
auflösen (im Projekt wurde dazu der Solve-Befehl in Mathematica und<br />
Derive verwendet) und liefert die beiden Größen in Abhängigkeit von :
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Abb. 14: Auf der roten Kurve liegen die Mittelpunkte der Kreise,<br />
die die beiden gegebenen berühren<br />
Berührt ein Kreis die beiden Vorgegebenen, dann liegt sein Mittelpunkt<br />
demnach auf einer Hyperbel<br />
Ihre Hauptachse ist die Gerade, die durch die Mittelpunkte der vorgegebenen<br />
Kreise führt (siehe Abb. 14)<br />
Die Lage des gesuchten dritten Kreises wird schließlich durch eine weitere<br />
Bedingung festgelegt: es muss<br />
gelten. Dies führt zu zwei Lösungen für die gesuchten Mittelpunkte und Radien<br />
(siehe Abb. 15):<br />
138
139<br />
Jan Wörler<br />
Abb. 15: Es gibt zwei Lösungen: neben dem gesuchten Kreis (dunkel, oben<br />
links) erhält man auch einen zweiten (dunkel, unten Mitte).<br />
historisch-fraktaler Ansatz: Ein dritter Weg zur Analyse von Gerstners Werk<br />
geht – dem Bildtitel folgend – über das angesprochene Fachgebiet der<br />
»fraktalen <strong>Geometrie</strong>«. Benoît Mandelbrot behandelt in seinem Buch »Die<br />
Fraktale <strong>Geometrie</strong> der Natur« (vgl. Mandelbrot 1991, (1. Ausg. 1977)) fraktale<br />
Strukturen, die den Kreisstrukturen im Bild sehr ähnlich sind; er nennt sie<br />
»Apollonische Netze« (vgl. Mandelbrot 1991, S. 178). Ausgangspunkt sind<br />
dafür drei sich berührende Kreise. Sie bilden ein Bogendreieck, dem ein<br />
weiterer, vierter Kreis mit maximalem Radius einbeschrieben wird. Dadurch<br />
entstehen drei neue Bogendreiecke, an denen das Verfahren wiederholt wird.<br />
Führt man den Prozess (»Apollonischer Packungsprozess«) unendlich fort,<br />
entstehen die von Mandelbrot beschriebenen Strukturen. Unter dieser<br />
Perspektive kann Gerstners Werk als Apollonisches Netz zu einer speziellen<br />
(symmetrischen) Ausgangskonfiguration gesehen werden.<br />
Abb. 16: Erste Schritte des Apollonischen Packungsprozesses.<br />
Namensgeber ist dabei der Grieche Apollonius von Perge, der sich schon im<br />
3. Jh. v. Chr. mit der Frage beschäftigte, wie sich zu drei gegebenen Kreisen
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
(die sich nicht notwendigerweise berühren müssen) ein vierter finden ließe, der<br />
die gegebenen berührt. Dabei ließ er auch Punkte und Geraden als Spezialfälle<br />
von Kreisen mit Radien bzw. zu (vgl. Coxeter 1968, S. 5). Das<br />
Problem ist – wenn man es in seiner Allgemeinheit betrachtet – alles andere als<br />
trivial und so hat seine vollständige Lösung bis in die Neuzeit angedauert. Für<br />
den Sonderfall, dass die drei vorgegebenen Kreise sich paarweise berühren, fand<br />
René Descartes einen Zusammenhang, den er 1634 in einem Brief an Prinzessin<br />
Elisabeth von Böhmen, Enkelin der Maria Stuart, niederschrieb – allerdings<br />
ohne Beweis. Den lieferte im Jahre 1826 der Schweizer Jakob Steiner nach.<br />
Seither ist der Satz als »Descartes'scher Kreissatz« (auch: »Vier-Kreise-Satz«;<br />
siehe Lagarias & Mallows 2001) bekannt und wird heute wie folgt beschrieben:<br />
Es seien die Radien der gegebenen Kreise, der Radius des<br />
gesuchten. Für lässt sich die Krümmung eines Kreises als der<br />
Kehrwert seines Radius' definieren . Dann gilt:<br />
Offenbar lässt sich mit diesem Satz nur der Radius des gesuchten Kreises<br />
berechnen, nicht aber die Lage seines Mittelpunktes. Durch eine leichte<br />
Modifikation des Satzes und die Verwendung komplexer Zahlen konnte eine<br />
Forschergruppe um J. C. Lagarias 1998 auch das Problem der Mittelpunktsfindung<br />
lösen.<br />
Mit Hilfe dieser Sätze können die Lagen und Radien der Kreise in Gerstners<br />
Werk iterativ berechnet werden; des Aufwandes wegen bietet sich eine<br />
Auswertung am PC an (Bemerkung: Für folgt aus der<br />
Abgeschlossenheit von bezüglich der Addition auch . Für Gerstners<br />
Werk bedeutet dies: Alle Kreise dieser Packung haben einen rationalen Radius<br />
).<br />
Mandelbrot gibt darüber hinaus einen weiteren Weg an, wie die Lage der Kreise<br />
zueinander bestimmt werden kann: Apollonische Netze sind selbst-invers, d. h.<br />
sie lassen sich unter Inversion (auch: Spiegelung am Kreis) auf sich selbst<br />
abbilden. Da aktuelle DGS die Inversion als geometrische Abbildung<br />
beherrschen (Euklid DynaGeo und Cinderella bieten dafür eigene Makros),<br />
können die komplexen Zusammenhänge in apollonischen Netzen – also auch im<br />
»Farbfraktal« – computergestützt untersucht und nachvollzogen werden.<br />
140
141<br />
Jan Wörler<br />
Obgleich dieser Lösungsweg in seiner Tiefe nur von leistungsstarken Schülerinnen<br />
und Schülern beschritten werden kann, bietet er doch interessante<br />
Ausflüge und Einsichten in die Geschichte der <strong>Mathematik</strong>. Neben inhaltlichen<br />
Aspekten können dabei aber auch Methoden wissenschaftlichen Recherchierens<br />
thematisiert und vermittelt werden. Moderne, internetgestützte Quellen bieten<br />
leicht verfügbare Ausgangspunkte für weitergehende Nachforschungen in<br />
traditionellen Medien (Bücher, Zeitschriften,...).<br />
Fazit: Warum Konkrete Kunst?<br />
Die schlichte Ästhetik der Konkreten Kunst verschleiert ihren oft anspruchsvollen<br />
mathematischen Gehalt. Das Überraschungsmoment, das sich einstellt, wenn<br />
hinter scheinbar regellosen Farbflächen eine stringente Logik entdeckt wird,<br />
kann eine Art Forscherdrang erzeugen, den man im Unterricht sonst oft nur<br />
mühevoll herbeiführen kann. Muster zu suchen, sie als Regelmäßigkeiten zu<br />
erkennen und zu beschreiben erfordert zwar ein Hinsehen mit ‚mathematischem<br />
Augen‘, die Herausforderung ein Bild zu knacken wird aber – nach einer Eingewöhnungsphase<br />
– von Lernenden gern angenommen. Dabei ist hilfreich, dass<br />
das breite Spektrum mathematischer Themen in der Konkreten Kunst ganz unterschiedliche<br />
Interessenfelder und Kenntnisstände der Schülerinnen und Schüler<br />
anspricht. Dass die Analyse eines Bildes oft aber auf sehr verschiedene Arten<br />
erfolgen kann, Ergebnisse und Wege nicht eindeutig sind, ist – wie die Erfahrung<br />
aus den Projektgruppen gezeigt hat – für Schülerinnen und Schüler, aber<br />
auch für angehende Studierende des Fachs <strong>Mathematik</strong>, oft ungewohnt und nur<br />
schwer akzeptierbar. Dabei sind es gerade die Offenheit von Lösungsweg und<br />
Ziel, die Verschränkung unterschiedlicher Teilgebiete der <strong>Mathematik</strong> und das<br />
Zusammenspiel verschiedener Werkzeuge (DGS, CAS, TKP,...), die modernes<br />
Arbeiten (Problemlösen, Modellieren) im <strong>Mathematik</strong>unterricht ausmachen.<br />
Konkrete Kunst kann dafür ein interessantes Übungs- und Einstiegsfeld bieten.<br />
Literatur<br />
Coxeter, H. (1968). The Problem of Apollonius. In: The American Mathematical<br />
Monthly 75, S. 5–15.<br />
Lagarias, J. et al. (2001). Beyond the Descartes Circle Theorem. In: arXiv (E-Print):<br />
http://arxiv.org/abs/math/0101066.<br />
Maak, A. (2006). Mit Ecken und Kanten: Kunstwerke mit geometrischen Aspekten.<br />
Kempten : BVK Buch Verlag Kempten e. K.<br />
Mandelbrot, B. (1991). Die fraktale <strong>Geometrie</strong> der Natur. Basel ; Boston ; Berlin : Birkhäuser.
Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />
Rademakers, E. (2005). Kunst und <strong>Mathematik</strong>: Kreative Unterrichtsideen zu Mustern,<br />
Formen und optischen Täuschungen. Horneburg : Persen Verlag GmbH.<br />
Romain, L. et al. (Hrsg.) (2006). Künstler : Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst<br />
(Karl Gerstner). München : WB-Verlag.<br />
Roth, J. (2007). Konkrete Kunst und Bewegung : <strong>Mathematik</strong> als Kreativitäts- und Interpretationswerkzeug.<br />
In: Lauter, M. et al. (Hrsg.) Ausgerechnet ... <strong>Mathematik</strong> und<br />
Konkrete Kunst. Baunach : Spurbuchverlag, S. 24–30.<br />
Wörler, J. (2009). Konkrete Kunst: <strong>Mathematik</strong> in Bildern finden und dynamisch erforschen.<br />
In: Neubrand, M. (Hrsg.) Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2009. Münster<br />
: Martin Stein Verlag.<br />
142
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
Michael Schneider<br />
Zusammenfassung Problemlösen wird explizit in den KMK-Bildungsstandards erwähnt.<br />
Wir gehen auf den Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen ein und fokussieren<br />
den Kontext auf die Geometrischen Denkaufgaben von Paul Eigenmann. Wir stellen<br />
den Bezug her zum Kontext der Basiskompetenzen und schließen mit modifizierten<br />
Eigenmann-Aufgaben für den Einsatz in der Schule.<br />
Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen<br />
Die Rolle der <strong>Geometrie</strong> für die Schulmathematik ist allgemein anerkannt. Es<br />
gibt nicht nur im Hinblick auf den Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen<br />
bereits zahlreiche Arbeiten, daher fasse ich mich hier kurz.<br />
Die <strong>Geometrie</strong> ermöglicht den Lernenden das Denken in Strukturen bei immer<br />
vorhandener Anschauung. Dementsprechend stellt die <strong>Geometrie</strong> ein gutes Gelände<br />
dar für eigene Gedankengänge. Des Weiteren bildet die <strong>Geometrie</strong> für<br />
Problemlösen und Problemlösestrategien einen natürlichen Rahmen mit einer<br />
überschaubaren Anzahl von Objekten, Werkzeugen und zulässigen Operationen<br />
(vgl. Weigand 2009, S. 23).<br />
Im geometrischen Kontext können Lernende gut angeleitet werden, die richtigen<br />
Fragen zu stellen, also die Kernfähigkeit wissenschaftlichen Denkens zu entwickeln<br />
und entdeckend zu lernen (zum letzten Punkt vgl. Kadunz und Sträßer<br />
2007, S. 118 ff.).<br />
Geometrische Denkaufgaben von Paul Eigenmann<br />
Den geometrischen Kontext fokussiere ich auf das Buch „Geometrische Denkaufgaben“<br />
von Paul Eigenmann 8 . Im Vorwort schreibt der Autor:<br />
Die hier für den <strong>Geometrie</strong>unterricht vorgeschlagenen Aufgaben sollen vor<br />
allem die Phantasie des Schülers anregen und ihn erleben lassen, wie er<br />
8 Durch Lutz Führer wurde ich auf die Arbeiten von Eigenmann, Pólya und vieles mehr<br />
aufmerksam.<br />
Schneider, M. (2010).Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen. In:<br />
Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>,<br />
Hildesheim: Franzbecker, S.143-154
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
aus eigener Kraft die verborgenen Zusammenhänge eines mathematischen<br />
Sachverhalts entdecken kann. Vergessen wir nicht, dass stoffliches Wissen<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht fast immer nur Mittel zu dem Zweck ist, das Denken<br />
zu lernen. Daher haben wir das Ziel des <strong>Mathematik</strong>unterrichts nicht<br />
erreicht, wenn wir nur die notwendigen Übungsaufgaben stellen. Die Freude<br />
an geistiger Arbeit erwächst nicht an Übungsaufgaben. Langweilen sich<br />
unsere Schüler oder beginnen sie sich hinter dem Wort zu verstecken, die<br />
<strong>Mathematik</strong> sei schwer, so sollten wir zunächst uns selbst fragen: Haben<br />
wir unsere Schüler zu einem eigenen produktiven Denken geführt, haben<br />
wir sie die Probleme selbst erkennen, die Lösungswege selbst wagen lassen?<br />
(Eigenmann 1981, S.3)<br />
Vor dem Hintergrund dieser Leitfrage legt Eigenmann insgesamt 296 Aufgaben<br />
vor. Diese gliedern sich in 176 Aufgaben im ersten Teil und 120 im zweiten Teil<br />
des Buches. Die Aufgaben sind in jedem Teil in vier Gruppen angeordnet. Zu<br />
jeder Aufgabengruppe werden sehr kurz Informationen gegeben, wie etwa Hinweise<br />
auf hilfreiche Sätze.<br />
Beispielaufgaben<br />
Abb. 1: Aufgabe Nr. 2 und Nr. 145 des ersten Teils 9<br />
Einen Lösungsweg für die Eigenmann-Aufgabe Nr. 2 führe ich kurz vor. In der<br />
folgenden Skizze sind einzelne Schritte eingekreist nummeriert. 10 Erst später<br />
sollen die Schüler ihren Lösungsweg oder einzelne Ideen exakt ausformulieren.<br />
Im dritten Lösungsschritt wird dann die Umfangsbedingung a+b+c=22cm benutzt<br />
und wir erhalten x=6cm.<br />
9 Hierbei steht das Symbolo für den Mittelpunkt eines Kreises. Wenn nichts weiter geschrieben<br />
wird, ist im Folgenden die jeweilige Aufgabe aus dem ersten Teil des Buches.<br />
Abgeänderte Aufgaben werden mit einem Hochstrich ' an der Nummer gekennzeichnet.<br />
10 Auf diesen Stil und die entsprechende Unterrichtserfahrung hat mich freundlicherweise<br />
Dörte Haftendorn hingewiesen.<br />
144
145<br />
Michael Schneider<br />
In den Eigenmann-Aufgaben des ersten Teils wird nach Größen gefragt, zum<br />
Beispiel nach Winkeln, Seitenlängen, Flächen oder einem Verhältnis. In den<br />
Aufgaben des zweiten Teils wird gefragt, ob eine bestimmte Bedingung zutrifft,<br />
zum Beispiel, ob zwei Größen übereinstimmen oder ob ein Dreieck rechtwinklig<br />
ist. Im Vorwort des zweiten Teils heißt es:<br />
Die Besonderheit dieser Aufgaben besteht darin, daß der Löser als Fahnder<br />
eingesetzt wird. Er muss abklären, ob die angegebene Vermutung richtig oder<br />
nur scheinbar richtig ist. Anhand der gezeichneten Figur kann die Frage nicht<br />
entschieden werden. Nur die Berechnung gibt die Antwort. Mit der Antwort ja<br />
oder nein ist aber das Problem noch nicht ausgeschöpft. Im Falle „nein“ erhebt<br />
sich nämlich sofort die Frage: Für welche Masse würde die Vermutung genau<br />
zutreffen? Das erfordert das Aufstellen und Lösen von Gleichungen. (Eigenmann<br />
1981, S. 26)<br />
Abb. 2: Nr.2 mit eingezeichneten Lösungsschritten<br />
Beispielaufgabe<br />
Abb. 3: Aufgabe Nr. 3, zweiter Teil
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
Eine Vielzahl dieser Aufgaben habe ich studiert und gelöst. Dann habe ich mir<br />
die Frage gestellt, ob es charakteristische Eigenschaften gibt und wie sich diese<br />
formulieren lassen. Als Antwort darauf gebe ich die folgende Liste.<br />
Charakteristische Eigenschaften der Eigenmann-Aufgaben<br />
1. Die Aufgabe ist minimalistisch gestellt: es gibt eine Zeichnung und eine<br />
Frage dazu. Die Zeichnung muss als geometrische Figur interpretiert werden.<br />
2. Die Frage ist kurz und direkt formuliert, es existiert eine eindeutige Antwort.<br />
3. Es gibt keine Abfolge von Arbeitsanweisungen.<br />
4. Hinweise werden nur sparsam und allgemein gegeben.<br />
5. Es ist eine Problemlöseaufgabe.<br />
Diese Charakterisierung ist wichtig als Basis weiterer Forschung, zum Beispiel<br />
wenn man neue Aufgaben dieses Typs komponieren will. Eigenmann gibt kein<br />
einziges Lösungsbeispiel, lediglich eine Einteilung der Aufgaben in Gruppen<br />
und die zur Bearbeitung benötigten Kenntnisse am Ende des Vorworts (jeweils<br />
im ersten und zweiten Teil des Buches).<br />
Zusatz und „Philosophie“<br />
Beim Lösen einer Eigenmann-Aufgabe soll ein ökonomisches Prinzip beachtet<br />
werden: es kommen keine ausgefallenen, komplizierten Formeln zum Einsatz. 11<br />
Das ist der Hauptgedanke und die Philosophie dieser Aufgaben. Statt etwa ein<br />
Koordinatensystem einzuführen, vorhandene Linien in Geradengleichungen zu<br />
übersetzen und das Problem algebraisch anzugehen, führen allgemeine Problemlösestrategien<br />
wie zum Beispiel das Ausnutzen von Symmetrie schneller und<br />
eleganter zum Ziel. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Eigenmann-Aufgaben,<br />
die im Laufe der Lösung sinnvoll algebraisch behandelt werden.<br />
Didaktisches Potenzial der Eigenmann-Aufgaben<br />
Standard- und Routineaufgaben sind wichtig, um schematisch-schablonenhaftes<br />
und reproduktives Denken anzusprechen. Darüber hinaus aber müssen Aufgaben<br />
an die Schüler herangetragen werden mit denen das produktive Denken<br />
geweckt und gepflegt wird (vgl. Schupp 1971, S.110-111).<br />
Bei den Eigenmann-Aufgaben werden die Lernenden nicht kleinschrittig in<br />
Form von Aufgabenteilen auf einem bestimmten Weg zur Lösung geführt, sondern<br />
erhalten Freiraum, den sie kreativ nutzen können - mit dem Lehrer oder<br />
11 Was das konkret bedeutet, muss im Unterricht diskutiert und ausgehandelt werden.<br />
146
147<br />
Michael Schneider<br />
anderen Lernenden als mögliche Partner. Kreativität und Freiraum dürfen natürlich<br />
nicht zu Beliebigkeit im Klassenraum führen. Des Weiteren sollte der Eindruck<br />
vermittelt und gefestigt werden, dass diese Form der Beschäftigung nicht<br />
nur Spaß bereiten darf, sondern sogar „richtige“ <strong>Mathematik</strong> ist!<br />
Mit Eigenmann-Aufgaben und deren Lösungen kann ein geometrisches Beispielrepertoire<br />
an Heuristiken aufgebaut werden. Dieser Punkt ist wichtig, denn<br />
es bringt nichts, einzelne Problemlösestrategien namentlich aufsagen zu können,<br />
ohne an ein konkretes Beispiel (working example) zu denken:<br />
In fact, problem solving can be learned only by solving problems. But it<br />
must be supported by strategies provided by the trainer. (Engel 1998, S. 1)<br />
Weiter können mit Eigenmann-Aufgaben Grundvorstellungen von Problemlösestrategien<br />
aufgebaut werden. Ich beschränke mich hier beispielhaft auf die Strategie<br />
des Vorwärts- bzw. Rückwärtslösens.<br />
Strategie des Vorwärts- und Rückwärtslösen<br />
Abb. 4: Aufgabe Nr. 13<br />
Abb. 5: Nr. 13 links vorwärts gelöst, rechts rückwärts gelöst 12<br />
12 In einem vierten Schritt wird dann die Winkelsumme im unteren bzw. oberen Teildreieck<br />
benutzt und es ergibt sich: α = 68°.
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
Beim Vorwärtslösen nähert man sich also (im wörtlichen Sinne) der gesuchten<br />
Größe, ausgehend von den gegebenen Größen. Beim Rückwärtslösen verläuft<br />
der Weg in der Gegenrichtung. Die jeweilige Strategie wird somit visuell veranschaulicht.<br />
Bei komplexen Problemen kommen häufig beide Strategien zum<br />
Einsatz. Das gilt auch für direkte Beweise. Direkte Beweise werden von der<br />
Voraussetzung zur Behauptung vorwärts formuliert, aber selten so gefunden.<br />
Schließlich gibt eine gefundene Lösung oft Anlass, daran anknüpfende Fragen<br />
zu stellen und sich einen größeren Kontext zu erschließen.<br />
Modifizierte Eigenmann-Aufgaben für die Schule<br />
Allgemein darf bezweifelt werden, dass Schüler mit solchen vergleichsweise<br />
stenographisch gestellten Aufgaben zurechtkommen. Die Eigenmann-Aufgaben<br />
sind in vollem Umfang nicht direkt für den Einsatz in einer Schule geeignet.<br />
Daher geht es mir darum, den Einstieg zu diesem Aufgabentyp zu erleichtern.<br />
Das kann zum Beispiel geschehen durch:<br />
1. Vorgabe der Bezeichnungen der Größen in der Aufgaben-Figur,<br />
2. Hinweis auf Hilfslinien,<br />
3. Änderungen bei den gegebenen und gesuchten Größen.<br />
Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Auf einzelne Punkte gehe ich<br />
gleich an Beispielen näher ein. Vorher möchte ich betonen, wie wichtig es ist,<br />
den Lernenden ihren Freiraum zu lassen, um selbständiger und selbstbewusster<br />
zu werden. Außerdem führen oft mehrere Wege zur Lösung, aber nicht jeder gut<br />
gemeinte Hinweis ist unabhängig vom Lösungsweg. Hier ist es unabdingbar,<br />
dass der Lehrer ohne die Scheuklappen eines eigenen Lösungsweges die Ideen<br />
der Schüler wohlwollend aufnimmt und Rückmeldung gibt 13 , also eher prozessorientiert<br />
als ergebnisorientiert Hilfestellung leistet. Trotzdem muss sich die<br />
Lehrperson haargenau durch eigenes Lösen Sicherheit verschaffen, dass die<br />
Schüler mit ihrem bisher erworbenen Wissen eine Lösung finden können. Anderenfalls<br />
macht sich Frustration breit und die Schüler wollen zurück zu Standardaufgaben.<br />
Zu Beginn und immer wieder aufs Neue muss im Klassenraum die<br />
richtige Atmosphäre geschaffen werden, eine Stimmung, in der das Suchen, das<br />
Vermuten und das Knobeln ausdrücklich gewünscht sind.<br />
Zu Punkt 1: Vorgabe der Bezeichnungen der Größen in der Aufgaben-Figur<br />
13 Für eine Darstellung von Hilfen im Lösungsprozess verweise ich auf Zech 1996, S.<br />
315 ff.<br />
148
149<br />
Michael Schneider<br />
Die (relevanten) Größen der Aufgaben-Figur zu bezeichnen geht einher mit dem<br />
Erfassen der Konfiguration und des Problems. Diese Tätigkeit legt die Basis für<br />
die eigenen Gedankengänge und später für die Kommunikation mit anderen<br />
Schülern und dem Lehrer (Ich-Du-Wir-Prinzip). Die Vorgabe relevanter Größen<br />
erleichtert die Aufgabe, sollte aber im geometrischen Kontext vorsichtig dosiert<br />
werden, damit die Lernenden nicht zu algebraisch vorgehen.<br />
Beispiel:<br />
Abb. 6: Aufgabe Nr. 65 Original und mit eingeführten Bezeichnungen<br />
Die zusätzlichen Bezeichnungen in der Eigenmann-Aufgabe 65 liefern angedeutete<br />
Hinweise. Das t steht für „Tangente“, sichert also den Eindruck, dass die<br />
Gerade durch A und B wirklich tangential am Kreis um M liegt. Alle Punkte A,<br />
B, C und M sind miteinander verbunden – mit einer Ausnahme, so dass Schüler<br />
möglicherweise auf die Idee kommen, die Strecke von B nach M als Hilfslinie<br />
zu benutzen.<br />
Zu Punkt 2: Hinweis auf Hilfslinien<br />
Hilfslinien gliedern ein Problem in Teilprobleme, von denen man hofft, dass<br />
diese einfacher als das Ausgangsproblem zu lösen sind. Die Lösungen der Teilprobleme<br />
werden schließlich zu einer Gesamtlösung zusammengesetzt. Auf<br />
diese Heuristik bezieht man sich oft mit der Formulierung „teile und herrsche“.<br />
Beispiel
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
Abb. 7: Aufgabe Nr. 145 Original und mit gestrichelten Hilfslinien<br />
Zu Punkt 3: Änderungen bei den gegebenen und gesuchten Größen<br />
Hier ist besondere Vorsicht geboten: Änderungen bei den gegebenen oder gesuchten<br />
Größen können das Problem vereinfachen, erschweren oder sogar unlösbar<br />
machen.<br />
Beispiel<br />
Abb. 8: Aufgabe Nr.2 und abgeänderte Aufgabe Nr. 2'<br />
Die abgeänderte Aufgabe Nr. 2' ist etwas leichter als das Original:<br />
• Die linke Seite des Dreiecks ist in Nr. 2' als x vorgegeben, im Original muss<br />
diese Seite als 2+x erkannt werden.<br />
• Als Bestimmungsgleichung für x ergibt sich für Nr. 2': 2+6+6+x=22 im Gegensatz<br />
zu 2+x+x+(2+x)=22 für die Originalaufgabe.<br />
Neue Aufgaben komponieren im Geiste von Eigenmann<br />
Es ist sehr aufwändig, Aufgaben zu generieren, die „aufgehen“, ästhetisch sind<br />
und darüber hinaus Einsicht vermitteln und zu weiteren spannenden Fragen<br />
führen. Als Ausgangspunkt und für den einfachsten Schwierigkeitsgrad neuer<br />
Aufgaben im Geiste von Eigenmann empfehle ich, von den Eigenmann-<br />
Symbolen (wie zum Beispiel o für den Mittelpunkt eines Kreises) auszugehen<br />
und diese einzuüben. Für höhere Schwierigkeitsstufen relevant ist das aus der<br />
Musik und dem Problemschach bekannte Prinzip, mit (Grund-)Mustern zu<br />
„spielen“ und zu variieren (Schupp 2002, S. 31-37). Denkbar sind auch Aufgaben<br />
dieses Typs für drei Dimensionen. Mit (oder ohne) Einsatz von DGS kommen<br />
weitere neue Aufgaben zu Ortskurven in Frage.<br />
150
Beispiele<br />
Abb. 9: Zwei neue Aufgaben im Geiste von Eigenmann<br />
Kontext Basiskompetenzen<br />
151<br />
Michael Schneider<br />
In den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss vom 4.12.<br />
2003 finden sich in Form von Kompetenzen und ausgerichtet an Leitideen<br />
Wunschbeschreibungen, was Schüler können und tun (sollen). Diese Kompetenzen<br />
fasse ich als Gesamtkatalog auf. Kompetenzen lassen sich nicht streng<br />
getrennt voneinander diskutieren. Das Gesamtkonzept lehne ich nicht ab, aber<br />
man blendet darin die didaktische Relevanz von Inhalten aus. So steht etwa bei<br />
der Leitidee Raum und Form:<br />
[Die Schülerinnen und Schüler] wenden Sätze der ebenen <strong>Geometrie</strong> bei<br />
Konstruktionen, Berechnungen und Beweisen an, insbesondere den Satz des<br />
Pythagoras und den Satz des Thales. (Bildungsstandards im Fach <strong>Mathematik</strong><br />
für den Mittleren Schulabschluss, Beschluss vom 4.12.2003, S. 11)<br />
Zur Bedeutung dieser Sätze oder anderen Inhalten findet man nichts. Es bleibt<br />
das didaktische Problem der Rechtfertigung: Was sollen (welche) Schüler warum<br />
in der <strong>Geometrie</strong> lernen?<br />
Mit zunehmendem Gebrauch des Kompetenzbegriffs verschwinden die Unterschiede<br />
zwischen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnissen. Weitere Kritikpunkte<br />
finden Sie in einem Artikel von F. Grigat (vgl. Forschung und Lehre<br />
4/2010, S. 250 ff.).<br />
Positiv halte ich fest: Kompetenzen sind so formuliert, dass sie sich leicht testen<br />
und feststellen lassen. Bei der Bearbeitung von Eigenmann-Aufgaben erwerben<br />
die Schüler folgende Basiskompetenzen:
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
• (K 1) Mathematisch argumentieren,<br />
• (K 2) Probleme mathematisch lösen,<br />
• (K 4) Mathematische Darstellungen verwenden,<br />
• (K 5) Mit symbolischen, formalen und technischen Elementen der <strong>Mathematik</strong><br />
umgehen.<br />
Die Kompetenz (K 3) mathematisch modellieren wird durch Eigenmann-<br />
Aufgaben nicht gefördert.<br />
Neben der Problemlösekompetenz liegen mir die Kommunikations- und allgemeiner<br />
die Sozialkompetenz am Herzen. Schüler sollen dazu erzogen werden,<br />
ihre Gedanken klar auszudrücken und die Gedanken ihrer Mitmenschen während<br />
einer Diskussion zu beachten. Im Klassenraum soll also die vernünftige<br />
Rede etabliert werden. Das ist über die <strong>Mathematik</strong> hinaus ein wichtiges Erziehungsziel.<br />
Ausblick<br />
Im Rahmen meiner Dissertation arbeite ich unter anderem auch an neuen Aufgaben<br />
im Geiste von Eigenmann, die in der Schule gestellt werden. Seit Januar<br />
2010 erprobe ich Original-, modifizierte und neue Eigenmann-Aufgaben im<br />
Rahmen einer <strong>Mathematik</strong>-AG in der Bettinaschule Frankfurt am Main. Die<br />
Aufgaben werden generell angenommen. Abschließend schildere ich eine keineswegs<br />
repräsentative, aber erfreuliche Lösung aus dieser AG, die mich in der<br />
Geschwindigkeit überrascht hat.<br />
Fallbetrachtung Elina (9. Klasse, G8, Bettinaschule Frankfurt am Main)<br />
Abb. 10: Eigenmann-Aufgabe Nr. 133<br />
Die Schüler haben diese Skizze in Euklid DynaGeo übertragen, manche dynamisch,<br />
andere statisch. Es wurden Hilfslinien gesucht. Elina hat die Querlinien<br />
152
153<br />
Michael Schneider<br />
verlängert und auf den Eckpunkten des großen Quadrates die Lote errichtet:<br />
Abb. 11: Nr. 133 mit eingezeichneten Hilfslinien<br />
Dann gab sie mir die Antwort 1/5 mit dem Zusatz, dass sie das sieht. Ich habe<br />
sie gebeten, mir das ausführlich zu erklären. Sie hat in ihren Worten mit Kongruenz<br />
und Umklappen argumentiert: Die Dreiecke (A und B) können ausgetauscht<br />
werden. Man hat also vier gleich große Quadratflächen um die mittlere<br />
und das mittlere Quadrat ist genau so groß. Dann war mir klar 14 : sie hat die<br />
Lösung gefunden.<br />
Solche schnellen und eleganten Lösungen sind natürlich (erfreuliche) Ausnahmen,<br />
es ist bereits viel gewonnen, wenn die vernünftige Rede im Klassenraum<br />
etabliert ist. Bei der Bearbeitung der Aufgabe 133 hatte ich in der Vorbereitung<br />
deutlich länger gebraucht. Mir fiel nach einigen Sackgassen die gleiche Lösung<br />
ein. Gleichzeitig hatte ich mir damit eine neue Heuristik erarbeitet: „erweitere<br />
und herrsche“.<br />
Schlussendlich sehe ich Problemlösen nicht zwangsgekoppelt an die Förderung<br />
irgendwelcher Eliten: „Problem“ ist ein individueller Begriff und <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
soll nicht auf <strong>Mathematik</strong>-Olympiaden vorbereiten, sondern auf das<br />
(Berufs-)Leben oder das Studium – dadurch, dass das Denken geübt wird.<br />
Literatur<br />
Eigenmann, P. (1981). Geometrische Denkaufgaben. Stuttgart: Ernst Klett<br />
Engel, A. (1998). Problem-Solving Strategies. New York : Springer<br />
14 ohne Videokamera, Tonbandgerät und Kompetenzkalkül
Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />
Grigat, F. (2010). Die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. In: Forschung und Lehre<br />
4/2010, Bonn: Deutscher Hochschulverband, S. 250-253.<br />
Kadunz, G. und Sträßer, R. (2007). Didaktik der <strong>Geometrie</strong> in der Sekundarstufe I. Hildesheim,<br />
Berlin: Franzbecker.<br />
Schupp, H. (2002). Thema mit Variationen. , Hildesheim, Berlin: Franzbecker<br />
Weigand, H.-G. et al. (2009). Didaktik der <strong>Geometrie</strong> für die Sekundarstufe I, Spektrum<br />
Akademischer Verlag, Heidelberg<br />
Zech, F. (1996). Grundkurs <strong>Mathematik</strong>didaktik. Theoretische und praktische Anleitung<br />
für das Lehren und Lernen von <strong>Mathematik</strong>, Beltz, Weinheim, Basel<br />
154
Förderung von geometriespezifischen Kompetenzen - eine Bestandsaufnahme<br />
des Ist-Zustandes an Haupt- und Realschulen<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Zusammenfassung. „Inwiefern werden konstruktive Kompetenzen in der Sekundarstufe<br />
I mit dem Lineal/Geodreieck und dem Zirkel aktuell an baden-württembergischen Schulen<br />
gepflegt?“ Dieser Frage geht diese kurze Untersuchung mit unterschiedlichen Erhebungen<br />
nach. So werden Lehrpläne, Abschlussprüfungen und Schulbücher analysiert.<br />
Eine kleine empirische Erhebung, erste Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung<br />
an einer Grund- und Realschule bzw. eigene Erfahrungen werden anschließenden<br />
in einem Fazit gebündelt.<br />
Begriffsklärungen<br />
In der nachfolgenden Bestandsaufnahme wird ein sehr reduziertes Verständnis<br />
von „geometriespezifischen Kompetenzen“ zu Grunde gelegt. Hierbei geht es<br />
vor allem um den bewussten und zielgerichteten Umgang mit Lineal/Geodreieck<br />
und Zirkel. Bezüglich des Längenmesszeuges beinhaltet dies das Messen und<br />
Zeichnen von Strecken und Winkeln unter Berücksichtigung von Genauigkeitsvorgaben.<br />
Ebenfalls dazu gehört das Erstellen von Parallelen, Orthogonalen<br />
(Lotgeraden) und Seitenmitten. Mit dem Zirkel steht das Zeichnen des Kreises<br />
und der Streckenübertrag im Fokus, wobei die Bedeutung bzw. die Wirkung der<br />
„Zirkeltätigkeit“ beim Konstruieren in das Bewusstsein gerückt werden sollte<br />
(vgl. die Erzeugung der Lotgeraden, Mittelsenkrechten, der Winkelhalbierenden,<br />
etc.).<br />
Unter Skizzieren werden zeichnerische Ausführungen verstanden, bei denen<br />
folgende Eigenschaften berücksichtigt werden: Orthogonalität und Parallelität.<br />
Im Allgemeinen werden Strecken und Geraden mit dem Lineal/Geodreieck<br />
gezeichnet; Winkelarten (spitzwinklig, stumpfwinklig, …), als auch Streckenverhältnisse<br />
(gleichlang, doppelt so lang, …) sollen möglichst bzw. annähernd<br />
in der Skizze ihre Eigenschaften behalten; dies begünstigt eine spätere Strategieausbildung<br />
bei der Lösungsfindung.<br />
Beim Zeichnen werden unter Berücksichtigung eines Maßstabes (so notwendig)<br />
alle Maße berücksichtigt und eingehalten. Dabei wird der Prozess nicht thematisiert<br />
bzw. visualisiert. So können Streckenverhältnisse z.B. mit Hilfe der Lineal-<br />
Steinwandel, J. (2010). Förderung von geometrischen Kompetenzen – eine<br />
Bestandsaufnahme des Ist - Zustandes an Haupt- und Realschulen. In: Ludwig,<br />
M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim:<br />
Franzbecker, S.155-174
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
skalierung erzeugt werden. Entsprechend werden beispielsweise Winkelhalbierende<br />
„abgelesen“.<br />
Konstruiert wird unter Verzicht auf Längen- und Winkelskalierungen mit skalenfreiem<br />
Lineal und Zirkel. Somit handelt es sich um einen Teilprozess bei der<br />
Erstellung einer „Konstruktionszeichnung“, da immer von einer „vermessenen“<br />
Ausgangssituation weiterentwickelt wird. Hier steht der Prozess im Vordergrund.<br />
Deshalb wird das „Tun“ protokolliert. Zum einen sind Konstruktionshilfslinien<br />
(Zirkelbogen, Zwischenparallelen, etc.) in dünnen Linien sichtbar.<br />
Des Weiteren kann der Prozess als Konstruktionsprotokoll notiert bzw. nachgelesen<br />
werden.<br />
Ein Blick in den Lehrplan der Hauptschule und Realschule<br />
Inwieweit werden nun aktuell geometriespezifische Kompetenzen im regulären<br />
Unterricht an Haupt- und Realschulen gefördert? Hierzu wird eine diesbezügliche<br />
Analyse der Lehrpläne der beiden Schularten durchgeführt. Dabei gilt ein<br />
besonderes Augenmerk der speziellen Kompetenz des Konstruierens bzw. des<br />
Umganges mit Geodreieck und Zirkel. Zunächst werden die Leitgedanken zum<br />
Kompetenzerwerb beleuchtet. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen<br />
den beiden Lehrplänen.<br />
156
157<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Inhalte Hauptschule Realschule<br />
Kompetenzen … Sie gebrauchen verschiedene Hilfsmittel (…,<br />
Messgeräte) für mathematische Aktivitäten und<br />
können die Grenzen dieser Hilfsmittel einschätzen.<br />
…<br />
Didaktische<br />
Hinweise und<br />
Prinzipien für<br />
den Unterricht<br />
Gliederung nach<br />
Leitideen<br />
… Dazu gehören auch, verschiedene Zugänge zur<br />
<strong>Mathematik</strong> zu eröffnen, wie zum Beispiel über<br />
Formen … aus der Natur, über Kunst, Architektur,<br />
…<br />
Die Leitidee „Messen“ wird für die Schülerinnen<br />
und Schüler konkret fassbar, wenn sie durch vielfältige<br />
Handlungsmöglichkeiten systematisches<br />
Vergleichen, sinnvolles Runden und Abschätzen<br />
lernen. Dies verhilft zur Ausbildung von geeigneten<br />
Größenvorstellungen.<br />
Unter der Leitidee „Raum und Form“ werden<br />
geometrische Inhalte thematisiert, deren Verbindungen<br />
zu arithmetischen und algebraischen Gesetzmäßigkeiten<br />
aufgezeigt, sowie das Raumvor-<br />
stellungsvermögen geschult. Bei der Realschule werden die Hinweise zum Kompetenzer-<br />
Es fällt auf, dass in der Hauptschule auf den Umgang mit geometrischen Hilfsmitteln<br />
hingewiesen wird – also ganz explizit eine Handlung damit eingefordert<br />
wird. Mit dem Hinweis auf „vielfältige Handlungsmöglichkeiten“ und der Einbeziehung<br />
realer Situationen erhält das Zeichnen und Messen eine gewichtige<br />
Rolle. Jedoch wird eine Konzentration auf das eigentliche Konstruieren hier<br />
nicht erwähnt. Bei der Realschule fehlt hingegen jeglicher Hinweis.<br />
In der nachfolgenden Tabelle wird auf die Leitideen „Messen“ und „Raum und<br />
Form“ detailliert und schulartspezifisch eingegangen. Dabei wird im Besonderen<br />
die Schwerpunktsetzung der geometriespezifischen Kompetenzen in Abhängigkeit<br />
mit dem Schuljahr in den Fokus genommen. Hier zeichnet sich eine<br />
„rückläufige“ Gewichtung der „konstruktiven“ <strong>Geometrie</strong> bis zur 10. Klasse ab,<br />
in der eigentlich nur noch rechnerisch mit Skizzen gearbeitet wird.<br />
werb nicht thematisiert.
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
Leitidee Klasse Hauptschule<br />
Messen<br />
Raum +<br />
Form<br />
Messen<br />
Raum +<br />
Form<br />
5 – 8<br />
9<br />
Messen -<br />
Raum +<br />
Form<br />
10<br />
alltagsbezogene Repräsentanten<br />
zur Vorstellung von Größen verwenden<br />
und beim Schätzen anwenden<br />
Längen-, Flächen-, Volumen- und<br />
Winkelmessung<br />
zueinander parallele und<br />
senkrechte Geraden erkennen und<br />
zeichnen<br />
geometrische Objekte der Ebene<br />
darstellen<br />
Netze und Modelle von Würfeln<br />
und Quadern anfertigen und die<br />
Körper in entsprechenden Darstellungen<br />
erkennen<br />
Netze, Schrägbilder und Modelle<br />
von Prismen und Zylindern<br />
den Satz des Pythagoras bei Berechnungen<br />
und Beweisen anwenden<br />
Netze und Schrägbilder von Pyramide<br />
und Kegel anfertigen<br />
geometrische Figuren unter Verwendung<br />
angemessener Hilfsmittel<br />
wie Zirkel, Geodreieck oder<br />
dynamischer <strong>Geometrie</strong>-Software<br />
zeichnen und konstruieren<br />
Netze, Schrägbilder, Modelle von<br />
Körpern<br />
158<br />
Einsatz von<br />
Zeichenwerkzeugen<br />
Geodreieck<br />
Gerade, Halbgerade<br />
Strecke (zeichnen, messen)<br />
Winkel (zeichnen, messen)<br />
konstruktiv<br />
Lotgerade<br />
Parallele<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelhalbierende<br />
Geradenspiegelung<br />
Punktspiegelung<br />
Zirkel<br />
Kreis, Kreisbogen<br />
Streckenübertrag<br />
konstruktiv<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelbalbierende<br />
abnehmende Relevanz
Leitidee Klasse Realschule<br />
Messen<br />
Raum +<br />
Form<br />
Messen<br />
Raum +<br />
Form<br />
Messen<br />
Raum +<br />
Form<br />
5 – 6<br />
7 – 8<br />
9 – 10<br />
die Prinzipien der Längen-, Flächen,<br />
Volumen und Winkelmessung<br />
nutzen<br />
geometrische Figuren auch im<br />
Koordinatensystem zeichnen<br />
unter Verwendung angemessener<br />
Hilfsmittel<br />
(Symmetrie, Flächen-, Körperbetrachtungen,<br />
zeichnerische Darstellungen)<br />
Die Prinzipien der Längen- und<br />
Winkelmessung sowie der Flächen-<br />
und Volumenberechnung<br />
nutzen<br />
Konstruktionskalküle ausführen<br />
Körper darstellen und aus ebenen<br />
Darstellungen erkennen<br />
Bei Konstruktionen, Berechnungen<br />
und einfachen Beweisen<br />
Sätze der <strong>Geometrie</strong> anwenden<br />
(Vielecke – Dreieck, Trapez,<br />
Parallelogramm, Gerade Prismen<br />
– Netze, Schrägbilder, Körpermodelle)<br />
die Prinzipien des Messens und<br />
Aspekte ihrer Anwendung zum<br />
Beispiel in den Naturwissenschaften<br />
nutzen<br />
gezielt Messungen vornehmen,<br />
Maßangaben entnehmen und<br />
damit Berechnungen durchführen<br />
---<br />
159<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Einsatz von Zeichenwerkzeugen<br />
Geodreieck<br />
Gerade, Halbgerade<br />
Strecke (zeichnen, messen)<br />
Winkel (zeichnen, messen)<br />
konstruktiv<br />
Lotgerade<br />
Parallele<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelhalbierende<br />
Geradenspiegelung<br />
Punktspiegelung<br />
Zirkel<br />
Kreis, Kreisbogen<br />
Streckenübertrag<br />
konstruktiv<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelbalbierende<br />
abnehmende Relevanz
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
Die <strong>Geometrie</strong> erlebt ihre „Hochzeit“ in der Haupt- und Realschule in der 7.<br />
Klasse. Hier werden Dreieckskonstruktionen und Konstruktionen im Dreieck<br />
(Umkreis, Inkreis, Schwerpunkt) durchgeführt. In den Klassen 8 – 10 werden<br />
vorwiegend Netze und Schrägbilder gezeichnet – d.h., i.A. wird auf die konstruierende<br />
Qualität des Lineals und des Zirkels verzichtet. Somit muss bescheinigt<br />
werden, dass diesbezüglich eine abnehmende Relevanz zu beobachten ist.<br />
In Klasse 9 bieten sowohl die Strahlensätze, als auch der Thaleskreis nochmals<br />
Konstruktionsmöglichkeiten. Hier steht jedoch nicht das Konstruieren mit im<br />
Fokus, sonder vielmehr der rechnerische Umgang bzw. die algebraische Beweisführung.<br />
Abschlussprüfungen – eine inhaltliche Übersicht<br />
Eine weitere Bestandsaufnahme gilt den Abschlussprüfungen der Realschulen<br />
der letzten 10 Jahre. Hier wird deutlich, warum die schuljahrspezifische Entwicklung<br />
hinsichtlich der <strong>Geometrie</strong>kompetenzen so rückläufig gestaltet ist. –<br />
„Was nicht abgeprüft wird, „darf“ auch nicht gelernt werden.“ – Denn letztendlich<br />
zählt am Schluss die Abschlussleistung, die weitere Türen der Bildung oder<br />
des Berufes öffnet. In der folgenden Tabelle sind die Felder der geometriespezifische<br />
Prüfungsaufgaben grau gefärbt. Es ist zu bemerken, dass in allen untersuchten<br />
<strong>Geometrie</strong>aufgaben ausschließlich rechnerische Lösungen gefordert<br />
sind, bei denen keinerlei konstruktive Fähigkeiten notwendig sind.<br />
Um die nachfolgende Tabelle besser lesen zu können, sei hier kurz auf die Abschlussprüfungsmodalitäten<br />
in Baden-Württemberg eingegangen. Die Prüfung<br />
besteht aus zwei Teilen, dem Pflichtbereich mit den Pflichtaufgaben P1 bis P8<br />
und dem Wahlbereich mit den Wahlaufgaben W1 – W4. Von den Wahlaufgaben<br />
streicht der unterrichtende Lehrer im Hinblick auf seinen Unterricht eine<br />
Aufgabe. Von den verbleibenden drei Nummern (z.B. W1, W3, W4) muss<br />
die/der Schüler/in zwei bearbeiten. Bei den Wahlaufgaben handelt es sich i.A.<br />
um vertiefende Aufgaben. Z.B. kommen geometrische Problemstellungen mit<br />
Formvariablen vor oder es sind bis zu 4 Zwischenschritte notwendig, um eine<br />
gesuchte Größe (Strecke, Fläche oder Volumen) bestimmen zu können.<br />
160
1999<br />
2000<br />
2001<br />
2002<br />
2003<br />
2004<br />
2005<br />
2006<br />
2007<br />
2008<br />
2009<br />
Prozent, Zinsrechnung<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P7,8<br />
P6<br />
Ebene <strong>Geometrie</strong><br />
(Rechn.)<br />
P5,6<br />
W1<br />
P3,4<br />
W2<br />
P5<br />
W1,2<br />
P6<br />
W1,3<br />
P3,4<br />
W1,2<br />
W4<br />
P1,2<br />
W1,3<br />
P5,6<br />
W1,4<br />
P1,2,3<br />
W1,4<br />
P3<br />
W1,3<br />
W4<br />
P1,2<br />
W1<br />
P1,2<br />
Quader, Prisma,<br />
Würfel<br />
P6<br />
P5<br />
P2<br />
P4<br />
P4 W4<br />
Kugel, Zylinder<br />
W1<br />
P6<br />
W3,4<br />
P3<br />
Pyramide<br />
P2<br />
P1<br />
P2<br />
P1<br />
P2<br />
P5<br />
P1<br />
W1,3<br />
W4<br />
P1<br />
P3<br />
W2,4<br />
Kegel (Rechn.)<br />
P1<br />
P2<br />
P1<br />
P2<br />
P1<br />
W3<br />
P2<br />
W2<br />
Kegel-Pyr.-Stumpf<br />
W3<br />
W1<br />
W1<br />
W3<br />
W4<br />
W4<br />
W3<br />
161<br />
Zus.gesetzte<br />
Körper (Rechn.)<br />
W3<br />
W4<br />
P2<br />
P4<br />
Geraden<br />
W4<br />
P4<br />
P4<br />
Parabel<br />
P4 W2<br />
P6<br />
P3 W3<br />
P4<br />
W2,4<br />
P6 W3<br />
P4<br />
W2,4<br />
W2<br />
P6 W2<br />
P6 W2<br />
W3<br />
P4<br />
Gleichungssyteme<br />
P5<br />
P3<br />
P3<br />
P5<br />
P6<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Quadr. Gleichung<br />
P3<br />
P3<br />
P5 W2<br />
Bruchgleichung<br />
P4<br />
W2<br />
P5 W3<br />
W2<br />
W2<br />
W2<br />
P5<br />
P5<br />
Statistik, Wahrscheinlichkeit<br />
W4<br />
P7,8
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
In der tabellarischen Übersicht ist lediglich die Anzahl an Aufgaben, die im<br />
geometrischen Bereich gestellt wurden, dargestellt. Werden die Aufgaben hinsichtlich<br />
des konstruktiven Umganges mit Zeichenwerkzeugen untersucht, so<br />
muss kritisch zusammengefasst werden: allenfalls das Skizzieren wird verlangt,<br />
jedoch keine Messungen, keine Aufträge zum Zeichnen und weder Konstruktionen,<br />
noch geometrisch-logisch-qualitativen Aussagen. So fehlen z.B. Aufgabentypen,<br />
bei denen ein Ergebnis konstruktiv ermittelt und anschließend rechnerisch<br />
bestätigt wird.<br />
Schulbuchanalyse Klett + Schroedel (Realschule)<br />
Die folgende Schulbuchanalyse in Tabellenform stellt den Stellenwert der <strong>Geometrie</strong><br />
seitens der Schulbuchinhalte und die diesbezügliche Qualität dar. Es ist<br />
natürlich nichts Neues, dass ein Schulbuchverlag letztendlich eine ähnliche<br />
Analyse durchführt, wie dies auch in diesem Abhandlung bisher geschehen ist.<br />
Zum einen wird nach den Inhalten des Lehrplanes gefragt, dann wird analysiert,<br />
in wie weit man diese Vorgaben adäquat – für Lehrer und Schüler spannend und<br />
relevant – umsetzen kann. Und zuletzt – dies wird spätestens in der 10. Klasse<br />
deutlich – werden die Abschlussprüfungen in den Focus genommen und diesbezügliche<br />
Aufgabenfelder aufgespannt. Aufgaben bzw. Aufträge, die Konstruieren<br />
in dem hie diskutierten Sinne beinhalten oder vielleicht sogar als zwingende<br />
Voraussetzung benötigen, finden sich in den oberen Klassen nicht mehr.<br />
Klasse Inhalte Bemerkungen<br />
5<br />
<strong>Geometrie</strong><br />
Strecken, Geraden, Senkrechte, Parallele, Quadratgitter,<br />
Entfernung und Abstand, Symmetrische Figuren<br />
(Achsensymmetrie)<br />
Flächen und Körper<br />
Diagonalen, Symmetrieeigenschaften, Winkeleigenschaften,<br />
Gleichseitigkeit<br />
Netze, Schrägbild<br />
Rechteck, Quadrat, Parallelogramm, Raute, Drachen,<br />
Würfel, Quader<br />
162<br />
Hier wird konstruiert<br />
– mit<br />
Geodreieck und<br />
Zirkel<br />
Übrigens ist das<br />
Konstruieren der<br />
„alten“ Zeit mit<br />
Lineal ohne<br />
Skalierung und<br />
Zirkel kaum<br />
noch anzutreffen
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
Kreis und Winkel<br />
Kreis, Kreisbogen, Kreisausschnitt, Winkel, Winkelmessung<br />
(Einteilung der Winkel), Winkel im<br />
Schnittpunkt von Geraden<br />
Flächen und Körper<br />
Prisma (Netz, Schrägbild), Pyramide (Netz, Schrägbild),<br />
Zylinder, Kegel, Kugel<br />
Dreiecke<br />
Winkelsumme im Dreieck, Dreiecksformen, Konstruktion<br />
von Dreiecken, Umkreis und Inkreis, Höhenschnittpunkt<br />
und Schwerpunkt<br />
Vierecke, Vielecke<br />
Haus der Vierecke, Vierecke konstruieren, Regelmäßige<br />
Vierecke<br />
Umfang und Flächeninhalt (rechnerisch)<br />
Quadrat und Rechteck, Parallelogramm und Raute,<br />
Dreieck, Trapez, Vielecke<br />
Zentrische Streckung<br />
Konstruktion, Eigenschaften, Strahlensätze<br />
ähnliche Figuren, Ähnlichkeitssätze (bzgl. Dreiecken)<br />
Satzgruppe des Pythagoras (rechnerisch)<br />
Kathetensatz, Höhensatz, Satz des Pythagoras<br />
Trigonometrie<br />
Seitenverhältnisse im rechtwinkligen Dreieck<br />
Sinus, Kosinus, Tangens, Besondere Werte<br />
163<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Hier findet die<br />
„Konstruktions-<br />
Zeit“ der SEK I<br />
statt.<br />
Konstruktionen<br />
wären hier noch<br />
möglich<br />
„Letzte“ Konstruktionen<br />
im<br />
Leben eines<br />
Schülers; im<br />
Regelfall sehr<br />
kurz gehalten.<br />
Konstruktionen<br />
wären hier noch<br />
möglich
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
Zeichnerische und geometrische Fähigkeiten in der Sekundarstufe – eine empirische<br />
Untersuchung von Tanja Goldau – erste Ergebnisse 9/2009<br />
Zentrale Fragestellungen der wissenschaftlichen Arbeit:<br />
• Wie verändern sich zeichnerische und geometrische Fähigkeiten über die<br />
Schuljahre gesehen?<br />
• Gibt es Einflussfaktoren (Geschlecht, Interesse, Kunst, Technik)<br />
Rahmenbedingungen:<br />
• 25 Klassen (Grundschule Kl. 3, Realschule Kl. 5, 7, 9); alle Schüler erhielten<br />
den gleichen Test<br />
Zusammenfassung:<br />
Bei dieser Untersuchung wurden folgende Kompetenzen getestet:<br />
• Umgang mit dem Zeichenwerkzeug (Bleistift und Geodreieck)<br />
• Klassifizierung von Vierecken<br />
• Beobachten, Erkennen und Abzeichnen<br />
• perspektivisches Zeichnen (Schrägbilder): Vorlage = Schrägbild<br />
• perspektivisches Zeichnen (Schrägbilder): Vorlage = Körper<br />
Begriffsklärungen<br />
Unter Zeichnen wird hier eigentlich das Skizzieren verstanden, bei dem nicht<br />
auf Bemaßungen bzw. einen Maßstab geachtet werden muss. Bei Aufgabe 1<br />
steht sowohl das Sprachverständnis (Was versteht man unter „verschiedene“?),<br />
als auch eine Klassifizierungsstrategie im Fordergrund. Die Nummern 2 – 5<br />
beinhalten Beobachtungs- und Abzeichnungsaufträge, wobei entsprechende<br />
Skizzen bereitgestellt werden. Die nachfolgenden Aufgaben verlangen das Abzeichnen<br />
von Realbildern bzw. Realkörpern. Hier werden ausdrücklich nicht<br />
sichtbare Linien verlangt, die der Schüler mental erzeugen muss.<br />
164
Kurzübersicht der Auswertungen<br />
erreichte Punkte<br />
erreichte Punkte<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
1,5<br />
1,5<br />
1,4<br />
1,4<br />
1,3<br />
Klasse<br />
1,3<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Klasse<br />
165<br />
Jürgen Steinwandel
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
erreichte Punkte<br />
erreichte Punkte<br />
4,0<br />
3,5<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
Klasse<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Klasse<br />
166
erreichte Punkte<br />
erreichte Punkte<br />
5,0<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
1,0<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
5,0<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
1,0<br />
Klasse<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Klasse<br />
167<br />
Jürgen Steinwandel
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
erreichte Punkte<br />
erreichte Punkte<br />
erreichte Punkte<br />
3,5<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
5,0<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
1,0<br />
Klasse<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
5,0<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
1,0<br />
Klasse<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Klasse<br />
168
Auswertung insgesamt:<br />
Mittelwerte aller Aufgaben:<br />
erreichte Punkte<br />
3,5<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0,0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Klasse<br />
169<br />
Jürgen Steinwandel
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
Einfluss Geschlecht:<br />
Einfluss Interesse:<br />
erreichte Punkte (Mittelwert)<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Klassenstufe<br />
170<br />
Technik<br />
Franz+MUM<br />
Musik<br />
Kunst<br />
noch keine<br />
Fächerwahl<br />
Die Ergebnisse sind teilweise uneinheitlich. So erkennt man mitunter starke<br />
spezifische Kompetenzsteigerungen beim Übergang von der Grundschule zur<br />
Sekundarstufe I mit einer Abflachung der Leistungskurve in den oberen Klassen<br />
(vgl. Aufgaben 4, 5, 7, 8, 9). Dies verwundert nicht, da wie schon oben beschrieben,<br />
ab Klasse 8 (in Abhängigkeit der zeitlichen Setzung der Dreieckskonstruktionen)<br />
wenig bis gar nicht mehr konstruiert bzw. gezeichnet wird.<br />
Dieser Trend wird ebenfalls von der Gesamtauswertung gestützt. Trotzdem<br />
muss mit den Ergebnissen vorsichtig umgegangen werden, da bestimmte Begrifflichkeiten<br />
(Skizze, Zeichnen, regelmäßiges Achteck, Zylinder, Quader,<br />
Pyramide, Kegel, Abbildung, …) in der Grundschule noch nicht ausgebildet<br />
sind. So hat ein Grundschüler im Regelfall einen anderen Anspruch an ein „unterschiedliches“<br />
Viereck, als eben hier erwartet wird (z.B. unterschiedlich bezogen<br />
auf die Größe, Form, Lage, …); dies wird von den detaillierten Auswertungen<br />
widergespiegelt. Geschlechtsspezifische Unterschiede bzw. Auffälligkeiten<br />
konnten nicht nachgewiesen werden. Eine Auswertung bzgl. Abhängigkeiten<br />
vom besuchten Wahlpflichtfach ab Klasse 7 bringt ebenfalls teilweise wider-
171<br />
Jürgen Steinwandel<br />
sprüchliche Befunde. So haben Schüler, die „Französisch“ belegt haben, von<br />
Klasse 7 bis 9 den größten Lernzuwachs (bezogen auf die hier gesetzten Items)<br />
und liegen in Klasse 9 über der Technikgruppe. Letztendlich sind hier keine<br />
Aussagen möglich, da die entsprechende Teilgruppe zu klein war.<br />
Meine eigenen Erfahrungen (Kl. 7 – 10)<br />
Als Physiklehrer unterrichtete ich seit meinem Dienstbeginn ausschließlich die<br />
Klassenstufen 7–10 – somit bleiben meine Erfahrungen auf diese Klassenstufen<br />
beschränkt. Besinne ich mich auf die didaktischen und methodischen „Freiheiten“,<br />
die man als Lehrer in diesen Klassenstufen genießt, so fällt auf, dass ab der<br />
9. Klasse ein starker Wandel hin zur Abschlussprüfungsorientierung stattfindet.<br />
Der Druck seitens der Eltern – und somit seitens der Schulleitung ist spätestens<br />
in Klasse 10 sehr groß. Zukunftsängste auf der einen Seite und nicht zuletzt<br />
Prestigesorgen auf der anderen prägen die Diskussion. Hinzu kommt manches<br />
Mal noch ein Konkurrenzgebarde zwischen Lehrern, die eine 10. Klasse unterrichten.<br />
So reduziert sich die didaktisch-methodische Bandbreite zunehmend auf<br />
das Üben von prüfungsähnlichen Aufgaben oder der Prüfungsaufgaben der<br />
letzten Jahre – hierfür gibt es „Gott-sei-Dank“ die Starkbücher im bekannten<br />
rot-weißen Design. Und darin enthalten sind logischerweise keine Konstruktionsaufgaben<br />
mehr – allenfalls das Geodreieck oder der Zirkel zur Anfertigung<br />
einer Skizze werden gebraucht. Genau genommen gibt es nur noch die <strong>Geometrie</strong><br />
der trigonometrischen Berechnungen. Immerhin kommen immer wieder<br />
Aufgaben vor, in denen das Erkennen von Ähnlichkeiten, das Zerlegen einer<br />
Fläche bzw. das Komplettieren von Figuren gefordert ist – und dann mit Pythagoras,<br />
Sinus, Kosinus und Tangens (im besonderen Falle auch Ähnlichkeitssätze,<br />
Höhensatz und Kathetensatz) berechnet werden darf. Der Schüler ist aber<br />
spätestens hier seiner geometrischen Handlung beraubt – der direkte Umgang<br />
mit Längen, Verhältnissen und geometrischen Strategien fehlt. Ergebnisse werden<br />
zunehmend rein abstrakt wahrgenommen. Dies fällt spätestens dann auf,<br />
wenn ein Schüler für den Durchmesser eines Fahrradreifens 30 Meter anbietet.<br />
Arbeiten mit z.B. einem dynamischen <strong>Geometrie</strong>programm? Dieser „Luxus“<br />
bzw. „Ausflug“ wird in Klassen 10 i.A. nicht mehr angeboten, da die so kostbare<br />
Zeit hier nicht mehr „vergeudet“ wird. Gegenüberstellungen von Zeichnungen<br />
/ Konstruktionen und Rechnungen , in denen z.B. durch Messungen Ergebnisse<br />
geprüft werden, kommen nicht vor.<br />
Kleiner empirischer Befund bzgl. des mathematischen Alltags an Realschulen.<br />
In der nachfolgenden begrenzten empirischen Erhebung wurden Lehrer zweier<br />
Realschulen befragt. Sie sollten die Unterrichtsintensität (0 = gar nicht, …<br />
3 = zentraler Bestandteil des Unterrichts) einschätzen. Je dunkler das Grau,
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
desto intensiver bewerten hierbei die Pädagogen die entsprechende Schwerpunktssetzung.<br />
Sehr schön kann man hier die Schwerpunktssetzung des Konstruierens mit dem<br />
Zirkel in Klasse 7 bzw. 8 (Mittelsenkrechte, Winkelhalbierende, Inkreis, Umkreis,<br />
…) sehen. Davor bzw. danach wird der Zirkel i.A. lediglich z.B. für Kuchendiagramme,<br />
Netze eines Zylinders/Kegels oder andere geometrischen Gebilde<br />
mit Kreisteilen benötigt. D.h., die „Wirkung“ des Konstruktionswerkzeuges<br />
Zirkel scheint tatsächlich an die Dreieckskonstruktionen gebunden zu sein.<br />
Ein erwähnenswertes Konstruieren beim Thaleskreis (Klasse 9) wird von den<br />
Lehrern unterschiedlich bestätigt. In Klasse 10 ist ein Rückgang des Konstruierens<br />
mit Geodreieck und Zirkel erkennbar.<br />
Klasse<br />
Gerade<br />
Lineal/Geodreieck Zirkel<br />
Zeichnen Messen Konstruieren<br />
Halbgerade<br />
Strecke<br />
Winkel<br />
Gerade<br />
Halbgerade<br />
Strecke<br />
Winkel<br />
Lotgerade<br />
Parallele<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelhalbierende<br />
172<br />
Geradenspiegelung<br />
Punktspiegelung<br />
Streckung<br />
Kreis<br />
Zeichnen/<br />
Messen<br />
Kreisbogen<br />
Streckenübertrag<br />
Konstruieren<br />
Schnittpunkt<br />
Mittelsenkrechte<br />
5 3 3 3 0 3 0 0 3 0 0 0 3 0 0 0 0 0 0 0<br />
5 3 3 3 3 3 3 3 3 1 3 0 0 0 0 0 3 1 0 0 0 0<br />
5 3 3 3 2 2 3 3 0 2 2 2 0 3 2 2 0 0 0<br />
5 3 1 3 3 1 3 3 3 3 3 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0<br />
5 2 1 3 0 2 0 2 0 2 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0<br />
6 3 2 3 3 3 3 0 3 1 1 0 2 0 3 3 1 1 0 0<br />
6 3 1 3 3 2 1 3 3 3 1 1 1 3 3 1 3 3 0 0 0 0<br />
6 1 0 2 3 1 0 2 3 2 2 0 0 2 0 0 2 2 0 2 0 0<br />
Winkelhalbierende
173<br />
Jürgen Steinwandel<br />
7 3 1 3 3 0 0 3 3 3 3 3 3 2 2 1 3 3 3 3 3 3<br />
7 2 0 3 3 3 3 0 2 2 2 1 2 0 3 3 3 3 3 3<br />
7 3 2 3 3 3 1 3 3 0 3 3 3 2 2 0 3 2 0 3 2 2<br />
7 3 1 3 3 1 3 3 3 2 3 3 0 0 0 1 1 0 3 3 3<br />
8 2 1 2 2 0 0 2 2 2 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1<br />
8 3 1 3 3 3 1 3 3 0 3 3 2 2 2 1 3 1 3 2 2<br />
8 3 1 3 3 1 3 3 1 2 3 3 0 0 0 1 1 0 3 3 3<br />
9 3 1 3 3 0 0 3 3 1 1 1 1 1 1 1 3 3 3 3 3 3<br />
9 3 1 3 2 3 3 0 2 1 1 2 2 3 2 2 1 2 0 0<br />
9 1 0 2 2 2 0 1 1 1 2 1 2 1 1 1 3 1 2 2 1 1<br />
9 3 1 3 3 1 1 3 3 1 1 2 2 3 3 3 3 3 0 0 0 0<br />
1<br />
0<br />
1<br />
0<br />
Klasse<br />
Gerade<br />
3 1 2 3 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 1 1<br />
1 0 2 2 2 0 1 1 1 2 1 2 1 1 1 3 1 2 2 1 1<br />
Halbgerade<br />
Strecke<br />
Winkel<br />
Gerade<br />
Halbgerade<br />
Strecke<br />
Winkel<br />
Lotgerade<br />
Parallele<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelhalbierende<br />
Geradenspiegelung<br />
Punktspiegelung<br />
Zeichnen Messen Konstruieren<br />
Streckung<br />
Kreis<br />
Kreisbogen<br />
Streckenübertrag<br />
Zeichnen/<br />
Messen<br />
Schnittpunkt<br />
Mittelsenkrechte<br />
Winkelhalbierende<br />
Konstruieren<br />
Lineal/Geodreieck Zirkel
Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />
Fazit<br />
Was kann getan werden, damit die konstruktive <strong>Geometrie</strong> mit Lineal und Zirkel<br />
wieder einen höheren Stellenwert erhält? Denn eines zeigt die hier beschriebene<br />
geometriespezifische Lehr- und Lernkultur zunehmend: strategisch–<br />
konstruktives Denken und Handeln dient zunehmend nur noch der Einführung<br />
eines Themas, wird jedoch nicht mehr als didaktisches Prinzip verstanden. Ein<br />
Missstand, der sich spätestens bei Abschlussprüfungen deutlich zeigt – denn<br />
hier stellt man fest, dass viele Schüler nur geometrische Standardsituationen<br />
erkennen und aus einem sehr begrenzten diesbezüglichen Repertoire eingeübte<br />
Lösungsmodule „abspulen“ können. So bleibt die Erkenntnis, dass man „das<br />
Pferd von hinten aufzäumen muss“, wenn sich etwas ändern soll – denn nur<br />
wenn die Abschlussprüfungen entsprechende Kompetenzen verlangen, werden<br />
diese entsprechend (eben nicht nur als kurze Einführung, sondern wirklich als<br />
didaktisches Konzept) umgesetzt und gepflegt. Und genau hier anzusetzen, ist<br />
eine sehr diffizile Angelegenheit – denn die Erwartungshaltung und der Druck<br />
von/für Eltern, Lehrer(n), Schulleitungen, Schulämter(n) mit ihren Ministerien,<br />
weiterführende(n) Schulen, Ausbildungsbetriebe(n) und Schüler(n) sind vielfältig,<br />
teilweise unterschiedlich bis konträr und nicht selten sehr unsicher.<br />
Literatur<br />
Goldau (2009). Zeichnerische und geometrische Fähigkeiten in der Sekundarstufe – eine<br />
empirische Studie. <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> Weingarten. Nicht veröffentlicht, vorläufige<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009). Abschlussprüfungen<br />
der Realschulen (1999 – 2009).<br />
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009). Bildungsplan für<br />
Hauptschulen und Werkrealschulen<br />
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009). Bildungsplan für<br />
Realschulen<br />
(2001). <strong>Mathematik</strong> heute Realschule Baden-Württemberg, Band 5 – 10. Schroedel<br />
Verlag GmbH, Hannover<br />
(2005). Schnittpunkt <strong>Mathematik</strong> Baden-Württemberg (Realschule), Band 1 – 6. Ernst<br />
Klett Verlag, Stuttgart Düsseldorf Leipzig<br />
174
Matthias Ludwig<br />
Fachbereich <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> Weingarten<br />
Kirchplatz 2<br />
88250 Weingarten<br />
ludwig@ph-weingarten.de<br />
Michael Neubrand<br />
Institut für <strong>Mathematik</strong>´<br />
Autorenverzeichnis<br />
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg<br />
D-26111 Oldenburg<br />
neubrand@mathematik.uni-oldenburg.de<br />
Swetlana Nordheimer<br />
Humboldt Universität zu Berlin<br />
Institut für <strong>Mathematik</strong><br />
Rudower Chaussee 25<br />
12489 Berlin<br />
nordheim@mathematik.hu-berlin.de<br />
Eva-Maria Plackner<br />
Didaktik der <strong>Mathematik</strong> und Informatik<br />
Otto-Friedrich-Universität Bamberg<br />
Markusplatz 3<br />
96045 Bamberg<br />
eva-maria.plackner@uni-bamberg.de
Autorenverzeichnis<br />
Markus Ruppert<br />
Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
Universität Würzburg<br />
Am Hubland<br />
97074 Würzburg<br />
ruppert@mathematik.uni-wuerzburg.de<br />
Reinhard Oldenburg<br />
Institut für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> und der Informatik<br />
Goethe-Universität Frankfurt am Main<br />
Robert-Mayer-Straße 10<br />
60054 Frankfurt am Main<br />
oldenbur@math.uni-frankfurt.de<br />
Michael Schneider<br />
Institut für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> und der Informatik<br />
Goethe-Universität Frankfurt am Main<br />
Robert-Mayer-Straße 10<br />
60054 Frankfurt am Main<br />
mschneid@math.uni-frankfurt.de<br />
Jürgen Steinwandel<br />
Fachbereich <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong><br />
Kirchplatz 2<br />
88250 Weingarten<br />
steinwandel@ph-weingarten.de<br />
176
Autorenverzeichnis<br />
Jan Wörler<br />
Lehrstuhl für Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
Universität Würzburg<br />
Am Hubland<br />
97074 Würzburg<br />
woerler@mathematik.uni-wuerzburg.de<br />
Prof. Dr. Heinrich Winter<br />
Prämienstraße 103.<br />
52076 Aachen<br />
heinrichwinter@gmx.de<br />
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