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AK_Geometrie_Tagungs.. - Mathematik - Pädagogische Hochschule ...

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Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />

<strong>Tagungs</strong>band der Herbsttagung 2009<br />

des Arbeitskreises <strong>Geometrie</strong><br />

der Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />

Matthias Ludwig, Reinhard Oldenburg<br />

(Hrsg.)


Inhaltsverzeichnis<br />

Matthias Ludwig<br />

Editorial.......................................................................................... 1<br />

Reinhard Oldenburg<br />

Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong> – Versuch einer<br />

Ortsbestimmung.............................................................................. 5<br />

Michael Neubrand<br />

Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-)<br />

<strong>Geometrie</strong>: Versuch einer theoretischen Klärung........................ 11<br />

Heinrich Winter<br />

Würfel & Co –<br />

Kunst und Natur in den Symmetrien von Körpern....................... 35<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz .............................. 77<br />

Eva-Maria Plackner<br />

Die Weißblatterhebung – ein Instrument zur Erhebung des<br />

Vorwissens von Kindern zu geometrischen Begriffen in der<br />

Grundschule.................................................................................. 97<br />

Markus Ruppert<br />

Biometrische Erkennungssysteme – Ein geeignetes geometrisches<br />

Thema zur Vermittlung von Basiskompetenzen im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht ................................................................. 109<br />

Jan Wörler<br />

Konkrete Kunst im Schülerprojekt geometrische Zusammenhänge<br />

erkennen & weiterentwickeln...................................................... 125


Inhaltsverzeichnis<br />

Michael Schneider<br />

Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen ....................... 143<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Förderung von geometriespezifischen Kompetenzen -<br />

eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes an Haupt- und<br />

Realschulen................................................................................. 155<br />

Autorenverzeichnis...................................................................... 175


Editorial<br />

Matthias Ludwig<br />

Was erwarten wir, was unsere Kinder nach dem Besuch der Sekundarstufe I auf<br />

jeden Fall in <strong>Geometrie</strong> beherrschen sollen? Welche Fähigkeiten und Kompetenzen<br />

im Bereich der <strong>Geometrie</strong> sollen sie unabhängig davon, ob sie eine<br />

Hauptschule, Realschule oder Gymnasium besucht haben, erworben haben.<br />

Welche Grundlegungen für das verstehensorientierte Lehren und Lernen im<br />

<strong>Geometrie</strong>unterricht sind elementar? Für manche Schüler mag der korrekte und<br />

sinnhafte Umgang mit Größen eine wichtige Grundlage für die Vorbereitung auf<br />

den Weg im Beruf sein. Für andere wiederum sind geometrische Sätze Voraussetzungen<br />

für das Weiterlernen in der Sekundarstufe II.<br />

Alle Freunde des <strong>Geometrie</strong>unterrichts waren zur Herbsttagung 2009 in Königswinter<br />

aufgerufen, sich darüber Gedanken zu machen, welche Inhalte wichtig<br />

sind und warum es gilt, sie zu unterrichten. Schon auf der Jahrestagung der<br />

Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> in Oldenburg im Frühjahr 2009 hat<br />

sich der Arbeitskreis <strong>Geometrie</strong> mit der Neuauflage des Winter´schen <strong>Geometrie</strong>kanons<br />

(Winter 1999, 1996) befasst. Diesen Kanon kann man durchaus als<br />

ersten Entwurf von Basiskompetenzen in <strong>Geometrie</strong> auffassen. Auch wenn die<br />

Inhalte dieses Kanons damals schon und heute natürlich erst recht weit über das<br />

hinausragen was in den derzeitigen Bildungsplänen bzw. Lehrpläne in Österreich,<br />

Schweiz oder Deutschland zu finden ist.<br />

Auf der Herbsttagung 2009 gab es neben den Vorträgen diesmal auch Arbeitsphasen<br />

in denen die Teilnehmer versucht haben, ihre Sichtweisen und Meinungen<br />

zu den Basiskompetenzen in <strong>Geometrie</strong> zu einer Position zu verdichten.<br />

Reinhard Oldenburg hat diesen Versuch einer Ortsbestimmung im einleitenden<br />

Beitrag zusammengefasst und festgestellt, dass sich der Basiskompetenzbegriff<br />

einerseits auf die handwerkliche Nutzung von Werkzeugen aber auch auf<br />

die formalen Begriffe der Formenlehre beziehen kann aber auch das geometrische<br />

Problemlösen wurde als geometrische Basiskompetenz erkannt.<br />

Heinrich Winter hat seinen Vortrag von der GDM 2009 zu einem Artikel ausgearbeitet,<br />

der in seiner ihm typischen exemplarischen Arbeitsweise aufzeigt,<br />

wie man den Begriff der Symmetrie am Beispiel des Würfels und seinen Verwandten<br />

von einer Basiskompetenz bis zu tiefgreifender mathematischer Er-<br />

Ludwig, M. (2010). Editorial. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010).<br />

Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.1-4


Editorial<br />

kenntnis ausbauen kann. Dass dabei wirklich nur der Würfel notwendig lässt<br />

den Leser immer wieder staunen.<br />

Der Beitrag „Grundlegende Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der<br />

(Schul-) <strong>Geometrie</strong>: Versuch einer theoretischen Klärung“ vom Hauptvortragenden<br />

Michael Neubrand weist dagegen in eine andere Richtung. Neubrand<br />

zeigt, dass man um die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schüler in der <strong>Geometrie</strong><br />

zu erfassen theoretische Anhaltspunkte braucht. So zeigt er, dass vor der<br />

Konstruktion von Aufgaben zu geometrischen Kompetenzen - übrigens erst<br />

recht, wenn man auf "Basis"-Kompetenzen abzielt - eine gründliche fachdidaktisch<br />

orientierte Analyse zu stehen hat.. Dazu gehört eben auch die Bestimmung<br />

der grundlegenden Inhalte Für die <strong>Geometrie</strong> ist - wie alle wissen - dieses Problem<br />

recht schwierig, einfach wegen der Komplexität und Multiperspektivität der<br />

<strong>Geometrie</strong>.<br />

Svetlana Nordheimer bringt mit ihrem Beitrag „Vernetzen als Basiskompetenz<br />

im <strong>Geometrie</strong>unterricht“ eine ganz andere, aber genauso notwendige Sichtweise<br />

in den Kompetenzbegriff. Somit geht es in diesem Artikel vor allem um die<br />

Verzahnung der epistemischen und sozialen Ebene der Vernetzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

Auf der epistemischen Ebene werden Inhalte von verschiedenen<br />

Kapiteln als Knoten modelliert. Auf der sozialen Ebene erscheinen einzelne<br />

Schüler als Knoten. Beim Lösen und Formulieren von mathematischen Aufgaben<br />

in Gruppen sollten sowohl Inhalte wie auch Schüler miteinander in Beziehung<br />

gesetzt werden. Die Autorin löst dieses Problem durch die Konstruktion<br />

einer schülerzentrierten Unterrichtsmethode zur Vernetzung von mathematischem<br />

Wissen in der SEK I liegt. Ergänzt wird der Beitrag durch die Darstellung<br />

von zwei schulischen Erprobungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht mit Schülern,<br />

die diagnostizierte Lernschwierigkeiten aufweisen.<br />

Das Erkennen, Benennen und Darstellen geometrischer Figuren ist eine der<br />

wesentlichen geometrischen Kompetenzen, mit deren Erwerb bereits in der<br />

Grundschule begonnen wird. Die von den Kindern bei der Begriffsbildung<br />

durchlaufenen Zwischenphasen können beispielsweise durch Standortbestimmungen<br />

erhoben werden. Dass die innovative Methode der Weißblatterhebung<br />

sehr viel versprechend ist zeigt Eva-Maria Plackner in ihrem Beitrag „Die<br />

Weißblatterhebung - ein Instrument zur Erhebung des Vorwissens von Kindern<br />

zu geometrischen Begriffen in der Grundschule“.<br />

2


3<br />

Matthias Ludwig<br />

Einen ähnlichen Vernetzungsansatz wie ihn Nordheimer postuliert versucht<br />

auch Markus Ruppert an einem ganz konkreten Beispiel „Biometrie - Eine<br />

Möglichkeit Basiskompetenzen im <strong>Geometrie</strong>unterricht zu vermitteln“ umzusetzen.<br />

Ruppert verweist darauf, dass biometrische Erkennungssysteme immer<br />

mehr Einzug in unseren Alltag erhalten. Die Grundprinzipien, die sich hinter der<br />

Funktionsweise, insbesondere von Gesichtserkennungssystemen verbergen,<br />

liefern dabei gute Möglichkeiten für geometrische Modellierungsprobleme, bei<br />

denen auch neue Entwicklungen von dynamischer <strong>Geometrie</strong>-Software, etwa<br />

die Integration eines Tabellenkalkulationsprogramms, ausgenutzt werden können.<br />

Beschrieben wird anhand eines konkreten Projekts, welche Vernetzungsmöglichkeiten<br />

von mathematischen und insbesondere geometrischen Basiskompetenzen<br />

dieses Themenfeld bietet.<br />

Jan Wörler zeigt mit seinem unterrichtspraktischen Beispiel einen konkreten<br />

Versuch geometrische Basiskompetenzen vernetzend zu vermitteln. »Primzahlenbild<br />

1-9216«, »Farbfraktal«, »Fibonacci-Reihe« – bereits die Titel vieler<br />

Werke der Konkreten Kunst verweisen darauf, dass eine besonders enge Verbindung<br />

dieser Kunstgattung zur <strong>Mathematik</strong> besteht. Diese Verbindungen<br />

aufzudecken, zu untersuchen und dynamisch weiter zu entwickeln erfordert eine<br />

Vielzahl mathematischer Fähigkeiten, aber auch Basiskompetenzen. Im Beitrag<br />

„Konkrete Kunst im <strong>Geometrie</strong>unterricht“ wird neben theoretischen Aspekten<br />

auch die praktische Umsetzung im Rahmen einer Schülerprojektwoche beleuchtet<br />

Problemlösen wird explizit in den KMK-Bildungsstandards erwähnt. Michael<br />

Schneider geht in seinem Artikel „Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen“<br />

auf den Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen ein und<br />

fokussiert den Kontext auf die geometrischen Denkaufgaben von Paul Eigenmann.<br />

Er stellt dabei den Bezug her zum Kontext der Basiskompetenzen her und<br />

fragt ganz konkret in wieweit die Fähigkeit solche Denkaufgaben zu lösen zu<br />

den geometrischen Basiskompetenzen gehört. Schneider schließt mit modifizierten<br />

Eigenmann-Aufgaben für den Einsatz in der Schule.<br />

Jürgen Steinwandel stellt sich in seinem Beitrag „Förderung von geometriespezifischen<br />

Kompetenzen - eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes an Realschulen“<br />

die Frage, konstruktive Kompetenzen in der Sekundarstufe I mit dem<br />

Lineal/Geodreieck und dem Zirkel aktuell an baden-württembergischen Schulen<br />

gepflegt werden? Dieser Frage wird mit einer kleinen Untersuchung mit unterschiedlichen<br />

Erhebungen nach gegangen. So werden Lehrpläne, Abschlussprü-


Editorial<br />

fungen und Schulbücher analysiert. Eine kleine empirische Erhebung, erste<br />

Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung an einer Grund- und Realschule<br />

bzw. eigene Erfahrungen werden anschließenden in einem Fazit gebündelt.<br />

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Basiskompetenzen jede Überlegungen<br />

wert sind und wir nach dieser Tagung noch lange nict genau Beschreiben<br />

können wir wie weit wir den Begriff der Basiskompetenzen fassen können<br />

und vor allem wie diese Kompetenzen sinnvoll und zeitgemäß unterrichtet<br />

werden können.<br />

Literatur<br />

Winter, H. (1996). <strong>Mathematik</strong>unterricht und Allgemeinbildung. In: Mitteilungen der<br />

Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> Nr. 61, 1996 zum Download:<br />

http://blk.mat.uni-bayreuth.de/material/db/46/muundallgemeinbildung.pdf<br />

Winter, H. (1999). Ein Kanon für den <strong>Geometrie</strong>unterricht in den Sekundarstufen.<br />

MNU(1), 1996, als Beilage. Download auf der MNU-Webseite:<br />

http://www.mnu.de/index.php?option=com_content&view=article&id=137:kanongeometrieunterricht&catid=39:aktuelles&Itemid=40<br />

4


Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong> – Versuch einer Ortsbestimmung<br />

Teilnehmer der Arbeitsgruppen<br />

Zusammengetragen von Reinhard Oldenburg<br />

Zusammenfassung. Während der Herbsttagung 2009 wurde versucht, den Begriff Basiskompetenz<br />

für die <strong>Geometrie</strong> zu spezifizieren. Dabei zeigte sich einerseits, dass ein<br />

Blick auf <strong>Geometrie</strong>unterricht von der Kompetenzperspektive aus nützlich ist, dass dieser<br />

Zugang aber auch charakteristische Probleme und Beschränkungen hat.<br />

Zum Begriff Basiskompetenz<br />

Der Begriff Basiskompetenz ist noch nicht eindeutig fixiert. Eine mögliche<br />

Interpretation sieht ihn als die Kompetenz, die man erreichen muss, um den<br />

Mindeststandards zu genügen. Eine andere Sichtweise betont den Aspekt der<br />

Basis und sieht Basiskompetenzen, also solche Kompetenzen, auf die noch<br />

aufgebaut wird, die also als Voraussetzung für spätere Lern- oder Handlungssituationen<br />

notwendig sind. In diesem zweiten Sinne kann eine Basiskompetenz<br />

auch kognitiv anspruchsvoll sein und insbesondere hängen sie von den Zukunftsplanungen<br />

der Schüler ab.<br />

Basiskompetenzen und Problemlösen<br />

Problemlösen ist eine anspruchsvolle Tätigkeit und deswegen kann man zunächst<br />

vermuten, es handle sich nicht um eine Basiskompetenz. Dem kann man<br />

aber auf Grundlage beider obigen Begriffsformen widersprechen. Auch Schüler,<br />

die nur den Mindeststandard erreichen, sollten über gewisse Problemlösefähigkeiten<br />

verfügen und im Sinne des zweiten Verständnisses von Basiskompetenz<br />

kann man viele Beispiele anführen, in denen kleine Problemlösefähigkeiten<br />

Voraussetzung für erfolgreiches Agieren sind.<br />

In der Gruppe wurde aber auch diskutiert, dass Problemlösen nicht zuerst eine<br />

Kompetenz sondern eine Einstellung ist. Persönlichkeitsmerkmale wie Frustrationstoleranz<br />

und Sackgassenakzeptanz bzw. Beharrlichkeit sind entscheidend<br />

beim Problemlösen. Da <strong>Mathematik</strong> nicht nur aus Abarbeiten von Routineaufgaben<br />

besteht, müssen die Schüler die Bereitschaft erwerben, Umwege zugehen.<br />

Oldenburg, R. (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong> - Versuch einer<br />

Ortsbestimmung. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen<br />

in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.5-10


Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />

Auf der Metaebene gehören auch gewisse Kenntnisse von Problemlöse-<br />

Strategien zu Basiskompetenzen. Strategien wie Probieren und Variieren sind<br />

auch außerhalb der <strong>Mathematik</strong> relevant. Ebenfalls hierhin gehört die Reflexionsfähigkeit<br />

über das eigene Vorgehen. Beispielsweise sollte man sich klar<br />

machen können, welche Größen gegeben und welche gesucht sind. Eine solche<br />

Strukturierungsfähigkeit schafft Überblick. Dazu gehören, auch in der ersten<br />

Interpretationsart:<br />

• nützliche Hilfsmittel kennen<br />

• bisheriges Wissen / Erfahrung durchgehen<br />

• Teilfiguren / Teilprobleme erkennen<br />

• Figuren erweitern/ergänzen<br />

• einen Aspekt in einen größeren Zusammenhang stellen<br />

• Identifizieren der gegebenen und benutzten Voraussetzungen<br />

• Variieren mit Abschätzen der Folgen (Variationsfähigkeit)<br />

Illustriert wurden diese Basiskompetenzen am Beispiel eines Rangierproblem<br />

(2 Waggons, Lok, rangieren), das das mit "Bausteinen" spielen und kombinieren<br />

exemplarisch vormacht. Ähnlich gelagert ist die Suche in einem Labyrinth.<br />

Basiskompetenzen aus der Formenkunde<br />

Es wurde versucht, zu definieren, was im Bereich der Formenkunde als Basiskompetenz<br />

gelten könnte:<br />

• Kompetenz, ebene und räumliche Körper (Gegenstände) wahrnehmen<br />

und beschreiben können<br />

• Begriffsapparat (von der Grundschule an)<br />

• gerade, gekrümmt (später: Krümmung), glatt (später: differenzierbar),<br />

senkrecht, parallel, schief….<br />

• Übliche Kataloge von Relationsbegriffen<br />

• Operationen mit Objekten in Bezug zu Eigenschaften<br />

• Genau beschreiben: Messen, Messfehler<br />

• Körper darstellen können<br />

• Schrägbilder herstellen und interpretieren; Maße entnehmen<br />

• Kompetenz Figuren und Körper herzustellen<br />

6


• Zusammenfügen, Schneiden,…, Basteln<br />

7<br />

Reinhard Oldenburg<br />

• Welche Körper können durch Rotation entstehen (Rotationskörper<br />

nicht nur beim Integral)<br />

• Katalog an interessanten Formen<br />

• Parabolantennen, Kettenline, Spiralen, …<br />

Basiskompetenzen wurden dabei im Sinne der zweiten Begriffsfassung verstanden,<br />

und eine explizite Abhängigkeit von weiteren Anwendungen, zB von Modellbildungen,<br />

und vom individuellen Lernprozess konstatiert.<br />

Basiskompetenzen im Umgang mit geometrischen Werkzeugen<br />

Kompetenzen <br />

Fähigkeiten<br />

Geodreieck /<br />

Meterstab /<br />

Maßband<br />

Genauigkeitsrelevanter<br />

Einsatz<br />

des entsprechendenMessmittels<br />

+ entsprechendes<br />

Runden<br />

Unter Beachtung<br />

der Eigenschaftenzeichnen<br />

folgender<br />

Grundformen:<br />

Dreiecke mit<br />

Seitenvorgaben<br />

und mit Winkelvorgaben<br />

Vierecke<br />

Zirkel DGS<br />

Konstruktion<br />

Senkrechte<br />

Konstruktion<br />

Mittelsenkrechte<br />

Konstruktion<br />

Winkelhalbierende<br />

Schnittpunkte<br />

zweier Kreisbögen <br />

Streckenübertrag<br />

Streckenübertrag<br />

Senkrechte<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelhalbierende<br />

Zugmodus<br />

Ortskurve<br />

Algebrafenster<br />

Umgang mit<br />

grundsätzlichem<br />

Funktionsumfang<br />

und Programmphilosophie<br />

Messen (Strecke,<br />

Winkel)<br />

Fenstertechnik<br />

Umgang mit Maus<br />

und Tastatur<br />

Konstruktionen<br />

ohne<br />

Konstr.-<br />

Werkzeug


Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />

Fertigkeiten<br />

Messen (Strecke,<br />

Winkel)<br />

Strecken zeichnen<br />

Streckenmitte<br />

bestimmen<br />

Parallele im<br />

Abstand s<br />

Lotgerade,<br />

Senkrechte<br />

Kreisbogen<br />

mit Radius<br />

zeichnen<br />

Basiskompetenzen zum Umgang mit Ortslinien<br />

8<br />

Gruppe Zeichnen<br />

Gruppe Konstruieren<br />

Gruppe Abbildung<br />

Das Ortslinienwerkzeug von DGS ist ein mächtiges Werkzeug, das aber nur auf<br />

der Basis bestimmter Kompetenzen voll genutzt werden kann:<br />

• Handlungsalgorithmen verfolgen<br />

• beobachten, beschreiben<br />

• mathematisch (geometrisch) umsetzen, deuten<br />

• in ein DGS übertragen<br />

• Wahl eine Koordinatensystem<br />

• Vernetzung von Gleichung und Graph<br />

• Allgemeiner Abbildungs (Funktions-)begriff<br />

• Kritische Haltung zu Computerergebnissen<br />

Fazit zu Basiskompetenzen<br />

Einsatz +<br />

Beherrschung<br />

der<br />

Grund-<br />

funktionen<br />

Im Laufe der Diskussion wurde klar, wie schwierig der Begriff der Basiskompetenz<br />

ist. Nicht zuletzt ist offen, zu welchem Zweck er verwendet werden soll. Im<br />

Sinne der ersten Definition kann man an eine Evaluation des Schulsystems denken.<br />

Wird das Ziel erreicht, bei allen Schülern die Basiskompetenzen zu erreichen?<br />

Im Sinne der zweiten Definition könnte man als Schulbuchautor die Kompetenzentwicklung<br />

strukturieren. Beispielsweise könnte zu Beginn eines Schuljah-


9<br />

Reinhard Oldenburg<br />

res geprüft werden, ob die jahrgangsstufenspezifischen Basiskompetenzen auch<br />

wirklich vorhanden sind. Außerdem kann man sich fragen, ob man es schaffen<br />

kann, die neuen Inhalte eines Schuljahres so zu strukturieren, dass möglichst<br />

wenig Basis nötig ist.<br />

Trotz aller offenen Fragen: Die Teilnehmer waren sich einig: der Begriff der<br />

Basiskompetenz ist nützlich, weil er einen neuen Blick auf den <strong>Geometrie</strong>unterricht<br />

ermöglicht und zu regen Diskussionen Anlass gibt – wie auf der Herbsttagung<br />

bewiesen wurde.


Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong><br />

10


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong>:<br />

Versuch einer theoretischen Klärung<br />

Michael Neubrand<br />

Abstract: Der folgende Text ist eine nachträgliche Skizze des Einleitungsvortrags am<br />

2. Oktober 2009 bei der Jahrestagung des Arbeitskreises <strong>Geometrie</strong> der Gesellschaft für<br />

Didaktik der <strong>Mathematik</strong> in Königswinter. Die Tagung behandelte „Basiskompetenzen in<br />

der <strong>Geometrie</strong>“, eine ebenso aktuelle wie traditionelle Thematik. Der Vortrag hatte sich<br />

zum Ziel gesetzt, das Feld der Schulgeometrie in Hinblick auf Inhalte, Arbeitsweisen und<br />

Kompetenzen abzustecken, aber weder der Vortrag noch jetzt diese nachträgliche Fassung<br />

beanspruchen, diesbezüglich auch nur einigermaßen erschöpfend zu sein. Vortrag<br />

und Text sind letztlich ein Plädoyer dafür, sich immer wieder einer offenen „Multiperspektivität“<br />

der <strong>Geometrie</strong> zu stellen und diese nicht zu leichtfertig auf wenige Kompetenzen<br />

zurückzuschneiden. Vortrag und Text plädieren aber umgekehrt ebenso dafür,<br />

es nicht bei allgemeinen Desideraten zu belassen, sondern immer wieder auch nach dem<br />

Faktischen und dem konkret Umsetzbaren zu fragen.<br />

Motto<br />

Der Vortrag stand unter diesem generellen Motto:<br />

Auch und gerade, wenn man über „Basiskompetenzen“ nachdenkt, darf man<br />

nicht nur in Kategorien von Stoffkatalogen und wünschenswerten Qualifikationen<br />

denken. Vielmehr kann man sich beim Abstecken des Feldes „Schulgeometrie“<br />

an diesen drei grundlegenden Aspekten orientieren:<br />

• Alle Überlegungen sollen sich letztlich auf das Lehren und Lernen beziehen<br />

lassen.<br />

didaktischer Aspekt.<br />

• Alle Überlegungen sollen der Multiperspektivität der <strong>Geometrie</strong> Rechnung<br />

tragen.<br />

epistemologischer Aspekt.<br />

• Alle Überlegungen sollen sich auf einen sehr allgemeinen „literacy“-<br />

Begriff stützen, der auch innerfachliche Aspekte einbezieht.<br />

pädagogischer Aspekt.<br />

Neubrand, N. (2010). Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-)<br />

<strong>Geometrie</strong>: Versuch einer Theoretischen Klärung.. In: Ludwig, M., Oldenburg,<br />

R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker,<br />

S.11-34


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

Einstimmung: Was „braucht“ man eigentlich für die Tischler-Aufgabe?<br />

Es ist allzu leicht – und falsch! – mit dem Begriff „Basiskompetenzen“ nur das<br />

unmittelbar Anwendbare zu assoziieren. Schon die geometrischen Kompetenzen,<br />

die tatsächlich „unmittelbar gebraucht“ werden, enthalten weit mehr als<br />

bloße Fertigkeiten. Am folgenden Beispiel lässt sich das gut demonstrieren, der<br />

„Tischler-Aufgabe“ (siehe J. & M. Neubrand, 2007):<br />

Die Tischler-Aufgabe:<br />

Ein Tischler will oft, dass eine Schublade, eine Türfüllung, der Rahmen<br />

eines Schrankes oder Regals, eine Tischplatte, ... genau rechteckig zusammengebaut<br />

werden.<br />

Tischler gehen dafür so vor (Abbildung 1):<br />

Zuerst sichern sie, dass sich je zwei gleich lange Seiten a und b gegenüber<br />

liegen. Dies ist das leichtere Problem, denn man kann ja mit dem<br />

Zollstock ziemlich genau abmessen.<br />

Abb. 1: Werkstück des Tischlers<br />

Aber nun kann sich das Werkstück „verziehen“.<br />

a<br />

b b<br />

f e<br />

a<br />

Deshalb misst der Tischler auch die beiden Diagonalen e und f . Sind<br />

diese ebenfalls gleich lang, dann ist das Werkstück tatsächlich „im<br />

rechten Winkel“.<br />

Man muss zu diesem Vorgehen des Tischlers noch nicht einmal explizit die<br />

Frage stellen: „Stimmt das?“ Allein das Verwenden (noch nicht einmal das<br />

„Verstehen“) des Vorgehens des Tischlers setzt schon Kompetenzen voraus, die<br />

weit mehr sind als reduzierte „basics“:<br />

12


Anwenden setzt zwar Basis-Wissen voraus:<br />

Was ist ein rechter Winkel?<br />

Was bedeutet Länge?<br />

Was ist ein Rechteck?<br />

13<br />

Michael Neubrand<br />

Aber erkennen, worum es geht, kann man nur bei einer Sicht auf die Figur (das<br />

Werkstück), die mehr ist als ein statisches Abbild, mehr als das Benennen der<br />

Figur selbst:<br />

Wie kann sich die (eine) Figur verändern, wenn einige Größen festgehalten<br />

werden, einige schwanken?<br />

Innerhalb welcher Schar von Figuren ist das Rechteck anzusiedeln?<br />

Was ändert sich, was bleibt erhalten, wenn sich das Werkstück „verzieht“,<br />

wenn eine Figur systematisch verändert wird?<br />

Sind das noch „Basiskompetenzen“? Ja, denn offenbar verlangt die Praxis die<br />

Fähigkeit, solche Regeln sinnvoll zu verwenden. Aber die sinnvolle Verwendung<br />

bedingt offenbar grundlegende Verständniselemente, die über das Lernen<br />

von Rezepten hinausgehen. Kommen solche Fragestellungen in den <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />

dann kann die mathematikdidaktische Stoßrichtung nur sein, vielfältige<br />

Erfahrungen anstoßen, um die Tischler-Regel aus einem allzu engen<br />

Praxis-Kontext zu holen. Diese Erfahrungen müssen einerseits konkret genug<br />

bleiben, aber dennoch auf allgemeine Beziehungen zielen: Aus dem „Rezept“<br />

soll eine verstandene „Strategie“ werden. 1 Dennoch hat es wenig Sinn, nun in<br />

die „wirkliche“ Werkstatt zu gehen, aber Basteln und Experimentieren, sagen<br />

wir mit Stäben, Gelenken, Gummibändern, ... , das ist wichtig.<br />

Nicht einmal eine praxisnahe Regel für die konkrete Handwerkstätigkeit kann<br />

somit verstanden werden, wenn nur isoliertes Wissen über einige Grundbegriffe<br />

vorliegt. Auch und gerade auf einfachstem inhaltlichem Niveau sind Verknüpfungen<br />

des Gewussten zu anderen Wissenselementen und zu reflektierten Erfahrungen<br />

mit konkreten Gegenständen das Entscheidende. Solche Vernetzungen<br />

herzustellen muss nicht mit „schwierig“ sein. Einfache Querverbindungen ge-<br />

1 Das ist der „aufklärerische Impetus der Schule“, auf den Heinrich Winter immer wieder<br />

hingewiesen hat (Winter, 1975, 1985, 1995).


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

nügen. Wichtig ist, auch elementarstes Wissen zusammen(!) mit seinen Einbettungen<br />

zu thematisieren. 2<br />

Schon bei diesem einfachen Beispiel werden unterschiedliche Funktionen und<br />

Aspekte der <strong>Geometrie</strong> angesprochen:<br />

• Praxis<br />

• Begründung<br />

• Begriffe<br />

• Experimente<br />

• ...<br />

Das verlangt nach systematischer Erschließung des Feldes „(Schul-)<strong>Geometrie</strong>“,<br />

wofür im folgenden Abschnitt ein Modell angeboten wird.<br />

Die Multiperspektivität der Schulgeometrie:<br />

Sichtweisen – Zugänge – Tätigkeiten<br />

Nach drei Dimensionen (siehe Abbildung 2) kann man das Feld der Schulgeometrie<br />

aufschließen (Neubrand, 1991; siehe auch Graumann & al., 1995; Mammana<br />

& Villani, 1998):<br />

Generelle Sichtweisen<br />

von <strong>Geometrie</strong><br />

Zugänge („Approaches“)<br />

zur <strong>Geometrie</strong><br />

Abb. 2: Drei Dimensionen des Feldes Schulgeometrie<br />

2 In J. & M. Neubrand (2008) wird dazu ein für Schülerinnen und Schüler der Hauptschule<br />

geeignetes Arbeitsblatt zur Tischleraufgabe vorgestellt, das die Einführung in die<br />

Regel mit der Verknüpfung elementarer geometrischer Kenntnisse verbindet.<br />

14<br />

Tätigkeiten<br />

in der <strong>Geometrie</strong>


Sichtweisen<br />

15<br />

Michael Neubrand<br />

Schon die <strong>Geometrie</strong> als mathematisches Teilgebiet ist nicht uniform. Es gibt –<br />

und das zeichnet die <strong>Geometrie</strong> unter den anderen mathematischen Teilgebieten<br />

in besonderer Weise aus – die unterschiedlichsten Sichtweisen. Diese Vielfalt<br />

von Aspekten ist durchaus erstaunlich. Sie macht den <strong>Geometrie</strong>-Unterricht<br />

einerseits schwer und anspruchsvoll (Graumann & al., 1995); für die Analyse<br />

von Unterricht bietet sie aber auch Chancen:<br />

• Lehrerinnen und Lehrer können sich bei der Unterrichtsgestaltung daran<br />

orientieren;<br />

• die Einordnung und Bewertung von Unterricht kann anhand solcher<br />

Sichtweisen substantiiert und präzisiert werden;<br />

• schließlich müssen eine Reihe dieser Sichtweisen Bestandteil des bei<br />

den Schülerinnen und Schülern zu erzeugenden <strong>Mathematik</strong>bildes<br />

werden, das um so reichhaltiger wird, je ausgewogener diese Aspekte<br />

im Unterricht vorkommen.<br />

Eine ausführliche Liste von Sichtweisen der <strong>Geometrie</strong> hat Vollrath (1992)<br />

zusammengestellt; an diese hält sich die folgende Aufzählung. Auch Schupp<br />

(1991) hat ähnliche Beschreibung vorgelegt. Man kann demnach <strong>Geometrie</strong><br />

sehen …<br />

• als „fertiges“ mathematisches Teilgebiet, als Vorrat verschiedener,<br />

ausgearbeiteter mathematischer Theorien,<br />

• als ein Feld, in dem Begriffe zu finden, Theorien zu entwickeln, logische<br />

Abhängigkeiten aufzudecken, mathematischen Arbeitsweisen zu<br />

realisieren sind,<br />

• als Lieferant von mathematischen Problemen unterschiedlicher Art und<br />

Schwierigkeit (die „Steinbruch“-Idee),<br />

• als ein Vorrat von Theorien, die die Planung und Konstruktion von<br />

technischen Geräten verschiedener Art ermöglichen (besonders eindringlich,<br />

gerade durch die historische Distanziertheit Adams<br />

(1985/1795)),<br />

• als Bereitstellung von Theorien über den uns umgebenden Raum; d.h.<br />

<strong>Geometrie</strong> erwachsend aus naturwissenschaftlichen Erfahrungen und<br />

diese deutend,<br />

• als ein Produkt der Geistesgeschichte, als kulturelle Leistung,


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

Zugänge<br />

• als einen Vorrat von Formen, die es zu beobachten, zu interpretieren,<br />

zu erzeugen gilt, und die man außerhalb der <strong>Geometrie</strong> nutzen kann.<br />

Nicht uniform sind ebenso die Möglichkeiten, im <strong>Mathematik</strong>unterricht (und<br />

auch darüber hinaus) zu geometrischen Fragestellungen zu kommen. Auch hierbei<br />

zeichnet sich die <strong>Geometrie</strong> gegenüber anderen mathematischen Teildisziplinen<br />

durch eine besondere Multiperspektivität aus.<br />

Man kann zur <strong>Geometrie</strong> kommen …<br />

• von Realitätsbezügen her:<br />

Dann aber sollte man deren Vielfalt ausnützen: Technik, Geographie,<br />

Sonne-Mond-und-Sterne, Kunst, etc.. Im <strong>Mathematik</strong>unterricht werden<br />

Realitätsbezüge oft leider nur zum Motivieren oder zum Anregen benutzt;<br />

zentral ist aber, dass man sie auch zur Begriffsbildung einsetzt<br />

(vgl. Winter, 1995).<br />

• vom Interesse an und der Erschließung von inneren Zusammenhängen<br />

her.<br />

Dann steht im <strong>Mathematik</strong>unterricht oft das (nachträgliche) Erklären<br />

im Vordergrund, die Darstellung und Begründung von Sachverhalten.<br />

Man kann das Erschließen innerer Zusammenhänge aber auch für aktive<br />

Zugänge zu neuem mathematischem Wissen nützen, etwa indem logisches<br />

Ordnen neue Begriffe, Sätze, Beweise etc. erzeugt (vgl. Neubrand,<br />

1981; 1990).<br />

• vom Wunsch etwas zu beherrschen her.<br />

Dann sieht man im <strong>Mathematik</strong>unterricht oft nur das Üben. Auch dieses<br />

kann aber „produktiv“ sein, wenn es operativ aufgefasst wird und<br />

zu vielfältigen selbstgesteuerten Aktivitäten Anlass gibt. Solche Übungsformen<br />

sind in der <strong>Geometrie</strong> gut realisierbar, etwa mit dieser<br />

Aufgabe: In einen Kreis werden ein gleichseitiges Dreieck und ein<br />

Quadrat einbeschrieben (siehe Abbildung 3); durch Überschneidungen<br />

entstehen zahlreiche Stecken, die alle untereinander im Zusammenhang<br />

stehen und die man berechnen kann:<br />

16


Abb. 3: Kreis, gleichseitiges Dreieck und Quadrat<br />

• vom Material her (auch: Computer) und von Messgeräten her.<br />

17<br />

Michael Neubrand<br />

Die Aufgabe des <strong>Mathematik</strong>unterrichts ist es, die Geräte zu benutzen,<br />

die Erfahrungen zu ordnen, aus den Beobachtungen Schlüsse zu ziehen.<br />

Auch hier gilt es, die in der <strong>Geometrie</strong> gegebene Vielfalt auszunutzen.<br />

• von der Neugierde nach Erforschen, Entdecken, Problemlösen her.<br />

• vom Wunsch nach „Verstehen“ (über das Gelernte reflektieren) her.<br />

Gerade zu diesen beiden Punkten gibt es in der <strong>Geometrie</strong> vielfältige Möglichkeiten.<br />

Tätigkeiten und Kompetenzen<br />

Schließlich kann man die <strong>Geometrie</strong> auch unter dem Aspekt der in ihr ausgeführten<br />

mathematischen Tätigkeiten betrachten. Solche Tätigkeiten sollen dann<br />

zu Kompetenzen führen. Auch hier gilt: Die <strong>Geometrie</strong> bietet ein reichhaltiges<br />

Potential für solche Tätigkeiten und mithin ein breites Reservoir an Möglichkeiten,<br />

geometrische Kompetenzen auszubilden. Voraussetzung diese Vielfalt auszunützen<br />

ist die Bewusstheit darüber.<br />

Die <strong>Geometrie</strong> kennt als mathematische Aktivitäten …<br />

• reflektierte(!) konkrete Tätigkeiten: Falten, schneiden, kleben, rollen,<br />

zusammensetzen, bewegen, etc.,<br />

• diese konkreten Tätigkeiten – nach gemachten Erfahrungen – auch<br />

symbolisch auszuführen,<br />

• die spezifische Tätigkeit des Zeichnens mit ausgewählten (und entsprechend<br />

reflektierten) Zeichengeräten: Zirkel & Lineal, aber auch andere,<br />

incl. DGS,


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

• die spezifische Tätigkeit des „Sehens“ und des Operierens mit dem Gesehenen,<br />

• alle Tätigkeiten, die mit dem „Visualisieren“ zu tun haben (vgl. z.B.<br />

die zahlreichen Anregungen aus den Klagenfurter Visualierungs-<br />

Workshops (etwa Kautschitsch, 1989) oder das folgende Beispiel eines<br />

„visuellen Beweises“ – Abbildung 4).<br />

Abb. 4:“The rolling circle squares itself” (Nelsen, 1993)<br />

Es gibt aber in der <strong>Geometrie</strong> noch eine besondere Art, mathematische Tätigkeiten<br />

in den Unterricht einzubauen. Das liegt daran, dass gerade in der <strong>Geometrie</strong><br />

– mehr, expliziter und leichter elementar zugänglich zu machen als in anderen<br />

mathematischen Teilgebieten – einige allgemeine mathematische Arbeitsweisen<br />

authentisch zum Ausdruck kommen. Benno Artmann hat sogar von <strong>Geometrie</strong><br />

als „Vorbild für <strong>Mathematik</strong>“ (Artmann, 1978) gesprochen. Zu diesen in der<br />

<strong>Geometrie</strong> authentisch und dennoch elementar darstellbaren Tätigkeiten gehören<br />

…<br />

• das Aufklären von Phänomenen,<br />

• das Ordnen von Chaos,<br />

• das Herstellen von Beziehungen zwischen verschiedenen Aussagen, oft<br />

sogar schärfer: das Aufdecken verborgener Beziehungen,<br />

• die Präzisierung qualitativer Beziehungen,<br />

18


19<br />

Michael Neubrand<br />

• das Hinausgehen über Bekanntes, das Erweitern des Horizonts, das<br />

Verallgemeinern,<br />

• das Umschlagen einer Fragestellung, die beantwortet scheint, in ein<br />

neues Problem (oft ausgelöst durch neue „Mittel“),<br />

• die Suche nach einem aufklärenden Gedanken für ein ganzes Gebiet.<br />

Vgl. Neubrand (1991) für Hinweise auf Beispiele sowohl aus dem „elementaren“<br />

geometrischen Bereich wie auch parallel dazu aus der „höheren“ <strong>Mathematik</strong>.<br />

<strong>Geometrie</strong> in den Bildungsstandards, in den US-„Principles & Standards“<br />

und im britischen Geometry-Report<br />

In die deutschen Bildungsstandards geht die <strong>Geometrie</strong> vorwiegend unter der<br />

Leitidee „Raum und Form“ ein. Es heißt dort (KMK, 2003, 2004):<br />

(L 3) Leitidee Raum und Form<br />

Schülerinnen und Schüler ...<br />

• erkennen und beschreiben geometrische Strukturen in der Umwelt,<br />

• operieren gedanklich mit Strecken, Flächen und Körpern,<br />

• stellen geometrische Figuren im kartesischen Koordinatensystem dar,<br />

• stellen Körper (z. B. als Netz, Schrägbild oder Modell) dar und erkennen<br />

Körper aus ihren entsprechenden Darstellungen,<br />

• analysieren und klassifizieren geometrische Objekte der Ebene und des<br />

Raumes,<br />

• beschreiben und begründen Eigenschaften und Beziehungen geometrischer<br />

Objekte (wie Symmetrie, Kongruenz, Ähnlichkeit, Lagebeziehungen)<br />

und nutzen diese im Rahmen des Problemlösens zur Analyse<br />

von Sachzusammenhängen,<br />

• wenden Sätze der ebenen <strong>Geometrie</strong> bei Konstruktionen, Berechnungen<br />

und Beweisen an, insbesondere den Satz des Pythagoras und den<br />

Satz des Thales,<br />

• zeichnen und konstruieren geometrische Figuren unter Verwendung<br />

angemessener Hilfsmittel wie Zirkel, Lineal, Geodreieck oder dynamische<br />

<strong>Geometrie</strong>software,


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

• untersuchen Fragen der Lösbarkeit und Lösungsvielfalt von Konstruktionsaufgaben<br />

und formulieren diesbezüglich Aussagen,<br />

• setzen geeignete Hilfsmittel beim explorativen Arbeiten und Problemlösen<br />

ein.<br />

Die einzelnen Kompetenzen bleiben allerdings – wie bei einer solchen summarischen<br />

Übersicht zunächst nicht anders zu erwarten – relativ unverbunden nebeneinander<br />

stehen. Nähere Begründungen und Strukturierungen fehlen; Prinzipien,<br />

wie „gedanklich operieren“ oder „begründen“ (nach unterschiedlichen<br />

Systematiken wie Kongruenz oder Symmetrie) stehen unvermittelt neben stofflichen<br />

Elementen wie den extra erwähnten Sätzen von Pythagoras und Thales.<br />

Der Informationsgehalt der Bildungsstandards wird zu den Lehrerinnen und<br />

Lehrern hauptsächlich über Aufgabenbeispiele transportiert (Blum & al., 2006).<br />

Das kann durchaus – worauf implizit bereits in Blum & al. (2006, vgl. S. 33-35)<br />

hingewiesen wird – bedenkliche Einschränkungen nach sich ziehen. Zum Lehren<br />

und Lernen gehören nämlich neben dem stofflichen Kanon und den prozessbezogenen<br />

Kompetenzen auch allgemeine mathematische Denkweisen und eine<br />

Einbindung des Stoffes in größere, auch für die Lernenden sichtbare Zusammenhänge<br />

(vgl. Neubrand, 2009).<br />

Wie real die Gefahr der Einschränkung der Ideen der Bildungsstandards beim<br />

Übergang zum konkreten und realen <strong>Mathematik</strong>unterricht ist, zeigen Aufgabenbeispiele<br />

wie das obige (siehe Abbildung 5), das – wenn es bei solchen Aufgaben<br />

bleibt – eine große Einengung der Ideenwelt der <strong>Geometrie</strong> anzeigt, indem<br />

nämlich nur noch auf Rechnerisches und Außermathematisches Bezug<br />

genommen wird und keinerlei Ansatzmöglichkeiten zur Reflexion (Form der<br />

Pyramide, Eigenarten der Formeln, etc.) mehr erkennbar sind.<br />

20


Abb. 5: aus: Stark-Verlag, 2009 a<br />

21<br />

Michael Neubrand<br />

Die US-amerikanischen „Principles & Standards“ (NCTM, 2000) gehen weitaus<br />

strukturierter vor. Wörtlich heißt es (NCTM, 2000):<br />

Geometry Standard<br />

Instructional programs from prekindergarten through grade 12<br />

should enable all students to …<br />

• analyze characteristics and properties of two- and three-dimensional<br />

geometric shapes and develop mathematical arguments about<br />

geometric relationships;<br />

• specify locations and describe spatial relationships using coordinate<br />

geometry and other representational systems;<br />

• apply transformations and use symmetry to analyze mathematical<br />

situations;<br />

• use visualization, spatial reasoning, and geometric modeling to solve<br />

problems.<br />

Man kann klar die vier zentralen Denkweisen unterscheiden, die durch die <strong>Geometrie</strong><br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht in besonderer Weise ausgebildet werden sollen.<br />

Es sind dies allgemeine Funktionen des <strong>Mathematik</strong>unterrichts, die aber<br />

jeweils spezifisch geometrisch realisiert werden können:<br />

• analytisch denken:<br />

Formen – Figuren – innere Eigenschaften von Figuren.


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

• darstellen und beschreiben:<br />

Raum – Orientierung – Darstellung durch Koordinaten und andere Verfahren.<br />

• beweglich denken:<br />

Beweglichkeit – Beziehungen im Großen – Symmetrien.<br />

• die geometrischen Möglichkeiten nutzen:<br />

Sehen – Erkennen – Veranschaulichen.<br />

Ein Vergleich der beiden Ansätze zeigt, dass die Bildungsstandards relativ ungeordnet<br />

bestimmte Kompetenzen aneinander reihen. Unterschiedliche Ebenen<br />

werden nicht auseinandergehalten; Beispiele stehen neben allgemeinen Überlegungen;<br />

eine gemeinsame Klammer fehlt. Der Hintergedanke, warum die Leitidee<br />

„Raum & Form“ und nicht „<strong>Geometrie</strong>“ genannt wird, bleibt recht vage. Es<br />

fehlt der Hinweis, was geometrisches Denken als Grundlage für Visualisierungen<br />

über die <strong>Geometrie</strong> hinaus leisten kann. Somit besteht vor allem die Gefahr<br />

der Verengung bei der konkreten Umsetzung. Im Begleitbuch zu den Bildungsstandards<br />

(Blum & al., 2006) kommt keine explizite Gesamtbeschreibung von<br />

„Raum und Form“ vor, wie es etwa bei Daten & Zufall geschieht.<br />

Die “Principles & Standards” hingegen definieren vier klare Funktionen der<br />

<strong>Geometrie</strong>. Diese immer gleichen „Standards“ werden dann systematisch nach<br />

Klassenstufen ausdifferenziert, so dass allein von daher eine größere Breite<br />

angesprochen (auch realisiert??) werden kann. Eindeutig liegt der Fokus der<br />

„Principles & Standards“ auf „understanding“ im Sinne einer Vernetzung der<br />

einzelnen Gegenstände der <strong>Geometrie</strong> über größere curriculare und gedankliche<br />

Distanzen hinweg.<br />

Dass es gerade in der <strong>Geometrie</strong> auf die fachimmanenten Randbedingungen<br />

ankommt, betont auch der „Report“ der britischen Royal Society von 2001. Drei<br />

Grundprobleme, die sich zwar auch in anderen mathematischen Teilgebieten<br />

stellen, sind in der <strong>Geometrie</strong> besonders virulent (Royal Society, 2001):<br />

• abundance:<br />

Der große Facettenreichtum der <strong>Geometrie</strong> kann zu Eklektizismus oder<br />

zur Auswahl eines allzu engen Lehrgangs führen.<br />

• coherence:<br />

Beides, Breite und Tiefe sind im mathematischen und im didaktischen<br />

Sinn zu sichern. <strong>Geometrie</strong> kann also nicht beliebig ausgedünnt werden.<br />

• progression:<br />

<strong>Geometrie</strong> im Unterricht ist als Einheit und im gesamten curricularen<br />

Zusammenhang zu konzipieren.<br />

22


23<br />

Michael Neubrand<br />

Gerade die letzten beiden Punkte scheinen mir in den deutschen Bildungsstandards<br />

viel zu kurz zu kommen, so dass wir tatsächlich mit der zuerst genannten<br />

Gefahr der Verengung real konfrontiert sind. Übrigens empfiehlt die Royal<br />

Society abschließend: „We recommend that the title of the attainment target<br />

Ma3 of the National Curriculum be changed from ‘Shape, space and measures’<br />

to ‘Geometry’.“ (Royal Society, 2001).<br />

Umsetzung von geometrischen Basiskompetenzen in der deutschen Option<br />

von PISA-2003<br />

Will man die aufgezeigte Breite der geometrischen Kompetenzen konkret in<br />

Aufgaben umsetzen, z.B. in Leistungsuntersuchungen wie PISA, aber auch in<br />

zentralen Prüfungen in den Bundesländern, in Vergleichsarbeiten, ja selbst in<br />

Ansätzen auch noch in Klassenarbeiten und schulischen Leistungsüberprüfungen,<br />

steht man vor recht konkreten Problemen. Einerseits soll die soeben umrissene<br />

kognitive Breite vorhanden sein. Anderseits sind aber „Test“-Aufgaben zu<br />

konstruieren, die von den Schülerinnen und Schüler nicht „geniale“ Ideen verlangen<br />

können, auch keine allzu langen Argumentationsketten, keine aufwendigen<br />

Zeichnungen etc., die aber dennoch auf Wissen und Fähigkeiten zurückschließen<br />

lassen. Es kann also nicht mehr nur um realitätsorientierte Berechnungsaufgaben,<br />

wie im obigen Beispiel (Abbildung 3) gehen; auch das innermathematische<br />

Potential der <strong>Geometrie</strong> muss angemessen zur Geltung kommen,<br />

denn auch das ist „grundbildungsrelevant“, wie die eingangs diskutierte Tischler-Aufgabe<br />

zeigte.<br />

Mit im Kern analogen Ideen, nämlich die inhaltliche Breite der <strong>Geometrie</strong> auszunutzen,<br />

geht Wittmann (1999) an die Konstruktion eines <strong>Geometrie</strong>-<br />

Curriculums heran. Zu den Grundideen der Elementargeometrie zählt er dabei<br />

nicht nur innergeometrische Stoffbereiche, sondern er betont, dass die <strong>Geometrie</strong><br />

nicht nur ein Zweig der <strong>Mathematik</strong> sei, sondern auch vom Standpunkt der<br />

Allgemeinbildung aus wichtig: <strong>Geometrie</strong> ist „fundamental“, indem sie in vielfachen<br />

Zusammenhängen auftritt, gerade auch im Zusammenhang mit dem<br />

allgemeinen Lernziel Mathematisieren. Mathematisieren ist aber bei ihm nicht<br />

Selbstzweck sondern sowohl Zugang (zu Begriffen) wie auch Bewährung (der<br />

inneren Konsistenz).<br />

In der deutschen Zusatzstudie zu PISA-2003 (Prenzel & al., 2004) wurde u.a.<br />

eine umfangreiche Sammlung an geometrischen Aufgaben gestellt. Die Ergebnisse<br />

zu diesen Aufgaben sind bisher nicht öffentlich dargestellt, so dass im<br />

Folgenden lediglich ein kurzer Einblick gegeben wird. Vor der Aufgaben-<br />

Konstruktion standen systematische Überlegungen, die verschiedenen Dimensionen<br />

der <strong>Geometrie</strong> im Aufgabenmaterial anzusprechen. Im Folgenden werden


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

– ohne hier auf das volle Aufgaben-Spektrum einzugehen – Beispiele zu ausgewählten<br />

Aspekten angegeben und kurz diskutiert:<br />

• Aufgaben zum Grundwissen.<br />

Beispielaufgabe: „Rechteckeigenschaften“<br />

• Aufgaben zum Erkennen von Zusammenhängen als Vorstufe zum Beweisen.<br />

Beispielaufgabe: „Trapezfläche“<br />

• Aufgaben zu Berechnungen, mit Modellierungscharakter.<br />

Beispielaufgaben: „L-Fläche“, „Wandfläche“ (siehe Ulfig, 2007),<br />

„Tischdecke“<br />

Schließlich folgt ein Beispiel außerhalb von PISA:<br />

• Aufgaben außerhalb der üblichen Berechnungs-Aufgaben, hier mit<br />

Anknüpfung an die „zentrale Idee“ (Bender, 1983) des „Passens“.<br />

Beispielaufgabe: „Beregnete Fläche“<br />

Aufgabenbeispiel zum Grundwissen (aus PISA-2003-Deutschland)<br />

Rechteckeigenschaften<br />

Schreibe möglichst viele Eigenschaften von Rechtecken auf:<br />

Es ist bemerkenswert 3 , dass immerhin knapp 10 % der deutschen Schülerinnen<br />

und Schüler zu dieser elementaren Frage keine, über 10 % nur falsche Antworten<br />

geben können. ¾ der Schülerinnen und Schüler beschränken sich ausschließlich<br />

auf Eigenschaften von Winkeln und Seiten. Unter 10 % nennen auch Eigenschaften<br />

von Diagonalen, Mittelinien und/oder Symmetrien.<br />

3 Es werden hier nur grobe Orientierungszahlen – ohne Schulformen, Gewichtungen,<br />

Differenzierungen – angegeben. Es ist dies also keine Auswertung der PISA-Ergebnisse!<br />

24


25<br />

Michael Neubrand<br />

Aufgabenbeispiel zum Erkennen von Zusammenhängen als Vorstufe zum Beweisen<br />

(aus PISA-2003-Deutschland)<br />

A<br />

Trapezfläche<br />

In einem Schulbuch steht:<br />

Die Formel für die Berechnung des Flächeninhalts eines<br />

Trapezes ergibt sich aus der folgenden Zeichnung:<br />

D C<br />

h<br />

Erkläre, wie man aus dieser Zeichnung erkennen kann, dass die Formel für die<br />

Berechnung der Trapezfläche A = m ⋅ h lautet.<br />

Selbst bei großzügiger Codierung kommt man hier nur noch auf ca. ¼ der Schülerinnen<br />

und Schüler, die eine hinreichende Erklärung abgeben können. Die<br />

Hälfte der Schülerinnen und Schüler lässt diese Aufgabe aus, kann der Fragestellung<br />

also nicht wirklich einen Sinn abgewinnen. Dennoch sind solche<br />

„Schulbuchseiten“ ja nicht frei erfunden; sie sind sogar nahe an dem, was üblicherweise<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht präsentiert wird.<br />

Aufgabenbeispiele zu Berechnungen mit Modellierungscharakter (aus PISA-<br />

2003-Deutschland)<br />

Solche Beispiele hat Frauke Ulfig bereits vor zwei Jahren beim <strong>AK</strong> <strong>Geometrie</strong><br />

vorgetragen (Ulfig, 2007). Eines der herauszuhebenden Ergebnisse ist, dass<br />

Fehllösungen von (Haupt-) Schülerinnen und Schülern oft nicht allein auf lokalem<br />

Nicht-Wissen beruhen, sondern auf sehr allgemeinen Fehlvorstellungen,<br />

z.B. darüber, was in der <strong>Geometrie</strong> eine „Figur“ sei.<br />

Eine bereits mehrfach diskutierte Aufgabe (siehe Prenzel & al., 2004, S. 59 f),<br />

hinter der letztlich ein sehr einfacher (Teilaufgabe a)) und ein recht verwickelter<br />

(Teilaufgabe b)) Modellierungsprozess stehen, ist die Aufgabe „Tischdecke“:<br />

m<br />

B


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

Tischdecke<br />

Auf einem quadratischen Tisch liegt eine quadratische Tischdecke.<br />

An allen vier Kanten hängt die Decke 10 cm so über, wie es die Zeichnung zeigt:<br />

80 cm<br />

a) Wie groß ist die Tischfläche?<br />

b) Wie groß ist die Tischdecke? Gib ihren Flächeninhalt an.<br />

26<br />

10 cm<br />

(Zeichnung nicht maßgenau)<br />

Teilaufgabe a) wird bei PISA in Deutschland erwartungsgemäß von der Hälfte<br />

der Schülerinnen und Schüler richtig gelöst. Mehr als die Hälfte der Schülerinnen<br />

und Schüler überspringen hingegen die sehr viel komplexere Teilaufgabe<br />

b). Selbst von denen, die die Aufgabe bearbeitet haben, bekommen nur noch ca.<br />

15% korrekte Lösungen zustande. Davon gehen 2/3 über die Diagonale der<br />

Tischdecke, 1/3 über die Kantenlänge der Tischdecke. Eine genauere Inspektion<br />

der PISA-Daten kann also auch Strategien und bevorzugte Lösungswege aufdecken.<br />

Beispielaufgabe zum „Passen“ außerhalb der üblichen Berechnungs-Aufgaben<br />

Die folgende Aufgabe stammt aus der zentralen Prüfung ZP-10 von 2008 für<br />

Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (siehe Stark-Verlag 2009 b oder<br />

www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/zp10/pruefungsaufgaben/).<br />

Die Aufgabe zeigt einerseits deutlich auf, wie gut man mit geometrischen Themen<br />

anspruchsvolle und dennoch durch den Kontext relativ einfach zugängliche<br />

Aufgaben konstruieren kann. Hinter dem dominierenden außermathematischen<br />

Kontext steht nämlich letztlich das Erkennen der geometrischen Konfiguration,<br />

die sich gegenseitig berührende Kreise gleichen Durchmessers einnehmen. Diese<br />

Konfiguration zu durchschauen (Idee: „Passen“) ist die eigentliche kognitive<br />

Leistung hinter der Aufgabe. Andererseits zeigt die Aufgabe aber auch, wie<br />

schwer es ist, dieses Potential der <strong>Geometrie</strong> wirklich so umzusetzen, dass<br />

Schülerinnen und Schüler damit in geometrisches Denken hineingeführt werden.


27<br />

Michael Neubrand<br />

Abb. 6: Aufgabe aus den zentralen Prüfungen <strong>Mathematik</strong> 2008, Klasse 10,<br />

Gymnasium, Nordrhein-Westfalen.<br />

Die Umsetzung der genannten Ideen in die Aufgabe ist tatsächlich problematisch<br />

4 , sowohl von der Formulierung her, wie vom Erkenntnisgewinn aus den<br />

Lösungsquoten. So ergeben sich sowohl die in der Zeichnung angebenden<br />

1416 m als auch h aus der Kreiskonfiguration selbst; warum soll nur das eine<br />

bestätigt werden? Das „Sehen“ und die Form-Analyse selbst werden nicht wirklich<br />

ernst genommen; der Berechnungsgedanke dominiert. Ob die 60°-<br />

Konfiguration der Kreise erkannt wird, kann aus der Bearbeitung nicht entnommen<br />

werden, es genügt ja, wenn die Schülerinnen und Schüler den Pythagoras<br />

anwenden. Die Aufgabe verdient also durchaus ein Nachdenken über alternative<br />

Ideen, die man in diese Situation einbringen könnte, z.B.: Wo treten (versteckt)<br />

60°-Winkel auf? Und warum?<br />

4 An anderer Stelle werde ich in Kürze ausführliche Analysen zu dieser Aufgabe vorle-<br />

gen


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

Basiskompetenzen und das Problem der Mindeststandards:<br />

Ein in der GDM diskutierter Katalog, Kritik daran, Ausblick<br />

Natürlich verweist das <strong>Tagungs</strong>thema „Basiskompetenzen“ auch auf die aktuelle<br />

Diskussion um Mindeststandards. Diese Diskussion scheint keineswegs abgeschlossen.<br />

Vielmehr gibt es m.E. eine ganze Reihe von ungelösten und noch<br />

nicht einmal tief und breit diskutierten Problemen. Es kann hier also nur um<br />

einige weitere Impulse zu dieser Thematik gehen.<br />

Im Duktus eines „Absteckens des Feldes der Schulgeometrie“, worum es in<br />

diesem Beitrag gehen soll, ist vor allem zu bedenken:<br />

(a) Die Problematik der Mindeststandards sollte – man vergleiche zur Begründung<br />

etwa wieder die eingangs angesprochene Tischler-Aufgabe – nicht zu eng<br />

diskutiert werden. Am umfassendsten scheint das Positionspapier der Gesellschaft<br />

für Fachdidaktik (GfD, 2009) vorzugehen, indem es auf diese vier zentralen<br />

Gesichtspunkte einer Befähigung zur aktiven Beteiligung am beruflichen<br />

und öffentlichen Leben sowie zur Gestaltung des privaten Lebens hinweist:<br />

• Identitätsbildung (reflektierter Zugang zur Welt)<br />

• Alltagsbewältigung (mehr als „Alltagswissen“)<br />

• Ausbildungsreife<br />

• Partizipation (am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben).<br />

Ähnlich breite Perspektiven werden auch in den Beiträgen des einschlägigen<br />

Themenheftes der Zeitschrift „Lernchancen“ (Reiss, 2007; darin auch J. & M<br />

Neubrand, 2007) eingenommen und dennoch bis zu unterrichtstauglichen Arbeitsvorschlägen<br />

herunter gebrochen.<br />

(b) Stets ist man in dieser Diskussion mit der Spannung zwischen deskriptiven<br />

Beschreibungen und normativen Projektionen konfrontiert, wie sie z.B. Alexander<br />

Wynands in seinem Diskussionspapier (Wynands, 2009) aufzeigt. Will man<br />

deskriptiv zum Ende kommen, sind Stoffkataloge wie in den Arbeiten von<br />

Hans-Dieter Sill in all ihrer Detailliertheit durchzugehen und zu diskutieren (Sill<br />

u.a., 2005 a, b; 2007).<br />

(c) Vom technischen Standpunkt aus kann man 5 über das Erreichen von Mindeststandards<br />

auch so diskutieren: Ein bestimmter „cutpoint“ soll auf einer Ska-<br />

5 … und wird man schließlich auch auf die eine oder andere Weise tun müssen, wenn es<br />

um die Definition des bildungspolitischen Handlungsbedarfs geht.<br />

28


29<br />

Michael Neubrand<br />

la der mathematischen Leistungsfähigkeit mindestens erreicht werden. Doch<br />

inwieweit ist dies der richtige Weg? Wie wird dann damit im öffentlichen Raum<br />

umgegangen? Solche Definitionen beinhalten politische Probleme, die man<br />

offensiv diskutieren muss. Andererseits ist klar: Ohne empirisch untermauerte<br />

Daten geht es im politischen Feld nicht.<br />

(d) Das eigentliche Problem steckt im Nachweis, dass es für Schülerinnen und<br />

Schüler tatsächlich ein „Risiko“ ist, bestimmte Kenntnisse nicht zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt zu haben? Hier besteht durchaus auch fach-didaktischer<br />

Forschungsbedarf, denn man muss die aus den 1970-er-Jahren bekannten<br />

Schwierigkeiten mit dem „lernzielorientierten Ansatz“ überwinden.<br />

(e) Eines aber haben die Betrachtungen in den voranstehenden Paragraphen<br />

ergeben: Nicht nur in der <strong>Geometrie</strong> (aber da vielleicht besonders) erreicht man<br />

Mindeststandards nur, wenn nicht nur Aufgaben-Beispiele trainiert und nicht<br />

nur Stoffrahmen definiert werden, sondern auch die Art der <strong>Mathematik</strong> bedacht<br />

und prozessbezogene Kompetenzen mit einbezogen werden. Das ist die mathematikdidaktische<br />

Herausforderung! (vgl. Neubrand, 2009).<br />

Auf diesen Grundlagen (a-e) sollen abschließend zwei Vorlagen aus der aktuellen<br />

Diskussion gegenübergestellt werden, obwohl noch kein abschließendes<br />

Urteil gefällt werden kann.<br />

In einer GDM-internen, aber offenen Arbeitsgruppe haben Andreas Pallack u.a.<br />

eine Liste zu den Mindeststandards bei der Leitidee „Raum und Form“ der Bildungsstandards<br />

vorgelegt. Diese Liste enthält:<br />

• Bekannte ebene Figuren (Quadrat, Rechteck, Dreieck, Kreis) – auch<br />

anhand von Gegenständen oder Abbildungen aus der Umwelt – benennen<br />

• Deckungsgleiche Figuren identifizieren<br />

• Bekannte ebene Figuren (Quadrat, Rechteck, Kreis) anhand einer vorgegebenen<br />

Skizze oder anhand konkreter Angaben mit angemessenen<br />

Hilfsmitteln (Geodreieck, Zirkel) zeichnen<br />

• Bekannte Körper (Würfel, Quader, Pyramide) anhand ihrer Schrägbilder<br />

oder anhand gegenständlicher Abbildungen aus der Umwelt identifizieren<br />

• Achsen-und Punktsymmetrien – auch in der Umwelt – identifizieren<br />

• Zueinander parallele bzw. zueinander senkrechte Geraden identifizieren


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

• Einfache Beziehungen zwischen bekannten Polyedern (Würfel, Quader,<br />

Prisma, Pyramide oder daraus zusammengesetzter Körper) und deren<br />

Netzen herstellen<br />

• Die Koordinaten eines Punktes ablesen sowie zu vorgegebenen Koordinaten<br />

den entsprechenden Punkt im Koordinatensystem eintragen<br />

(ganzzahlig)<br />

• Planquadrate aufgrund von Spalten- und Zeilenangaben in Landkarten<br />

identifizieren<br />

Betrachtet man die in dieser Liste vorkommenden Verben („Tätigkeiten“?), so<br />

findet man benennen - identifizieren - zeichnen – ablesen; Beziehung“ kommt<br />

nur zwischen Netz und Polyeder vor. Wir finden also keinen Bezug zu den prozessbezogenen<br />

Kompetenzen der Bildungsstandards. Es kommt auch kein noch<br />

so einfaches Begründen vor. Alles ist (implizit oder explizit) mit Umweltbezug<br />

versehen, was die Sache aber u.U. komplexer macht und von mathematischen<br />

Tätigkeiten und vom mathematischen Wissen – die selbstverständlich situativ<br />

aufgebaut werden müssen, aber eben das Situative übersteigen – eher ablenkt.<br />

In der gleichen Arbeitsgruppe kursiert auch eine von Alexander Wynands und<br />

Siegbert Schmidt erstellte Liste von Basisqualifikationen zur Leitidee „Messen“<br />

– nach dem oben Gesagten durchaus mit großen geometrischen Anteilen:<br />

• Maßangaben (für Geldwerte, Längen, Flächeninhalte, Volumina, Massen,<br />

Zeitspannen, Winkel) realen Dingen zuordnen.<br />

• zu Alltagskontexten passende Größenangaben (zu wesentlichen Einheiten:<br />

mm, cm, m, km; cm², m² ; l, m³, g, kg, t) schätzen und angeben.<br />

• Längen, Entfernungen und Winkel (mit dem Geodreieck) messen.<br />

• Winkel in einfachen Fällen berechnen.<br />

• Werte von Messskalen (auf Zollstock/Maßband, Messbecher, Waagen,<br />

Temperaturskalen, Tank-Inhalt-Anzeige, …) ablesen (und sinnvoll<br />

runden).<br />

• Größen (Längen, Flächeninhalte, Volumina, Gewichte, Geldwerte,<br />

Zeitspannen) vergleichen und umrechnen.<br />

• Flächeninhalts- und Umfangsberechnungen einfacher Figuren (Quadrat,<br />

Rechteck, Dreieck, Kreis) sowie einfacher zusammengesetzter Figuren<br />

durchführen.<br />

• Unter Beachtung des Maßstabs Entfernungen auf Landkarten bestimmen.<br />

30


31<br />

Michael Neubrand<br />

• Oberflächeninhalts- und Volumenberechnungen bei Würfeln, Quadern<br />

und Zylindern durchführen.<br />

Wir finden hier weit mehr Aktivitäten, die dem kognitiven Vernetzen zuspielen<br />

können. Die Diskussion um Mindeststandards in der <strong>Geometrie</strong> (in der <strong>Mathematik</strong>)<br />

scheint also keineswegs abgeschlossen. Die Frage der Sicherung von<br />

Multiperspektivität auch bei den Basiskompetenzen ist offenbar das zentrale<br />

Problem, das weiter zu diskutieren ist.<br />

Von der „Tischler-Aufgabe“ zur Ausbildung von Basiskompetenzen<br />

Die Tischler-Aufgabe zu Anfang hat gezeigt, dass nicht einmal eine praxisnahe<br />

Regel verstanden kann werden, wenn nur isoliertes Wissen über einige Grundbegriffe<br />

vorliegt. Stets ist daher bei der Ausbildung von Basiskompetenzen<br />

darauf zu achten, dass Verknüpfungen, auch des elementarsten Wissens, zur<br />

Regel im <strong>Mathematik</strong>unterricht werden. Solche Vernetzungen herzustellen kann<br />

mit einfachsten Querverbindungen initiiert werden, wie diese Beispiele aufzeigen<br />

können:<br />

• Begriffsbildung:<br />

Quadrat und Rechteck sind bekannt als Basisfiguren, aber auch: Ein<br />

Quadrat ist auch ein Rechteck, nicht jedes Rechteck ein Quadrat.<br />

• Begriffsbildung:<br />

Umfang und Fläche sind Basisbegriffe, aber auch: Es kann bei einer<br />

Figur (Rechteck) der Umfang größer und dennoch die Fläche kleiner<br />

werden.<br />

• Begriffsbildung:<br />

Eine Pyramide sieht „so wie in Ägypten“ aus, aber auch: Die Basisfläche<br />

könnte auch ein Fünfeck sein und man kann dann immer noch von<br />

einer Pyramide sprechen.<br />

• Berechnungstypen, Umgehen mit Formeln:<br />

Bei der Berechnung des Flächeninhalts eines Rechtecks geht man nach<br />

der Regel Grundlinie x Höhe vor (… und warum?), aber auch: beim<br />

Parallelogramm, aber nicht: bei einem Drachenviereck (… und warum?).<br />

• Berechnungstypen:<br />

Bei der Berechnung des Volumens eines Quaders gilt Grundfläche x<br />

Höhe, aber auch, wenn ein Prisma mit einer nicht mehr rechteckigen<br />

Grundfläche vorliegt.


Inhalte, Arbeitsweisen und Kompetenzen in der (Schul-) <strong>Geometrie</strong><br />

• Erkennen und Analysieren von Körpern:<br />

Zusammengesetzte Körper kommen als Figuren vor, aber auch: es gibt<br />

Strategien, einen Standardkörper in Stücke zu zerlegen, und für diese<br />

Zerlegungen gibt es mehr als nur eine Möglichkeit.<br />

• Netze von Körpern:<br />

Dies ist ein Netz, aber auch: Gibt es noch ein anderes?<br />

Man muss es sich somit zur Regel machen, von jedem Basisgegenstand aus<br />

„lokale“ Schritte ins Verwandte, Analoge oder Konträre zu gehen und erste<br />

kleine Ansätze ins Allgemeine aufzuzeigen.<br />

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32


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Schwerin: Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Sill, H.-D. u.v.a.(2005 b). Sicheres Wissen und Können in der räumlichen <strong>Geometrie</strong>.<br />

Schwerin: Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern.<br />

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Westfalen mit Lösungsheft. Zentral gestellte Prüfung am Ende der Klasse 10 an<br />

Hauptschulen (Typ B) und Gesamtschulen (EK) in Nordrhein-Westfalen. Freising-<br />

Hallbergmoos: Stark Verlag.<br />

Stark-Verlag (Hrsg.) (2009 b). Zentrale Prüfungen <strong>Mathematik</strong> 10. Klasse Gymnasium<br />

Nordrhein-Westfalen. Freising-Hallbergmoos: Stark Verlag.<br />

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Wittmann, E.Ch. (1999). Konstruktion eines <strong>Geometrie</strong>-Curriculums ausgehend von<br />

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durch Handeln und Erfahrung. Festschrift zum 75. Geburtstag von Heinrich Besuden<br />

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GDM-Mitteilungen Nr. 87, Sept. 2009., 15-18.<br />

34


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Heinrich Winter<br />

Vortrag auf der Sitzung des Arbeitskreises <strong>Geometrie</strong>, März 2009<br />

Herrn Kollegen LUTZ FÜHRER zum 65. Geburtstag gewidmet<br />

Vorbemerkung. Ich habe LUTZ FÜHRER für zahlreiche wertvolle Anregungen zum<br />

<strong>Geometrie</strong>unterricht ebenso zu danken wie für Ermunterungen, die meine Bemühungen<br />

betrafen. Vor allem aber hat er mich davon überzeugt, dass der <strong>Mathematik</strong>unterricht nur<br />

dann von Bedeutung sein kann, wenn der Lehrer ein lebendiges Verhältnis zur <strong>Mathematik</strong><br />

(einschließlich ihrer Geschichte und ihrer vielfältigen Anwendungen) besitzt und<br />

wenn er seine erzieherischen Aufgaben, die über das Stoffliche hinausgehen, ernst<br />

nimmt. Dazu gehört die Einbettung des Stoffes in die Gesamtheit der menschlichen<br />

Kultur. Dieser Aufsatz ist ein Versuch dazu.<br />

Der Spielwürfel<br />

Symmetrie, ob man ihre Bedeutung weit oder eng<br />

fasst, ist eine Idee, vermöge derer der Mensch<br />

durch die Jahrtausende seiner Geschichte versucht<br />

hat, Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit zu<br />

begreifen und zu schaffen.<br />

HERMANN WEYL<br />

Er dürfte wohl die weltweit bekannteste Erscheinungsform des Würfels sein.<br />

Und der Würfel ist unter den Polyedern zweifellos der Primus und ein ausgesprochener<br />

Glücksfall für die Didaktik, da er vom Kindergarten bis zur Universität<br />

ein Faszinosum darstellt, das immer wieder zu neuen Fragen und Spielen<br />

verführt und neue Sichtweisen eröffnet.<br />

Einfach nur Würfeln<br />

Warum würfeln wir heute durchweg mit dem Spielwürfel, wenn wir ein handliches<br />

Zufallsgerät brauchen? Die nächst gelegenen Konkurrenten wären die vier<br />

anderen Platonischen Körper. Aber das Tetraeder rollt gar nicht auf der ebenen<br />

horizontalen Unterlage, hat nur vier Ausfälle, die zudem noch auf der Unterseite<br />

Winter, H.(2010). Würfel & Co – Kunst und Natur in den Symmetrien von<br />

Körpern. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in<br />

der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.35-76


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

liegen. Das Ikosaeder auf der anderen Seite rollt zu lange, bis es zum Stehen<br />

kommt und hat zwanzig Ausfälle, die man jedoch auf zehn reduzieren kann, was<br />

große Vorteile hat. Die beiden anderen Polyeder, das Oktaeder und das Dodekaeder,<br />

kämen schon eher als Spielwürfel in Betracht (jedenfalls im Stochastikunterricht),<br />

aber bezüglich Schnelligkeit in der Wahrnehmung des Wurfergebnisses<br />

und vor allem bezüglich der unmittelbaren Überzeugung der Gleichwahrscheinlichkeit<br />

der Elementarereignisse, in der sich die Symmetrien des Würfels<br />

ausdrücken, ist der Würfel als Spielwürfel wohl nicht zu schlagen. Möglicherweise<br />

sind wir aber auch auf Grund der eigenen Erfahrungen unbewusst voreingenommen.<br />

Betrachten wir die obige Fragestellung mit mathematischen Augen, so taucht in<br />

der Frage nach dem Rollvermögen das Kippen als Einzelakt auf und damit die<br />

Aufgabe: Wie groß ist der Kippwinkel der Platonischen Polyeder? Das erfordert<br />

zunächst die Definition des Schnittwinkels zweier sich schneidender Ebenen. In<br />

Abb.1 ist der heuristische Kernpunkt erkennbar: die Rückführung der räumlichen<br />

Situation auf die analoge in der Ebene. Ist g die Schnittgerade der beiden<br />

Ebenen E1 und E2, dann liefert eine auf g senkrecht stehende Ebene E3 in den<br />

beiden Schnittgeraden s1 und s2 die Schenkel des gesuchten Winkels α (Abb.1).<br />

Abb. 1: Schnittwinkel zwischen<br />

Ebenen<br />

Abb. 2: Kippwinkelϕ des Tetraeders<br />

Die Bestimmung der Größe der Kippwinkel kann praktisch über Zeichnen und<br />

Messen erfolgen, wozu jeder direkt imstande ist, oder rechnerisch-theoretisch,<br />

36


37<br />

Heinrich Winter<br />

was Vorwissen voraussetzt: Satz des Pythagoras, Trigonometrie, u.a. (Abb.2).<br />

Hier seien nur die Ergebnisse (gerundet auf Hundertstelgrad) mitgeteilt:<br />

Körper Tetraeder Hexaeder Oktaeder Dodekaeder Ikosaeder<br />

Kippwinkel 109,47° 90° 70,53° 63,43° 41,82°<br />

Diese Kippwinkel sind in allen Fällen die Supplementwinkel der zugehörigen<br />

Flächenwinkel, also der Winkel zweier benachbarter Flächen der Polyeder<br />

(Wittmann 1987, 266ff.). Die Gleichheit der sog. Flächenwinkel war das erste<br />

Gesetz über Kristalle, das die Kristallkunde von mythisch-mysteriöser Betrachtung<br />

zur Wissenschaft aufsteigen ließ, formuliert vom Dänen Nicolaus Steno im<br />

Jahre 1669 (Bohm 1977, 7f.).<br />

Falls es jemandem auffällt, dass sich die Kippwinkel von Tetraeder und Oktaeder<br />

zu 180° ergänzen, könnte ein Vorausblick auf einen sehr interessanten Satz<br />

erfolgen: Mit Tetraedern und Oktaedern im Verbund kann man den ganzen<br />

Raum überlappungsfrei und restlos füllen (parkettieren). Wie macht man das?<br />

(Bender / Schreiber S. 136f). Außer dem Würfel schafft das kein Platonischer<br />

Körper allein.<br />

Ein bescheideneres, aber auch reizvolles Problem: Kann man Flächennetze des<br />

Würfels auf einem passenden ebenen quadratischen Gitter allein durch Kippbewegungen<br />

(ohne abzusetzen!) erzeugen? (Bauersfeld u.a. 1973, 58f.)<br />

Darüber hinaus ist je ein kartesisches Koordinatensystem mit dem Mittelpunkt<br />

des Würfels als Ursprung installiert, so dass wir nach allgemeinem Gebrauch in<br />

der <strong>Mathematik</strong> den rechts stehenden Würfel als Rechtsdreher, den linken als<br />

Linksdreher bezeichnen können. Die mögliche Existenz von zwei Typen ist<br />

vielen Würfelspielern gar nicht bekannt, auch Verkäufer in Spielläden haben oft<br />

keine Ahnung, sogar manchen Würfelherstellern ist es neu. Nach meinem Eindruck<br />

nimmt die Anzahl der Rechtsdreher in der fabrikmäßigen Herstellung zu.<br />

Ob die Existenz zweier Typen von irgendeiner Bedeutung für den Würfelspieler<br />

ist, wage ich nicht zu sagen. Jedenfalls kenne ich keine Literatur über entsprechende<br />

Untersuchungen, z.B.: Werden Rechtshänder durch Linksdreher benachteiligt?<br />

Reichhaltig jedoch ist die Literatur darüber, wie man im MU den Spielwürfel<br />

nicht als Zufallsmaschine nutzt, sondern als einen Gegenstand, mit dem<br />

sich interessante geometrisch-arithmetische Lernumgebungen organisieren lassen.


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Die Siebener-Regel<br />

Im Alltag wird sie als etwas Selbstverständliches<br />

einfach hingenommen. Werden<br />

aber Spielwürfel aus Pappe selbst<br />

hergestellt, so wird – in der Regel mit<br />

Erstaunen – festgestellt, dass es zwei<br />

Typen von Würfeln gibt, die Siebener-<br />

Regel also nicht den Spielwürfel eindeutig<br />

festlegt. Ein allgemeiner Beweis ist in<br />

Abb.3 zu erkennen. Dass der eine Würfel<br />

das Spiegelbild des anderen ist, zeigt<br />

Abb.4.<br />

Abb. 3: 2 Typen von Spielwürfeln Abb. 4: Rechtsdreher und Linksdreher<br />

Hier nur einige Beispiele (viele Anregungen in Degner/Kühl 1988; Bauersfeld<br />

u.a. 1973; Gardner 1973):<br />

• Setze 8 (gleichartige) Würfel zu einem großen Würfel zusammen.<br />

a) Welches ist die höchste/niedrigste Augensumme, die der große Würfel<br />

auf allen sechs Seitenflächen insgesamt vorweisen kann?<br />

b) Auf wie viele Arten lässt sich die Augensumme 49 (und 50) erreichen?<br />

c) Versuche, so zusammen zu setzen, dass jede Seitenfläche des großen<br />

Würfels aus vier gleichen Seitenflächen der kleinen Würfels besteht.<br />

• Setze 27 (gleichartige) Würfel zu einem großen Würfel zusammen und<br />

beantworte entsprechende Fragen wie oben.<br />

• Baue aus 12 (gleichartigen) Spielwürfeln alle möglichen Quader und<br />

bestimme jeweils ihre minimal und maximal mögliche Augensumme<br />

der sichtbaren Oberfläche. In Abb. 5 ist ein Lösungsweg für den<br />

4x3x1-Quader zu sehen.<br />

38


Abb. 5: Minimale und maximale Augensumme des 4x3x1-Quaders<br />

39<br />

Heinrich Winter<br />

Hier sollte das Niveau des freien Probierens überschritten werden zugunsten<br />

verallgemeinerter Vorgehensweisen, z.B. die Klassifizierung der 12 Würfel in<br />

drei Typen und das Benutzen einer klärenden ikonischen Symbolik. Lösung:<br />

Minimale Augenzahl: 102, maximale Augenzahl: 164.<br />

• Es gibt acht verschiedene Würfelvierlinge (Figuren aus vier gleich großen<br />

Spielwürfeln). Finde sie auf und baue sie so zusammen, dass jeweils<br />

das Maximum (Minimum) der sichtbaren Augensummen erzielt<br />

wird. Spielt es eine Rolle, ob die Würfel von demselben Typ sind?<br />

• Wie viele Typen von Würfeln gäbe es, wenn die Siebener-Regel als<br />

Zwangsregel aufgehoben würde? Spielte das eine Rolle für den Spielwürfel<br />

als Zufallsmaschine?<br />

Bilaterale Symmetrie – rechts und links<br />

Bilaterale Symmetrie im Sinne von H. Weyl<br />

Von bilateraler (zweiseitiger) Symmetrie eines räumlichen Gegenstandes sprechen<br />

wir, wenn er eine Spiegelungsebene besitzt, also eine Ebene, die den Gegenstand<br />

in zwei Teile (Hälften) so zerlegt, dass die eine Hälfte als Spiegelbild<br />

der anderen gedeutet werden kann und die Hälften nicht durch Drehungen ineinander<br />

überführbar sind. Der doppelte Spielwürfel, der gemäß der Domino-<br />

Regel aus einem Rechtsdreher und einem Linksdreher zusammengesetzt wird,<br />

ist unser erstes Beispiel für bilaterale Symmetrie und damit zusammenhängend<br />

auch für das Rechts-Links-Thema. Da ist freilich noch nicht zu ahnen, welche<br />

Rolle in Kunst und Natur unser Thema spielt. Zunächst erinnern wir uns an die<br />

räumliche Spiegelung an einer Ebene (vgl. noch einmal Abb.4, in der die Spiegelungsebene<br />

Σ senkrecht auf der Zeichenebene steht). Σ teilt den Raum in zwei<br />

Halbräume. Ist nun P irgendein Punkt des Raumes, so gilt: Ist P (Urpunkt) aus<br />

Σ, so ist sein Bildpunkt P'=P; also ist Σ Fixpunktebene. Ist P nicht aus Σ, vielmehr<br />

aus dem Inneren einer der beiden Halbräume, dann liegt sein Bildpunkt P'<br />

auf dem Lot von P auf die Spiegelungsebene Σ, und Σ halbiert die Strecke PP ' .


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Die so definierte Ebenenspiegelung hat viele gute Eigenschaften: Vor allem ist<br />

es eine involutorische (identisch mit ihrer Umkehrabbildung) Kongruenzabbildung<br />

(Isometrie), die die Händigkeit wechselt. Es sollte hier auch untersucht<br />

werden, welche Bilder gerichtete Geraden besitzen, welche Bilder ebene Polygone<br />

mit gegebenem Umlaufsinn sind. Eine Spiegelungsebene kann mit einer<br />

getönten Glasscheibe vor Augen geführt werden. Überhaupt ist das Thema<br />

Spiegel hochinteressant und beziehungsreich (Wittmann 1984).<br />

Als erstes wirklich wichtiges Phänomen der bilateralen Symmetrie nennen wir<br />

den Körper des Menschen: So unterschiedlich wir gebaut sein mögen, unsere<br />

von außen sichtbare Gestalt ist normalerweise in erstaunlicher Präzision spiegelsymmetrisch:<br />

Eine (natürlich unsichtbare) Ebene parallel zu den Feldlinien der<br />

Erdgravitation und parallel zu unserer Hauptlaufrichtung spaltet uns in eine<br />

rechte und linke Hälfte. Wir sind insofern Paarwesen: Zu jedem Teil einer Körperhälfte,<br />

z. B. einem Bein oder einem Ohr, gibt es einen spiegelgleichen in der<br />

anderen Hälfte, und ist der Teil genau in der Mitte gelegen, wie z.B. die Nase<br />

oder der Mund, dann besteht er aus zwei zueinander spiegelgleichen Hälften.<br />

Was wäre, wenn wir doppelzüngig wären?<br />

Diese bilaterale Symmetrie unseres Körpers ist sehr einfach (nur eine Symmetrieebene),<br />

aber von großem Nutzen. Auf einem Bein könnten wir nur mit Mühe<br />

und nur kurzzeitig stehen, und mit vier Beinen müssten wir auf die aufrechte<br />

Haltung verzichten und damit auf einen höheren Grad an Übersicht. Wenn ein<br />

Bein kürzer ist als das andere, muss für Gehen und Stehen mehr Energie eingesetzt<br />

werden. Mit zwei Augen und zwei Ohren sehen und hören wir mehr und<br />

besser.<br />

Speziell besitzen wir (normalerweise) eine rechte und eine linke Hand (Abb.6),<br />

und wir lernen vom Kindesalter an, diese Hände für vielerlei Tätigkeiten (greifen,<br />

festhalten, pressen, reißen, streicheln u.v.m.) in Gebrauch zu nehmen.<br />

Abb. 6: Rechte und linke Hand<br />

40


41<br />

Heinrich Winter<br />

Darüber hinaus können wir mit den Händen allgemein Rechts- und Linksdrehung<br />

unterscheiden und haben damit eine lebendige Basis für das Verständnis<br />

von mathematisch positiven vs. mathematisch negativen Koordinatensystemen.<br />

Es ist natürlich gleichgültig, welche Körperhälfte wir rechts bzw. links nennen,<br />

es gibt da keine Qualitätsunterschiede an sich (etwa rechts als richtig und gut,<br />

links als abwegig und linkisch). Deshalb können wir uns ohne Skrupel der mathematischen<br />

Konvention anschließen.<br />

Mehr noch als die Hände wird das Gesicht des Menschen auf seine bilaterale<br />

Symmetrie geprüft; das Gesicht ist ja in unserem Kulturkreis die beständig offene<br />

Partie unseres Körpers. Kleine Abweichungen werden in aller Regel sofort<br />

bemerkt und oft als Fehler betrachtet, man selbst möchte eben möglichst ein<br />

reguläres, schönes Antlitz vorweisen (koste es, was es wolle). Jedenfalls werden<br />

(erstaunlicherweise?) in einschlägigen empirischen Untersuchungen konstruierte<br />

symmetrische Gesichter ganz deutlich höher geschätzt als Darstellungen noch so<br />

schöner realer Personen. Da wundert es nicht, wenn Maler, Graphiker und Bildhauer<br />

regelrechte Konstruktionsleitlinien für das Gesicht entwickelten; ein Beispiel<br />

zeigt Abb.7.<br />

Abb. 7: Geometrische Konstruktion eines Kopfes nach der Beuroner Malerschule<br />

Andererseits weiß jedermann, dass kleine Abweichungen von der „Norm“ nicht<br />

abstoßen müssen, sondern im Gegenteil das Aussehen interessanter machen<br />

können. Früher geschah das u.a. durch den Gebrauch von Schönheitspflästerchen<br />

und anderen eher harmlosen Eingriffen, und schon im alten Ägypten


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

schminkten sich die Damen. Heute haben wir Schönheitschirurgen, Kosmetikpharmazeuten,<br />

Stilisten, Schönheitsfarmen, Gymnastikstudios, Ernährungsberater<br />

u.v.m., um die Natur zu „korrigieren“. Bald werden auch die Gentechniker<br />

aufmarschieren. Jedenfalls leben ganze Industriezweige von unserer Sorge um<br />

ein schönes Aussehen. Hat jemand gar kein eindeutig bilateralsymmetrisches<br />

Gebiss (z.B. eine Zahnlücke), dann wird das sogleich mit unserem Gesundheitssystem<br />

in Verbindung gebracht.<br />

Warum treiben so viele Menschen diesen Aufwand zur Verbesserung des Aussehens?<br />

Für die meisten Biologen ist das klar: Schönheit ist ein positiver Faktor<br />

im Kampf ums Dasein und im Kampf um die eigene Fortpflanzung, sie hilft im<br />

Streben um Beliebtheit, Einfluss und Macht. Das ist aber sicher nicht die ganze<br />

Wahrheit, noch nicht einmal im Reich der Tiere, wo ja auch die bilaterale Symmetrie<br />

beherrschend ist. Wir Menschen heute sind nicht allein instinktgeleitete<br />

Tiere, auch nicht allein mit höherer Intelligenz ausgestattete und zum Symbolgebrauch<br />

fähige Wesen, sondern Personen (lat. personare: widerhallen, ertönen,<br />

eine Rolle spielen), die Werturteile fällen und begründen können, die Verantwortung<br />

übernehmen und sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Leben<br />

an der Verbesserung der Zustände in dieser Welt aktiv arbeiten. Dabei fällt das<br />

Streben nach mehr Schönheit keineswegs (etwa als blanker Luxus) unter den<br />

Tisch, im Gegenteil: Dieses Streben ist das Mittel, um vom Naturkind zur Person<br />

aufzusteigen. Dazu lese man noch einmal Schillers Briefe über die ästhetische<br />

Erziehung des Menschengeschlechts. Um es kurz zu fassen: Wahre Schönheit<br />

ist der Glanz von Wahrheit, also vernunftorientiert.<br />

Anders als unsere bilateralsymmetrische Hülle sieht unser Körperinneres aus.<br />

Da gibt es neben bilateraler Symmetrie (wie z.B. das Knochengerüst) zahlreiche<br />

Asymmetrien; am bekann-testen ist wahrscheinlich das Herz, das „links schlägt“<br />

(wie Oskar zu Recht verkündet), und das selbst verschraubt aussieht (vgl. Weyl<br />

1955, 34). Ziemlich symmetrisch ist auch der komplizierte Verdauungskanal<br />

(vom Mund bis zum After). Vor allem der etwa 4m lange Dünndarm und der<br />

sich anschließende 1,5 m bis 2 m lange Dickdarm sind vielfältig geschlängelt<br />

(Abb.8).<br />

42


Abb.8: Blick ins Innere des Menschen<br />

43<br />

Heinrich Winter<br />

Die Asymmetrien in unserem Körper sind durch unsere phylogenetische Entwicklung<br />

entstanden. In einer sehr frühen Zeit gab es einen im Prinzip geradlinigen<br />

Kanal vom Mund zum After (Biologen verstehen unter Bilateria niedere<br />

Tiere vom Schlage des Blutegels). Im Zuge der Entwicklung änderten sich Inhalte<br />

und Formen der Nahrungsaufnahme in der Weise, dass der Verdauungsvorgang<br />

länger andauerte, was eine Verlängerung des Darms erzwang und dies<br />

nur zustande kommen konnte, wenn der Kanal „geschlängelt“ wurde.<br />

Bilaterale Symmetrie weisen in großer Fülle auch Gegenstände des täglichen<br />

Lebens auf, es sind gewissermaßen „Fortsetzungen“ der menschlichen Gestalt:<br />

Messer, Gabel, Löffel, Zangen, Stühle, Schränke u.v.a.m., nicht zu vergessen<br />

unser Lieblingsgegenstand, das Auto.<br />

Bilaterale Symmetrie in der Kunst<br />

Die Geschichte der Malerei und Bildhauerei hat von den Anfängen bis heute<br />

u.a. ein beherrschendes Sujet: den menschlichen Körper. Es kann dabei offen<br />

bleiben, ob eine altgriechische Statue einer Göttin als Nachbild realer Frauen<br />

entstand (deskriptive Genese) oder ob die Statue nach Regeln konstruiert wurde<br />

und als nachzuahmendes Ideal fungieren könnte (normative Genese) oder<br />

eine Mischung von beidem. Ein berühmtes Beispiel ist die Aphrodite von Knidos<br />

(Abb.9), ursprünglich von Praxiteles um 340 v.Chr. geschaffen; hier eine


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

römische Nachbildung, die in den Vatikanischen Museen zu sehen ist. Interessant<br />

für uns sind Gerüchte (oder mehr?), wonach die schöne Phryne für Praxiteles<br />

Modell gestanden habe, dann aber habe Praxiteles sein Werk (vielleicht<br />

nach dem Kanon des Polyklet) gründlich überarbeitet. Anschließend habe er<br />

zum Vergleich Phryne neben seine Statue gestellt, und seine Skulptur habe<br />

größeren Beifall bei den Besuchern erfahren als die leibhaftige Phryne. Immerhin<br />

schreibt Plinius d. Ä., dass viele Menschen eigens nach Knidos reisten, um<br />

die Frauengestalt mit dem vollendeten Körper zu bewundern (Herzog 1990, 56).<br />

Und die Frage nach der „Schönsten im ganzen Land“ ist bis heute aktuell. Seit<br />

dem Mittelalter gilt vielen die UTA im Naumburger Dom als die schönste Frau<br />

aller Zeiten.<br />

Bilaterale Symmetrie finden wir auch in reichem Umfang in der Architektur.<br />

Hervorragende Beispiele sind sakrale Gebäude (Kirchen, Tempel, Klöster usw.)<br />

und weltliche Großbauten (Paläste, Schlösser, Rathäuser, Museen, Tore usw.).<br />

Wir beschränken uns hier auf je ein Beispiel. Die Kathedrale Notre-Dame in<br />

Paris wurde zwischen 1200 und 1240 errichtet, und ihre beiden Westtürme sind<br />

bis heute leider unvollendet geblieben. Sie gilt (neben weiteren Kathedralen u.a.<br />

in Chartres, Reims) als eines der prächtigsten und zur Nachahmung führenden<br />

Sakralbauten der frühen Gotik. Im Gegensatz zur vorausgehenden Romanik ist<br />

nicht mehr die Vierung (Schnittfläche zwischen Längs- und Querschiff) mit<br />

dem aufgesetzten Dachreiter von zentraler Bedeutung, vielmehr die Westfassade,<br />

die unsere Abb.10 zeigt, mit ihrem Paar mächtiger Glockentürme. Diese<br />

Fassade (lat. facies: Gesicht, Vorderseite) ist reich, vielleicht überreich gegliedert<br />

und alles andere als eine einheitliche geschlossene Wandfläche (vielleicht<br />

nur mit einigen Schießscharten unterbrochen). Von besonderem Interesse sind<br />

für uns diejenigen Teile der Fassade, die selbst wieder bilaterale Symmetrie<br />

aufweisen, vor allem die drei Portale, die von Wimpergen (giebelförmige Bekrönungen<br />

von Türen und Fenstern) hauptsächlich aus menschlichen Figuren so<br />

gerahmt sind, dass sie als in Stein gehauene religiöse Unterweisungen gelten. So<br />

sind im Tympanon (Bogenfeld über dem Portal) des Haupteingangs die Krönung<br />

und das Sterben Mariens dargestellt<br />

44


45<br />

Heinrich Winter<br />

Abb. 9: APHRODITE VON KNIDOS. Foto der römischen Nachbildung<br />

. Ansonsten bietet die bilaterale Symmetrie des ganzen Baues nur einen Rahmen,<br />

der gefüllt werden kann mit Figuren, die für sich betrachtet wesentlich<br />

höher mit Symmetrien ausgestattet sind. Am auffälligsten ist hier die große<br />

Westrose (Durchmesser 9,60m), eine Einheit von Arkade, Rad und Rose, in<br />

zwei Ringe gefasst, innen 12, außen 24 Glassegmente, die die Helligkeit im<br />

Gebäude vergrößert und durch ihre Schönheit die Menschen vor der Kathedrale<br />

zum Besuch einlädt. Die Seitenwände der Kathedrale, die wir im Bild nicht<br />

sehen, sind durch hohe und hochstrebende Fenster reich gegliedert, so dass das<br />

Innere voller Licht ist und der Blick der Menschen nach oben gerichtet wird.


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

(Letztlich wird man den Bau nur verstehen können, wenn man seinen religiösen<br />

Hintergrund versteht.)<br />

Abb. 10: Kathedrale Notre-<br />

Dame in Paris<br />

Abb. 11: Schloss Charlottenburg in Berlin<br />

Als Beispiel für bilaterale Symmetrie in der Profanarchitektur habe ich das<br />

Schloss Charlottenburg von Berlin gewählt (Abb.11). Es ist benannt nach Sophie<br />

Charlotte (1668-1705), Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, als 16-<br />

Jährige durch Heirat Kurfürstin von Brandenburg, ab 1701 Königin in Preußen.<br />

Ihr Mann, Kurfürst Friedrich Wilhelm III., Sohn des Großen Kurfürsten, setzte<br />

sich 1701 in Königsberg selbst die Königskrone auf (nach Abstimmung u.a. mit<br />

dem Habsburger Kaiser) und nannte sich fortan Friedrich I., König in Preußen.<br />

Danach bemühten sich die schöne junge Königin und ihr Mann nach Kräften<br />

und jeder auf seine Weise, das Leben durch und durch königlich zu gestalten, so<br />

wie es in den Zeiten des Absolutismus üblich war. Dabei entstand und wuchs<br />

das später so genannte Schloss Charlottenburg (aus einem relativ kleinen einfachen<br />

Sommerlustschlösschen Lietzenburg): der fast 50m hohe Kuppelturm,<br />

gekrönt von der Göttin Fortuna, als Blickfang und Wahrzeichen des Schlosses,<br />

die im ganzen 505 m langen Seitenflügel, zunächst nur Räume für das Personal,<br />

später dann prächtige Rokoko-Festsäle, die zu den schönsten Deutschlands<br />

zählen, weiterhin Säle mit Sammlungen, eine Orangerie und ein Theater und<br />

natürlich fürstlich ausgestattete Wohnräume (trotz calvinistischer Konfession).<br />

Die besten Baumeister und Gärtner wurden engagiert: u.a. Eosand, Schinkel,<br />

von Knobelsdorf, Langhans, Godeau. Auf dem beachtlich großen Ehrenhof steht<br />

46


47<br />

Heinrich Winter<br />

(erst seit 1951) das Reiterbild des Großen Kurfürsten von Schlüter, ein viel<br />

gepriesenes Kunstwerk des Barock. Für heutige Besucher ist eine Besichtigung<br />

sicher ein seltenes ästhetisches Erlebnis, aber es sollte dabei nicht übersehen<br />

werden, dass das alles vom Hochadel (allen voran Sopie Charlotte) für den<br />

Hochadel errichtet worden ist. Normale Bürger wurden zu den z.T. ausgelassenen<br />

Festen und Feiern nicht nur nicht eingeladen, sondern sollten von der äußeren<br />

Pracht des Schlosses so eingeschüchtert werden, dass sie von der Gottähnlichkeit<br />

(König von Gottes Gnaden!) der herrschenden Oberschicht geradezu<br />

überwältigt wurden und dankbare Habenichtse blieben. Immerhin hat Sophie<br />

Charlotte (und ihr erstes Kammerfräulein Henriette Charlotte von Pöllnitz) mit<br />

Leibniz korrespondiert und sein Anliegen, die Gründung einer Societät der<br />

Wissenschaften (heute noch Berlin-Brandenburgische Akademie) nach den<br />

Vorbildern in Paris und London nach langen Kämpfen im Jahre 1700 durchgesetzt.<br />

Das muss als Ruhmesblatt gewürdigt werden.<br />

Eine letzte Bemerkung: Man kann das Schloss Charlottenburg als eine Art Gegenstück<br />

zum weltweit noch bekannteren Brandenburger Tor ansehen. Dank der<br />

Quadriga haben wir es wieder mit bilateraler Symmetrie zu tun, aber nicht in<br />

barocker Pracht sondern in klassizistischer Einfachheit nach dem Vorbild der<br />

Propyläen der Akropolis (was Kritiker bestreiten). Die Französische Revolution<br />

und die Aufklärung haben ihre Spuren hinterlassen.<br />

Links und rechts in der lebenden Natur<br />

Glanzpunkte sind die wirklich schönen Schmetterlinge, bunten Vögel und Fische.<br />

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind nahezu alle unsere Tiere bilateral<br />

symmetrisch gebaut, und wir wissen auch warum. Besondere Bewunderung<br />

finden die gewundenen Geweihe von Hirschen, Schafen, Elchen usf., die in aller<br />

Regel exakt spiegelsymmetrisch sind. Das Nonplusultra könnte der große Kudu<br />

(„König der Antilopen“) sein, dessen beide korkenzieherartigen Hörner bis zu<br />

1,80m lang werden können (Abb.12).<br />

Die Bedeutung der Schraubenlinie (wie auch der Schraubenfläche und Spiralen<br />

verschiedener Art) für das Erfassen räumlicher Beziehungen kann nicht überschätzt<br />

werden. Sie ist neben dem Kreis und der Geraden die einzige Linie, die<br />

so in sich bewegt werden kann, dass dabei kein Punkt außerhalb von ihr berührt<br />

wird. Dabei denken wir uns die Schraubenlinie (wie auch die Gerade) nach<br />

beiden Seiten unbeschränkt ausgedehnt. Es ist schon eindrucksvoll, dass wir mit<br />

den Augen nicht feststellen können, ob eine Schraube geschraubt wird, oder sich<br />

gar nicht bewegt. Über die Bedeutung von Schraubenlinien in Alltag und Technik<br />

(Warum heißen sie auch Eichhörnchenlinien?) findet man eine Fülle von<br />

Beispielen und von luziden Analysen in Bender/Schreiber (1985). Das Buch ist


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

überhaupt eine unverzichtbare Lektüre für alle, die <strong>Geometrie</strong> lernen oder lehren.<br />

Für die Erweiterung der Thematik auf Spiralen verschiedener Art empfehle<br />

ich wärmstens Heitzer (1998).<br />

Dieses Beispiel legt es nahe, sich<br />

mit der Schraubenlinie (als der<br />

einfachsten räumlichen Spirale) zu<br />

befassen: Eine Schraubenlinie<br />

entsteht (als eine Spur), wenn ein<br />

Punkt sich gleichmäßig um eine<br />

Gerade (Achse) dreht und gleichzeitig<br />

ebenso gleichmäßig eine<br />

Schiebung (Translation) parallel<br />

zur Achse ausführt (Abb.13). Sie<br />

windet sich auf der Oberfläche<br />

eines Zylinders.<br />

Abb. 12: Der große Kudu Abb. 13: Schraubenlinie in Grund- und<br />

Aufriss<br />

Hier interessiert uns in erster Linie die Tatsache, dass es zwei Typen von<br />

Schraubenlinien gibt, die nicht mittels einer eigentlichen Bewegung ineinander<br />

überführt werden können sondern nur durch eine Ebenenspiegelung (Abb.13):<br />

Ich bewege mich auf einer Rechtsschraube, wenn ich mich parallel zur Achse in<br />

48


49<br />

Heinrich Winter<br />

deren Richtung bewege und dabei die Achse im Gegensinn des Uhrzeigers umkreise.<br />

Kürzer: Bei der Rechtsschraubung ist die Achse immer links von mir.<br />

Noch anders: Die Rechtsschraube geht von unten links nach oben rechts. Für die<br />

Linksschraube gilt das spiegelverkehrt Gleiche. Eine der schönsten linksgewendelten<br />

Treppen können wir in einem Treppenturm des Schlosses in Blois bewundern;<br />

hier soll sich ja auch die berühmte Ballade Der Handschuh von<br />

SCHILLER zugetragen haben. Der Spiralweg in der Kuppel des Reichstagsgebäudes<br />

ist rechtsgewendelt. Über die Gründe für die Entscheidung Rechts- oder<br />

Linkstreppe ist viel spekuliert worden, wobei es eine große Rolle spielt, dass<br />

eine Rechtstreppe (Linkstreppe) von unten nach oben als Linkstreppe (Rechtstreppe)<br />

erfahren wird, wenn man die selbe Treppe von oben nach unten benutzt.<br />

Da Schraublinien nur immer als Rechts- oder Linkschrauben in selbständigen<br />

Körpern auftreten, spricht man anstelle von Spiegelgleichheit von Enantiomorphie<br />

(gr. enantios: entgegengesetzt). Werden Körper auf ihre mögliche Kristallform<br />

untersucht, so gehört die Frage, ob es eine Links- und eine Rechtsrealisierung<br />

gibt, zum Standard. In den 32 Kristallklassen gibt es elf, in denen Enantiomorphie<br />

auftritt.<br />

Es gibt auch rechts- und linkswindende Pflanzen, Pflanzen also, die sich um<br />

andere Pflanzen oder um Stangen so oder so herumwinden (oder auch um sich<br />

selbst). Das Besondere dabei ist, dass beide Typen in der Natur vorkommen,<br />

dass aber die Entscheidung für rechts oder links innerhalb einer Pflanzenart<br />

immer (oder fast immer) dieselbe ist. So ist der Hopfen, der zum Bierbrauen<br />

gebraucht wird, (vielleicht zum Verdruss der bayrischen Brauer) durchgehend<br />

linksdrehend, dagegen ist die Stangenbohne beharrlich rechtsdrehend (Abb.<br />

14.1: Hopfen; Abb.14.2: Stangenbohne).<br />

Auf den ersten Blick mag diese Artbindung der Händigkeit allenfalls (vorwissenschaftliche)<br />

Gartenfreunde interessieren. In der Technik ist die Angelegenheit<br />

klar: Damit kein Chaos ausbricht, muss man normieren, sich gesetzlich<br />

einigen, etwa bei Glühbirnen nur eine Sorte Schraubgewinde an der Birne und<br />

gleichzeitig in der Fassung, etwa Rechtsgewinde, zu produzieren. Auch andere<br />

technische Schrauben sind rechtshändig, nur in begründbaren Ausnahmefällen<br />

linkshändig. Die überwiegende Rechtshändigkeit hängt natürlich damit zusammen,<br />

dass die Menschen in ihrer Majorität Rechtshänder sind, also verschiedenste<br />

„Handarbeiten“ von Geburt an vorzugsweise mit der rechten Hand erledigen.<br />

Hier könnte man wieder in die Falle „rechts = richtig = normal“ und<br />

„links = fehlerhaft = abnorm“ tappen. Aber erstens ist der Anteil der Linkshänder<br />

nicht (vernachlässigbar?!) klein, man spricht von 25%, und zweitens konnte<br />

bisher niemand beweisen, dass Linkshänder in irgendeiner Hinsicht weniger<br />

leistungsfähig seien als Rechtshänder. (Obama ist Linkshänder!). Wie sollen<br />

Linkshänder erzogen werden und wie müsste sich die Umwelt eventuell ändern?


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Wir üben m.W. heute zwar nicht mehr den Zwang aus, auf jeden Fall rechtshändig<br />

schreiben zu lernen, aber gleichzeitig geschieht zu wenig, um alltägliche<br />

Lebensumstände für Linkshänder erträglicher zu machen. Das müsste etwas<br />

mehr sein als eine Schnabeltasse für Linkshänder im Altersheim. Am überzeugendsten<br />

wäre aber in meinen Augen die Erziehung zur Beidhändigkeit in Freiheit,<br />

wie sie in Japan betrieben wurde und vielleicht noch wird. Auch ganz große<br />

Geister wie Leonardo da Vinci , ursprünglich Linkshänder wurde beidhändig.<br />

Abb. 14: Hopfen linksdrehend und Stangenbohne rechtsdrehend<br />

50


51<br />

Heinrich Winter<br />

Und unter den Tennisspielern gibt es nicht nur Rechts – und Linkshänder (letztere<br />

gefürchtet, besonders von Linkshändern!), sondern auch (zunehmend)<br />

Beidhänder. (Einer meiner früheren Tennispartner war imstande, bei Bedarf sein<br />

Rakett blitzschnell von der rechten in die linke Hand zu wechseln, um so meine<br />

wohl zu kümmerlichen Angriffsbälle doch noch zu erreichen, was er in der<br />

Regel auch schaffte).<br />

Es gibt indes wesentlich ernsthaftere Probleme in der Rechts-Links-Thematik,<br />

die allerdings zunächst nicht mit blankem Auge zu erkennen sind, weil sie in der<br />

Mikrowelt der Moleküle oder gar Atome angesiedelt sind, in der Welt der Kristallographie.<br />

Links und rechts in der Kristallographie<br />

Der berühmte Arzt und Forscher Louis Pasteur (1822-1895) – ja, der mit der<br />

lange haltbaren Milch – entdeckte (im Alter von 25 Jahren), dass die Weinsäure<br />

(Weinstein) in zwei Formen auftritt, nämlich in der Rechts- und in der Linksform.<br />

Die beiden Formen unterscheiden sich in chemischer und physikalischer<br />

Hinsicht nicht. Beide sind optisch aktiv, jedoch – und das ist der einzige aber<br />

wichtige Unterschied – dreht die eine Form die Polarisation des Lichts nach<br />

rechts, die andere nach links. Daraus schloss Pasteur, dass auch die Moleküle<br />

„entgegengesetzt“ gebaut, nämlich Spiegelbilder voneinander sein müssten, so<br />

wie rechter und linker Handschuh. Das war eine geniale Idee, die später auch<br />

exakt bewiesen wurde. Das Besondere dieser Jahrhundertentdeckung war ihr<br />

konstruktiver Charakter:<br />

Abb. 15: Links- und rechtsgerichtete Weinsäure-Enantiomorphie<br />

Die Linksform stellte er nämlich gewissermaßen selbst her, indem er unter dem<br />

Mikroskop eine Sammlung von Kristallen untersuchte, die aus alten Weinfässern<br />

stammten und nicht optisch aktiv waren. Nach der Kristallisierung in einer<br />

Lösung sortierte er mit der Pinzette die Kristalle in zwei Sorten. Beide Sorten


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

erwiesen sich als optisch aktiv, jedoch mit entgegen gesetzter Windung. Die<br />

optisch rechtsdrehende Weinsäure war die, die in den gärenden Trauben vorkam,<br />

die andere war offenbar noch nie in der Natur aufgetreten. Darunter hat<br />

bestimmt niemand leiden müssen, aber jetzt wurde die Frage nach den Gründen<br />

für die Handlungsweise der Natur gestellt. Woher „weiß“ der Hopfen, dass er<br />

links drehen muss? Warum produziert die Natur nur (oder fast nur) optisch<br />

rechtsdrehende Weinsäure? Und warum ist das Haus der Weinbergschnecken<br />

fast immer rechts gewunden? Die rationalste Antwort, was die Philogenese<br />

angeht, ist stochastischer Natur. Bei sonst gleichen Bedingungen „entscheiden<br />

gewisse schwer zu kontrollierende Zufälligkeiten“ (Weyl 1955, 36) das Geschehen.<br />

Die Ontogenese wird dann von den Genen gesteuert.<br />

Geradezu um Leben und Tod kann es in der Frage gehen, inwieweit die beiden<br />

Formen zweier zugehöriger Gegenstände zueinander passen (wie Schuhpaar<br />

zum Fußpaar, wo es immerhin Schmerzen und Wunden gibt, wenn der rechte<br />

Fuß in den linken Schuh gezwängt wird). Gewichtiger ist es bei der Ernährung.<br />

Die natürlichen Aminosäuren in unsrem Körper sind durchweg links gewendet.<br />

Man kann rechtsgewendete Aminosäuren herstellen und in Nahrungsmitteln<br />

unterbringen. Aber der Körper verdaut sie nicht. Analoges geschieht mit dem<br />

Zucker, der im Körper rechtsgewendet ist. Also: „Würden wir statt der natürlichen<br />

Aminosäuren und Zucker ihre Spiegelbilder zu uns nehmen, müssten wir<br />

verhungern.“ (REIN 1993, 22) Ein ganz heikles Kapitel ist die Händigkeit bei<br />

Medikamenten. Am bekanntesten und tragischsten war die Contergan-<br />

Katastrophe in den Jahren 1956 bis 1961, deren schreckliche Folgen bis heute<br />

nicht ausgestanden sind. Details findet man in Brunner (1999, 120ff.).<br />

Symmetrien des Würfels – Einführung in die Gruppentheorie<br />

In sich selbst überführen<br />

Bekanntlich ist der Höhepunkt in Euklids Elementen (Buch XIII) die Lehre von<br />

den regulären Polyedern, die wir heute Platonische Körper nennen, weil sie in<br />

PLATOs Timaios besprochen und auf eine kosmologische Art ausgedeutet wurden.<br />

Damit haben wir es mit einem Thema zu tun, das mindestens seit 2500<br />

Jahren Lehrgut in Schulen und <strong>Hochschule</strong>n ist (eine gute Übersicht findet man<br />

bei Toepel 1991). Adam/Wyss (1984, 65) unterscheiden irdische (Tetraeder,<br />

Hexaeder, Oktaeder) von goldenen (Dodekaeder, Ikosaeder) Platonischen Polyedern,<br />

eine nicht nur ästhetische Zweiteilung. Das Wort Symmetrie (gr. symmetros:<br />

abgemessen, verhältnismäßig, gleichmäßig) kommt bei Eulid im heutigen<br />

Verständnis nicht vor, vielmehr werden Konstruktionen begründet ausge-<br />

52


53<br />

Heinrich Winter<br />

führt und Größen (Winkel, Streckenlängen, Flächeninhalte, Volumina) verglichen<br />

und berechnet.<br />

Es hat erstaunlich lange gedauert, bis der Symmetriegehalt eines Gegenstandes<br />

mit Bewegungen des Gegenstandes auf sich selbst beschrieben wurde. Erst im<br />

19. Jahrhundert und im Zusammenhang mit der aufblühenden Gruppentheorie,<br />

Darstellenden und Analytischen <strong>Geometrie</strong>, Topologie und Kristallographie<br />

geschah der Wandel hin zu einer dynamischen Sicht.<br />

Kommen wir also zur Sache. Hängt man einen Würfel (ein Modell, nicht zu<br />

klein, etwa aus Holz) mit einem Faden so auf, dass es „gleichmäßig und schön“<br />

aussieht, so kann entdeckt werden, dass es drei verschiedene Möglichkeiten<br />

gibt, den Würfel in Gleichgewichtslage zu bringen (Abb.16): Anknüpfungspunkt<br />

des Fadens ist a) der Mittelpunkt einer Seitenfläche, b) eine Ecke und c)<br />

der Mittelpunkt einer Kante.<br />

Abb. 16: Hängender (und stehender) Würfel im Gleichgewicht<br />

Das reizt zu mancherlei Aktivitäten, die nicht nur experimenteller Natur sind,<br />

etwa: Wie viele Seitenflächen, Ecken und Kanten man mindestens/höchstens<br />

sehen? Oder: Wie kann man die Gleichgewichtslagen erklären? (Denkt an Hebelwaagen.)<br />

Besonders reizvoll sind Drehungen. Bei langsamem Drehen kann<br />

beobachtet werden, dass sich immer wieder dieselben Ansichten wiederholen.<br />

Eine ganz andere Beobachtung kann bei schnellem Drehen des in einer Ecke<br />

befestigten Würfels gemacht werden: Sein Schatten an der Wand zeigt die Silhouette<br />

eines Körpers, der aussieht wie manche Schornsteine oder Papierkörbe<br />

(einschaliges Hyperboloid; Steinhaus 1957, 180).


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Um die Wiederholungen genauer zu studieren, gehen wir zum stehenden Würfel<br />

über (Abb.16), ein Übergang vom Kontinuierlichen ins Diskrete. Im Falle a) ist<br />

das sehr einfach, man markiert auf einem waagechten Brett ein Quadrat, kongruent<br />

zu den Quadraten des Würfels. Im Fall b) müssen wir eine Vorrichtung<br />

mit einem kleinen gleichseitigen Dreieck, etwa aus Leisten, die wir auf dem<br />

Brett befestigen, bauen. Im Fall c) genügen zwei zueinander parallele Leisten<br />

auf dem Brett, die den Würfel aufrecht auf einer Kante stehend halten. Jetzt<br />

gelangen wir rasch zu einem ersten Ergebnis, die Anzahl der Drehsymmetrielagen<br />

betreffend. Im Falle a) sieht das so aus: Aufstellen des Würfels mit irgendeiner<br />

seiner 6 Seitenflächen auf die markierte Unterlage. Das geht mit derselben<br />

Seite auf 4 Arten. Das führt zum Ergebnis: Es gibt 4•6 = 24 Möglichkeiten, den<br />

Würfel in sich selbst zu überführen. Ganz analog kann man in den Fällen b) und<br />

c) vorgehen. Bei b) erhalten wir 3•8 = 24, bei c) 2•12 = 24 Bewegungen. Es gibt<br />

noch weitere Varianten, z. B. mit Flächendiagonalen. Und vor allem können wir<br />

mit derselben Methode auch die vier anderen Platonischen Körper untersuchen.<br />

Wir erhalten dann die kleine Liste:<br />

Körper Tetraeder Hexaeder Oktaeder Dodekaeder Ikosaeder<br />

Anzahl der<br />

Bewegungen<br />

12 24 24 60 60<br />

Drehachsen als Symmetrieorgane<br />

Die gerade ausgeübte Methode zur Bestimmung der Anzahl der Bewegungen<br />

des Würfels bedarf dringend der Ergänzung, da die Symmetrieorgane als Agenten<br />

der Bewegungen kaum in Erscheinung treten. Die hängenden Würfel helfen<br />

uns weiter, indem wir den Faden zu einer (unendlichen) Geraden im Raum idealisieren<br />

und als Drehachse ansehen. Jeder Punkt dieser Geraden geht bei jeder<br />

Drehung in sich selbst über, d.h. jeder ihrer Punkte ist ein Fixpunkt.<br />

Abb. 17: Zähligkeit der Achsen des Würfels<br />

54


55<br />

Heinrich Winter<br />

Wie viele Drehachsen gibt es? Zunächst einmal gibt es drei Typen von Drehachsen,<br />

nämlich a) 4-zählige, b) 3-zählige, c) 2-zählige, die in der Abb.17 nur<br />

als (Dreh-) Punkte erscheinen. Eine Achse ist dabei n-zählig, wenn der Vollwinkel<br />

(Winkel einer vollen Umdrehung, also 360°-Drehung) aus n gleichgroßen<br />

Teilwinkeln besteht, wenn n ein Teiler von 360 ist. Wir haben somit in a)<br />

Vierteldrehungen, in b) Dritteldrehungen, in c) Halbdrehungen.<br />

Wie viele Drehachsen gibt es von jeder Sorte? Das ist leicht zu finden, nämlich<br />

von a) 3, von b) 4 und von c) 6 Drehachsen. Damit gilt:<br />

Der Würfel besitzt 13 Drehachsen.<br />

Mit diesem Ergebnis können wir noch einmal und anders die Anzahl der Drehungen<br />

bestimmen. Achtung: Die Ruheabbildung D0 wird nur einmal gezählt.<br />

Bringen wir nun die Drehachsen nach Typen geordnet ins Bild wie in Abb. 18,<br />

so können wir die 24 Drehungen bezeichnen, um auf einfache Weise über sie<br />

sprechen zu können:<br />

Typ a : D , D , D<br />

Typ b :<br />

Typ c :<br />

D<br />

0<br />

a1<br />

r<br />

x1<br />

, D<br />

a2<br />

s<br />

t<br />

x2<br />

, D<br />

, D<br />

b1<br />

u<br />

x3<br />

, D<br />

b2<br />

, D<br />

v<br />

y1<br />

, D<br />

c1<br />

, D<br />

D , D , D , D , D , D<br />

w<br />

, D<br />

y2<br />

c2<br />

, D<br />

, D<br />

y3<br />

d1<br />

, D<br />

, D<br />

z1<br />

d 2<br />

, D<br />

,<br />

z 2<br />

, D<br />

Dabei lesen wir D als Drehung, D 0 als Ruhebewegung oder Identität, kurz<br />

id, D x1<br />

als Drehung (mit rechtem Drehsinn) um die x-Achse um 90° usw.<br />

Abb. 18: Lage der Drehachsen des Würfels, nach Zähligkeit geordnet<br />

Alle 13 Drehachsen schneiden sich im Mittelpunkt M des Würfels, der also bei<br />

jeder der 24 Drehungen in sich ruht, Fixpunkt ist. Jede Strecke durch M, die<br />

zwei Punkte der Oberfläche verbindet, wird in M halbiert, speziell die 4 Raumdiagonalen.<br />

Jeder Punkt der Oberfläche hat einen Antipoden, der ihm gegenüber<br />

liegt. Das ist eine bedeutsame Symmetrieaussage: Der Würfel ist räumlich<br />

z3<br />

,


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

punktsymmetrisch. In der Ebene ist die Punktsymmetrie gleichwertig mit einer<br />

Halbdrehung. Hier im Raum ist es aber nicht möglich, die Punktspiegelung<br />

durch Drehungen im Raum darzustellen. Da brauchten wir schon den 4dimensionalen<br />

Hyperraum.<br />

Vom Mittelpunkt zu reden, bedeutet auch, von Kugeln zu reden, die bei Euklid<br />

eine so große Rolle spielen. Hier können wir gleich 3 Kugeln um M herum<br />

auszeichnen: Die Umkugel geht durch alle 8 Ecken, die Kantenmittenkugel<br />

durch alle 12 Kantenmitten, die Inkugel durch die Mittelpunkte aller 6 Seitenflächen.<br />

(Aussage eines 10-jährigen Schülers: „ Der Würfel ist eine Kugel mit 8<br />

Ecken, die Kugel ist ein Würfel ohne Ecken“). Daraus könnte u.a. die Aufgabe<br />

erwachsen: Schmücke einen kahlen Würfel so aus, dass die Symmetrie nicht<br />

gestört wird, der Würfel aber kugeliger aussieht, als er in Wirklichkeit ist.<br />

Auch die 4 anderen Platonischen Körper besitzen diese 3 Kugeln. Es ist die<br />

Gelegenheit, über Kepler und seine frühen astronomischen Deutungen zu sprechen<br />

und natürlich auch vielerlei Rechnungen anzustellen.<br />

Drehungen als Abbildungen<br />

Einen tieferen Einblick in die Symmetrie können wir erwarten, wenn wir Drehungen<br />

als Abbildungen, als Funktionen im 3-dim. Raum verstehen. Eine Drehung<br />

an einer Achse ist danach eine Abbildung des Raumes auf sich. Die Achse<br />

ist Fixpunktgerade: Jeder Punkt auf ihr ist sein eigener Bildpunkt. Jeder andere<br />

Punkt (Urpunkt) des Raumes besitzt einen (durch die Drehvorschrift ) eindeutig<br />

bestimmten Bildpunkt, und jeder Punkt des Raumes ist Bildpunkt eines eindeutig<br />

bestimmten Urpunktes, d.h. die Abbildung ist bijektiv. Sie hat weitere gute<br />

Eigenschaften, vor allem die Abstandstreue (Isometrie, Kongruenz): Ist f die<br />

Drehabbildung, so gilt für alle Punktepaare X, Y die Gleichung f ( X ) f ( Y)<br />

= XY . Man kann viele weitere Eigenschaften von f untersuchen, etwa längs<br />

solcher Fragen: Was ist das f-Bild einer Ebene, die auf der Achse senkrecht<br />

steht, die parallel zur Achse verläuft, die von der Achse in einem Punkt geschnitten<br />

wird?<br />

Fokussieren wir uns nun auf die 8 Ecken des Würfels, wobei die Ecken standardmäßig<br />

in der Anfangslage mit den Buchstaben A bis H benannt worden<br />

sind.<br />

In Abb.19a handelt es sich um die 90°-Drehung um die x-Achse, kurz 1<br />

x<br />

D .<br />

Jeder der 8 Pfeile repräsentiert ein (Ur)Punkt- Bildpunkt – Paar. So bedeutet der<br />

56


57<br />

Heinrich Winter<br />

Pfeil AB , dass bei der Abbildung D x1<br />

A der Urpunkt und B der Bildpunkt<br />

von A ist. Suggestiver sind die Sprechweisen „A wird in B überführt“ oder „A<br />

wandert nach B“. Unabhängig von der ja zufälligen Namensgebung müssten wir<br />

sagen. „Der Punkt vorn, links, unten hat als Bildpunkt den Punkt vorn, rechts,<br />

unten.“<br />

Wir erkennen zwei voneinander getrennte Vierer-Zyklen, und das bringt zum<br />

Ausdruck, dass die beiden auf der Achse senkrecht stehenden Seitenflächen als<br />

Ganzes gesehen je in sich selbst übergehen, mithin Fixfiguren sind. Die 4 anderen<br />

Seitenflächen, die einen Mantel bilden, tauschen nachbarlich fortschreitend<br />

ihre Plätze aus, und der Mantel als eine Figur betrachtet ist wiederum eine Fix-<br />

figur. Der ganze Würfel ist Fixfigur der Drehung. x1<br />

außerhalb der x-Achse, jede Ecke geht in eine andere über.<br />

Abb. 19: Drehungen des Würfels in der Pfeilsprache<br />

D hat keine Fixpunkte<br />

Diese Zeichnung sollten durch symbolische Darstellungen ergänzt werden, etwa<br />

durch Schemata mit zwei Zeilen, in denen jeweils die acht Eckenbezeichnungen<br />

vorkommen, oben die Namen der Urpunkte und jeweils darunter die Namen der<br />

Bildpunkte. Das Beispiel in Abb.19a sieht dann so aus:


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

D x1<br />

⎛ A<br />

= ⎜<br />

⎝ B<br />

B<br />

F<br />

C<br />

G<br />

D<br />

C<br />

E<br />

A<br />

F<br />

E<br />

G<br />

H<br />

58<br />

H ⎞<br />

⎟<br />

D ⎠<br />

Da wird besonders deutlich, dass eine solche Abbildung als eine Umtauschhandlung<br />

von acht Symbolen angesehen werden kann, als eine Permutation (lat.<br />

permutatio: Austausch, Umstellung).<br />

Analog kann man die Beispiele der Abb.19b (zwei Dreier-Zyklen und zwei<br />

Fixpunkte) und Abb.19c (vier Zweier-Zyklen, kein Fixpunkt) bearbeiten. Die<br />

weiteren Beispiele (Abb.19d,e,f) dürften ausreichen, alle 24 Deckdrehungen des<br />

Würfels möglicherweise in Partnerarbeit zu zeichnen und aufzuschreiben. Die<br />

Pfeildiagramme stellen neue Erkenntnisse in Aussicht, wenn wir etwa fragen:<br />

Wie lautet die Umkehrabbildung einer gegebenen Deckdrehung? Welches sind<br />

die erzeugenden Abbildungen eines Zyklus? Die Besonderheit der identischen<br />

Abbildung („Ruhebewegung“) tritt fast spektakulär ins Auge, es gibt keine eigentlichen<br />

Pfeile, sondern nur Ringe. Der gesamte Raum ist erstarrt.<br />

Deckdrehungen als Rechenobjekte<br />

Deckdrehungen beschreiben Symmetrieeigenschaften des Würfels, nun sollen<br />

diese Deckdrehungen als Gegenstände betrachtet werden und auf Beziehungen<br />

untereinander untersucht werden. Das bedeutet, es wird eine höhere semantische<br />

Stufe angestrebt.<br />

Der Schlüssel dazu ist wiederum ein dynamisches Moment. So wie es in der<br />

Grundschule nicht ausreicht, wenn die Kinder nur Zahlen der Reihe nach aufsagen<br />

und bebildern können, vielmehr Beziehungen in der Menge der Zahlen<br />

lernen müssen, insbesondere Verknüpfungen und deren Gesetzmäßigkeiten, so<br />

wollen wir hier jetzt die Menge W = {D0, Dx1, …, Dw} der 24 Deckdrehungen<br />

des Würfels nach einer Verknüpfungsstruktur hin untersuchen.<br />

Die fast natürliche Verknüpfung von Abbildungen ist die Verkettung (Hintereinanderausführung),<br />

motiviert auch durch ganz durchsichtige Beispiele in einem<br />

Zyklus, da bleiben wir ja in einer Ebene. So sollte es keine Mühe machen,<br />

den Vierer-Zyklus der Drehungen um die z-Achse zu strukturieren: zuerst Dz1,<br />

dann anschließend Dz2 ergibt zusammen Dz3, die Drehwinkel werden addiert<br />

90°+180° = 270°. Oder: zuerst Dz2, dann anschließend Dz3 ergibt Dz1. Man kann<br />

die vier Drehungen um die z-Achse als eine Teilstruktur erfahren: Zwei beliebige<br />

Drehungen hintereinander geschaltet, ergibt stets wieder eine von den vier<br />

Drehungen (vgl. Abb.17).<br />

Das Hintereinanderschalten wird in der Pfeilsprache durchsichtig: An die Spitzen<br />

der ersten Drehung wird der Anfang der zweiten angeschlossen und dadurch


59<br />

Heinrich Winter<br />

der Pfeil der Ergebnisdrehung bestimmt (Abb.20). In Abb.20a ist das Resultat<br />

der Hintereinanderschaltung von Dx1 und Da1 (in dieser Reihenfolge) dargestellt,<br />

wir schreiben dazu kurz: Dx1 ○ Da1 = Dr. Der Kringel ○ ist das Verknüpfungszeichen,<br />

so wie das Pluszeichen + das Addieren von Zahlen symbolisiert.<br />

Abb. 20: Drei Ergebnisse von Verknüpfungen zweier Deckdrehungen des<br />

Würfels<br />

In der Sprache der 2-Zeilen Schemata sieht das Beispiel in Abb.20a so aus:<br />

Dx1 o a1<br />

⎛<br />

⎜ A<br />

D =<br />

⎜<br />

⎝ B<br />

=<br />

⎛ A<br />

⎜<br />

⎝ E<br />

B<br />

H<br />

B<br />

F<br />

C<br />

G<br />

C<br />

G<br />

D<br />

C<br />

D<br />

F<br />

E<br />

A<br />

E<br />

A<br />

F<br />

E<br />

F<br />

D<br />

G<br />

H<br />

G<br />

C<br />

H ⎞ ⎛ A<br />

⎟ ⎜<br />

⎟<br />

o<br />

D<br />

⎜<br />

⎠ ⎝ A<br />

H ⎞<br />

⎟<br />

B ⎠<br />

B<br />

E<br />

C<br />

F<br />

D<br />

B<br />

E<br />

D<br />

F<br />

H<br />

G<br />

G<br />

H ⎞<br />

⎟<br />

C ⎠<br />

Beispiel: Was ist letztlich das Bild von B? Antwort: B wird zunächst nach F<br />

überführt und F dann weiter nach H, also ist H letztlich das Bild von B. Schematisch:<br />

B a F a H (in 2 Abbildungsschritten); B<br />

Schritt)<br />

a H (in einem<br />

Aber Achtung: Es handelt sich hier nicht um die Matrizenmultiplikation, wie sie<br />

in der Analyt. <strong>Geometrie</strong> mit Zahlen üblich ist.<br />

Man kann auf diese Weise jede Abbildung aus W mit jeder Abbildung aus W<br />

verketten und bekommt immer wieder eine Abbildung aus W. Es ist aber unnötig,<br />

alle 24•24 = 576 Verkettungen auszurechnen und aufzuschreiben (etwa in<br />

einer Gruppentafel). Wichtiger sind hier Bemühungen um allgemeine Einsichten,<br />

die von Problemaufgaben ausgehen, etwa:


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

• Was ist das Ergebnis, wenn man irgendeine Drehung um eine 4-zählige<br />

Drehachse mit irgendeiner Drehung um eine 3-zählige Achse verkettet<br />

(und andere Kombinationen)?<br />

• Untersucht die Frage nach der Kommutativität des Verkettens. Beachte:<br />

(W, ○) ist dann und nur dann kommutativ, wenn bei jeder Verkettung<br />

die Reihenfolge der Abbildungen vertauscht werden dürfte.<br />

• Untersucht Dreierverkettungen, z.B. zuerst Dx1, dann Da1, dann Dt. Was<br />

kann man allgemein über die Assoziativität von vermuten?<br />

• Mit welcher Drehung muss man Dy3 verketten, wenn das Ergebnis Db2<br />

sein soll? Es soll also die Gleichung Dy3 ○ x = Db2 gelöst werden.<br />

• Was ergibt sich, wenn man irgendeine der Drehungen, z.B. Dw mit allen<br />

24 Abbildungen von W verkettet, also Dw○W bildet? Bitte, zunächst<br />

nicht einzeln aufschreiben, sondern begründen, dass die Lösung<br />

W heißen muss.<br />

• Begründet, dass es zu jeder Deckdrehung aus W eine Deckdrehung aus<br />

W gibt, die die erste rückgängig macht.<br />

Wir können hinsichtlich der Struktur (in der üblichen Funktionensprache) zusammenfassen:<br />

1. Abgeschlossenheit: Für alle Drehungen f und g aus W gilt: f○g ist auch aus<br />

W, ebenso g○f.<br />

2. Neutrales Element: D0 = Id ist einziges neutrales Element mit f○D0 = D0○f = f<br />

für alle f aus W.<br />

3. Inverse Elemente: Zu jeder Deckdrehung f aus W gibt es genau eine inverse<br />

Deckabbildung f -1 mit f –1 ○f = f○f –1 = D0 = Id<br />

4. Assoziativität: Man kann mehr als zwei Deckdrehungen aus W verketten und<br />

braucht sich um Klammern nicht zu scheren: f○(g○h) = f○ (g○h) = f○g○h.<br />

A: „Das ist aber reichlich abstrakt“ B: „Das ist gut! Nur, wer sich<br />

mit Abstraktionen befasst kann auch konkrete Zusammenhänge<br />

verstehen.“<br />

Die Struktur von W mit der Rechenvorschrift heißt Gruppe. Da W 24 Elemente<br />

enthält, ist es eine endliche Gruppe von der Ordnung 24. Es gibt auch unendliche<br />

Gruppen, so z.B. die Menge aller Drehungen um eine räumliche Achse mit<br />

der Verkettung als Rechenoperation, oder die Menge aller ganzen Zahlen mit<br />

der Addition als Verknüpfung.<br />

60


61<br />

Heinrich Winter<br />

Wir haben oben die Deckdrehungen mit Hilfe der Ecken des Würfels beschrieben.<br />

Man kann aber andere Teile des Würfels heranziehen, etwa seine vier<br />

Raumdiagonalen. Wir nummerieren sie (AG = 1, BH = 2, CE = 3 und DF = 4)<br />

und fragen uns, auf wie viele Arten sich die vier Diagonalen permutieren lassen.<br />

Beispiele:<br />

D 0<br />

⎛1<br />

= ⎜<br />

⎝1<br />

2<br />

2<br />

3<br />

3<br />

4⎞<br />

⎟<br />

4⎠<br />

D x1<br />

⎛<br />

= ⎜<br />

⎝<br />

1<br />

2<br />

2<br />

3<br />

3<br />

4<br />

4⎞<br />

⎟<br />

1⎠<br />

D a1<br />

⎛1<br />

= ⎜<br />

⎝1<br />

Das ist mühselig, wenn auch gut zur Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens.<br />

Aber zum Beweis der Vermutung, dass man so alle 24 Drehungen<br />

auffinden kann, überlegen wir, wie viele der Diagonalenpermutationen a) keine ,<br />

b) eine, c) zwei und d) mehr als zwei Fixdiagonale(n) enthalten. Für d) (3 oder 4<br />

Fixdiagonalen) kommt nur Id in Frage. Keine Fixdiagonale enthalten die neun<br />

echten Drehungen um die 4-zähligen Achsen, je eine Fixdiagonale enthalten die<br />

acht echten Drehungen um die Diagonalen, und je zwei Fixdiagonalen haben die<br />

sechs echten Drehungen um die Kantenmittenachsen. Damit haben wir bewiesen:<br />

Jede Diagonalenpermutation entspricht eineindeutig einer Eckenpermutation,<br />

und die Menge der Diagonalenpermutationen hat im Prinzip dieselbe Gruppenstruktur<br />

wie die der Eckenpermutationen. Da in der zweiten Zeile der 4-2-<br />

Matrizen alle möglichen Anordnungen von 4 Dingen (Zahlen) stehen, können<br />

wir erweitern zum Satz:<br />

Die Gruppe der Drehungen des Würfels ist gestaltgleich (isomorph, abstrakt<br />

gesehen gleich) zu einer jeden Menge von Anordnungen von vier Dingen irgendwelcher<br />

Art mit der Verkettung.<br />

Insofern hat der Würfel ein maximales Maß an Symmetrien auch im Vergleich<br />

zu den übrigen Platonischen Körpern. Allgemein heißt eine endliche Gruppe<br />

symmetrisch, wenn sie gestaltgleich ist mit einer Gruppe, deren Elemente aus<br />

allen Anordnungen von n Dingen besteht. Solche Gruppen bezeichnet man mit<br />

S und ihre Ordnung ist n! Wir können deshalb (abstrakt gesehen) die Dreh-<br />

n<br />

gruppe des Würfels mit S 4 bezeichnen, es ist ja 4! = 24. Symmetriegruppen<br />

spielen die tragende Rolle in der <strong>Mathematik</strong> der Geflechte oder Zöpfe, die<br />

einerseits spielerischer Natur sind, andererseits aber Bedeutung in der Biologie<br />

besitzen (vgl. Gardner 1973, 20ff.; Knörrer 1996, 26ff.).<br />

Teile des Würfels und Untergruppen der Würfelgruppe<br />

Kaum eine der lernenden Auseinandersetzungen mit den Symmetrien des Würfels<br />

gestattet so viele verschiedenartige Raumerfahrungen und Entdeckungsmöglichkeiten.<br />

Der Einstiegsauftrag mag lauten: Sucht Teile des Würfels,<br />

2<br />

3<br />

3<br />

4<br />

4⎞<br />

⎟<br />

2⎠


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

gleichgültig ob ein- oder zwei oder dreidimensional, die selbst symmetrisch<br />

sind, aber deren Symmetrien zugleich auch Symmetrien des Würfels sind. Da<br />

könnten als erstes die Zyklen ins Auge springen, z.B. der Viererzyklus um die z-<br />

Achse herum. Als passende Teile des Würfels kommen hier in Frage: die beiden<br />

Diagonalen der Deckfläche oder Grundfläche (eindimensional), das Quadrat der<br />

Deckfläche oder Grundfläche (zweidimensional), die gerade Viereckspyramide<br />

unter der Deckfläche oder über der Grundfläche (dreidimensional).<br />

Diese Beispiele können um viele andere erweitert werden, vor allem durch<br />

symmetrieverträgliche Ausschmückungen. In jedem Falle ist die Teilfigur 4fach<br />

drehsymmetrisch. Ihre Zyklen bilden eine Gruppe der Ordnung 4, die man<br />

die zyklische Gruppe der Ordnung 4 nennt: C4 = {Dz1, Dz2, Dz3, D0}.<br />

Abb. 21 präsentiert eine vollständige und schon geordnete Sammlung von dreidimensionalen<br />

Teilkörpern, aus der alle echten Untergruppen (alle Untergruppen<br />

mit Ausnahme von C1 = {D0} und W selbst der Würfelgruppe entnommen<br />

werden können. Da gibt es eine Reihe von grundsätzlichen Fragestellungen. Es<br />

gilt ja, die Abb.21 zu verstehen.<br />

1. Welche und wie viele Drehsymmetrien hat der Teilkörper? (Ordnung der<br />

Untergruppe)<br />

2. Wie viele gleichberechtigte Lagen kann der Teilkörper im Würfel einnehmen?<br />

3. Wie viele verschiedene Untergruppen gibt es unter den Lagen von 2.?<br />

Die Antworten für das Beispiel 21a (dreiseitiges Prisma als Teilkörper):<br />

1. Es gibt nur eine Drehachse, die Kantenmittenachse r. Da D0 immer zu den<br />

Untergruppen gehört, ist die Untergruppe C2 = {Dr, D0} von der Ordnung 2.<br />

2. Es gibt 12 gleichberechtigte Lagen, so viele, wie es Kanten gibt.<br />

3. Es gibt 12: 2 = 6 verschiedene Untergruppen, denn einander gegenüber liegende<br />

Kanten haben dieselbe Drehachse. Es gibt also sechs Untergruppen der<br />

Ordnung 2; bitte alle sechs aufschreiben.<br />

Ähnlich ist die Situation in Abb.21b (dreiseitiges Prisma): Wieder gibt es nur<br />

eine 2-zählige Drehachse Dy, damit die Untergruppe C2 = {Dy, D0}, und wieder<br />

gibt es zwölf gleichberechtigte Lagen, von denen aber je vier dieselbe Drehachse<br />

besitzen. Deshalb erhalten wir hier nur drei Untergruppen der Ordnung 2, und<br />

zwar? Insgesamt hat damit der Würfel 6+3 = 9 verschiedene Untergruppen der<br />

Ordnung 2, die aber zueinander isomorph sind, weil sie alle nur das neutrale und<br />

ein zu sich selbst inverses Element besitzen.<br />

62


Abb. 21: Alle echten Untergruppen von W<br />

63<br />

Heinrich Winter<br />

Das nicht reguläre Tetraeder in Abb.21c hat die 3-zählige Achse d als einziges<br />

Symmetrieorgan, und damit die Drehgruppe C3 = {Dd1, Dd2, D0}. Es gibt acht<br />

gleichberechtigte Lagen und vier verschiedene Untergruppen der Ordnung 3.<br />

Klar sollte auch Abb.21d (gerade vierseitige Pyramide) sein: eine 4-zählige<br />

Drehachse (z-Achse), sechs gleichberechtigte Lagen, drei verschiedene zyklische<br />

Untergruppen.<br />

In Abb.21e (sechsseitiges Prisma) geschieht etwas Neues: Es gibt Drehachsen<br />

verschiedenen Typs, nämlich x-Achse, v-Achse und w-Achse, die paarweise<br />

senkrecht aufeinander stehen. Damit ergibt sich die nicht-zyklische Gruppe K =<br />

{Dx2, Dv, Dw, D0} der Ordnung 4, eine sog. Kleinsche Gruppe (benannt nach<br />

Felix Klein, 1849-1925), in der jedes Element invers zu sich selbst ist. Wir finden<br />

sechs gleichberechtigte Lagen und insgesamt drei verschiedene Untergruppen<br />

der Kleinschen Art.<br />

Besonders bemerkenswert ist Abb.21 f mit einem echten Quader als Teilkörper<br />

und den drei Hauptachsen x, y, z, so dass sich die Kleinsche Vierergruppe K =<br />

{Dx, Dy, Dz, D0} ergibt. Wieder haben wir sechs gleichberechtigte Lagen, die in<br />

Abb.22 gezeichnet sind. Das Besondere ist: In jeder Lage treten dieselben<br />

Hauptachsen x, y, z auf; so gibt es nur eine Untergruppe (und nicht drei wie in<br />

21d und 21e). Diese Kleinsche Vierergruppe heißt deshalb invariante Untergruppe<br />

(oder Normalteiler). Ob eine Gruppe eine echte invariante Untergruppe<br />

besitzt, ist in vertiefteren Studien der Gruppentheorie (Galois-Theorie) von<br />

größtem Interesse. Die Drehgruppen von Dodekaeder und Ikosaeder besitzen<br />

keine echten invarianten Gruppen.


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Abb. 22: Die sechs gleichberechtigten Lagen des echten Quaders als Teilfigur<br />

Das nicht reguläre Tetraeder in Abb.21g realisiert vier Untergruppen der Ordnung<br />

6, die quadratische Säule in Abb.21h drei Untergruppen der Ordnung 8.<br />

Spannend ist schlussendlich das reguläre Tetraeder in Abb.21i. Es hat vier 3zählige<br />

und drei 2-zählige Symmetrieachsen (nämlich welche?), und seine Untergruppe<br />

ist von der Ordnung 12. Diese Untergruppe des Würfels ist also die<br />

Drehgruppe des Tetraeders. Das Tetraeder tritt in zwei gleichberechtigten Lagen<br />

auf, siehe Abb. 23a und 23b. Das zweite Tetraeder realisiert (für sich betrachtet)<br />

dieselbe Drehgruppe wie das erste, und das heißt, dass wieder eine invariante<br />

Untergruppe vorliegt. Wir könnten deshalb auch erstes und zweites Tetraeder<br />

untereinander vertauschen.<br />

64


Abb. 23: Zwei Tetraeder und ihr Durchdringungsstern<br />

65<br />

Heinrich Winter<br />

Unschwer ist zu erkennen, dass das eine Tetraeder das Bild des anderen ist,<br />

wenn man eine Punktspiegelung am Mittelpunkt (SM) des Würfels vornimmt.<br />

Das ist aber eine uneigentliche Bewegung und also hier inakzeptabel. Gibt es<br />

eine Drehung des Würfels, die das eine Tetraeder in das andere überführt? Ihre<br />

Achse müsste 2-zählig sein (warum?) und dürfte nicht zu den Symmetriedrehachsen<br />

der Tetraeder gehören (warum nicht?). Mit etwas Geschick und Glück<br />

findet man zwei solcher Drehachsen (nämlich welche?). .<br />

Zum Genießen: Wenn man die beiden Tetraeder einer Durchdringung unterzieht,<br />

erhält man einen achtstrahligen Stern (Abb.23c), den schon KEPLER<br />

kannte und natürlich Stellaoctangula nannte. Die Schale (konvexe Hülle) dieses<br />

schönen Sterns ist der Würfel, und der Kern (der gemeinsame Teil) ist ein Oktaeder,<br />

dessen Drehgruppe ja isomorph ist zur Würfelgruppe. Das Volumen dieses<br />

Sternköpers ist halb so groß wie das des Würfels und doch besitzt er die volle<br />

Symmetrie des Würfels (das sollte uns aber nicht verwundern, weil sogar das<br />

dürre Gestänge der vier Raumdiagonalen bereits die Würfeldrehgruppe repräsentiert).<br />

Es sollte Spaß machen, den Stern zu bauen, etwa mit der Origamitechnik<br />

(FLACHSMEYER 2008, 140) oder auch anders.<br />

Im Rückblick auf dieses Teilkapitel sollte mindestens noch aufgefallen sein,<br />

dass die Ordnung sämtlicher Untergruppen ein Teiler der Ordnung von W, also<br />

von 24, ist. Es gilt hier offenbar: Ordnung der Untergruppe von W mal Anzahl<br />

der gleichberechtigten Lagen ist gleich 24. Das ist klar, weil die Gesamtheit<br />

aller Lagen den ganzen Würfel oder einen symmetriegleichen Teilkörper erscheinen<br />

lässt. Man demonstriere das am Durchdringungskörper, den die sechs<br />

Quader in Abb. 22 bilden.<br />

Dieser Zusammenhang zwischen Ordnung der Gruppe und Ordnung einer Untergruppe<br />

gilt allgemein in der Gruppentheorie, ausgedrückt im fundamentalen<br />

Satz von JOSEF-LOUIS LAGRANGE (1736-1813) über endliche Gruppen:<br />

Ist n die Ordnung einer Gruppe und m die Ordnung einer ihrer Untergruppen U,<br />

so ist m ein Teiler von n (und n:m = i wird Index von U genannt). Der klassi-


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

sche Ausschöpfungsbeweis über Nebenklassen von U kann an der Würfelgruppe<br />

vorgeübt werden. Der Umkehrsatz (wie lautet er?) gilt indes nicht, was an der<br />

Tetraedergruppe gesehen werden kann. Der Satz von LAGRANGE ist nützlich<br />

bei der Suche nach Untergruppen, da er den Suchraum reduziert. Außerdem<br />

folgt sofort aus ihm: Eine Gruppe von Primzahlordnung hat keine echten Untergruppen.<br />

Uneigentliche Deckabbildungen des Würfels<br />

Der Würfel besitzt insgesamt neun Spiegelebenen, drei in den Hauptrichtungen<br />

mit quadratischer Schnittfläche (Abb.24a, Typ a) und sechs mit rechteckiger<br />

Schnittfläche (Abb.24b, Typ b).<br />

Abb. 24: Uneigentliche Deckabbildungen des Würfels<br />

Natürlich bilden die neun 9 Spiegelungen keine Gruppe, auch nicht, wenn wir<br />

noch Id hinzufügen. Wenn ich zwei verschiedene Spiegelungen verkette, dann<br />

ergibt sich eine Drehung, deren Achse die Schnittgerade der beiden Ebenen ist<br />

und deren Drehwinkel doppelt so groß ist wie der Schnittwinkel der Ebenen.<br />

Soweit ist alles analog zu den Verhältnissen in der Ebene. Insbesondere der<br />

Satz: Jede Drehung des Würfels kann (sogar auf mehrere Arten) durch die Verkettung<br />

zweier Spiegelungen dargestellt werden.<br />

Insofern sind Spiegelungen sogar grundlegender als Drehungen, da durch sie die<br />

Drehungen erzeugt werden (können). Andererseits: Bisher stehen den 24 Drehungen<br />

nur 9 Spiegelungen als uneigentliche Deckabbildungen gegenüber. Das<br />

sieht ziemlich unausgewogen, asymmetrisch aus. Erinnern wir uns an die Symmetrien<br />

des ebenen Quadrats, da haben wir außer den vier Drehungen um den<br />

Mittelpunkt noch vier Geradenspiegelungen, die den Umlaufsinn umkehren und<br />

somit in der Ebene als uneigentliche Bewegungen zu gelten haben. Die Analogie<br />

umkehrend, müsste es demnach beim Würfel auch 24 uneigentliche Deckabbildungen<br />

geben. Kann man sich die 15 fehlenden beschaffen? Wieder kann<br />

uns das ebene Quadrat helfen. Durch die vier Spiegelgeraden wird es in acht<br />

66


67<br />

Heinrich Winter<br />

zueinander kongruente Dreiecke zerlegt. Dann müsste doch… Tatsächlich wird<br />

der Würfel durch alle neun Spiegelebenen in 48 zueinander kongruente Tetraeder<br />

zerlegt (Abb.24c). Offensichtlich kann jedes dieser Tetraeder durch eine<br />

eigentliche oder uneigentliche Deckbewegung in eins der 48 Tetraeder überführt<br />

werden. Ein Beispiel ist in Abb.24c eingetragen: ANRM a BNRM a<br />

CTSM.<br />

Wir haben einen neuen Abbildungstypen, die Drehspiegelung (hier würde besser<br />

Spiegeldrehung passen). Diese kann auch anders ausgeführt werden, z.B.<br />

durch drei verkettete Spiegelungen, und das noch auf verschiedene Arten. Es<br />

gehört etwas Ausdauer und wenig Fantasie dazu, die fehlenden 14 Drehspiegelungen<br />

als Dreifachspiegelung aufzuschreiben. Eine davon ist besonders zu<br />

erwähnen, die räumliche Punktspiegelung ( S M ), die sich durch die Verkettung<br />

von drei Spiegelungen an Ebenen, die paarweise senkrecht aufeinander stehen,<br />

darstellen lässt. Wir schließen mit dem Satz:<br />

Die volle Symmetriegruppe WV des Würfels ist von der Ordnung 48, und ihre<br />

Untergruppe W ist ein Normalteiler in WV.<br />

Vom Design zur Kristallographie<br />

Die Billschen Würfelhälften<br />

Abb. 25: Spezielle Halbierungsschnitte durch den Würfel


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Der berühmte Designer und Architekt Max Bill (1908-1994) hat im Rahmen<br />

seiner Bemühungen, eine Theorie der Form zu schaffen, u.a. das Beispiel des<br />

Halbierens geeigneter Körper (vor allem Kugel und Würfel) gedanklich ausgearbeitet<br />

und auch konkret realisiert (Schumann 2007, 33ff.). Aus der unendlichen<br />

Fülle von Halbierungen des Würfels durch ebene Schnitte (durch den Mittelpunkt)<br />

lässt Bill nur solche Schnittebenen zu, die markante Punkte des Würfels<br />

enthalten, nämlich Ecken und Kantenmitten. Da gibt es nur 4 Möglichkeiten:<br />

Die Schnittfläche ist a) ein Quadrat, b) ein Rechteck, c) ein Rhombus, d) ein<br />

reguläres Sechseck (Abb.25).<br />

Mit den Würfelhälften lässt sich nun eine Unzahl von „Landschaften“ aufbauen,<br />

vor allem dann, wenn man zu jedem Typ mehrere Würfel gleicher Größe zerschneidet.<br />

Hier wollen wir uns auf die Typen c und d beschränken.<br />

Die beiden Würfelhälften vom Typ c<br />

Zunächst sollte man sich mit der Schnittfläche befassen (Abb.26c), also das<br />

Wissen über den Rhombus reaktivieren. Wie lang sind die beiden Diagonalen<br />

und wie lang die 4 Seiten? Wie groß sind die Innenwinkel? Flächeninhalt?<br />

Symmetrien? Ist der Rhombus ein spezielles Trapez? Was für ein Rhombus ist<br />

das Quadrat?<br />

Abb. 26: Zwei Würfelhälften und ihre Schnittfläche<br />

Die beiden Hälften sind (erstaunlicherweise?) wieder Hexaeder, besitzen aber<br />

nur 11 Kanten und 7 Ecken. Wo sind die verlorenen Stücke geblieben? Wieso<br />

muss jeder auch eine Ecke weniger haben, wenn er eine Kante verliert (Eulerscher<br />

Polyedersatz)? Gibt es noch weitere topologisch andere Hexaeder? (Nach<br />

Gardner 1973, 190 existieren noch fünf weitere). Jeder der beiden Halbwürfel<br />

besitzt nur ein echtes Symmetrieorgan; welches? Man könnte sie ineinander<br />

verschieben, deshalb liegt keine Enantiomorphie vor.<br />

Durch Herumspielen mit den beiden Hälften tritt die Frage auf: Wie viele verschiedene<br />

konvexe Körper (außer dem Würfel) kann man herstellen, wenn man<br />

68


69<br />

Heinrich Winter<br />

die beiden Halbwürfel unter Einhaltung der Dominoregel zusammensetzt? Begründet,<br />

dass es genau fünf sind. In Abb.27 sind drei davon im Schrägbild dargestellt.<br />

Abb. 27: Drei konvexe Körper je aus 2 Halbwürfeln vom Typ c<br />

Die Symmetrieorgane dieser Körper lassen sich leicht ablesen. Alle drei Körper<br />

stellen die idealen Urformen der drei sogenannten monoklinen Kristallklassen<br />

dar, nämlich – in den international gängigen Kürzeln – der Reihe nach 2, m, 2/m<br />

(KLEBER u.a. 1998, 69ff.), die ihrerseits auf viele Arten ausgeformt sein können.<br />

So gehören zur Klasse 2/m Gips, Diopsid, Kalifeldspat, Oxalsäure, u.v.a.<br />

Diese Klasse ist sogar „sowohl unter den Mineralen als auch unter den synthetischen<br />

Kristallen weit verbreitet und die mit Abstand häufigste Kristallklasse“<br />

(EBENDA, 71). Ihre Urform ist das Parallelepiped in Abb. 27c). Ausformungen<br />

der Klasse 2 sind u.a. die schon genannte Weinsäure (in linker und rechter Art,<br />

Enantiomorphie) und der Zucker; Ausformungen von der Klasse m sind u.a.<br />

Hilgardit und Klinoedrit.<br />

Ein Dodekaeder (Zwölfflächner) aus acht Halbwürfeln<br />

Spielen wir weiter mit unseren Halbwürfeln, so kann es fast nicht ausbleiben,<br />

aus acht Halbwürfeln ein Dodekaeder zusammenzusetzen, das recht symmetrisch<br />

und einfach schön aussieht. Es ist jedoch nicht das bekannte klassische<br />

Rhombendodekaeder (kurz KRD), dessen Drehgruppe zur Würfelgruppe isomorph<br />

ist.<br />

Unser 8-Würfelhäftendodekaeder (kurz 8WhD) hat zwar auch 24 gleich lange<br />

Kanten (wie lang?) und 12 Rhomben als Seitenflächen, jedoch sind letztere<br />

nicht paarweise kongruent zueinander, vielmehr gibt es zwei Sorten: 4 „kleine“<br />

und 8 „große“ (welche Flächeninhalte?). Es lohnt sich, die Morphologie des<br />

8WhD genauer zu untersuchen, um dann seine Symmetriegruppe bestimmen zu<br />

können (Abb.28 a). So gibt es drei Sorten von Ecken (welche?). Jede der 12<br />

Seitenflächen hat gegenüber eine zu ihr parallele kongruente Partnerin, so dass<br />

der Körper ein Inversionszentrum besitzt. Jedoch besitzt er weder Umkugel


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

noch Kantenmittenkugel noch Inkugel. Nur die „kleinen“ Rhomben bilden Paare,<br />

die durch eine 2-zählige Drehachse ineinander überführt werden können.<br />

Was ist mit den „großen“ Rhomben?<br />

Abb. 28: Zur Symmetrie des 8WhD<br />

Nun konkret zur Drehsymmetrie des 8WhD. Das in Abb.28a rot eingefärbte<br />

Quadrat ist auffällig, ist es doch das einzige von den 3 Mittenquadraten, das der<br />

ursprüngliche große Würfel aus 8 Würfeln mit Kantenlänge a vor dem Abschneiden<br />

der Hälften aufweist. Die durch die Mitte dieses Quadrats verlaufende<br />

und auf dem Quadrat senkrecht stehende Gerade ist eine 4-zählige Drehachse<br />

nicht nur des Quadrates sondern des ganzen 8WhD. Das ist schon einmal ein<br />

Teilergebnis. Wie in der Kristallographie üblich, betrachten wir diese Achse als<br />

Hauptachse und zeichnen sie als in der Zeichenebene liegend wie in Abb. 28 b<br />

und c. Da erscheint der 8WhD als eine Durchdringung von einer Doppelpyramide<br />

(28b) mit einem Doppelturm (28c). Wie man unschwer zeigen kann, besitzen<br />

beide Teilkörper dieselben Drehsymmetrien, die auch Symmetrien des<br />

8WhD sind, nämlich 4 Drehungen um die Hauptachse z, 4 Umklappungen (=<br />

Drehungen um 180°) um die beiden Achsen x und y sowie deren beide Winkelhalbierende.<br />

Der Kern der Durchdringung (= das gemeinsame Gebiet von Doppelpyramide<br />

und Doppelturm) ist der mittlere Teil des Doppelturmes, und das<br />

ist eine Quadratische Säule mit den Kantenlängen a, 2 a, 2 a. Deren Sym-<br />

70


71<br />

Heinrich Winter<br />

metrien sind nun genau die gefragten Symmetrien des 8WhD. Damit notieren<br />

wir:<br />

Die Gruppe der Drehsymmetrien des 8WhD ist von der Ordnung 8. Sie besteht<br />

aus 4 Drehungen um eine 4-zählige Achse und aus 4 180°-Drehungen (Umklappungen)<br />

an 4 2-zähligen Achsen.<br />

Wir könnten auch kürzer aufschreiben:<br />

Die Drehgruppe 8WhD ist isomorph zur Drehgruppe des räumlichen Quadrats.<br />

Während nämlich die Deckabbildungen des ebenen Quadrats aus 4 Drehungen<br />

um den Mittelpunkt und 4 (uneigentlichen!) Achsenspiegelungen bestehen, sind<br />

beim räumlichen Quadrat die 4 Achsenspiegelungen durch 4 Drehungen (Umklappungen)<br />

ersetzt. Darüber hinaus kann das räumliche Quadrat auf unendliche<br />

viele Arten in den Raum hinein symmetrieerhaltend ausgeschmückt und auch<br />

reduziert werden. Es kommt z. B. nicht darauf an, wie hoch der Doppelturm und<br />

wie hoch die Doppelpyramide ist. Im Extremfall kann der eine oder der andere<br />

Teilkörper oder können auch beide die Höhe 0 und damit auch das Volumen 0<br />

besitzen. Im letzteren Fall sprechen wir dann von einem Dieder = Zweiflächner,<br />

indem wir Unterseite und Oberseite des Quadrats unterscheiden. F. Klein hat<br />

sogar vom Dieder als dem 6. Platonischen Körper gesprochen (Klein, S. 129).<br />

Somit erhalten wir eine dritte Fassung des Satzes über die Symmetrien des<br />

8WhD:<br />

Die Drehgruppe des 8WhD ist (abstrakt gesehen) die Diedergruppe D 4 .<br />

Zu jedem n > 1 gibt es ein Dieder D n , dessen Drehgruppe von der Ordnung 2n<br />

ist. Die räumliche Drehgruppe einer Strecke ist D 2 und ist abstrakt gleich der<br />

Kleinschen Vierergruppe. Verifiziert das en detail. D 3 kennen wir eigentlich<br />

schon aus den Untergruppen des Würfels. Überprüft das. Allgemein braucht<br />

man ein reguläres ebenes Vieleck. Dieses besitzt einen Mittelpunkt, durch den<br />

eine Senkrechte errichtet wird als n-zählige Drehachse. Weiterhin besitzt das<br />

ebene n-Eck n Spiegelgeraden, die beim Verräumlichen zu n 2-zähligen Drehachsen<br />

(Klappachsen) werden. Genaueres über Diedergruppen findet man in<br />

Sielaff, besonders ausführlich wird die Gruppe D 3 besprochen.<br />

In der Kristallographie kann es wegen des Gitteraufbaus nur Drehgruppen von<br />

der Ordnung 4, 6, 8 und 12 geben und damit auch nur die Diedergruppen dieser<br />

Ordnungen. Tatsächlich kommen die möglichen auch alle in Kristallen vor,<br />

D z. B. im schon erwähnten Graphit, der zur dihexagonalen – dipyramidalen<br />

6<br />

Kristallklasse gehört. Unser 8WhD scheint es in reinerer Form als Mineral in


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

der Natur nicht zu geben, Sonderformen von Vesuvian kommen seiner Form am<br />

nächsten (mündliche Auskunft von Prof. Theo Hahn vom Kristallographischen<br />

Institut der RWTH in Aachen). Es wird als ditetragonal-dipyramidal klassifiziert.<br />

Gänzlich im Gegenteil zum 8WhD ist das klassische Rhombendodekaeder<br />

(KRD) hochsymmetrisch. In der üblichen Genese des KRD (als Ausstülpen der<br />

6 inneren quadratischen Pyramiden eines Würfels) überträgt sich die volle<br />

Symmetrie des Würfels auf das KRD, was im einzelnen zu belegen und auszugestalten<br />

ist. Z.B. gehen die 6 2-zähligen Achsen des Würfels in 6 Rhombenmittenachsen<br />

des KRD über. Der besseren Vergleichbarkeit wegen haben wir für<br />

beide Rhombendodekaeder in Abb. 29 dieselbe Kantenlänge gewählt.<br />

Abb. 29: 8WhD und KRD im Vergleich<br />

Der entscheidende aber keineswegs „kleine“ Unterschied liegt im Kernbereich,<br />

beim 8WhD ist es eine quadratische Säule, im KRD hingegen ein Würfel. Die<br />

Oberfläche des 8WhD besteht aus 2 Quadraten und 4 (echten ) Rechtecken.<br />

Wende ich hierauf die Ausstülpmethode (analog zum KRD) an, so liefern die<br />

beiden Quadrate 8 zueinander kongruente Rhomben, es bleiben dann noch 4<br />

weitere zueinander paarweise kongruente Rhomben einzusetzen mit derselben<br />

Kantenlänge aber abweichender Größe und Winkel.<br />

Da es (metrisch gesehen) unendlich viele echte quadratische Säulen gibt, gibt es<br />

auch unendlich viele Dodekaeder vom Typ des 8WhD. Das KDR ist der Sonderfall<br />

und es erfreut sich wegen seines hohen Symmetriegehalts großer kristallographischer<br />

Wertschätzung. Die bekannten Mineralien Diamant und Granat<br />

besitzen Urformen von der Gestalt des KRD (neben Würfeln und Oktaedern).<br />

Diamanten aus fast reinem Kohlenstoff sind nicht nur wegen des Funkelns die<br />

72


73<br />

Heinrich Winter<br />

„Könige der Edelsteine“ (Bohm, S. 90ff), sondern wegen ihrer einzigartigen<br />

Härte (Härtegrad 10) von erheblichem technischen Gebrauchswert (Tiefbohren,<br />

Schneiden, Glätten, Schleifen u.v.m. mit erhöhten Ansprüchen). Nebenbei: das<br />

Mineral Graphit, auch aus fast reinem Kohlenstoff, ist dagegen ausgesprochen<br />

weich (Härtegrad 1), weil der atomare Aufbau ein völlig anderer ist gegenüber<br />

dem des diamanten.<br />

Das Mineral Granat (Härtegrad 6 – 7,5) besitzt neben anderen Körperformen<br />

besonders auch das KRD als Urform, so dass das KRD gelegentlich sogar Granatoeder<br />

genannt wird. Granat ist chemisch ein Silikat mit vielerlei möglichen<br />

Zusätzen. Granatschmuck ist wegen der hochsymmetrischen Form, wegen der<br />

Variabilität in der Farbe und nicht zuletzt wegen seines Preises (bei mittlerem<br />

Einkommen bezahlbar) sehr geschätzt. In der Technik dient er unter anderem als<br />

Laserkristall, wie überhaupt möglichst reine und selbst gezüchtete Kristalle in<br />

unserer digitalen Welt geradezu als „Steine der Weisen“ (so der Titel des Katalogs<br />

der Ausstellung in Bonn im Jahr 2000 der Physik) fungieren.<br />

Der Oktaederstumpf<br />

Wie im Falle des 8WhD können wir auch 8 Würfelhälften zusammenbauen,<br />

wenn die Schnittfläche ein reguläres Sechseck ist. Zunächst wird man Wissen<br />

über das ebene reguläre Sechseck und das Sechseckgitter des Ebene reaktivieren,<br />

um dann zu begründen, dass wirklich ein reguläres Sechseck als Schnittfläche<br />

vorliegt und dass von diesem Sechseck nur 3 Drehungen (120°, 240°, id)<br />

auch Drehungen des ganzen Körpers aus 8 Würfelhälften sind (Scheinsymmetrie).<br />

Abb. 30: Körper aus 8 Würfelhälften – Oktaederstumpf, zwei Genesen


Würfel & Co – Kunst und Natur<br />

in den Symmetrien von Körpern<br />

Die Oberfläche des Körpers besteht aus sechs Quadraten und acht regulären<br />

Sechsecken, je kongruent zueinander und paarweise orthogonal gegenüber liegend.<br />

Damit gibt es drei 4-zählige und vier3-zählige Drehachsen als Flächenmittenachsen.<br />

Achsen durch Ecken kann es nicht geben (warum nicht?). Untersuchen<br />

wir noch die Kanten! In jeder Ecke stoßen drei Flächen (ein Quadrat und<br />

zwei Sechsecke, man schreibt kurz 4, 6, 6) sowie drei Kanten zusammen. Es<br />

gibt damit (8 x 6 + 4 x 6) / 3 = 24 Ecken und (8 x 6 + 6 x 4) / 2 = 36 Kanten,<br />

und wieder bestätigt sich der Euler’sche Polyedersatz. Aber alle Seitenlinien der<br />

Quadrate sind untauglich, um Kantenmittenachsen zu liefern. Damit fallen 24<br />

Kanten weg, die restlich 12 Kanten zwischen den Sechsecken liefern sechs<br />

zweizählige Kantenmittenachsen, so dass sich insgesamt 3 x 3 + 4 x 2 + 6 +1 =<br />

24 Drehungen des Oktaederstumpfes ergeben. Damit gilt für die Drehsymmetrie<br />

des Oktaederstumpfes (Abb. 30b): Die Drehgruppe des Oktaederstumpfes hat<br />

die Ordnung 24 und ist isomorph (abstrakt gesehen gleich) der Drehgruppe des<br />

Würfels.<br />

Der Name „Oktaederstumpf“ wird klar, wenn man Abb. 30 b anschaut. Einem<br />

gegebenen Oktaeder werden die sechs „Ecken weggeschnitten“, d.h. das Oktaeder<br />

verliert sechs quadratische Pyramiden, deren Grundflächenseiten ein Drittel<br />

so lang sind wie die Oktaederkanten. Der Oktaederstumpf ist damit leicht zu<br />

zeichnen, wenn das Oktaeder im Schrägriss gegeben ist: Drittele die Kanten des<br />

Oktaeders, der Rest ergibt sich fast von selbst.<br />

Der Oktaederstumpf ist ein archimedischer Körper, d.h. seine Oberfläche besteht<br />

aus regulären Polygonen und alle Ecken sind paarweise äquivalent zueinander.<br />

Es gibt außer den Prismen und Antiprismen 13 verschiedene archimedische<br />

Körper, die bereits fast alle dem größten <strong>Mathematik</strong>er des Antike, Archimedes<br />

(um 287 bis 212 v. Chr.) bekannt waren.<br />

Natürlich ist der Oktaederstumpf wieder ein Raumfüller, da er aus Würfelhälften<br />

besteht. Wie sieht die räumliche Pflasterung aus? (siehe z.B. Steinhaus S.<br />

193 oder im Internet). Der Oktaederstumpf ist sogar in zweifacher Hinsicht ein<br />

besonderer Raumfüller: Erstens ist er von allen Raumfüllern der sparsamste<br />

hinsichtlich der Oberfläche pro 1 Volumeneinheit, an zweiter Stelle steht das<br />

KDR (Bienenwabenmuster) und erst an 6. Stelle kommt der Würfel (schriftliche<br />

Mitteilung von Prof. K.P. Müller, Karlsruhe). Diese Eigenschaft wird klar,<br />

wenn man sieht, dass der Oktaederstumpf stark kugelförmig ist, und die Kugel<br />

ist ja von allen volumengleichen Körpern von minimaler Oberfläche. Zweitens<br />

ist der Oktaeder der einzige Raumfüller, bei dem in jeder Ecke nur 4 Oktaederstümpfe<br />

zusammenstoßen. Damit handelt es sich um die „einfachste“ Parkettierung<br />

(Steinhaus, S. 191).<br />

74


75<br />

Heinrich Winter<br />

Der Oktaederstumpf ist eine ideale Urfigur von Kristallen, die zum kubischen<br />

Kristallsystem mit höchster Symmetrie gehören. Als Beispiel eines Minerals sei<br />

Bleiglanz (Algenit) erwähnt, das als Bleierz hoch geschätzt wurde und wird,<br />

weil Blei heute und auch in der Zukunft insbesondere in der Akkumulatorenindustrie<br />

(damit auch noch in der Autoindustrie) gebraucht wird.<br />

Bleiglanz ist auch in kristallographiehistorischer Hinsicht bemerkenswert.<br />

Schon der Freiburger Mineralogieprofessor Abraham Werner (1750-1817), der<br />

auch den hübschen Namen Bleiglanz einführte, zeigte, dass man Ordnung in die<br />

fast chaotische Welt der Mineralien bringen kann, wenn man von den einfachsten<br />

Körpern ausgeht und diese auf kontrollierte Weise abändert (Stewart/Golubitsky,<br />

S. 96ff). Er fand, dass Bleiglanz in platonischen bzw. archimedischen<br />

Körpern auftritt: Würfel (4, 4, 4), Würfelstumpf (3, 8, 8), Kuboktaeder<br />

(3, 4, 3, 4), Oktaederstumpf (4, 6, 6) und Oktaeder (3, 3, 3, 3). In dieser Reihenfolge<br />

kann man eine Metamorphose sehen vom Würfel zum Oktaeder, generiert<br />

durch wachsende „Abfälle“. Gemeinsam ist allen fünf Körpern, eine Symmetriegruppe<br />

zu besitzen, die isomorph zur Würfelgruppe ist.<br />

Wer kann, stelle ein Video zur oben genannten Metamorphose her. Jeder kann<br />

eine Durchdringungsfigur von Würfel und Oktaeder zeichnen und alle fünf oben<br />

genannten Körper in ihrem Zusammenhang sehen.<br />

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Wittmann, E.-CHR. (1987). Elementargeometrie und Wirklichkeit, Braunschweig: Vieweg<br />

Abbildungsnachweis<br />

Abb. 7: Kaderavek, 1992, 53<br />

Abb. 8: Brockhaus, 1955, Band 7, Tafel Mensch IV<br />

Abb. 9: Herzog, 1990, 55<br />

Abb. 10: http://redmedia033.so-buy.com/ezfiles/redmedia033/img/img/67007/Notre.jpg<br />

Abb. 11:<br />

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/76/Schloss_Charlottenburg.jpg<br />

Abb. 12:<br />

http://www.adventurecamps.co.tz/photogalleries/ruaha/ruaha%20Other%20Animals<br />

Abb. 14: Brunner, 1999, 48 bzw. 46<br />

Abb. 15: Rein, 1993, 36<br />

76


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Zusammenfassung. Im Mittelpunkt dieses Artikels stehen Vernetzungen von geometrischen<br />

mit anderen Inhaltsbereichen im <strong>Mathematik</strong>unterricht, wobei der Schwerpunkt<br />

auf der Konstruktion einer schülerzentrierten Unterrichtsmethode zur Vernetzung von<br />

mathematischem Wissen in der SEK I liegt. Dafür wird zunächst auf Vernetzungen in der<br />

<strong>Mathematik</strong> und im <strong>Mathematik</strong>unterricht eingegangen. Daraufhin wird die „Kapitelübergreifende<br />

Rückschau“ als Möglichkeit zur Förderung von Vernetzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

vorgestellt. Dabei soll das Augenmerk auf der Verzahnung von mathematischen<br />

Inhalten mit geeigneten Sozialformen liegen. Ergänzt wird der Beitrag durch die<br />

Darstellung von zwei schulischen Erprobungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht mit Schülern,<br />

die diagnostizierte Lernschwierigkeiten aufweisen.<br />

Vernetzen in der Fachwissenschaft<br />

Im Logo der Internationalen Mathematischen<br />

Vereinigung stehen Borromäische<br />

Ringe für den Vernetzungsreichtum der<br />

<strong>Mathematik</strong>. Dabei stehen sie dem Entwickler<br />

des Logos John Sullivan zufolge<br />

zunächst für die Vernetzungen zwischen<br />

verschiedenen mathematischen Bereichen,<br />

dann für die Vernetzungen innerhalb der<br />

wissenschaftlichen Gemeinschaft der <strong>Mathematik</strong>er<br />

6 . Damit erhalten fachwissenschaftliche<br />

Vernetzungen in der <strong>Mathematik</strong><br />

zusätzlich zu der epistemischen eine<br />

weitere, soziale, Dimension. Borromäische<br />

Ringe sind als ein geometrischer (topologi-<br />

Abb. 1: „IMU-Logo“<br />

scher) Link in der Ebene unmöglich und<br />

nur unter Zuhilfenahme von einer weiteren Dimension adäquat darstellbar (Informationsdienst<br />

Wissenschaft).<br />

6 Mit der männlichen Form sind im Text durchgängig Vertreter von beiden<br />

Geschlechtern gemeint.<br />

Nordheimer, S. (2010).Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz. In: Ludwig,<br />

M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>,<br />

Hildesheim: Franzbecker, S.77-96


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

Eine Wissenschaftsdisziplin wird in der aktuellen Diskussion innerhalb der<br />

Wissenschaftsforschung nicht nur epistemisch, sondern auch soziologisch verstanden<br />

(siehe Stichweh 1981). In diesem Sinne betrifft dann <strong>Mathematik</strong> diejenige<br />

kommunikative Gemeinschaft von Personen, die als <strong>Mathematik</strong>er gelten,<br />

weil sie gewisse gemeinsame Annahmen über die Möglichkeiten, Probleme,<br />

Themen, Methoden, Praktiken, Daten und Gütekriterien der „wissenschaftlichen“<br />

Arbeit teilen und sich darin von anderen wissenschaftlichen Gemeinschaften<br />

abgrenzen können.<br />

Laut der Soziologin Bettina Heintz (2000) kommt dem Beweis eine besondere<br />

Funktion beim Vernetzen der <strong>Mathematik</strong> zu. Durch Beweisen als die ihr eigene<br />

Erkenntnis- und Arbeitsmethode grenzt sich <strong>Mathematik</strong> von anderen wissenschaftlichen<br />

Disziplinen ab. Damit verknüpfen Beweise nicht nur mathematische<br />

Objekte wie Sätze und Begriffe, sondern auch Wissenschaftler miteinander.<br />

Denn in den Beweisen haben <strong>Mathematik</strong>er ein ihrer Fachdisziplin eigenes<br />

Kommunikationsmittel. Somit verknüpfen Beweise die <strong>Mathematik</strong> nicht nur<br />

auf der epistemischen, sondern auch auf der sozialen Ebene. Sie sind damit für<br />

<strong>Mathematik</strong> kennzeichnend und können zum Ausgangspunkt der Diskussion<br />

über Basiskompetenzen gewählt werden.<br />

Betrachtet man den schulischen Kanon für <strong>Mathematik</strong>, so lässt sich feststellen,<br />

dass die meisten Beweise in der Sekundarstufe I bei geometrischen Themenbereichen<br />

angesiedelt sind. Der <strong>Geometrie</strong> als Beispiel für eine deduktive Theorie<br />

(Holland 1988) kommt somit eine besondere Aufgabe zu. Aufgrund geometrischer<br />

Beweise und der Multi-Perspektivität der <strong>Geometrie</strong> (Neubrandt 2010)<br />

kann sie als ein Mittel der Vernetzung von verschiedenen Bereichen der Schulmathematik<br />

betrachtet werden. Diese Besonderheiten der Schulgeometrie gewinnen<br />

auf dem Hintergrund der durch Winter (2001) formulierten allgemeinbildenden<br />

Grunderfahrungen an Bedeutung. Die Schüler sollen nach Winter<br />

<strong>Mathematik</strong> im Unterricht als ein an „inneren (deduktiven) Vernetzungen reiches<br />

Universum“ erfahren. Der <strong>Geometrie</strong> als erster deduktiver Wissenschaft<br />

räumt er dabei die Leitfunktion ein (Winter 1995). Nicht umsonst wählen auch<br />

Wagenschein (1997) und Wittenberg (1994) gerade geometrische Beispiele, um<br />

die Themenkreismethode, die der Zusammenhanglosigkeit des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

entgegenwirken soll, zu beschreiben. Die besondere Rolle der Beweise<br />

im <strong>Geometrie</strong>unterricht wird bei der Entwicklung und Vorstellung des zweiten<br />

Unterrichtsvorschlags noch einmal erwähnt.<br />

Standards<br />

Die Hervorhebung von Vernetzungen in der <strong>Mathematik</strong> als Fachwissenschaft<br />

geht weltweit parallel mit den Entwicklungen in der Didaktik der <strong>Mathematik</strong>.<br />

78


79<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Als eine von zehn Basiskompetenzen führen beispielsweise die „NCTM Principles<br />

and Standards for School Mathematics 2000 Vernetzungen (‘connections’)<br />

auf” (Brinkmann 2002, S. 19). Auch in dem südafrikanischen Curriculum<br />

werden innermathematische Vernetzungen betont (Mwkapenda 2008). In verschiedenen<br />

Rahmenlehrplänen deutscher Bundesländer findet man explizite<br />

Vernetzungen als Leitideen (Baden Württemberg, Gymnasium) bzw. Links<br />

zwischen den Leitideen (Berlin, Rheinland-Pfalz). Im Baden-<br />

Württembergischen Bildungsplan für die Hauptschule beispielsweise findet man<br />

eine Forderung, die implizit auch für diese Schule bestimmte Vernetzungsstandards<br />

formuliert: „Unter der Leitidee ‘Raum und Form’ werden geometrische<br />

Inhalte thematisiert, deren Verbindungen zu arithmetischen und algebraischen<br />

Gesetzmäßigkeiten aufgezeigt.” In den Tests aus den Vergleichsuntersuchungen<br />

wie TIMSS und PISA, sowie Vergleichsarbeiten wie beispielsweise VERA und<br />

zentralen Abschlussprüfungen wie Mittlerer Schulabschluss in Berlin werden<br />

auch den leistungsschwächeren Schülern innerhalb einer kurzen Zeitspanne<br />

Aufgaben, die sich auf viele verschiedene inhaltliche Kapitel beziehen, zugetraut.<br />

Manchmal ist zum Lösen einer Aufgabe eine Synthese von Inhalten aus<br />

verschiedenen Schulbuchkapiteln erforderlich (vgl. Vollrath 2001). Um die<br />

erwähnten Vernetzungsstandards anzustreben ist es sinnvoll, den Vernetzungsbegriff<br />

für den <strong>Mathematik</strong>unterricht zu präzisieren und theoretisch einzuordnen.<br />

Vernetzungsdefinition<br />

Einen theoretischen Ausgangspunkt für den auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht bezogenen<br />

Vernetzungsbegriff liefert Brinkmann (2002). Demzufolge wird Vernetzung<br />

als Prozess und Ergebnis des In-Beziehung-Setzens mathematischer<br />

Inhalte und Anwendungen auf der Ebene des Unterrichtsstoffes sowie auf der<br />

kognitiven Ebene des Schülers verstanden. Modelliert werden die Vernetzungen<br />

mit Hilfe von Graphen, wobei vor allem mathematische und nichtmathematische<br />

Inhalte und Objekte zu den zu vernetzenden Knoten werden.<br />

Die Kanten zeigen existierende Beziehungen auf. Solche Beziehungen lassen<br />

sich als Vernetzungen definieren. Die groben Kategorien beim Vernetzen mathematischer<br />

Unterrichtsinhalte sind zunächst außer- und innermathematische<br />

Vernetzungen.<br />

Im Zusammenhang mit der hier vorgestellten Unterrichtsmethode sind vor allem<br />

die innermathematischen anwendungsbezogenen Vernetzungen interessant. Die<br />

Anwendung mathematischer Inhalte zur Lösung von Aufgaben führt zur Vernetzung<br />

von Aufgaben mit Modellen. Die dazu gehörige Relation lautet „ist eine<br />

Modellierung von“. So können algebraische Aufgaben durch Übersetzung in<br />

geometrische Modelle gelöst werden und umgekehrt. Als Beispiel für Modell-


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

vernetzungen führt Brinkmann u.a. Geometrisierung auf (vgl. Brinkmann<br />

2002).<br />

Um einerseits mehr Kohärenz mit dem Verständnis von Vernetzungen in der<br />

Fachwissenschaft herzustellen und andererseits den Vernetzungsbegriff für die<br />

Praxis des <strong>Mathematik</strong>unterrichts fassbarer zu machen, werden hier einige Modifikationen<br />

des Brinkmannschen Begriffs vorgenommen. Vernetzungen, die<br />

Brinkmann beschreibt, finden vor allem auf der Ebene des mathematischen<br />

Wissens statt. Die soziale Ebene des <strong>Mathematik</strong>lernens und somit Vernetzungen<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht wird nicht explizit angesprochen.<br />

Soziokulturelle Lerntheorien postulieren (Wenger 1991 zitiert in Rehrl, Gruber<br />

2007), dass Wissen nicht losgelöst von sozialen Austauschprozessen thematisiert<br />

werden kann. Als Konsequenz werden auch in der Pädagogik Modelle des<br />

Lernens und Wissensaustausches vorgeschlagen, die mit Hilfe von Graphentheorien<br />

modelliert und untersucht werden. Es werden aber auch Unterrichtmethoden<br />

vorgeschlagen, die für den Wissensaustausch förderlich sind. Eine solche<br />

Methode ist beispielsweise das Expertenpuzzle, das die im Folgenden durch die<br />

Verknüpfung mit den konkreten Unterrichtsinhalten des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

zur Kapitelübergreifenden Rückschau entwickelt wird.<br />

Somit geht es in diesem Artikel vor allem um die Verzahnung der epistemischen<br />

und sozialen Ebene der Vernetzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Auf der epistemischen<br />

Ebene werden Inhalte von verschiedenen Kapiteln als Knoten modelliert.<br />

Auf der sozialen Ebene erscheinen einzelne Schüler als Knoten. Beim Lösen<br />

und Formulieren von mathematischen Aufgaben in Gruppen sollten sowohl<br />

Inhalte wie auch Schüler miteinander in Beziehung gesetzt werden. Als Kanten<br />

auf der sozialen Ebene treten dabei etwa „eine Aufgabe gemeinsam gelöst“<br />

bzw. „eine Aufgabe gemeinsam formuliert“ auf. Dadurch wird das Ergebnis des<br />

In-Beziehung-Setzens als eine formulierte bzw. gelöste Aufgabe (und somit zu<br />

den Themen zugeordnete) konkretisiert. Andererseits drückt das Formulieren<br />

und das Lösen der Aufgabe den Prozesscharakter der Vernetzung der Schulmathematik<br />

aus. Es besteht Grund zur Annahme, dass diese Veranschaulichung<br />

sowohl die Kommunikation unter den Schülern deutlich erleichtert, als auch die<br />

Chancen für die Implementierung der Begrifflichkeiten für die Unterrichtspraxis<br />

erhöht.<br />

Die Kohärenz zur <strong>Mathematik</strong> als Wissenschaftsdisziplin entsteht bei dieser<br />

Begriffsbestimmung dadurch, dass <strong>Mathematik</strong>er durch Kante „gemeinsame<br />

Veröffentlichung“ auf der sozialen Ebene vernetzt werden, aber auch verschiedene<br />

Bereiche der <strong>Mathematik</strong> miteinander vernetzen.<br />

Um Unterrichtssituationen zu gestalten, die soziale Ebene der Vernetzung fördern,<br />

ist es sinnvoll nach Unterrichtsmethoden zu forschen, die verschiedenen<br />

Formen des kooperativen Lernens mit den konkreten mathematischen und ins-<br />

80


81<br />

Swetlana Nordheimer<br />

besondere geometrischen Inhalten verknüpfen. Eine solche Methode könnte die<br />

Kapitelübergreifende Rückschau sein.<br />

Kapitelübergreifende Rückschau<br />

Eine Kapitelübergreifende Rückschau stellt einerseits eine Möglichkeit dar, den<br />

Vernetzungsstand der Schüler zu diagnostizieren und andererseits Vernetzungen<br />

zu fördern. Dabei wird die Segmentierung des Unterrichtsstoffes und des mathematischen<br />

Wissens eines einzelnen Schülers in Stoffgebiete auf der epistemischen<br />

Ebene, als Segmentierung der Klasse in der ersten Phase des Expertenpuzzles<br />

des Expertentrainings fortgesetzt. Die ganze Lerngruppe wird in drei bis<br />

sechs Gruppen eingeteilt. Jede kleine Gruppe bekommt die Aufgabe, sich<br />

schwerpunktmäßig mit den Inhalten aus einem Kapitel zu beschäftigen. Daraufhin<br />

können die Schüler Unterschiede und Gemeinsamkeiten unter den Kapiteln<br />

des Schulbuchs sowie verbindende Leitideen und Leitbegriffe bzw. Themenstränge<br />

mit Hilfe einer inhaltsbezogenen Kompetenztabelle entdecken<br />

(Vollrath 2001). Diese entsteht durch die Abwandlung des Inhaltsverzeichnisses<br />

des Schulbuches bzw. Heftes, indem die Überschriften aus dem Lehrbuch und<br />

die Aufgabenbezeichnungen in eine Tabelle eingetragen werden. Somit kann<br />

durch Ankreuzen der entsprechenden Inhalte angegeben werden, welche inhaltsbezogene<br />

Kompetenzen sich mit der Aufgabe ansprechen lassen (siehe<br />

Abb. 4).<br />

Im Anschluss daran bekommen die Schüler eine Möglichkeit in den neuen<br />

Kleingruppen zusammenzuarbeiten und selbständig Themenkreise und Themenkomplexe<br />

(Vollrath 2001) zu entdecken und diese als kapitelübergreifende<br />

Aufgaben zu formulieren. Anknüpfend an die Konstruktion werden im Folgenden<br />

die einzelnen Phasen der Methode vorgestellt.<br />

Vorbereitung: Zum Anfang lösen Schüler im Klassenverband eine Einstiegsaufgabe.<br />

Diese deutet den gemeinsamen Kontext der ganzen Einheit an. Den Schülern<br />

werden entsprechend der Anzahl der Schulbuchkapitel des Schuljahres<br />

Initialaufgaben vorgestellt.<br />

Expertentraining: Jeder Schüler entscheidet sich für eine der Initialaufgaben.<br />

Alle Schüler mit der gleichen Aufgabe setzen sich in einer Gruppe zusammen,<br />

um diese gemeinsam zu lösen und die Präsentation der Aufgabe vorzubereiten.<br />

Daraufhin füllt jede Gruppe die an das Inhaltsverzeichnis des Schulbuches angelehnte<br />

Kompetenztabelle aus.<br />

Expertenrunde: Die Gruppen werden neu zusammengestellt. Jetzt treffen sich in<br />

einer Gruppe Experten von verschiedenen Initialaufgaben bzw. Schulbuchkapiteln.<br />

Ziel der Phase ist es, in der neuen Gruppe durch Variation von gelösten


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

Initialaufgaben mindestens eine kapitelübergreifende Aufgabe zu entwickeln,<br />

die Lösung aufzuschreiben und inhaltliche Bezüge der Aufgabe zu bestimmen.<br />

Plenum: Anschließend werden die selbst erstellten Aufgaben im Plenum der<br />

ganzen Klasse vorgestellt und gewürdigt.<br />

Erprobung Gesamtschule 2008<br />

Im <strong>Mathematik</strong>unterricht der Erprobungsklasse wurden im Schuljahr 2007/08<br />

GA- und FE-Kurse 7 sowie Schüler mit pädagogischem Förderbedarf gemeinsam<br />

unterrichtet. Als besondere Integrationsmaßnahme wurden nicht nur Integrationsschüler<br />

sondern alle GA - Schüler im <strong>Mathematik</strong>unterricht von der Integrationspädagogin<br />

unterstützt. Zwei Schüler der Klasse hatten den Förderschwerpunkt<br />

Lernen und zwei Schüler den Förderschwerpunkt Verhalten. U. a. ergaben<br />

sich daraus für die ganze Lerngruppe Konzentrations- und Motivationsschwierigkeiten.<br />

Etliche Schüler und eine Schülerin besuchten die Schule nur selten.<br />

Eine Schülerin war etwa nur einmal pro Monat im Unterricht anwesend. Aus<br />

dieser Perspektive erfährt das Problem der Vernetzung eine zusätzliche Färbung,<br />

denn einige Schüler begegneten den zu vernetzenden Themen bei der<br />

Erprobung der Methode zum ersten Mal.<br />

Abb.2: Lösungsfigur Abb. 3: Tangram-Tisch<br />

7 FEGA ist das Kürzel zur Bezeichnung der Leistungsdifferenzierung in den<br />

einzelnen Fächern. Es gibt einen leistungsschwächeren GA-Kurs und einen leistungsstärkeren<br />

FE-Kurs. Je nach Zeugnisnoten werden die Schüler Berliner Gesamtschulen dem<br />

einen oder anderen Kurs zugeordnet.<br />

82


83<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Ausgehend von den Lernvoraussetzungen war es nicht möglich, den Unterricht<br />

nach dem Lehrbuch zu gestalten. Der Stoff wurde thematisch strukturiert und in<br />

Kapitel gegliedert. So wurden die Überschriften an der Tafel angeschrieben und<br />

sorgfältig durchnummeriert, damit die Schüler diese in ihren Heften notieren<br />

konnten. Nur eine Schülerin hatte jedoch ein Heft mit dem Inhaltsverzeichnis,<br />

in dem sie alle Arbeitsblätter und Hausaufgaben aufbewahrt hatte.<br />

In Anlehnung an das Heft dieser Schülerin ist die Kompetenztabelle für die<br />

Erprobung der Methode in dieser Klasse entstanden. Auf Wunsch der Lehrerin<br />

sollten in der Tabelle jedoch nicht nur Kreuze, sondern Formeln und Schlüsselbegriffe<br />

für die entsprechenden Themen eingetragen werden und (siehe Abb. 4).<br />

Als Einstiegsaufgabe in der Vorbereitungsphase wurden die Schüler im<br />

Klassenverband aufgefordert, mit Hilfe von sieben Tangram-Steinen ein Quadrat<br />

zu legen. Die Lösungsfigur ist in Abbildung 2 dargestellt.<br />

Der ursprünglich für ein Gymnasium entwickelte Satz von Initialaufgaben wurde<br />

an die Lernausgangslage der Klasse angepasst und entstand durch die Absprache<br />

mit der <strong>Mathematik</strong>lehrerin.<br />

Aufgabe 1: Um einen Tangram-Tisch aus Holz zu bauen, wird die gesamte<br />

Tangram-Figur vergrößert. Dabei wird die längste Seite des großen Dreiecks um<br />

x cm größer. Das Spiel und der Tisch werden zu einem Quadrat zusammengesetzt.<br />

a) Beschreibe die Differenz zwischen dem Umfang des Spiels und dem des<br />

Tisches als Term.<br />

b) Beschreibe die Differenz zwischen dem Flächeninhalt des Spiels und dem<br />

des Tisches als Term.<br />

Aufgabe 2: Um einen Tangram-Tisch aus Holz zu bauen, wird die gesamte<br />

Tangram-Figur vergrößert. Wie ändert sich der Flächeninhalt der gesamten<br />

Lösungsfigur, wenn man die längste Seite des großen dreieckigen Steins um 0,5<br />

m, 1 m, 1,5 m, 2 m, 2,5 m und 3 m vergrößert? Wie ändert sich dabei der Umfang<br />

der gesamten quadratischen Lösungsfigur?<br />

Aufgabe 3: Auf dem Markt ist ein neues Magnet-Dartspiel, das genau wie ein<br />

quadratisches Tangram-Puzzle aussieht. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit ein<br />

Parallelogramm bzw. ein Dreieck zu treffen?<br />

Expertentraining: Jede der drei den entsprechenden Aufgaben zugeordneten<br />

Gruppen bestand aus maximal fünf Schülern. Bei der Einteilung ließ sich feststellen,<br />

dass diese nicht nach den Präferenzen für die Aufgaben, sondern durch<br />

Sympathien und Antipathien innerhalb der Gruppe bestimmt wurden. Vielleicht


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

erklärt sich dadurch, dass die Phase des Expertentrainings als Chance zum persönlichen<br />

Austausch und nicht zum Lösen von Aufgaben genutzt wurde. Die<br />

meisten Schüler fanden die Texte zu lang und waren nicht bereit, diese zu lesen.<br />

Erst auf dem Weg zur Tafel bzw. an der Tafel haben sie Lösungsansätze produziert,<br />

die gelegentlich sogar richtig waren.<br />

Die Phase endete mit einem Unterrichtsgespräch zum Ausfüllen der Tabelle.<br />

Gerade an dieser Stelle ließ sich an der Aufmerksamkeit, dem Meldeverhalten<br />

und der Qualität der Beiträge feststellen, dass diese Phase bei den Schülern sehr<br />

gut ankam. Besonders interessant war, dass auch Schüler mit dem Förderschwerpunkt<br />

Lernen die Aufgaben den Überschriften zuordnen konnten und ein<br />

relativ gutes Überblickswissen zeigten. Die Schüler waren in der Lage die Aufgaben<br />

mit den in den Überschriften vorkommenden Begriffen zu vernetzen.<br />

Somit wurden die innermathematischen Vernetzungen zwischen verschiedenen<br />

Themenbereichen im Unterricht rückblickend explizit angesprochen und verdeutlicht.<br />

Didaktische Prinzipien, mit denen man lange Zeit den Schwierigkeiten der lernschwächeren<br />

Schüler im <strong>Mathematik</strong>unterricht zu begegnen versuchte, waren<br />

das Vorgehen in kleinsten Schritten und ständiges mechanisierendes Wiederholen.<br />

Dies führt nach Zech (1995, 19f) zur systematischen Überforderung hinsichtlich<br />

der begrifflichen Verarbeitung und der Speicherung im Gedächtnis.<br />

Durch die ausführliche Auswertung der Tabelle anhand der Beispiele wurden<br />

die Schüler innerhalb einer Stunde mit verschiedenen Inhalten konfrontiert. Sie<br />

bekommen eine Möglichkeit rückblickend Zusammenhänge zwischen verschiedenen<br />

Inhalten zu erkennen. Somit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass<br />

auch schwächere Schüler Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Themen<br />

erkennen.<br />

Ein Aha-Erlebnis war für einige Schüler beispielsweise die Erkenntnis, dass<br />

Terme und <strong>Geometrie</strong> durch die Formeln zur Berechnung von Volumen und<br />

Flächeninhalt zusammenhängen. Diese Tatsache ist für einen <strong>Mathematik</strong>lehrer<br />

selbstverständlich, es stellt aber für die Schüler in dem Moment eine überraschende<br />

Erkenntnis dar, dass man die in der Vergangenheit behandelten mathematische<br />

Themen in der Tat in dem zukünftigen Unterricht gebrauchen kann.<br />

Expertenrunde: Aufgrund der in der Phase des Expertentrainings aufgetretenen<br />

Schwierigkeiten mit der auf <strong>Mathematik</strong> bezogenen Kommunikation und der<br />

Tatsache, dass viele Schüler häufig nicht im Unterricht anwesend waren, wurde<br />

die Aufgabenstellung in der Expertenrunde an die Ausgangsbedingungen angepasst.<br />

Die Schüler waren aufgefordert allein oder in der Gruppe eine Aufgabe zu<br />

einem Tangram-Stein und dem Thema Körperberechnung zu entwickeln. Denn<br />

nach dem Berliner Rahmenlehrplan vernetzt der mathematische Pflichtbereich<br />

für die Klassenstufen 7/8 algebraische und geometrische Inhalte miteinander.<br />

84


85<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Erschwert waren die Rahmenbedingungen dadurch, dass zur Zeit der Expertenrunde<br />

ein entscheidendes Spiel der Europameisterschaft in Fußball stattfand.<br />

Die Schüler waren von dem Ausgang des Spiels sehr bewegt und hatten ein<br />

starkes Bedürfnis, sich darüber im Unterricht auszutauschen. Trotzdem ist eine<br />

auf mathematische Inhalte bezogene Kommunikation in der Expertenrunde<br />

zustande gekommen.<br />

So lässt sich an den folgenden handschriftlichen Aufzeichnungen erkennen, dass<br />

die Schüler in der Tat zusammen gearbeitet haben.


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

Abb. 4: Kompetenztabelle<br />

86


Abb. 5: Schüleraufgabe<br />

87<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Die Aufgabenstellung der Aufgabe von Enrico und Steglitz (Abb. 5) besteht<br />

darin ein Netz und den Oberflächeninhalt eines dreieckigen Steins mit gegebenen<br />

Maßen zu berechnen. Mit dem „Dreieck“ meinen die Schüler hier ein Prisma<br />

mit dreieckiger Grundfläche.<br />

Andererseits sieht man, dass die Verwendung der Bezeichnungen „Dreieck“,<br />

„Quadrat“ und „Parallelogramm“ für Tangram-Steine, die für diese Aufgabe als<br />

geometrische Körper identifiziert werden müssen, die Schüler irritieren kann.<br />

Weitere Aufgaben, die von den Schülern entwickelt worden sind:<br />

Baran: Wie groß ist die Oberfläche des kleinen quadratischen Steins?<br />

Alperen und Burak: Berechne das Volumen des großen dreieckigen Steins!<br />

Enrico, Khodar, Stegliz und Elvis: Berechne die Oberfläche des großen dreieckigen<br />

Steins! Zeichne das Netz dazu.<br />

Gülay: Zeichne das Schrägbild des dreieckigen Prismas.<br />

Mohammad, Amani, Tobias, Falk: Berechne das Volumen des Prismas mit der<br />

Grundfläche, die die Form eines Parallelogramms hat.<br />

Die Schüler variieren in der Wahl der geometrischen Körper, der gesuchten<br />

Größe und der Fragestellung.


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

Plenum: Die von den Schülern entwickelten Aufgaben wurden von den jeweiligen<br />

Gruppen bzw. einzelnen Schülern richtig gelöst. In der letzten Doppelstunde<br />

bekam jeder Schüler die Möglichkeit, die eigenen Aufgaben und ihre Lösungen<br />

an der Tafel zu präsentieren. Obwohl zum Ende des Schuljahres die Noten<br />

nicht mehr geändert werden konnten, war jeder anwesende Schüler bestrebt die<br />

eigene Aufgabe samt der Lösung an der Tafel zu präsentieren, was unter den<br />

beschriebenen Bedingungen und Motivationsschwierigkeiten als Erfolg zu werten<br />

ist, denn auf diese Weise konnte den Verhaltens- und Motivationsschwierigkeiten<br />

der Schüler entgegengewirkt werden.<br />

Abb. 6: Unsere Aufgabe<br />

Abbildung 7: Meine Aufgabe<br />

88


89<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Die Fotos zeigen einige Schüler bei der Präsentation von Lösungen der selbst<br />

entwickelten Aufgaben. Gemeinsame Arbeit und Präsentation vernetzten nicht<br />

nur Terme und geometrische Skizzen, sondern auch Schüler miteinander.<br />

Es zeigte sich, dass die ursprünglich für das Gymnasium entwickelte Methode<br />

mit Modifikationen an der integrierten Gesamtschule umgesetzt werden konnte.<br />

Es wäre zu überlegen, wie die Schüler schon in der Phase des Expertentrainings<br />

motiviert werden können, über Initialaufgaben zu kommunizieren. Eine Alternative<br />

könnte in dem Anbieten der enaktiven Ebene zur Lösung der Initialaufgaben<br />

bestehen.<br />

Erprobung Gesamtschule 2009<br />

In dem darauf folgenden Jahr wurden die GA- und FE-Kurse getrennt, so dass<br />

leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler nicht mehr gemeinsam unterrichtet<br />

wurden. Darüber hinaus haben einige Schüler die Schule verlassen. Der<br />

GA-Kurs, in dem die Kapitelübergreifende Rückschau noch einmal erprobt<br />

wurde, bestand aus sieben Schülern, darunter zwei Schüler mit dem Förderschwerpunkt<br />

Lernen und ein Schüler, der letztes Jahr aus dem Integrationsstatus<br />

mit dem Schwerpunkt Verhalten entlassen wurde. Aufgrund des Betriebspraktikums<br />

standen für die Erprobung nur drei Unterrichtstunden zur Verfügung.<br />

Auch in diesem Jahr wurde der ursprünglich für die Gymnasien entwickelte<br />

Satz der Initialaufgaben an die Lerngruppe angepasst, indem die Anzahl<br />

der Aufgaben von sechs auf drei reduziert wurde. Die Formulierungen der Aufgaben<br />

wurden gekürzt und die Anzahl der Stufen in dem Pythagoras-Baum<br />

reduziert. Im Hinblick auf die oben erwähnte Bedeutung des Beweises wurde<br />

auch im GA-Kurs die Beweisfigur für den symmetrischen Spezialfall des Satzes<br />

des Pythagoras als verbindendes Medium gewählt.<br />

Vorbereitung: In der Einstiegsaufgabe wurden die Schüler zunächst aufgefordert<br />

die Beweisfigur zu zeichnen und eigene Gedanken dazu aufzuschreiben<br />

(siehe Ruf, Gallin 1999, Plackner 2010). Somit wurden Elemente des Beweisens<br />

an den Anfang der wiederholenden Vernetzung gesetzt. In der 20-minütigen<br />

Einzelarbeit und dem anschließendem auswertenden Unterrichtsgespräch ist es<br />

den Schülern gelungen mit Hilfestellungen der Lehrerin und der Integrationspädagogin<br />

die Figur zu zeichnen und sich an folgende Fakten zu erinnern:


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

• Die Innenwinkelsumme im Dreieck ist gleich 180°.<br />

• Basiswinkel in einem gleichschenkligen Dreieck sind gleich.<br />

• Satz des Pythagoras (wobei die Bezeichnungen der Seiten variabel sind)<br />

• Die Winkel in dem konkreten Fall betragen 90° und 45°.<br />

• In der Figur lassen sich zwei Trapeze erkennen.<br />

• Trapez ist ein Viereck mit mindestens zwei parallelen Seiten.<br />

• Es gilt der Höhensatz (Die Schüler wussten nicht mehr wie er zu formulieren<br />

ist.)<br />

• Man kann den Umfang und den Flächeninhalt der Figur berechnen.<br />

Dadurch wurden ausgehend von dem Satz des Pythagoras verschiedene Inhalte<br />

der <strong>Geometrie</strong> miteinander vernetzt und mit Hilfe der Lehrerin wiederholt.<br />

Expertentraining: Die nächste Stunde wurde zum Lösen der Initialaufgaben<br />

verwendet, wobei die ganze Lerngruppe in drei Gruppen eingeteilt war. Ein<br />

Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen konnte sich in keine der Gruppen<br />

einordnen. Nach seinem Wunsch hat er in dieser Zeit individuelle Förderung<br />

von der Integrationspädagogin bekommen. Die Einteilung der Gruppen und<br />

Zuordnung der Aufgaben erfolgte durch die <strong>Mathematik</strong>lehrerin. Die Gruppen,<br />

denen die Aufgaben 2 und 3 zugeordnet waren, konnten die Aufgaben während<br />

der Stunde selbständig unter Zuhilfenahme von Lehrbüchern und ihren Aufzeichnungen<br />

aus dem Unterricht bearbeiten und stellten einige wenige Fragen<br />

an die Lernperson. Diese war im Wesentlichen damit beschäftigt die Gruppe mit<br />

der Aufgabe 1 zu unterstützen. Offensichtlich war die Aufgabe für die Schüler<br />

des GA-Kurses zu schwer. Es fiel ihnen schwer den Zusammenhang zwischen<br />

den Flächeninhalten von Dreiecken und Quadraten und den Termen wie<br />

a 2<br />

4 oder a 2 zu sehen. Demzufolge konnten sie nicht selbständig einen Term<br />

für den gesamten Flächeninhalt der Beweisfigur finden. Auch beim Lösen der<br />

quadratischen Gleichung brauchten sie eine Unterstützung der Lehrerin, selbst<br />

wenn sie die Formeln auswendig konnten. Somit zeigte sich erneut, dass die<br />

Vernetzungen zwischen den geometrischen Figuren und ihren Beschreibungen<br />

mit Termen für die leistungsschwächeren Schüler eine Herausforderung darstellt.<br />

Selbständige Übersetzung von geometrischen Fragestellungen in die<br />

Sprache der Algebra markiert vermutlich den Übergang zwischen den Anforderungsbereichen<br />

(in dem Fall zwischen den Schülern der GA- und FE-Kurse).<br />

Was nicht heißt, dass diese Art von Vernetzung auf dem Niveau überhaupt nicht<br />

thematisiert werden kann. Mit Unterstützung der Lehrkraft können auch diese<br />

Schüler Einblicke in die Thematik gewinnen.<br />

90


Abb.8: Arbeitsblatt<br />

91<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Die Gruppe, die sich mit der Ähnlichkeit beschäftigt hatte, erweiterte die Figur<br />

um eine weitere Stufe, wobei die von den Schülern gezeichneten Quadrate eher<br />

nicht-quadratischen Rechtecken ähnelten. Die Schwierigkeiten ergaben sich


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

vermutlich aus der ungewöhnlichen Position der Quadrate, dessen Seiten nicht<br />

wie es oft der Fall ist, parallel zu den Seitenrändern des karierten Blattes waren<br />

(siehe Lambert 2006). Die Schüler produzierten eine Reihe von Vermutungen<br />

und hatten sie mit Hilfe des Lehrbuchs fortgesetzt. Eine Vermutung lautete, dass<br />

alle Quadrate ähnlich sind. Es wurde vermutet, dass Quadrate mit halb so langen<br />

Seiten auch halb so kleine Winkel haben müssen. Dementsprechend sollten die<br />

Winkel der Quadrate in der zweiten Stufe kleiner sein. Die Zeichnung widersprach<br />

der Vermutung. Um das Problem zu lösen wandten sich die Schüler dem<br />

Lehrbuch zu. Demnach sollten ähnliche Figuren in allen Winkeln übereinstimmen.<br />

Das führte zu der nächsten Vermutung: Alle rechtwinkligen Dreiecke sind<br />

ähnlich. Diese Hypothese traf für den Spezialfall zu. Daraufhin haben die Schüler<br />

von der Lehrerin als Gegenbeispiel zwei rechtwinklige nicht-ähnliche Dreiecke<br />

bekommen und mussten wieder im Buch nachschlagen. Abgeschlossen<br />

wurde die Untersuchung mit dem schriftlichen Festhalten der Ähnlichkeitsmerkmale<br />

für Dreiecke und farbigen Markieren der ähnlichen Figuren.<br />

Die Gruppe, die sich mit der Stochastik befasste, wandte sich dem Hefter zu und<br />

konnte selbständig die Aufgabe bearbeiten. Die Konstruktion der dritten Aufgabe<br />

bezieht sich auf die Empfehlungen in dem Berliner Rahmenlehrplan zu dem<br />

Pflichtbereich Längen und Flächen bestimmen und berechnen (P2-9/10). Den<br />

nach der Beschreibung dieses Pflichtbereiches werden zusätzlich zu den algebraischen<br />

Vernetzungen Bezüge zu den stochastischen Pflichtbereichen Mit dem<br />

Zufall rechnen (P8-7/8) und Mit Wahrscheinlichkeiten rechnen (P8-9/10) vorgeschlagen.<br />

Ausgehend von den Schätzungen des Flächeninhalts wurden von<br />

den beiden Schülern dabei die Begriffe wiederholt und am Beispiel der Stichproben<br />

mit und ohne Einbeziehung des Lehrers veranschaulicht. Die Berechnung<br />

des gesamten Flächeninhaltes der Beweisfigur wurde nur am Rande angesprochen,<br />

auch die Interpretation der einzelnen Werte kam zu kurz.<br />

Die Erfahrungen mit den letzten beiden Gruppen zeigt, dass auch schwächere<br />

Schüler in der Lage sind, selbständig Vernetzungen innerhalb von abgegrenzten<br />

Gebieten mit Hilfe des Lehrbuchs herzustellen.<br />

Plenum: In den nächsten Stunden wurden die Lösungen der Initialaufgaben von<br />

den Schülern vorgetragen, besprochen sowie inhaltsbezogene Kompetenztabelle<br />

(ähnlich aufgebaut wie in der Erprobung des Vorjahres) ausgefüllt. Interessant<br />

ist, dass einige Schüler die Tabelle unaufgefordert bereits während der Auswertung<br />

ausfüllten. Somit erhielten die Schüler die Möglichkeit die Inhalte rückblickend<br />

miteinander zu vernetzen, indem sie ihren Mitschülern aufmerksam zuhörten.<br />

92


Zusammenfassung<br />

93<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Aus dem Vergleich der vorliegenden Erprobungen lässt sich feststellen, dass die<br />

Vorbereitungsphase in beiden Fällen erfolgreich verlaufen ist. Besonderes beim<br />

ersten Mal konnten die Schüler durch ein enaktives Medium adäquat angesprochen<br />

werden. Die Suche nach weiteren enaktive Medien als Ausgangspunkt für<br />

die Vernetzung von Unterrichtsinhalten wäre somit eine wichtige Aufgabe für<br />

weitere Untersuchungen. Bei der zweiten Erprobung wurde eine Zeichnung und<br />

ein Spezialfall eines Beweises als verbindendes Element gewählt. Es wäre von<br />

Vorteil die Beweisfigur auch auf der enaktiven Ebene zugänglich zu machen<br />

und ggf. den Schülern auch rückblickend eine Möglichkeit zu geben die Beweisfigur<br />

zu zerschneiden und zu kombinieren. Somit könnte eventuell der<br />

Übergang zu der symbolischen Ebene erleichtert werden. Darüber hinaus kann<br />

festgehalten werden, dass Elemente der Beweise oder Beweise von Spezialfällen<br />

auch im Unterricht mit den schwächeren Schülern einen Beitrag zu Entstehung<br />

von innermathematischen Vernetzungen leisten könnte.<br />

Die innermathematisch formulierten Aufgaben für das Expertentraining der<br />

zweiten Erprobung enthielten weniger Text. Somit waren diese für die Schüler<br />

motivierender als die aus der ersten Erprobung. Reduktion der Realitätsbezüge<br />

der Aufgaben bei der zweiten Erprobung zeigte keine negative Auswirkungen<br />

auf die Motivation der Schüler. Die Auswertung der Aufgaben, mit Hilfe der<br />

anhand des Inhaltsverzeichnisses erstellten Tabelle, hat sich in beiden Fällen für<br />

die meisten Schüler als fruchtbar erwiesen und trug, wie das Meldeverhalten<br />

zeigte, zur Entstehung von innermathematischen Vernetzungen einiger Schüler<br />

bei.<br />

Durch die selbständige Erstellung der Aufgaben bei der ersten Erprobung waren<br />

die Schüler auch in der Plenumsphase viel motivierter als bei der zweiten Erprobung,<br />

in der nur vorgegebene Aufgaben vorgestellt werden sollten. Es fiel<br />

der Lehrerin jedoch schwer den Schülern das Erstellen der Aufgaben bei dem<br />

begrenzten Zeitrahmen zuzutrauen.<br />

Disziplin- und Anwesenheitsprobleme stellen an Gesamtschulen manchmal<br />

einen Faktor dar, der Vernetzungen eher verhindert als fördert. Sind Schüler<br />

körperlich oder geistig nicht im Unterricht anwesend, so entstehen große Wissenslücken.<br />

Mit der Kapitelübergreifenden Rückschau können diese vermindert,<br />

jedoch nicht ausgeschlossen werden. Das Zutrauen, größere Stoffgebiete gemeinsam<br />

zu überblicken, sowie die Verlagerung der Verantwortung für die<br />

Konstruktion der Vernetzungen in die Schülergruppen, steigern deutlich die<br />

Motivation, gemeinsam nach Zusammenhängen in der <strong>Mathematik</strong> zu suchen.<br />

Während beim Bearbeiten der vorgegebenen Aufgaben der passive Wortschatz<br />

des Schülers berücksichtigt wird, kann beim Erstellen von eigenen Aufgaben


Vernetzen mit <strong>Geometrie</strong> als Basiskompetenz<br />

der aktive Wortschatz gefördert werden. Hierin besteht eine Analogie zum<br />

Sprachenlernen. Somit werden Schüler hinsichtlich der Fähigkeit gefördert,<br />

Vernetzungen in der mathematischen Fachsprache zu beschreiben. Dadurch<br />

lassen sich indirekt auch Modellierungsfähigkeiten verbessern.<br />

Als Kritik muss hinzugefügt werden, dass es sich schon bei der Erstellung von<br />

Initialaufgaben bemerkbar machte, dass es nicht einfach ist, Kontexte zu finden,<br />

die verschiedene Kapitel des Schulbuchs auf eine natürliche Weise miteinander<br />

verknüpfen. Vor allem beim Vernetzen von <strong>Geometrie</strong> und Stochastik macht<br />

sich diese Schwierigkeit besonderes deutlich bemerkbar (siehe den Satz der<br />

Initialaufgaben). Insofern gewinnen im Rahmen des Projektunterrichts (Ludwig<br />

1998, Wörler 2010, Rupprecht 2010) thematisierte natürliche Kontexte für mathematische<br />

Vernetzungen eine besondere Bedeutung. Aufgrund des angestrebten<br />

Realitätsbezugs gehört Projektunterricht nicht zum Alltags-, sondern zu<br />

einem Alternativprogramm des <strong>Mathematik</strong>unterrichts auf den allgemeinbildenden<br />

Schulen. Deshalb ist nach weiteren Unterrichtsmethoden zu suchen, die<br />

auch im Rahmen des in Stunden und Kapiteln gegliederten Alltagsunterrichts,<br />

den Schülern Möglichkeiten bieten Inhalte künstlich oder natürlich zu vernetzen.<br />

Somit könnte die innermathematische Vernetzung von mathematischen<br />

Inhalten durch geometrische Einkleidung von stochastischen und algebraischen<br />

Inhalten der Schulmathematik zur Förderung von mathematischen Basiskompetenzen<br />

beitragen.<br />

Die Rückschau hatte den Schülern bewusst gemacht, wie viel sie im vergangenen<br />

Schuljahr gelernt haben und wie viel davon noch in Erinnerung geblieben<br />

ist. Das war für das Lernen der <strong>Mathematik</strong> eine wichtige positive Verstärkung.<br />

Berücksichtigt man die Lern- und Motivationsschwierigkeiten der Erprobungsklasse,<br />

so besteht Grund zur Annahme, dass die empfohlene Unterrichtsmethode<br />

im Zusammenhang mit anderen Ausgangsbedingungen der Schüler, anspruchsvollere<br />

Ergebnisse liefern könnte. Deshalb erscheint es vorteilhaft sich mit der<br />

Ausarbeitung von weiteren konkreten Unterrichtsbeispielen einschließlich der<br />

Aufgaben und Modifikation der Methode der Kapitelübergreifenden Rückschau<br />

zu beschäftigen.<br />

Literatur<br />

Baptist, P., Winter, H. (2001). Überlegungen zur Weiterentwicklung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

in der Oberstufe des Gymnasiums. In: H.-E. Tenorth (Hrsg.), Kerncurriculum<br />

Oberstufe. <strong>Mathematik</strong> – Deutsch – Englisch. Basel: Belz. S.54-77<br />

Baumert, J., Klieme, E. (2001). TIMMS – Impulse für Schule und Unterricht. For<br />

schungsbefunde, Reforminitiativen. Praxisberichte. Videodokumete. Bundesministerium<br />

für Bildung und Forschung (BMBF).<br />

Bauer, L. A. (1988). <strong>Mathematik</strong> und Subjekt. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag<br />

94


95<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport. Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe<br />

I. Jahrgangsstufe 7-10. Hauptschule. Realschule. Gesamtschule. Gymnasium.<br />

<strong>Mathematik</strong>.<br />

Brinkmann, A. (2002 und 2008). Über Vernetzungen im <strong>Mathematik</strong>unterricht – eine<br />

Untersuchung zu linearen Gleichungssystemen in der Sekundarstufe I. Duisburger<br />

elektronische Texte, 2002.<br />

http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-<br />

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Saarbrücken: VDM Verlag, 2008.<br />

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96


Die Weißblatterhebung – ein Instrument zur Erhebung des<br />

Vorwissens von Kindern zu geometrischen Begriffen in der<br />

Grundschule<br />

Eva-Maria Plackner<br />

Zusammenfassung. Das Erkennen, Benennen und Darstellen geometrischer Figuren ist<br />

eine der wesentlichen geometrischen Kompetenzen, mit deren Erwerb bereits in der<br />

Grundschule begonnen wird. Die von den Kindern bei der Begriffsbildung durchlaufenen<br />

Zwischenphasen können beispielsweise durch Standortbestimmungen erhoben werden.<br />

Als innovative Methode wurde die Weißblatterhebung erprobt. Ergebnisse dieser Erprobung<br />

sind viel versprechend.<br />

Einleitung<br />

Spätestens seit der Aufnahme geometrischer Inhalte in Rahmenpläne und Richtlinien<br />

der Grundschule in den 1970er Jahren ist es ist unbestritten, dass bereits<br />

in der Grundschule nicht nur Rechenunterricht, sondern <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

mitsamt geometrischen Inhalten erteilt wird. Die Konzeption dieses Unterrichts<br />

sollte nach Franke (2000) kein enger, zeitlich vorgegebener Stoffplan sein, sondern<br />

vielmehr Kernideen (Grundideen) ausweisen, die im Sinne des Spiralcurriculums<br />

über alle vier Grundschulklassen und auch darüber hinaus durch treffende<br />

Unterrichtsbeispiele verwirklicht werden könnten.<br />

Geometrische Kernideen Grundschule<br />

Ein solches Konzept zur Curriculumskonstruktion, das im Projekt „mathe 2000“<br />

konkretisiert wurde, entwickelte WITTMANN, wobei er sich wesentlich auf folgende<br />

sieben Grundideen (auch „fundamentale Ideen“) der Elementargeometrie<br />

stützt (vgl. Wittmann, 1999):<br />

Geometrische Formen und ihre Konstruktion: Geometrische Figuren und Körper<br />

können auf unterschiedliche Weise erzeugt bzw. hergestellt und definiert<br />

werden. Durch ihre jeweilige Konstruktion werden ihnen Eigenschaften aufgeprägt<br />

(beispielsweise Erzeugung eines Würfels durch Zusammensetzung von<br />

Plackner, E.-M. (2010). Die Weißblatterhebung – ein Instrument zur Erhebung<br />

des Vorwissens von Kindern zu geometrischen begriffen in der Grundschule. In:<br />

Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>,<br />

Hildesheim: Franzbecker, S.97-108


Die Weißblatterhebung<br />

sechs Quadraten). Durch Zusammensetzung einfacher Grundformen können<br />

komplexere Konfigurationen gewonnen werden.<br />

Operationen mit Formen: Geometrische Figuren und Körper können verlagert,<br />

verkleinert oder vergrößert, auf eine Ebene projiziert, geschert, gestaucht oder<br />

gedehnt, verzerrt, in Teile zerlegt oder zu komplexeren Gebilden zusammengesetzt<br />

werden. Von besonderem Interesse dabei ist es, herauszufinden, welche<br />

neuen Beziehungen entstehen und welche Eigenschaften bei den Operationen<br />

erhalten bleiben oder sich in gesetzmäßiger Weise verändern.<br />

Koordinaten: Koordinatensystemen können verwendet werden, um die Lage<br />

von Punkten auf Linien, Flächen und im Raum mit Hilfe von Zahlen zu beschreiben.<br />

Maße: Längen, Flächen- und Rauminhalte können nach Vorgabe von Maßeinheiten<br />

gemessen werden.<br />

Muster: Geometrische Formen und ihre Maße können so in Beziehung gesetzt<br />

werden, dass geometrische Muster und Strukturen entstehen. Bereits auf inhaltlich-anschaulichem<br />

Niveau können diese Muster und Strukturen sauber begründet<br />

werden.<br />

Formen in der Umwelt: Reale Gegenstände, Operationen an und mit diesen und<br />

Beziehungen zwischen ihnen können mit Hilfe geometrischer Begriffe beschrieben<br />

werden (z.B. Erde als (angenäherte) Kugel). Des Weiteren werden<br />

durch technische Verfahren geometrische Formen hergestellt, die wiederum<br />

bestimmten Zwecken genügen (z.B. Kugellager).<br />

Geometrisierung: Sowohl raumgeometrische Sachverhalte als auch Zahlbeziehungen<br />

und abstrakte Beziehungen können in die Sprache der <strong>Geometrie</strong> übersetzt<br />

und geometrisch bearbeitet werden.<br />

Ein alternatives Verständnis von Kernideen findet sich bei GALLIN und RUF, in<br />

deren Konzept nicht die <strong>Mathematik</strong> oder ihre Verbindung zum alltäglichen<br />

Denken im Mittelpunkt steht, sondern eher die subjektiven Zugänge der Kinder<br />

als Ausgangspunkt dienen. Im Rahmen des Projekts „Lernen auf eigenen Wegen“<br />

stellte sich beispielsweise die Frage, wie die Kinder die abstrakten Flächenmaße<br />

mit persönlichen Erlebnissen in Verbindung bringen können. Kernideen<br />

in diesem Verständnis dienen als Instrument, mit denen eine Verbindung<br />

zwischen den Fragen der Lernenden und den Antworten des Fachgebietes hergestellt<br />

werden kann. Für das Thema der Flächenberechnung wurde die wirksame<br />

Kernidee „Platz haben und Platz brauchen“ generiert. Ausgangspunkt für<br />

einen individualisierenden Unterricht war somit die Fragestellung, wie groß die<br />

Fläche sein muss, damit sich ein Mensch an verschiedenen Orten, wie am Arbeitsplatz,<br />

im Restaurant, im Bus oder im Wohnzimmer, wohl fühlt (vgl.<br />

GALLIN/RUF 1998).<br />

98


99<br />

Eva-Maria Plackner<br />

Geometrische Kompetenzen in den Bildungsstandards für die Grundschule<br />

Die Ausrichtung an mathematischen Leitideen findet sich auch wieder in den<br />

bundesweit einheitlichen Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz für<br />

<strong>Mathematik</strong> für den Primarbereich, die zu Beginn des Schuljahres 2005/2006<br />

verbindlich eingeführt wurden. Es werden darin, orientiert an einer Idee von<br />

mathematischer Grundbildung, mathematische Kompetenzen beschrieben, die<br />

von den Kindern am Ende des vierten Schuljahres in der Regel erreicht werden<br />

sollen. In enger Verbindung mit den allgemeinen mathematischen Kompetenzen<br />

(Problemlösen, Kommunizieren, Argumentieren, Modellieren und Darstellen)<br />

stehen die inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzen, die sich auf fünf<br />

mathematische Leitideen beziehen (Zahlen und Operationen; Raum und Form;<br />

Muster und Strukturen; Größen und Messen; Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit).<br />

In den weiteren Ausführungen der Kompetenzen zur geometrischen Leitidee<br />

Raum und Form lassen sich Bezüge zu den oben dargestellten fundamentalen<br />

Ideen der <strong>Geometrie</strong> von Wittmann erkennen: sich im Raum orientieren; geometrische<br />

Figuren erkennen, benennen und darstellen; einfache geometrische<br />

Abbildungen erkennen, benennen und darstellen; Flächen und Rauminhalte<br />

vergleichen und messen (vgl. KMK, 2004).<br />

Hinter der Teilkompetenz geometrische Figuren erkennen, benennen und darstellen<br />

verbergen sich viele wesentliche Inhaltsbereiche des <strong>Geometrie</strong>unterrichts<br />

an Grundschulen. Es sind damit nicht nur ebene Figuren sondern auch<br />

räumliche Körper gemeint. Aus den in den Bildungsstandards ausgewiesenen<br />

Beispielen lässt sich die Forderung ableiten, dass die gefragten geometrischen<br />

Figuren nicht allein zu benennen und darzustellen sind. Es soll mit ihnen auch<br />

operiert werden und es sollen Zusammenhänge zwischen den Formen gefunden<br />

werden. Darüber hinaus soll nach ihrer Funktionalität gefragt werden. Dadurch<br />

wird sowohl über die Zweckmäßigkeit geometrischer Formen kommuniziert als<br />

auch argumentiert, warum einzelne Formen zweckmäßiger sind als andere.<br />

Dabei werden die geometrischen Eigenschaften umgangssprachlich beschrieben<br />

(vgl. Walther U.A., 2007, S. 124 f.).<br />

Begriffsbildung im <strong>Geometrie</strong>unterricht der Grundschule<br />

Begriffsbildung spielt in der <strong>Mathematik</strong> und auch im <strong>Geometrie</strong>unterricht eine<br />

große Rolle. In der Grundschule stehen dabei weniger Definitionen im Mittelpunkt,<br />

als vielmehr der Einbezug der Alltagserfahrungen der Kinder und eine<br />

umgangssprachliche oder auch zeichnerische Beschreibung der Begriffe. Dieses<br />

Einbeziehen der Umgangssprache zur Beschreibung geometrischer Begriffe ist


Die Weißblatterhebung<br />

legitim und ermöglicht es den Kindern, diese neuen Begriffe in bereits bestehende<br />

semantische Netze einzubinden und neue Wissensinhalte in Beziehung zu<br />

ihrem bisherigen Wissen zu speichern. So entwickeln die Kinder im Laufe der<br />

Zeit ihr Begriffssystem, indem sie durch vielfältige Aktivitäten, die sprachlich<br />

begleitet werden, weitere Erfahrungen sammeln. In den dabei durchlaufenen<br />

Zwischenphasen ist es möglich, eigene Bezeichnungen, die Assoziationen hervorrufen,<br />

zu verwenden, Vergleichsobjekte heranzuziehen oder auch Merkmale<br />

zu nennen, die für die Begriffsbildung nicht notwendig sind. Franke beschreibt<br />

dazu, wie einige Kinder ein Quadrat zunächst als Viereck mit vier Seiten beschreiben:<br />

„Wenn sie dann später erkennen, dass diese Seiten gleichlang, gegenüberliegende<br />

Seiten parallel und benachbarte Seiten senkrecht zueinander sind,<br />

ist der Begriff zwar überbestimmt, aber treffend beschrieben. So kann bei der<br />

Begriffsbildung in einem Zwischenstadium richtig sein, was später als unzulänglich<br />

erkannt wird.“ (Franke 2000, S. 83)<br />

Dieser beschriebene Verlauf der Begriffsbildung deckt sich auch weitgehend<br />

mit den von Vollrath beschriebenen Stufen des Begriffslernens, nach denen der<br />

Begriff zunächst als Phänomen erfasst wird, bevor der Begriff dann als Träger<br />

von Eigenschaften erkannt wird und schließlich zu einem Teil eines Beziehungsgefüges<br />

wird (vgl. Vollrath 1984, S. 111f.). Diese Entwicklung des Begriffssystems<br />

vollzieht sich nicht in stufig abgeschlossenen Stufen, sondern eher<br />

im Sinne einer kontinuierlichen Horizonterweiterung, die sich für die einzelnen<br />

Lernenden individuell unterschiedlich gestaltet. Die von den Kindern bei einer<br />

Begriffsbildung durchlaufenen Zwischenphasen können auf unterschiedliche<br />

Weisen erfasst werden. Einer der aktuellen Ansätze Lernstandserfassung in der<br />

<strong>Mathematik</strong>didaktik der Grundschule ist die so genannte Standortbestimmung.<br />

Die Methode der Standortbestimmung<br />

Standortbestimmungen sind eine Methode zur fokussierten Ermittlung von individuellen<br />

Lernständen. Eingesetzt werden sie dafür an zentralen Punkten im<br />

Lehr-/Lernprozess. Am Anfang einer längeren Sequenz zu einem Rahmenthema<br />

(z.B. der Orientierung im Zahlenraum bis 100 oder der Multiplikation großer<br />

Zahlen) kann durch eine Standortbestimmung das Vorwissen der Kinder ermittelt<br />

werden. Führt man sie am Ende einer solchen Sequenz durch, so sind die<br />

gewonnen Informationen vergleichbar mit denen bei einer klassischen Leistungsüberprüfung.<br />

Am seltensten werden Standortbestimmungen während einer<br />

Sequenz eingesetzt, wobei dieser Zeitpunkt für die Lernbegleitung der einzelnen<br />

Kinder besonders fruchtbar wäre.<br />

Eine Problematik der Praxis ist, dass Lehrpersonen die Standortbestimmungen<br />

mit Klassenarbeiten oder Tests usw. gleichsetzen. Diese traditionell bekannten<br />

100


101<br />

Eva-Maria Plackner<br />

Leistungsüberprüfungen dienen dazu, am Ende einer Unterrichtssequenz die<br />

Leistungen zu werten und eine Note zu vergeben. Im Gegensatz dazu erfüllen<br />

die Standortbestimmungen eine Doppelfunktion.<br />

• Die primäre Zielsetzung beim Einsatz von Standortbestimmungen für Lehrkräfte<br />

ist das Gewinnen von strukturierten Informationen über die Kompetenzen<br />

und auch Defizite der Kinder in der eigenen Klasse. Diese Informationen<br />

können dann gezielt als Planungshilfe für den nachfolgenden Unterricht<br />

genutzt werden. Zudem können sie die Grundlage für individuelle<br />

Förderungsmaßnahmen sein.<br />

• Die zweite Funktion, die Standortbestimmungen erfüllen und deren Bedeutung<br />

nicht zu gering eingeschätzt werden darf, ist, dass auch die Kinder<br />

selbst in zunehmendem Maße Transparenz über ihr eigenes Lernen, ihren<br />

Sachstand und über die neuen Inhalte erhalten. Sie erhalten Einblick in das,<br />

was gerade im Unterricht wichtig ist oder wird und wie gut sie persönlich<br />

mit diesen gestellten Anforderungen umgehen können.<br />

Um in einer Standortbestimmung tatsächlich strukturierte Informationen über<br />

die Kompetenzen und Defizite der Kinder zu erhalten, müssen bei der Konzeption<br />

der Standortbestimmung strukturierte Vorüberlegungen zum Aufbau derselben<br />

stattfinden. Üblicherweise geht es dabei um Überlegungen, wie genau<br />

welche Teilfähigkeiten erhoben werden sollen, in welcher Reihenfolge dies am<br />

sinnvollsten geschieht, welche Aufgaben dafür geeignet sind etc. (vgl. Sundermann/Selter,<br />

2006).<br />

Aus den strukturierten Vorüberlegungen geht im Extremfall eine ganze Reihe an<br />

einzelnen, meist eng gefassten und eher geschlossenen Teilaufgaben hervor, die<br />

ähnlich wie einzelne Testitems auf unterschiedliche Teilkompetenzen abzielen<br />

und diese einzeln abprüfen sollen. Die in einer Standortbestimmung verwendeten<br />

Aufgabenstellungen können selbstverständlich auch einen größeren Grad an<br />

Offenheit aufweisen. In den von Selter beschriebenen Aufgabendimensionen<br />

findet sich neben dem Kriterium der Offenheit von Aufgabenstellungen auch<br />

das Kriterium der Informativität der Aufgaben und das des Prozessbezugs. Mithilfe<br />

dieser drei Kriterien können Aufgabenstellungen analysiert und kategorisiert<br />

werden, wobei alle drei Dimensionen in unterschiedlicher Ausprägung<br />

miteinander in einer Aufgabe kombiniert sein können. Bei einem Großteil der<br />

Aufgaben, die traditionell zur Erfassung des Lernstandes eingesetzt werden,<br />

handelt es sich aber um Aufgaben bei denen es ein eindeutiges Ergebnis zu<br />

finden gilt (niedriger Grad an Informativität), der Lösungsweg kaum von Bedeutung<br />

ist (niedriger Grad der Offenheit) und es stärker darum geht, Wissen<br />

und Fertigkeiten abzuprüfen als prozessbezogene Kompetenzen, wie das Entdecken<br />

oder das Darstellen (niedriger Grad des Prozessbezugs).


Die Weißblatterhebung<br />

Das im Folgenden benutzte Instrument zur Standortbestimmung, die Weißblatterhebung,<br />

ist eine hochgradig offene Form der schriftlichen Befragung. Den<br />

Befragten wird nur ein einzelner Begriff oder auch ein Begriffspaar (z.B. „Quader“<br />

oder „Würfel und Quader“) verbunden mit der Aufforderung, alles auf<br />

einem leeren Blatt zu notieren, was man zu diesem Begriff (oder Begriffspaar)<br />

weiß, vorgegeben.<br />

Ausgangshypothesen und methodische Überlegungen<br />

Durch die offene und weit gefasste Fragestellung wird das Denken deutlich<br />

weniger eingeschränkt, als durch eine Vielzahl von enger gefassten Teilfragen,<br />

die einzelne Begriffsaspekte abfragen. Es ist zu vermuten, dass durch die Fragestellung<br />

keine Antworten suggeriert werden. Es ist außerdem anzunehmen, dass<br />

die Kinderlösungen hohe Informativität gewährleisten. Neben dem reinen Wiedergeben<br />

von Kenntnissen und Fertigkeiten werden auch prozessbezogene<br />

Kompetenzen wie das Darstellen, Beschreiben und Argumentieren implizit<br />

eingefordert.<br />

Im Vorfeld der Untersuchung stellte sich bereits die Frage, ob und inwieweit<br />

methodische Parametervariationen einen Einfluss auf die Antworten der Kinder<br />

haben.<br />

Auch wenn der Name der Weißblatterhebung möglicherweise die Verwendung<br />

einer bestimmten Papiersorte impliziert, sind doch auch Variationen dieses<br />

„weißen Blattes“ vorstellbar. So ist der Einsatz eines wirklich weißen und völlig<br />

leeren Blanko-Papiers denkbar, ebenso wie die Verwendung des im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

eher üblichen karierten Papiers.<br />

Auch die Formulierung des kurzen Arbeitsauftrags bietet trotz ihrer Prägnanz<br />

noch einen gewissen Variationsspielraum. Neben der Formulierung „Schreibe<br />

alles auf, was dir zu … in den Kopf kommt“ besteht auch die Möglichkeit den<br />

Arbeitsauftrag um das Verb „male“ zu ergänzen und die Aufforderung „Schreibe<br />

und male alles auf, was dir zu … in den Kopf kommt“ zu formulieren. Es<br />

stellt sich die Frage ob dieser explizite Hinweis auf die Möglichkeit des Zeichnens<br />

das Antwortveralten der Kinder beeinflusst, oder ob die geometrischen<br />

Begriffe ohnehin zum Anfertigen von Zeichnungen anregen.<br />

Design und Rahmenbedingungen der Untersuchung<br />

In der im Folgenden beschriebenen explorativen Studie (n = 588) wurde die<br />

Weißblatterhebung als Methode, d.h. als ein offenes Konzept der Standortbestimmung,<br />

erprobt. Gleichzeitig konnte überprüft werden, inwiefern die Metho-<br />

102


103<br />

Eva-Maria Plackner<br />

de geeignet ist, das Vorwissen der Kinder zu geometrischen Begriffen zu erheben.<br />

In 28 Schulklassen über alle vier Schuljahre hinweg wurden verschiedene<br />

Parameter dieser Standortanalyse variiert und deren Auswirkungen auf das gezeigte<br />

Wissen untersucht.<br />

Die Auswahl der verwendeten Begriffe bzw. Begriffspaare, die als Ausgangsimpuls<br />

gewählt wurden, orientierte sich am bayrischen Lehrplan für die Grundschule<br />

und den darin für die einzelnen Jahrgangsstufen besonders relevanten<br />

Begriffen. In den ersten beiden Schuljahren wurden geometrische Flächenformen<br />

ausgewählt, in den beiden folgenden Jahrgangsstufen geometrische Körper.<br />

Lediglich in der dritten Klasse wurde mit einem einzelnen Begriff gearbeitet, in<br />

allen anderen Jahrgangsstufen wurden Begriffspaare ausgewählt:<br />

1. Schuljahr: Dreieck und Viereck<br />

2. Schuljahr: Rechteck und Quadrat<br />

3. Schuljahr: Würfel<br />

4. Schuljahr: Würfel und Quader<br />

Um den Einfluss der methodischen Variationen auf die Antworten der Kinder<br />

ausloten zu können wurde in einem Teil der Klassen mit kariertem Papier, in<br />

einem anderen Teil der Klassen mit weißem Papier gearbeitet. Auch der ohnehin<br />

schon knappe Arbeitsauftrag wurde geringfügig variiert. In der Hälfte der<br />

Klassen war der Zusatz „und male“ im Arbeitsauftrag enthalten, in der anderen<br />

Hälfte wurde darauf verzichtet, die Kinder explizit auf die Möglichkeit des<br />

Zeichnens hinzuweisen. Lediglich in der ersten Klasse wurde auf diese Unterscheidung<br />

verzichtet und allen Kindern gleichermaßen die Aufforderung zum<br />

Malen mitgegeben, vor allem darum, weil die Studie in den ersten Wochen des<br />

Schuljahres durchgeführt wurde und ein großer Teil der Erstklässler im Schriftspracherwerb<br />

noch nicht weit genug war, um selbstständig einen aussagekräftigen<br />

Text zu einem mathematischen Inhalt zu verfassen.<br />

Bei der Durchführung der Standortbestimmung wurde darauf geachtet, dass den<br />

Kindern außer den mündlich gegebenen Arbeitsaufträgen keine zusätzlichen<br />

Hilfen gegeben wurden, die bereits mögliche Antworten impliziert hätten. Es<br />

wurde lediglich darauf hingewiesen, dass man in dem Falle, dass man zu einem<br />

Begriff gar nichts wisse, durchaus auch ein unbeschriebenes Blatt abgeben könne.<br />

Dieser Hinweis ist gerade für die Kinder in der Erstbegegnung wichtig, da<br />

sie durchweg noch keine Erfahrungen mit dem Instrument der Standortbestimmung<br />

zur Erhebung des Vorwissens gemacht haben. Somit wird die nötige<br />

Transparenz erreicht, hinsichtlich der Erwartungen, die durch diesen Arbeitsauftrag<br />

an die Kinder gestellt werden. Es muss deutlich werden, dass es an dieser


Die Weißblatterhebung<br />

Stelle um das ganz individuelle Vorwissen geht, das eventuell auch schlechthin<br />

zu einem bestimmten Begriff nicht vorhanden sein kann, und nicht (wie sonst<br />

eher üblich) um das Abprüfen von im Unterricht vermitteltem Wissen, das sich<br />

eigentlich jeder aus der Klasse zu eigen gemacht haben sollte.<br />

Ergebnisse der Exploration<br />

Die an der Exploration beteiligten Kinder konnten die Aufgabenstellung trotz<br />

ihres hohen Grades an Offenheit umsetzen und durchgängig ihre Antworten<br />

schriftlich festhalten. Die so entstandenen Weißblätter wurden nach folgenden<br />

Kriterien ausgewertet:<br />

• Formalitäten und äußere Merkmale (z.B. Nutzung des Papiers, Anteil von<br />

Text und Zeichnung,…)<br />

• detailliertere inhaltliche Auswertung (z.B. Kategorisierung der Zeichnungen,<br />

fachliche Korrektheit der verwendeten Fachtermini,…)<br />

Ergebnisse nach Formalkriterien<br />

Ein erstes formales Kriterium war die Nutzung des Blattes. Dabei zeigte sich,<br />

dass kariertes Papier von 84 % der Kinder hochkant verwendet wurde, wohingegen<br />

nur 61 % des weißen Papiers hochkant genutzt wurden und immerhin 39<br />

% der weißen Blätter im Querformat.<br />

Ein weiterer Aspekt der Blattnutzung war die Frage, inwieweit das Papier formatfüllend<br />

oder nur teilweise beschrieben wurde. Dabei zeigte sich deutlich,<br />

dass das weiße Papier eher dazu verleitete, formatfüllend zu arbeiten (76 %),<br />

wohingegen das Verhältnis auf kariertem Papier eher ausgewogen war, allerdings<br />

der Trend eher zu einer nur teilweisen Nutzung des Papiers ging (55 %<br />

der Kinder, die auf kariertem Papier arbeiteten, verwendeten es nicht formatfüllend).<br />

Auf beiden Papiersorten und auch unabhängig von der Formulierung der<br />

Fragestellung verwendeten die Kinder eine Kombination aus einem Textteil mit<br />

ergänzenden Zeichnungen. Lediglich in der ersten Klasse arbeitete ein relativ<br />

großer Teil der Kinder ausschließlich mit Zeichnungen, nur 40 % der Erstklässlerinnen<br />

und Erstklässler versahen diese mit kleinen Beschriftungen.<br />

Bei den Zeichnungen in allen Jahrgangsstufen handelte es sich meist um reine<br />

Freihandzeichnungen, wobei sich aber beobachten ließ, dass auf weißem Papier<br />

das Lineal häufiger verwendet wurde, als auf kariertem.<br />

Ergebnisse nach inhaltliche Kriterien<br />

Eine erste Annäherung an die inhaltlichen Kriterien erfolgte über die Einteilung<br />

der Antworten hinsichtlich des Kontextes in dem die Kinder die Fragestellung<br />

104


105<br />

Eva-Maria Plackner<br />

beantwortet hatten. Es wurden die Begriffe teilweise rein in Bezug auf die Alltagswelt<br />

erläutert („Das Rechteg siet aus wie ein Geschnk.“), teilweise wurde<br />

aber auch rein mathematisch argumentiert („Das Quadrat hat 4 gleich lange<br />

Seiden. Das Rechteck hat 2 kurze Seiden und 2 lange Seiden, oder andersrum.“).<br />

Meist wurde von den Kindern die Kombination aus beiden Herangehensweisen<br />

gewählt („Das Rechteck sieht aus wie eine schmale Schuplade. Das<br />

Quadrat ist so wie ein Spiegel mit vier gleich lange seiten.“). Am deutlichsten<br />

war dieser Trend in der dritten Klasse zu beobachten, wo 82 % der Kinder ein<br />

stark vom Spielwürfel geprägtes Verständnis des geometrischen Begriffs Würfel<br />

aufwiesen, sie aber gleichzeitig auch aus mathematischer Sicht die Eigenschaften<br />

des Körpers beschrieben. In der vierten Klasse war mit 62 % am stärksten<br />

die rein mathematische Herangehensweise zu beobachten, bei der die Eigenschaften<br />

von Würfel und Quader meist gegenübergestellt und dabei sowohl die<br />

Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede dargestellt wurden.<br />

Abb.1: Darstellung der Eigenschaften von Würfel und Quader<br />

In einem weiteren Auswertungszyklus wurden dann getrennt voneinander die<br />

Zeichnungen und auch die Texte hinsichtlich ihres Inhaltes und erstmals auch<br />

im Hinblick auf ihre inhaltliche, mathematische Korrektheit betrachtet.<br />

Bei der Kategorisierung der Zeichnungen auf den Weißblättern wurde zunächst<br />

unterschieden, ob es sich bei der vorliegenden Bearbeitung eher um eine Zeichnung<br />

oder ein Bild im Sinne der Kunst handelt, oder um eine Zeichnung, die<br />

eher von der <strong>Mathematik</strong> her gedacht angefertigt wurde. Zu den Zeichnungen<br />

mit künstlerischem Aspekt gehören gemalte Alltagsgegenstände als Repräsen-


Die Weißblatterhebung<br />

tanten (z.B. eine Tafel als Rechteck oder eine Triangel als Dreieck), das Zeichnen<br />

von angepassten Repräsentanten (z. B. dreieckige Tannenbäume oder verschiedene<br />

„Quadertiere“), sowie das Zeichnen von personifizierten Repräsentanten<br />

(z.B. Dreiecke mit Gesicht und Beinen).<br />

Mit Abstand die häufigste Kategorie dabei war das Zeichnen von Alltagsgegenständen<br />

als Repräsentanten, in der fast die Hälfte aller Kinder zu verorten ist,<br />

die von der Kunst her kommend, etwas zu den Begriffen malten. Nur 1 % der<br />

befragten Kinder zeichnete ohne einen erkennbaren Zusammenhang mit dem<br />

Thema.<br />

Abb. 2: Zeichnung mit personifizierten Repräsentanten für Dreieck und<br />

Viereck<br />

Die Zeichnungen der Kinder, die eher einer mathematischen Herangehensweise<br />

zuzuschreiben sind, ließen sich in die folgenden drei Kategorien einteilen: das<br />

Zeichnen von rein mathematischen Repräsentanten, das Zeichnen von Mustern<br />

zum Thema und das Anführen eines zeichnerischen Gegenbeispiels. Diese letzte<br />

Kategorie wurde zwar nur verhältnismäßig selten gewählt, aber dennoch gaben<br />

3 % der Kinder (verteilt auf alle Jahrgangsstufen) Gegenbeispiele an. Über die<br />

Hälfte der Kinder zeichneten rein mathematische Repräsentanten.<br />

Abb. 3: Zeichnung von rein mathematischen Repräsentanten für Dreieck<br />

und Viereck (mit besonderer Hervorhebung der Ecken in den beiden rechten<br />

Figuren)<br />

Analog zu der Einteilung der Zeichnungen ließen sich auch bei den Texten die<br />

Kategorien in zwei Gruppen zusammenfassen. Auch hier gab es Texte, die rein<br />

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107<br />

Eva-Maria Plackner<br />

in der Fachwissenschaft zu verorten sind und Texte, die eher affektive und<br />

handlungsbezogene Aussagen zu den Begriffen beinhalten. Zu der zweiten<br />

Gruppe gehört das Nennen von Alltagsgegenständen mit dazu passender Form<br />

(die schriftliche Entsprechung zum Zeichnen von Alltagsgegenständen als Repräsentanten),<br />

das Nennen von Einsatzmöglichkeiten (z.B. mit dem Würfel kann<br />

gespielt werden, oder aus Quadern kann man etwas bauen), das Herstellen eines<br />

persönlichen Bezugs und das Erwähnen von Vorerfahrungen durch das Herstellen<br />

von Modellen. Besonders auffällig dabei war, dass insgesamt zwar nur relativ<br />

selten von der Herstellung von Modellen berichtet wurde, dass es aber einige<br />

Klassen gab, in denen z. B. im vorhergehenden Schuljahr ein Würfel gebastelt<br />

wurde und in diesen Klassen fast alle Kinder darauf Bezug nahmen. Auch bei<br />

den Texten hat nur 1 % der befragten Kinder ausschließlich Dinge ohne einen<br />

erkennbaren Zusammenhang zum Thema geschrieben.<br />

Zu den von der <strong>Mathematik</strong> her kommenden Kategorien gehören das Einordnen<br />

der Begriffe zu den Oberbegriffen (geometrische Figuren / Körper; 3 %), das<br />

Nennen von Gegenbeispielen (3 %), das Nennen von richtigen Eigenschaften<br />

(66 %) und auch das Nennen von falschen Eigenschaften (12 %). Es lässt sich<br />

feststellen, dass die Kinder in ihren Beschreibungen nicht auf einem rein umgangssprachlichen<br />

Niveau bleiben, sondern durchaus Fachbegriffe einfließen<br />

lassen. Dabei verwenden ganze 19 % der Kinder diese Fachbegriffe in ihrem<br />

gesamten Text präzise und fehlerfrei.<br />

Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass die Weißblatterhebung ein geeignetes Werkzeug<br />

zur Standortbestimmung ist. Die Arbeiten der Kinder sind im hohen Maße aussagekräftig<br />

in Bezug auf ihr derzeitiges Begriffsverständnis. Der offen gestellte<br />

Arbeitsauftrag konnte sie als Impuls dazu veranlassen, relevante Eigenschaften<br />

der Figuren und Körper zu beschreiben. Außerdem ließ sich in den sehr frei<br />

produzierten Kindertexte und –zeichnungen ein erstaunlich hohes Maß an mathematisch<br />

korrekt verwendeten Fachbegriffen feststellen. Die Kinder verwendeten<br />

die Begriffe dabei aus eigenem Antrieb und nur sehr selten wurden sie<br />

dabei falsch gebraucht.<br />

Von großem Interesse sind auch die Ergebnisse in zwei 4. Klassen, in denen<br />

kurz vor der Erhebung die thematisch zugehörige <strong>Geometrie</strong>sequenz stattfand.<br />

40 % der entsprechenden Weißblätter bildeten alle Lehrplanziele zum Thema<br />

Quader und Würfel vollständig ab, weitere 50 % bildeten sie immerhin teilweise<br />

ab. Das zeigt meines Erachtens eindrücklich, dass es nicht nötig ist, viele kleine<br />

Einzelfragen zu stellen, um ein umfassendes Bild des Leistungsstandes der Kinder<br />

zu einem Thema zu erhalten.


Die Weißblatterhebung<br />

Die Ergebnisse geben zudem Handlungsanweisung für unterrichtlich zur Verfügung<br />

gestellte Medien. Der Einsatz von Blanko-Papier im Gegensatz zum meist<br />

üblichen karierten Papier erweist sich als vorteilhaft, da es zu einer Strukturierung<br />

und Darstellung der schriftlich fixierten Gedanken anregt. Die Kompetenz<br />

des Zeichnens mit Lineal kann beispielsweise durch Blanko-Papier besonders<br />

gut gefördert werden, da ein weißes Blatt Papier viel stärker zur Verwendung<br />

des Lineals anregt als das karierte Papier. Außerdem ließ sich bei der Arbeit auf<br />

vollkommen weißem Papier ein kreativerer Umgang mit der Blattgestaltung<br />

feststellen. Die Kinder verwendeten das Papier nicht so häufig traditionell hochkant<br />

und schrieben nicht nur im oberen Teil des Blattes einige wenige Zeilen.<br />

Stattdessen breiteten sie ihre Gedanken häufiger über die ganze Fläche aus, die<br />

ihnen zur Verfügung stand und strukturierten dabei ihre Darstellungen deutlicher<br />

und zugleich auch individueller.<br />

Literatur<br />

Franke, M. (2000). Didaktik der <strong>Geometrie</strong>. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer<br />

Verlag.<br />

KMK (2004). Bildungsstandards im Fach <strong>Mathematik</strong> für den Primarbereich.<br />

Beschluss vom 15.10.2004. München, Neuwied: Wolters-Kluwer, Luchterhand<br />

Verlag.<br />

Ruf, U., P. Gallin (1998). Dialogisches Lernen in Sprache und <strong>Mathematik</strong>.<br />

Seelze-Veber: Kallmeyer.<br />

Sundermann, B; C. Selter (2006). Beurteilen und Fördern im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor<br />

Vollrath, H.-J. (1984). Methodik des Begriffslehrens im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

Stuttgart: Ernst Klett Verlag<br />

Walther, G., M. van den Heuvel-Panhuizen, D. Granzer, O. Köller (Hrsg.)<br />

(2007). Bildungsstandards für die Grundschule: <strong>Mathematik</strong> konkret. Berlin:<br />

Cornelsen Verlag Scriptor<br />

Wittmann, E. Ch. (1999). Konstruktion eines <strong>Geometrie</strong>curriculums ausgehend<br />

von Grundideen der Elementargeometrie. In: Henning, H. (Hrsg.): <strong>Mathematik</strong><br />

lehren durch Handeln und Erfahrung. Oldenburg: Bültmann u. Gerriets, S. 205-<br />

223.<br />

108


Biometrische Erkennungssysteme – Ein geeignetes geometrisches<br />

Thema zur Vermittlung von Basiskompetenzen im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Markus Ruppert<br />

Zusammenfassung. Biometrische Erkennungssysteme halten immer mehr Einzug in<br />

unseren Alltag. Die Grundprinzipien, die sich hinter der Funktionsweise, insbesondere<br />

von Gesichtserkennungssystemen verbergen, liefern gute Möglichkeiten für geometrische<br />

Modellierungsprobleme, bei denen auch neue Entwicklungen von dynamischer<br />

<strong>Geometrie</strong>-Software, etwa die Integration eines Tabellenkalkulationsprogramms, ausgenutzt<br />

werden können. Beschrieben wird anhand eines konkreten Projekts, welche Möglichkeiten<br />

dieses Themenfeld bietet, ausgehend von geometrischen Problemstellungen<br />

mathematische Basiskompetenzen zu vermitteln.<br />

Biometrische Erkennungssysteme, wie sie in verschiedenen James Bond Filmen<br />

(z. B. Diamantenfieber 1971, Sag niemals nie 1983, Stirb an einem anderen Tag<br />

2002 oder Ein Quantum Trost 2008) vorkommen, sind in ihrer Entwicklung<br />

über das Stadium der reinen Fiktion längst hinaus. Auch die Zeiten, in denen<br />

Fingerabdruckdetektoren zum Schutz gesicherter Bereiche dem Bankenwesen<br />

oder Gesichtserkennungssysteme zu Fahndungszwecken der Kriminalistik vorbehalten<br />

waren, sind vorbei. Längst ist jeder neuere Laptop mit einem Fingerabdruckscanner<br />

ausgestattet, der die Zugangsberechtigung des Benutzers überprüft<br />

und in vielen Bereichen das Passwort ablöst. Nahezu jedes Bildverarbeitungs-<br />

und Archivierungsprogramm verfügt indes über eine einfache Gesichtserkennungs-Software,<br />

die das Sortieren von Bildern nach Personen erleichtern soll.<br />

Mit anderen Worten: Biometrische Systeme sind Teil unseres Alltags geworden.<br />

Im Folgenden werden zunächst knapp die Grundideen von biometrischen Erkennungssystemen<br />

im Allgemeinen (vgl. hierzu Behrens 2001, Nolde 2002 und<br />

Mihailescu/Weiss-Pidstrygach 2008) und von Gesichtserkennungssystemen im<br />

Speziellen dargestellt (vgl. hierzu Dickich 2001), bevor ein Schülerprojekt vorgestellt<br />

wird, bei dem von den Schülern ein Gesichtserkennungssystem entwickelt<br />

wurde.<br />

Ruppert, M. (2010). Biometrische Erkennungssysteme – Ein geeignetes geometrisches<br />

Thema zur Vermittlung von Basiskompetenzen im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der<br />

<strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S.109-124


Biometrische Erkennungssysteme<br />

Funktionsweise biometrischer Erkennungssysteme<br />

Warum biometrische Erkennung?<br />

Im Gegensatz zu herkömmlichen Erkennungssystemen (wie etwa die Zugangssicherung<br />

am Geldautomaten oder im Internet mit einer PIN-Nummer oder<br />

einem Passwort), bei denen die Entscheidung über die Zugangsberechtigung<br />

immer auf der Grundlage personenbezogener (und damit im Prinzip übertragbarer)<br />

Merkmale geschieht, benutzen biometrische Sicherungssysteme grundsätzlich<br />

personengebundene Merkmale.<br />

Ein biometrisches Erkennungssystem kann auf zwei Arten betrieben werden:<br />

Im Identifikationsmodus wird ein eingehender Datensatz mit allen Datensätzen<br />

der im System befindlichen Personen verglichen, um die Identität einer bestimmten<br />

Person herauszufinden (Anwendungsbereich: Kriminalistik).<br />

Im Verifikationsmodus speist eine Person ihre Daten zusammen mit einer Behauptung<br />

über ihre Identität in das System ein. Diese werden mit dem entsprechenden<br />

in der Datenbank hinterlegten Datensatz verglichen – anschließend<br />

wird ihre Identität bestätigt oder verneint und damit der Zugang zu einem gesicherten<br />

Bereich gewährt oder abgelehnt (Anwendungsbereich: Bankenwesen).<br />

Warum Gesichtserkennung?<br />

Im Vergleich zur Erfassung anderer biometrischer Merkmale wie z. B. Fingerabdruck,<br />

Augenabdruck, Sprache oder der DNA weist die Gesichtsgeometrie<br />

einige entscheidende Vorteile auf:<br />

• Natürlichkeit: Der Mensch ist es gewohnt, andere Personen an ihrem Gesicht<br />

zu erkennen. Dies erleichtert zum einen die technische Umsetzung eines<br />

solchen Systems, zum anderen kann bei Ausfall oder Versagen des Systems<br />

auf diese Fähigkeit des Menschen zurückgegriffen werden.<br />

• Berührungslosigkeit und Unaufdringlichkeit: Im Idealfall bemerkt die<br />

betreffende Person die Zugangskontrolle überhaupt nicht. Dies erhöht die<br />

Akzeptanz eines Zugangskontrollsystems erheblich. Die technische Umsetzung<br />

ist hier jedoch noch nicht ausgereift.<br />

• Vorhandene Infrastruktur: Es können z. B. Bilder bereits vorhandener Überwachungskameras<br />

genutzt werden.<br />

110


Wie funktioniert Gesichtserkennung?<br />

111<br />

Markus Ruppert<br />

In der folgenden Abbildung wird schematisch dargestellt, wie prinzipiell ein<br />

Datensatz in einem Gesichtserkennungssystem erfasst wird:<br />

Abb. 1: Gesichtserkennung – Schematische Darstellung<br />

Der wichtigste Schritt ist dabei, wie oben beschrieben, die Extraktion geeigneter<br />

charakteristischer personengebundener Merkmale und deren Verarbeitung zu<br />

einem Datensatz (Enrollment).<br />

Es folgen der Datenvergleich mit der Datenbank und die Entscheidung über die<br />

Zulassung zum gesicherten Bereich (Verifikation) oder die Identifikation der<br />

Person (Abbildung 2).<br />

Abb. 2: Datenbankabgleich - Schematische Darstellung


Biometrische Erkennungssysteme<br />

Entwicklung eines Gesichtserkennungssystems als Schülerprojekt<br />

Der Prozess der Identifikation bzw. Verifikation mit Hilfe eines Gesichtserkennungssystems<br />

läuft also in fünf Teilschritten ab:<br />

• Lokalisierung (Gesichtsfindung)<br />

• Normalisierung<br />

• Merkmalsextraktion<br />

• Erzeugung eines Referenzdatensatzes<br />

• Vergleich mit der Datenbank<br />

Der technisch schwierigste Schritt ist dabei die Gesichtsfindung. Hier ist kein<br />

Ansatz denkbar, der nicht eines erheblichen technischen Aufwands bedarf. Die<br />

in professionellen Gesichtsfindungsprogrammen eingesetzte Methode des<br />

template-matching (vgl. Behrens 2001; Dickich 2003) kann kaum mit schülergerechten<br />

Hilfsmitteln umgesetzt werden. Für ein Schülerprojekt ist deshalb die<br />

Beschränkung auf Portrait-Aufnahmen sinnvoll. Zum einen ist es auch für Portrait-Aufnahmen<br />

noch schwierig genug die Vergleichbarkeit der Bilder zu gewährleisten<br />

und zum anderen hat dies den zusätzlichen Vorteil, dass die auftretenden<br />

Probleme beim Vergleich der extrahierten Merkmale (etwa durch Drehung<br />

des Kopfs) nicht zu groß werden. Die Normalisierung der Aufnahmen,<br />

sowie das Auffinden geeigneter charakteristischer Merkmale und deren Extraktion<br />

bieten authentische Möglichkeiten zum forschenden und nacherfindenden<br />

Lernen. Die Hürden, die bei der Entwicklung eines Gesichtserkennungssystems<br />

im Rahmen eines Schülerprojekts auftreten, sind dabei vergleichbar mit den<br />

Problemen professioneller Entwickler (Informationen der Firma Amrehn). Das<br />

Anlegen einer Datenbank und die Entwicklung eines geeigneten Vergleichsalgorithmus<br />

indes ermöglicht computergestütztes Arbeiten und lässt Verwirklichungen<br />

auf verschiedenen Anwendungsniveaus zu. So lassen sich die Datenbank<br />

und der Algorithmus einerseits mit Excel umsetzen, auf der anderen Seite<br />

ist auch eine Umsetzung mit MySQL und php denkbar, wenn auf entsprechende<br />

Kenntnisse aus dem Informatik-Unterricht zurückgegriffen werden kann. Im<br />

Folgenden wird ein Projekt vorgestellt, das im Rahmen der Schülerprojekttage<br />

am Institut für <strong>Mathematik</strong> und Informatik der Universität Würzburg durchgeführt<br />

wurde. Es soll aufgezeigt werden, wie sich die Schüler die Grundprinzipien<br />

eines Gesichtserkennungssystems und dessen geometrische Modellierung<br />

erschließen, unter Verwendung dynamischer <strong>Geometrie</strong>software und mit dem<br />

Einsatz von Datenbanksystemen ein eigenes Gesichtserkennungssystem entwickeln<br />

und schließlich Strategien finden, dieses schrittweise zu verbessern.<br />

Statt eines Berichts über den konkreten Projektverlauf soll an dieser Stelle die<br />

Betrachtung der Schlüsselprobleme, die sich bei der Entwicklung eines Ge-<br />

112


113<br />

Markus Ruppert<br />

sichtserkennungssystems ergeben, in den Mittelpunkt gestellt werden. Es sollen<br />

insbesondere die inhaltsbezogenen Kompetenzen herausgestellt werden, die zur<br />

Lösung der genannten Probleme erforderlich sind. Um zu verdeutlichen, wie<br />

breit gestreut die Kompetenzbereiche sind, die durch das Thema angesprochen<br />

werden können, erfolgt außerdem eine Zuordnung zu den in den KMK-<br />

Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss formulierten Leitideen (L1<br />

bis L5) des <strong>Mathematik</strong>unterrichts (KMK 2004). Es werden dabei auch allgemeine<br />

mathematische Kompetenzen angesprochen, die im Rahmen der Projektarbeit<br />

gefördert werden (KMK, K1 bis K6).<br />

Allgemeine math. Kompetenzen Inhaltsbezogene Kompetenzen<br />

K1 Argumentieren L1 Zahl<br />

K2 Problemlösen L2 Messen<br />

Tabelle 1: Allgemeine Kompetenzen und Leitideen (verkürzt)<br />

Problem 1: Vergleichbarkeit<br />

(Subsumiert unter den Leitideen)<br />

K3 Modellieren L3 Raum und Form<br />

K4 Darstellungen verwenden L4 Funktionaler Zusammenhang<br />

K5 Umgang mit symbolischen,<br />

formalen, technischen Elementen<br />

K6 Kommunizieren<br />

L5 Daten und Zufall<br />

Damit ein sinnvoller Vergleich eines eingehenden Datensatzes mit der Datenbank<br />

stattfinden kann, muss die Vergleichbarkeit der Bilder gewährleistet sein.<br />

So einfach dies formuliert ist, so schwierig ist hier eine Festlegung: Was bedeutet<br />

„Vergleichbarkeit“?<br />

Es ist keineswegs eindeutig, wie der Begriff der Vergleichbarkeit an dieser<br />

Stelle zu definieren ist. Die Formulierung einer Arbeitsgrundlage ist das Ergebnis<br />

mathematischer Argumentation - es muss ein Konsens in der Gruppe herbeigeführt<br />

werden (K1: Argumentieren, K6: Kommunizieren). Im Rahmen dieser


Biometrische Erkennungssysteme<br />

Diskussion muss die Problemstellung als geometrische Modellierungsaufgabe<br />

erkannt werden (K3: Modellieren). Inhaltlich muss sich die Gruppe also mit<br />

Fragen des Messens, insbesondere aber mit Standardisierungs- bzw. Normierungsfragen<br />

auseinandersetzen (L2: Messen), also mit allgemeinen mathematischen<br />

Konzepten von hoher Tragweite (man denke nur an die Betrachtung von<br />

normierten Basen in der analytischen <strong>Geometrie</strong>, an die Bedeutung der Normierung<br />

bei Wahrscheinlichkeitsfunktionen und deren Anwendung im Zusammenhang<br />

mit Lösungen der Schrödinger-Gleichung in der Quantenmechanik). Das<br />

Problem der Vergleichbarkeit von Fotografien muss im Rahmen der Modellierung<br />

auf den Vergleich geometrischer Standardobjekte reduziert werden (L3:<br />

Raum und Form).<br />

Eine Möglichkeit die, Vergleichbarkeit der Fotografien zu gewährleisten, ist die<br />

Standardisierung der Aufnahmebedingungen, d.h. es müssen z.B. die Abstände<br />

beim Fotografieren sowie die Auflösung der Kamera genau festgelegt werden.<br />

Außerdem müssen die „Fotomodelle“ um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck<br />

gebeten werden – eine Vorgehensweise, wie sie ähnlich für die<br />

Aufnahme von biometrischen Passbildern gewählt wird (vgl. Homepage der<br />

Bundesdruckerei).<br />

Eine andere Möglichkeit ist die Normierung eines bestimmten Abstandes innerhalb<br />

der Gesichtsgeometrie (z. B. des Augenabstandes). Durch dieses Vorgehen<br />

können unvermeidliche Ungenauigkeiten bei den Aufnahmebedingungen (z. B.<br />

Abstand Fotoapparat – Fotomodell) zwar kompensiert werden, allerdings fällt<br />

der Augenabstand als (möglicherweise ganz charakteristisches) Unterscheidungskriterium<br />

weg und alle anderen Merkmale werden nun relativ zum Augenabstand<br />

betrachtet.<br />

Problem 2: Auffinden geeigneter Vergleichsmerkmale<br />

An dieser Stelle ist eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen an charakteristische<br />

Merkmale im Rahmen eines biometrischen Erkennungsverfahrens<br />

erforderlich. Im Zusammenhang mit der Gesichtserkennung sind die folgenden<br />

Punkte von besonderem Interesse:<br />

• Universalität<br />

• Einzigartigkeit<br />

• Permanenz<br />

• Erfassbarkeit<br />

Die entscheidende Idee ist also die Festlegung markanter Punkte, die man erwartet<br />

in jedem Gesicht zu finden (z. B. Pupillen, Mundwinkel, Nasenspitze).<br />

Deren gegenseitige Lage soll einerseits in verschiedenen Situationen möglichst<br />

unveränderlich sein, andererseits aber die Einzigartigkeit der jeweiligen Ge-<br />

114


115<br />

Markus Ruppert<br />

sichtsgeometrie möglichst gut widerspiegeln, um die Wahrscheinlichkeit einer<br />

Wiedererkennung zu steigern.<br />

Um einen Vergleich anstellen zu können, gilt es also zunächst die Lage der<br />

markanten Punkte festzustellen. Dazu bedarf es allerdings einer Klärung, was<br />

unter der „Lage markanter Punkte“ zu verstehen ist. Dies kann einerseits die<br />

(absolute) Lage der Punkte in einem gedachten Koordinatensystem sein (vgl. A,<br />

links). Andererseits kann aber auch die (relative) Lage der markanten Punkte<br />

zueinander gemeint sein (vgl. A, rechts). Die Gruppe muss sich hier also mit<br />

Fragen nach einer geeigneten Darstellung des Modells in einem<br />

Koordinatensystem auseinandersetzen (L3, K4: Math. Darstellungen), um<br />

entscheiden zu können, mit welchen Daten der Vergleich der Datensätze<br />

letztlich stattfinden soll (K1, K6).<br />

Das Erfassen der Gesichtsgeometrie in Form der relativen Lage markanter<br />

Punkte liefert einen entscheidenden Vorteil: die Unabhängigkeit der Vergleich-<br />

barkeit der Gesichter von der Position auf dem Bild ( Translations- und Rotationsinvarianz<br />

innerhalb der Bildebene).<br />

Die Frage, ob auch vorkommende Winkel in Abbildung 3 geeignete Merkmale<br />

sind, die in den Vergleich mit einbezogen werden sollten, führt schnell auf Überlegungen<br />

zu kongruenten Figuren und zugehörigen Kongruenzsätzen (L3).<br />

Auf dieser Grundlage können sogar eigene Definitionen formuliert werden,<br />

welche die Beschreibung der Situation vereinfachen:<br />

Ein Netz von Punkten und Verbindungsstrecken heißt starr, wenn es durch<br />

die Länge der Verbindungsstrecken bis auf Kongruenz eindeutig festgelegt<br />

ist. (sinngemäße Formulierung eines Projektteilnehmers)<br />

In diesem Sinne ist ein Dreieck mit fest vorgegebenen Seitenlängen nach dem<br />

bekannten SSS-Kongruenzsatz ein starres ebenes Netz, ein Viereck mit vorgegebenen<br />

Seitenlängen jedoch nicht. Das Merkmalsnetz in Abbildung 3 ist ebenfalls<br />

starr. In einem starren Netz liefern demnach vorkommende Winkel keine<br />

zusätzlichen Informationen über die Form des Netzes, sind also als zusätzlich zu<br />

betrachtende Merkmale unbrauchbar und würden sogar eine ungewollte Gewichtung<br />

bestimmter Bereiche liefern. (Natürlich müsste man nun auch<br />

diskutieren, ob einige der gewählten Abstände in diesem Sinne überflüssig<br />

sind.)


Biometrische Erkennungssysteme<br />

Abb. 3: Absolute und relative Lage der markanten Punkte<br />

Die Schüler lernen an dieser Stelle auf der Grundlage bekannter Kongruenzsätze<br />

mathematisch zu argumentieren und Bewertungen vorzunehmen (L3, K1).<br />

Problem 3: Datenextraktion, Anlegen einer Datenbank<br />

Um die Merkmale in einer Datenbank speichern und letztlich miteinander vergleichen<br />

zu können, müssen die geometrischen Daten zunächst in numerische<br />

Daten umgewandelt werden. Hierbei kann die neue Version der dynamischen<br />

<strong>Geometrie</strong>-Software GeoGebra mit einem integrierten Tabellenkalkulationsfenster<br />

gute Dienste leisten. Die Koordinaten der Punkte können dynamisch in den<br />

Abb. 4: Extraktion der Daten mit Geogebra<br />

116


117<br />

Markus Ruppert<br />

Spalten des TKP dargestellt werden. Die Veränderung der Lage eines Punktes<br />

im <strong>Geometrie</strong>fenster bewirkt gleichzeitig eine Anpassung der Koordinaten im<br />

TK-Fenster. So können die normierten Bilder als Hintergrundbilder eingefügt<br />

und vermessen werden (Abbildung 4). Die Schüler müssen an dieser Stelle<br />

planen, wie die Daten aus dem Koordinatensystem entnommen werden sollen<br />

und wie technische Hilfsmittel in geeigneter Weise eingesetzt werden können,<br />

um die Daten zur Weiterverwertung aufzubereiten (L3, L5: Daten und Zufall,<br />

K5: Umgang mit technischen Elementen). Gemäß den obigen Überlegungen<br />

müssen beispielsweise die absoluten Daten mit Hilfe des TKP in relative Daten<br />

(Abstände) umgerechnet und in dieser Form in eine Datenbank eingespeist werden.<br />

Im einfachsten Fall kann auch das Anlegen der Datenbank im TKP geschehen<br />

(vgl. Abbildung 5), jedoch sind auch Lösungen mit relationalen Datenbanksystemen<br />

wie etwa MySQL denkbar (im Rahmen der Projekttage wurde das<br />

umgesetzt).<br />

Abb. 5: Ausschnitt aus der Datenbank mit charakteristischen Merkmalen<br />

Problem 4: Vergleich eines Datensatzes mit der Datenbank<br />

Soll nun eine Verifikation oder eine Identifikation stattfinden, müssen aus dem<br />

eingehenden Bild wiederum die festgelegten charakteristischen Merkmale extrahiert<br />

werden. Anschließend findet der Vergleich des eingehenden Datensatzes<br />

mit den Datensätzen aus der Datenbank statt. Es stellen sich also zunächst die<br />

Fragen<br />

• Wie können zwei Datensätze miteinander verglichen werden? (Verifikation)<br />

• Wie kann ein eingehender Datensatz mit der gesamten Datenbank verglichen<br />

werden? (Identifikation)<br />

Insgesamt ist also eine Methode zu entwickeln, die es erlaubt, den Grad der<br />

Übereinstimmung verschiedener Datensätze zu messen. Inhaltlich bedeutet das,<br />

die Schüler müssen eine sinnvolle Definition für den „Abstand“ zweier Datensätze<br />

finden. An dieser Stelle ist das Übersetzen einer Idee in die mathematische


Biometrische Erkennungssysteme<br />

Formelsprache zwingend erforderlich, weil der Datenvergleich ja letztlich automatisiert<br />

werden soll, also programmiert werden muss.<br />

Interpretiert man Datensätze mit m Merkmalen als Vektoren in einem mdimensionalen<br />

Vektorraum (über R), so lassen sich obige Überlegungen als<br />

Suche nach einer passenden Metrik verstehen:<br />

Mathematische Formulierung:<br />

Eine Datenbank bestehe aus n Datensätzen mit jeweils m Merkmalen. Dann<br />

bezeichnet mit und die Ausprägung des j-ten Merk-<br />

mals im i-ten Datensatz. Der zur Person i gehörige Datensatz aus der Daten-<br />

bank besteht also aus den Daten . Die Ausprägung des j-ten Merk-<br />

mals beim eingehenden Datensatz werde mit bezeichnet.<br />

Gesucht ist also zunächst eine Funktion<br />

R m R, ,<br />

die jedem Datensatz einen (nichtnegativen) Abstand vom eingehenden Da-<br />

tensatz zuordnet.<br />

Die Identität einer Person gilt dann als verifiziert, wenn der Abstand<br />

des eingehenden Datensatzes vom zugehörigen Datensatz aus der Daten-<br />

bank unterhalb einer vorher festgelegten Grenze bleibt, wenn also gilt:<br />

Im Identifikationsmodus ist derjenige Datensatz gesucht, der vom eingehen-<br />

den Datensatz den geringsten Abstand hat. Zu bestimmen ist also der Index<br />

für den gilt:<br />

Im Rahmen des hier vorgestellten Projekts entwickelten die Schüler als erste<br />

naheliegende Ideen zur Bestimmung des Abstands zweier Datensätze und<br />

die folgenden Funktionen<br />

118<br />

(Summe der Abweichungsquadrate)<br />

(Summe der Abweichungsbeträge)


119<br />

Markus Ruppert<br />

Die Ergebnisse erster Testläufe waren jedoch in beiden Fällen ernüchternd: Bei<br />

der Eingabe eines neuen Bildes ergaben sich praktisch keine Treffer, die Falschidentifikationsrate<br />

(FIR, vgl. Mihailescu/Weiss-Pidstrygach, 2008 und Homepage<br />

der Firma Bromba Biometrics) lag nahezu bei 100%. Im Rahmen einer ersten<br />

Analyse wurde von den Schülern schnell die ungeschickte Wahl der Vergleichsfunktion<br />

als Hauptursache für das unbefriedigende Ergebnis ausgemacht. Sind<br />

nämlich für ein bestimmtes Merkmal j die Werte und klein im Vergleich<br />

zu den anderen Merkmalsausprägungen, so fällt eine (relativ gesehen) große<br />

Abweichung bei der Summenbildung trotzdem kaum ins Gewicht<br />

gegenüber den anderen Abweichungen. Das Quadrieren bei der Summe der<br />

Abweichungsquadrate vergrößert diesen Effekt sogar noch. Insgesamt bedeutet<br />

das, dass Merkmale mit kleiner Ausprägung bei der Verwendung einer der beiden<br />

obigen Vergleichsnormen praktisch keinen Niederschlag finden.<br />

Bei der Entwicklung des Kernstücks eines jeden Gesichtserkennungssystems,<br />

dem Vergleichsalgorithmus, müssen die Schüler also mit der numerischen Darstellung<br />

der geometrischen Merkmale arbeiten (K4), wenn ein programmierbarer<br />

funktionaler Zusammenhang zur Messung des Abstands zweier Datensätze<br />

hergestellt werden soll (L2, L4: Funktionaler Zusammenhang). Um nun die<br />

Qualität des Algorithmus bewerten zu können, müssen die einflussnehmenden<br />

Größen und deren Gewicht identifiziert und beurteilt werden (L4, K1).<br />

Problem 5: Verbesserungen des Systems<br />

Liefern die ersten Testläufe kein zufriedenstellendes Ergebnis, müssen Möglichkeiten<br />

erörtert werden, die zur Verbesserung des Erkennungssystems führen<br />

können. An dieser Stelle kommen typische mathematische Strategien zum Einsatz.<br />

Es geht dabei um die Beantwortung von Fragen wie: „Welche Vereinfachungen<br />

lassen sich vornehmen?“, „Welche Modellannahmen waren zu grob?“,<br />

„Wie können bestehende Verfahren optimiert werden?“ (K1, K2, K6)<br />

Konkrete Ansätze, die beim betrachteten Projekt verfolgt wurden:<br />

Verkleinerung der Datenbank<br />

Um die Fehler- bzw. Erfolgsquote ihres Systems besser einschätzen zu können,<br />

gingen die Schüler dazu über, ihre Verbesserungen zunächst an einer stark reduzierten<br />

Datenbank (5 Datensätze) zu testen, um diese dann sukzessive zu vergrößern<br />

und dabei die Entwicklung der Fehlerrate zu kontrollieren.<br />

Bildung von Durchschnittswerten<br />

Um kleine Abweichungen bei der Kopfhaltung und in der Mimik einer Person<br />

mit im Datensatz zu berücksichtigen, fertigten die Schüler von jeder Person, die<br />

in der Datenbank gespeichert werden sollte, drei Fotografien an und bildeten für


Biometrische Erkennungssysteme<br />

den Referenzdatensatz schließlich von den ausgelesenen Daten jeweils einen<br />

Mittelwert.<br />

Verbesserung des Vergleichsalgorithmus<br />

Das größte Potenzial zur Verringerung der Fehlerquote sahen die Schüler in der<br />

Verbesserung der Vergleichsfunktion. Wie oben bereits beschrieben, erkannten<br />

sie schnell die Nachteile einer Betrachtung von absoluten Abweichungen. Der<br />

erste Schritt bei der Verbesserung des Vergleichsalgorithmus war deshalb der<br />

Übergang zu relativen Abweichungen. Es wurden die beiden folgenden Vergleichsfunktionen<br />

getestet (L4):<br />

also die Summe der quadratischen relativen Abweichungen und die Summe der<br />

relativen Abweichungsbeträge zwischen dem eingehenden Datensatz und<br />

einem Referenzdatensatz .<br />

Im Zuge der weiteren Diskussion wurde argumentiert, dass eine Abweichung<br />

bei Merkmalen, die recht genau zu bestimmen und weitgehend unabhängig von<br />

der Mimik sind (etwa der Augenabstand), stärker gewichtet werden müssen als<br />

Abweichungen bei anderen Merkmalen. Auch dies wurde in der Abstandsfunktion<br />

berücksichtigt (L4, L5):<br />

Dabei wurden die Gewichtungsfaktoren von den Schülern festgelegt.<br />

In einem letzten Schritt entwickelten die Schüler einen zweistufigen Algorithmus<br />

(Konkurrentenalgorithmus). Dabei werden auf der Grundlage obiger Abstandsfunktion<br />

zunächst die drei Datensätze mit dem geringsten Abstand zum<br />

eingehenden Datensatz ermittelt. Anschließend werden die drei „Konkurrenzdatensätze“<br />

auf ihre größten Abweichungen hin untersucht und daraufhin noch<br />

einmal bei veränderter Gewichtung der Abweichungen mit dem eingehenden<br />

Datensatz verglichen.<br />

120


Berücksichtigung der Dreidimensionalität<br />

121<br />

Markus Ruppert<br />

Eine weitere Idee der Schüler zur Verbesserung ihres Gesichtserkennungssystems<br />

konnte aus Zeitgründen nicht mehr umgesetzt werden: Neben den bereits<br />

gezeigten Portrait-Aufnahmen hielten die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig<br />

auch Profilaufnahmen aller Personen fest. Eine Auswertung dieser Aufnahmen<br />

hätte eine Darstellung der markanten Punkte mit dreidimensionalen Koordinaten<br />

erlaubt (vgl. Abbildung 7).<br />

Diese Weiterentwicklung vom zwei- zum dreidimensionalen Modell liefert<br />

vielversprechende neue Merkmale. Die Frage nach zusätzlichen Informationen<br />

durch Winkelbetrachtungen ist neu zu diskutieren (K3, L3). Starre zweidimensionale<br />

Netze, können ihre Starrheitseigenschaft, als Netze im Dreidimensionalen<br />

betrachtet, verlieren (vgl. Abbildung 6). Winkel können dann zusätzliche<br />

Informationen liefern.<br />

Abb. 6: Starr als 2D-Netz, nicht aber als 3D-Netz<br />

Abb.7: Absolute und relative Lage – Annäherung an eine räumliche Darstellung<br />

Zusammenfassung<br />

Die nachfolgende Tabelle macht in der Übersicht noch einmal deutlich, dass<br />

durch die Behandlung des Themas „Biometrie“ im <strong>Geometrie</strong>unterricht sowohl<br />

allgemeine mathematische Kompetenzen, als auch inhaltliche Kompetenzen


Biometrische Erkennungssysteme<br />

gefordert und gefördert werden können (dabei wurde zusätzlich zu obigen Betrachtungen<br />

angenommen, dass die Fähigkeit über mathematische Inhalte zu<br />

kommunizieren in jeder Projektphase benötigt und gefördert wird).<br />

Kompetenzen Allgemeine Inhaltsbezogene<br />

Problem K1 K2 K3 K4 K5 K6 L1 L2 L3 L4 L5<br />

1 x x x x<br />

2 x x x x<br />

3 x x x x<br />

4 x x x x x<br />

5 x x x x x x x<br />

Tabelle 1: Der Erwerb von Kompetenzen im Rahmen des Projekts<br />

Der Ausgangspunkt ist hierbei die geometrische Modellieraufgabe. Dies spiegelt<br />

sich auch in der Tabelle wider, denn zur Bewältigung der Probleme 1 und 2<br />

werden inhaltsbezogene Kompetenzen benötig, die sich den Leitideen mit geometrischem<br />

Schwerpunkt zuordnen lassen. Im Projektverlauf stellte sich heraus,<br />

dass auch Fähigkeiten aus anderen Inhaltsbereichen benötigt werden, um zu<br />

einem Projektergebnis zu kommen.<br />

Darüber hinaus werden durch dieses Projekt Fähigkeiten gefördert, die im<br />

Kompetenzkatalog der KMK nur implizit enthalten sind oder keinen Niederschlag<br />

finden:<br />

• Teamfähigkeit, Kooperation: Ein zufriedenstellendes Projektergebnis kann<br />

nur erzielt werden, wenn die einzelnen Projektgruppen jeweils ihren Beitrag<br />

leisten. Dadurch entsteht eine hohe Identifikation mit dem Produkt und der<br />

Gruppe.<br />

• Schöpferisches Tun, Kreativität: Die Schüler stellen ein Produkt her, bei dem<br />

nur die geforderte Funktionalität vorher festgelegt ist – der Weg zu deren<br />

Verwirklichung wird von den Schülern selbst gewählt. Dabei bieten sich viele<br />

Möglichkeiten kreative Ideen einzubringen (Auswahl charakteristischer<br />

Merkmale, Entwicklung des Vergleichsalgorithmus).<br />

• Umgang mit Misserfolgserlebnissen, Kritikfähigkeit: Die Beherrschung der<br />

Fehlerraten erfordert eine kritische Reflexion der eigenen Vorgehensweise.<br />

122


123<br />

Markus Ruppert<br />

• Steigerung intrinsischer Motivation durch Erfolgserlebnisse: Auch eine<br />

schwächere Schülergruppe kann ein Projektergebnis mit akzeptablen Falschidentifikationsraten<br />

erzielen. Ein Vergleich mit den Kenngrößen realer Erkennungssysteme<br />

kann hier helfen den Erfolg zu beurteilen.<br />

Natürlich muss berücksichtigt werden, dass das hier vorgestellte Projekt mit<br />

einer kleinen Gruppe besonders begabter und motivierter Schüler durchgeführt<br />

wurde. Im Rahmen der Würzburger „Projekttage“ hatten die Schüler mehrere<br />

Tage Zeit, sich intensiv mit der Themenstellung auseinanderzusetzen. Für die<br />

Umsetzung des Projekts mit einer größeren, weniger homogenen Schülergruppe<br />

in einem knapper bemessenen Zeitrahmen bieten sich die folgenden<br />

Möglichkeiten:<br />

• Der Auftrag an die „Entwickler“ kann stärker eingegrenzt werden. Beispielsweise<br />

die Arbeit mit Portrait-Aufnahmen kann bereits in der Auftragsstellung<br />

vorgegeben sein.<br />

• Die erforderlichen Entwicklungsphasen können durch die Zerlegung in<br />

„Teilaufträge“ vorgegeben werden (Herstellen geeigneter Aufnahmen, Finden<br />

charakteristischer Merkmale, Auslesen der Daten, etc.). Dadurch geht<br />

zwar die Diskussion innerhalb der Projektgruppe über die grundsätzliche<br />

Vorgehensweise etwas verloren, die inhaltlichen Diskussionen bezüglich der<br />

eigentlichen Modellierung müssen aber trotzdem geführt werden.<br />

• Es muss nicht ein Gesichtserkennungssystem entstehen. Das Entwickeln von<br />

mehreren „Konkurrenzprodukten“ durch voneinander unabhängige Projektgruppen<br />

bietet einerseits die Möglichkeit, bezüglich der verwendeten Werkzeuge<br />

und der vorhandenen Vorkenntnisse zu differenzieren, andererseits<br />

können abschließend verschiedene Produkte und Verfahren vorgestellt, miteinander<br />

verglichen und diskutiert werden.<br />

• Die technischen Hilfsmittel können vorgegeben werden. Die Lehrkraft kann<br />

hier auf das Vorwissen der Schüler angepasste Werkzeuge zur Verfügung<br />

stellen, ohne die inhaltlichen Anforderungen der Problemstellung wesentlich<br />

zu verändern. So könnte z. B. die Struktur der Datenbank inklusive einer<br />

Ein- und Ausgabemaske vorgegeben werden – die wertvolle Diskussion um<br />

charakteristische Merkmale und eine geeignete Vergleichsfunktion muss<br />

trotzdem geführt werden.<br />

Abschließend bleibt noch festzuhalten, dass das vorgestellte Projekt Grunderfahrungen<br />

ermöglicht, die im Sinne H. Winters einen allgemeinbildenden <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

charakterisieren. Bei der Entwicklung eines Gesichtserkennungssystems<br />

lernen die Schüler die <strong>Mathematik</strong> als „nützliche, brauchbare<br />

Disziplin“ kennen und erfahren an einem lebensnahen Kontext, wie „mathematische<br />

Modellbildung funktioniert und welche Art von Aufklärung durch sie<br />

zustande kommen kann“ (Winter, 2003, S.7). Sie lernen die Begriffs- und Re-


Biometrische Erkennungssysteme<br />

gelbildung innerhalb der <strong>Mathematik</strong> und die dadurch entstehende Architektur<br />

als „geistige Schöpfung, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art“ (ebda)<br />

und als zuverlässige Grundlage für eine kreative und erschaffende Arbeitsweise<br />

kennen. Sie erwerben im Umgang mit der Problemstellung „Problemlösefähigkeiten<br />

(heuristische Fähigkeiten), die über die <strong>Mathematik</strong> hinausgehen“ (ebda).<br />

Literatur<br />

Behrens, M.. (2001). Biometrische Identifikation. Braunschweig: Vieweg.<br />

Dikich, E. (2003). Verfahren zur automatischen Gesichtserkennung. Berlin: Logos.<br />

Kultusministerkonferenz (KMK, 2004). Bildungsstandards im Fach <strong>Mathematik</strong> für den<br />

mittleren Schulabschluss. München<br />

Mihailescu, P., Weiss-Pidstrygach, Y.(2008). Muster in der biometrischen Identifikation.<br />

In: Praxis der <strong>Mathematik</strong> in der Schule, Jg. 50, H. 23, S. 40-45.<br />

Nolde, V. (2002). Biometrische Verfahren. Köln: Deutscher Wirtschaftsdienst.<br />

Winter, H. (2003) <strong>Mathematik</strong> und Allgemeinbildung. In: Henn, H.-W. et al., Materialien<br />

für einen Realitätsbezogenen <strong>Mathematik</strong>unterricht. Hildesheim: Franzbecker.<br />

www.bundesdruckerei.de/de/service/service_buerger/index.html<br />

(Homepage der Bundesdruckerei – Informationen zu biometrischen Passbildern)<br />

www.bromba.com/knowhowd.htm<br />

(Homepage der Firma Bromba Biometrics)<br />

124


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

geometrische Zusammenhänge erkennen & weiterentwickeln<br />

Jan Wörler<br />

Zusammenfassung: »Primzahlenbild 1-9216«, »Farbfraktal«, »Fibonacci-Reihe« –<br />

bereits die Titel vieler Werke der Konkreten Kunst verweisen darauf, dass eine besonders<br />

enge Verbindung dieser Kunstgattung zur <strong>Mathematik</strong> besteht. Die Verbindungen aufzudecken,<br />

zu untersuchen und dynamisch weiter zu entwickeln erfordert eine Vielzahl<br />

mathematischer Fähigkeiten. Im Artikel wird neben theoretischen Aspekten auch die<br />

praktische Umsetzung im Rahmen einer Schülerprojektwoche beleuchtet.<br />

Was ist »Konkrete Kunst«?<br />

»Konkrete Kunst« ist eine spezielle Kunstgattung, die sich im frühen 20. Jh. aus<br />

den Gattungen Suprematismus und Kubismus entwickelte. Ihre Vorreiter gingen<br />

noch von realen Situationen, wie etwa von Landschaften oder Stillleben aus und<br />

abstrahierten sie z. T. so stark, dass nur wenige geometrische Formen oder<br />

symbolische Inhalte übrig blieben. Die Künstler der Konkreten Kunst gingen<br />

einen Schritt weiter, indem sie jeglichen Bezug zur Natur oder realen<br />

Gegenständen aufgaben und stattdessen die Wirkung von Farben und Formen<br />

ins Zentrum ihres Schaffens stellten. Konkrete Kunst ist also nicht abstrakt; sie<br />

will nichts anderes darstellen, als die Mittel aus denen sie gemacht ist, also<br />

Farbe, Form und deren Zusammenspiel.<br />

Ein strenges Manifest, das im April des Jahres 1930 durch den Niederländer<br />

Theo van Doesburg verfasst wurde und in der Zeitschrift »Art Concret«<br />

erschien, legt dabei fest, was erlaubt ist und was nicht. Danach müssen die<br />

Werke klar, nachprüfbar und universell sein. Um das zu erfüllen ist es<br />

notwendig, die Werke nicht wie früher schrittweise zu entwickeln<br />

(»Komposition«), sondern ihren Aufbau von vornherein zu planen<br />

(»Konstruktion«); zu jedem Werk der Konkreten Kunst existiert also eine Art<br />

Bauplan.<br />

Die Postulate führen ferner nahezu zwingend auf die Sprache der <strong>Mathematik</strong>,<br />

aus der sich – etwa nach den Regeln der Kombinatorik, des Zufalls, spezieller<br />

Zahlenfolgen oder aber geometrischer Abbildungen (Spiegelungen, Drehungen,<br />

Inversion,...) – Konstruktionsschemata ableiten. Demnach ist <strong>Mathematik</strong> ein<br />

zentrales Hilfsmittel beim Entwickeln und Erschaffen Konkreter Kunst.<br />

Wörler, J. (2010).Konkrete Kunst im Schülerprojekt- geometrische Zusammenhänge<br />

erkennen und weiterentwickeln. In: Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.)<br />

(2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim: Franzbecker, S. 125-<br />

142


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Die Forderung nach »Überprüfbarkeit« sichert schließlich dem (geneigten)<br />

Betrachter zu, die mathematischen Konstruktionsprinzipien in den Werken<br />

nachvollziehen und nacherleben zu können – ein Aspekt, der die Konkrete<br />

Kunst für den <strong>Mathematik</strong>unterricht besonders interessant macht.<br />

Konkrete Kunst & <strong>Geometrie</strong><br />

Die Verbindung zwischen Konkreter Kunst und <strong>Geometrie</strong> ist von zweierlei<br />

Natur: Zum einen dienen geometrische Formen, wie etwa Rechtecke und Kreise<br />

als Ganzes oder aber in Teilen als Bildgegenstände. Der deutsche Künstler Josef<br />

Albers (1888-1976) untersuchte z. B. über Jahrzehnte hinweg die Wirkung von<br />

Farben auf den Betrachter und die Umwelt, indem er die immer gleiche<br />

Konstruktion vierer ineinander geschachtelter Quadrate in verschiedensten<br />

Farbkombinationen ausführte; so entstand seine berühmte Serie »Hommage to<br />

the Square«.<br />

Abb. 1: Quadrat als Motiv – schematischer Aufbau eines Werkes<br />

aus Albers' »Serie Hommage to the Square«.<br />

Der andere Aspekt betrifft ein spezielles, geometrisches Konstruktionsverfahren,<br />

das bei vielen Konkreten Künstlern zur Erstellung ihrer Werke<br />

Verwendung findet. Dafür wird eine geometrische Grundform ausgewählt (in<br />

den meisten Fällen ein Quadrat), die als atomarer Baustein der<br />

Werkskonstruktion dient. Aus ihr wird durch einfaches Aneinanderlegen oder<br />

andere geometrische Abbildungen (Translation, Rotation, zentrische Streckung,<br />

Spiegelungen, Permutation) das gesamte Werk aufgebaut.<br />

Exemplarisch sei unter diesem Aspekt auf das Œuvre von Heijo Hangen<br />

(*1927) verwiesen: Er wählt als Grundform ein Sechseck, das er durch die<br />

Zerlegung eines Quadrates in zwei kongruente Teile erhält; die Parkettierungseigenschaft<br />

des Quadrates überträgt sich dabei auf die abgeleitete Form.<br />

126


127<br />

Jan Wörler<br />

Abb. 2 li.: Heijo Hangen leitet aus einem Quadrat ein Sechseck<br />

(Schraffierung) ab; es dient als Grundbaustein für seine Bilder. re.:<br />

Schematischer Aufbau zu »Bild-Nr. 7638«.<br />

Hangen verwendet in seiner Serie Zeitversetzte Bildkombination über Jahre<br />

hinweg ausschließlich die selbe Grundform. Damit werden die einzelnen Werke<br />

problemlos kombinierbar – auch wenn zwischen ihrer Entstehung viele Jahre<br />

liegen.<br />

Konkrete Kunst als Projekt der Sek I und Sek II<br />

Die bisher vereinzelt existierenden Konzepte zur Betrachtung Konkreter Kunst<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht richten sich vor allem an die Primar- und Unterstufe<br />

(vgl. etwa Rademakers 2005 oder Maak 2006). Die Kunstwerke dieser Gattung<br />

bieten aber – bei entsprechender Auswahl und Intensität der Betrachtung – ein<br />

derart reichhaltiges Spektrum mathematischer Themen (etwa: Daten & Zufall,<br />

Kombinatorik, Zahlenfolgen, Fraktale <strong>Geometrie</strong>, höherdimensionale<br />

analytische <strong>Geometrie</strong>, Inversion am Kreis,...), dass sich auch genügend<br />

Anknüpfungspunkte für die Mittel- und Oberstufe finden lassen.<br />

Das hier vorgestellte Projekt wurde daher für Oberstufenschülerinnen und<br />

schüler vorbereitet und in der »Schülerprojektwoche 2009« der Fakultät für<br />

<strong>Mathematik</strong> und Informatik an der Universität Würzburg durchgeführt. Ziel des<br />

Projektes war es, einzelne Werke unter mathematischen Gesichtspunkten zu<br />

untersuchen, die Bildkonstruktionen zu entschlüsseln und die gefundenen<br />

Zusammenhänge zu diskutieren. Dafür sind zum einen Kenntnisse aus<br />

verschiedenen Bereichen der <strong>Mathematik</strong> und entsprechender Darstellungsformen<br />

erforderlich, zum anderen aber auch Fähigkeiten wie Argumentieren,<br />

Beweisen und Modellieren (siehe dazu: Wörler 2009).<br />

Anhand zweier Werke der Konkreten Kunst werden im Folgenden einige (Teil)-<br />

Ergebnisse des Projekts, die in besonderem Bezug zum Themenfeld der<br />

<strong>Geometrie</strong> stehen, beleuchtet.


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Geometrische Abbildungen bei Camille Graeser<br />

Die Werke von Camille Graeser (1892-1980) erzählen oft kleine Geschichten,<br />

wecken Assoziationen: hier scheint eine Form verrutscht worden zu sein, dort<br />

ein Quadrat zur Seite zu kippen.<br />

Abb. 3: Nachkonstruktion der »Translokation B« von Camille Graeser<br />

Und so drängt sich auch in seinem Bild »Translokation B« die Vermutung auf,<br />

das rote Quadrat sei aus der Reihe der bunten Quadrate oben herausgefallen und<br />

hinge nun mit einer Ecke nach unten vor dem gelben Hintergrund.<br />

Der Konstruktionsplan ist in diesem Falle leicht ersichtlich: Das Bild ist mit<br />

einem Raster von 4 mal 4 Quadraten gleicher Größe überzogen. In der ersten<br />

Zeile des Rasters sind drei der vier Quadrate farbig vom Hintergrund<br />

abgehoben. Der Mittelpunkt des herausgefallenen Quadrats liegt genau auf<br />

einem der Gitterpunkte.<br />

Abb. 4: Schemazeichnung des Werkes »Translokation B«<br />

Und doch bleibt die Frage: Wie könnte man das rote Quadrat auf den freien<br />

Platz in der oberen Reihe (zurück-)bewegen?<br />

Einige Teilnehmer der Projektgruppe schneiden die Bauteile aus Papier aus und<br />

legen Sie wie Puzzleteile vor sich. Sie kommen schnell zum Ergebnis: Das rote<br />

Quadrat wird ‚nach oben‘ verschoben und dabei in die richtige Position gedreht.<br />

Aber wie lässt sich diese Bewegung mit mathematischen Mitteln beschreiben?<br />

128


129<br />

Jan Wörler<br />

Ist die Lösung eindeutig? Gibt es besonders elegante Lösungen, etwa solche, die<br />

mit möglichst wenigen Schritten auskommen?<br />

Andere Schülerinnen und Schüler nutzen den Computer um mit Hilfe von DGS<br />

das Auffinden, Formulieren und Überprüfen von vermuteten Zusammenhängen<br />

zu unterstützen: sie konstruieren die relevanten Bildelemente am Computer nach<br />

und suchen experimentell oder theoriegeleitet nach Antworten auf die Fragen<br />

(vgl. Roth 2007 und http://www.juergen-roth.de/dynageo/kunst/kunst01.html).<br />

Lösung I: Spiegelung<br />

Neben der Lösung »Drehung o Verschiebung« gibt es auch die Möglichkeit,<br />

ausschließlich Achsenspiegelungen zu betrachten: Zuerst spiegelt man dabei das<br />

herausgefallene Quadrat z. B. an einer Achse so, dass eine seiner Seiten parallel<br />

zum Gitterraster zu liegen kommt und setzt es dann mit einer zweiten<br />

Spiegelung nach oben an den richtigen Platz:<br />

Abb. 5: Zwei Achsenspiegelungen bringen das herausgefallene Quadrat an<br />

seinen ursprünglichen Platz zurück.


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Die Projektgruppe findet immer wieder neue Paare von je zwei<br />

Achsenspiegelung, die hintereinander ausgeführt ein Abbild des Quadrates an<br />

den richtigen Platz bringen. Die Lösungen werden als Screenshots gesammelt<br />

und per Beamer diskutiert. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede<br />

bestehen zwischen diesen Paaren? Die Antwort ergibt sich aus dem zweiten<br />

Lösungsweg.<br />

Lösung II: Drehung<br />

Einige der Lösungen legen die Annahme nahe, es könnte im Hinblick auf die<br />

Anzahl der Teilschritte eleganter sein, die zwei Achsenspiegelungen durch eine<br />

einzige Drehung zu ersetzen. Doch wo ist der Drehpunkt? Und um welchen<br />

Winkel muss man das Quadrat drehen? Bei der Lösungsfindung kann<br />

experimentelles Arbeiten mit DGS zum Einstieg hilfreich sein. Schnell werden<br />

so die Schnittpunkte der Spiegelachsen (s. o.) als Drehpunkte identifiziert.<br />

Allerdings ist auch hier die Lösung nicht eindeutig – eine Tatsache, die von<br />

Schülerinnen und Schülern in <strong>Mathematik</strong> nicht oft nicht erwartet wird, aber<br />

gerade deswegen zum Nachdenken, Argumentieren und Beweisen anregen<br />

kann.<br />

In der beschriebenen Projektgruppe werden zunächst drei Drehpunkte<br />

herausgearbeitet, um die das Quadrat mit 45°, 135° bzw. 225° gedreht werden<br />

muss. Die Vermutung, es könne »so weiter gehen« und »alle 90° weitere<br />

Drehpunkte geben« erhärtet sich, als durch Probieren ein Drehpunkt für den<br />

Drehwinkel 315° entdeckt wird. Eine Regelhaftigkeit vermutend (»Die<br />

Abstände folgen vielleicht einer e-Funktion!«), beginnt die Suche nach dem<br />

nächsten, dem fünften Drehpunkt – den man schließlich auch gefunden zu<br />

haben glaubt. Einige Zweifler aber entfachen eine heftige Diskussion, ob es sich<br />

wirklich um einen neuen Punkt handelt oder aber ein bereits vorhandener Punkt<br />

wiedergefunden worden sei. Gibt es unendlich viele solcher Drehpunkte? Und<br />

wenn nicht: wie viele sind es? Was zunächst experimentell erkundet wurde,<br />

schlägt daraufhin in eine systematische Untersuchung um: Wie kann man die<br />

Drehpunkte konstruieren? Wie hängt die Lage der Punkte mit den Drehwinkeln<br />

zusammen?<br />

Solche und ähnliche Fragen führen schließlich auch auf die durch einen Beweis<br />

gesicherte Gewissheit: es gibt genau vier Drehpunkte.<br />

130


Abb. 6: Wird das rote Quadrat um 45° um den Punkt S gedreht,<br />

dann kommt es in der oberen Reihe zum liegen.<br />

Abb. 7: Das Quadrat kann aber auch durch Drehung um 135°<br />

um den Punkt U zurück bewegt werden.<br />

131<br />

Jan Wörler


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Karl Gerstner & Beweisen in der <strong>Geometrie</strong><br />

Ein Zitat des Künstlers Karl Gerstner (*1930) zu einer seiner Werksserien zeigt<br />

paradigmatisch, wie eng Konkretes Schaffen an mathematische Theorien<br />

gekoppelt sein kann:<br />

»Im Laufe der Arbeit hatte ich [...] neue Möglichkeiten entdeckt, die<br />

vielversprechend waren, aber nie zu befriedigenden Ergebnissen führten.<br />

Dann kam mit dem Buch von Benoit Mandelbrot The Fractal Geometry of<br />

Nature die Idee des Fraktalen wie ein Donnerschlag auf. Das war, wonach<br />

ich vergeblich gesucht hatte: die ewig gleiche Struktur in verschiedenen<br />

Maßstäben.« (Karl Gerstner, 2006. In: Romain & Bluemler 2006).<br />

Abb. 8: Inhomogene Kreispackung; sie gibt das Thema<br />

in Karl Gerstner Werk »Farbfraktal [...]« vor.<br />

Seinem Werk Farbfraktal aus der Serie Hommage an Benoît Mandelbrot legt<br />

Gerstner eine spezielle Kreispackung zu Grunde. Es ist durch seinen Bezug zur<br />

fraktalen <strong>Geometrie</strong> zweifellos eines der mathematisch anspruchsvolleren<br />

Werke, seine Konstruktion im Detail hochkomplex. Beschränkt man sich bei der<br />

Analyse des Werkes allerdings zunächst nur auf gröbere Strukturen, so lässt sich<br />

der Aufbau mit einfachen geometrischen Mitteln entschlüsseln und beschreiben.<br />

Im Hinblick auf inhomogene Schülergruppen bietet die schrittweise Zunahme<br />

der Komplexität in der Nachkonstruktion gute Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung.<br />

Stufe I: Drei sich berührende Kreise<br />

Untersucht man das Werk hinsichtlich seiner Konstruktion, so ist die Kenntnis<br />

der Mandelbrot'schen Theorie zunächst nicht erforderlich. Es handelt sich um<br />

einen großen Kreis, dem weitere kleinere Kreise einbeschrieben worden sind.<br />

132


133<br />

Jan Wörler<br />

Eine erste Frage bei der Erkundung der Werkskonstruktion könnte lauten: Wie<br />

kann man einem gegebenen Kreis zwei möglichst große Kreise<br />

k und k von gleichem Radius so einbeschreiben, dass sich<br />

die drei Kreise gegenseitig berühren? Hier wird unmittelbar klar, dass die<br />

Mittelpunkte der gesuchten Kreise auf einer Geraden durch liegen und dass<br />

gelten muss. Der Einstieg in die Aufgabe bleibt damit leicht und gibt<br />

eine gute Möglichkeit die Begriffe Radius und Durchmesser zu wiederholen und<br />

zu festigen.<br />

Bereits die Frage nach einer Begründung, wieso alle drei Mittelpunkte auf einer<br />

Geraden liegen müssen und ob es auch andere Lagen denkbar sind, setzt aber<br />

ein tieferes Verständnis voraus. Was steckt hinter dem Ausdruck berühren<br />

eigentlich? Welche Lagebeziehung gibt es zwischen zwei Kreisen? Wieso muss<br />

der Mittelpunkt eines der kleinen Kreise auf der Verbindungslinie von und<br />

dem Berührpunkt, also dem Radius , liegen? Die Beantwortung der Fragen<br />

für einen der kleinen Kreise lässt sich schließlich auch auf die Lagebeziehung<br />

zwischen den beiden kleinen Kreisen übertragen – und führt so zur Lösung der<br />

Ausgangsfrage.<br />

Eine Variation ist denkbar: Was passiert, wenn man in der Fragestellung die<br />

Forderung »möglichst groß« fallen lässt? Es ist hilfreich, die Behandlung dieser<br />

Fragen mit dynamischer <strong>Geometrie</strong>software zu unterstützen.<br />

Stufe II: Fünf sich berührende Kreise<br />

Abb. 9: Fünf sich berührende Kreise


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Nach solchen Überlegungen zu der Lagebeziehung und dem Berühren zweier<br />

und dreier Kreise könnte man zu Gerstners Werk zurückgehen und die nächste<br />

Frage anschließen: Wie lassen sich in die im ersten Schritt gewonnene Figur<br />

nun zwei weitere Kreise von maximalem Radius einbeschreiben? Welchen<br />

Radius haben sie?<br />

Eine Lösung lässt sich dabei mit Hilfe des Satzes von Pythagoras finden: Man<br />

nimmt dazu an, der größte Kreis habe den Radius ; für die<br />

kleineren Kreise aus dem ersten Konstruktionsschritt folgt . Der gesuchte<br />

Kreis sei mit bezeichnet. Im Dreieck gilt dann wegen<br />

des rechten Winkels nach dem Satz des Pythagoras<br />

Ausmultiplizieren und vereinfachen führt schließlich auf den Radius der<br />

gesuchten Kreise:<br />

Stufe III: Neun sich berührende Kreise<br />

Abb. 10: Nur wenn ist darf der Satz des Pythagoras angewandt<br />

werden.<br />

In der Praxis wurde von den Schülerinnen und Schülern im nächsten Schritt –<br />

analog oben – der Satz des Pythagoras angewandt um den Radius der gesuchten,<br />

nächstkleineren Kreise zu berechnen. Allerdings muss beachtet werden, dass<br />

keineswegs klar ist, ob die Voraussetzungen des Satzes erfüllt sind! Man kann<br />

also entweder<br />

134


- nachweisen, dass der Winkel ist oder<br />

- alternative Wege zur Berechnung des Radius' einschlagen.<br />

135<br />

Jan Wörler<br />

Die Suche nach Beweisen und allgemeingültigen Zusammenhängen soll auf<br />

Zusammenhänge führen, die auch unter Variation der Ausgangskonfiguration<br />

erhalten bleiben. Im vorliegenden Fall sollen sich etwa Kreise auch dann<br />

paarweise berühren, wenn die Radien der Kreise aus Stufe I verändert werden.<br />

Im Folgenden werden drei mögliche Wege vorgestellt.<br />

Abb. 11: Die Allgemeingültigkeit einer Lösung erkennt man oft erst dann,<br />

wenn einzelne Teile dynamisch verändert werden.<br />

Berechnung mit dem Kosinussatz: Der Radius der nächstkleineren Kreise sei<br />

mit y bezeichnet, sein Mittelpunkt mit Dann gilt:<br />

Abb. 12: neun sich berührende Kreise


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Ferner ist aus dem vorangehenden Kapitel bekannt. Es sei<br />

Nach dem Kosinussatz lassen sich damit nun folgende<br />

Gleichungen aufstellen:<br />

Die Umformung der ersten Gleichung ergibt:<br />

Eine analoge Rechnung für die zweite Gleichung führt auf:<br />

Quadrieren und Zusammenfassen der Gleichungen ergibt den Zusammenhang<br />

und somit schließlich den gesuchten<br />

Radius :<br />

Verknüpfung von DGS und CAS: Der zweite Lösungsweg ist besonders<br />

deswegen reizvoll, weil er die enge Verzahnung von <strong>Geometrie</strong> und Algebra<br />

aufzeigt: Auf der Suche nach der Kurve, auf der alle Mittelpunkte von Kreisen<br />

liegen, die zwei vorgegebene berühren, stößt man dabei auf ein<br />

Gleichungssystem, das sich – beispielsweise mit Hilfe eines CAS – lösen lässt.<br />

Die Lösung wird danach mit DGS weiterbearbeitet.<br />

136


Abb. 13: Die Lage der Kreismittelpunkte lässt sich jeweils<br />

paarweise durch rechtwinklige Dreiecke beschreiben.<br />

137<br />

Jan Wörler<br />

Die Mittelpunkte der drei Kreise werden bei diesem Weg durch ihre x- und y-<br />

Koordinaten beschrieben. Da sich die Kreise paarweise berühren, lassen sich<br />

zusammen mit den Radien nach dem Satz von Pythagoras folgende drei<br />

Gleichungen aufstellen:<br />

Da in der betrachteten Situation zwei der drei Kreise vorgegeben sind, sind<br />

und festgelegt:<br />

Unter diesen Vorgaben lässt sich das Gleichungssystem am Rechner nach<br />

auflösen (im Projekt wurde dazu der Solve-Befehl in Mathematica und<br />

Derive verwendet) und liefert die beiden Größen in Abhängigkeit von :


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Abb. 14: Auf der roten Kurve liegen die Mittelpunkte der Kreise,<br />

die die beiden gegebenen berühren<br />

Berührt ein Kreis die beiden Vorgegebenen, dann liegt sein Mittelpunkt<br />

demnach auf einer Hyperbel<br />

Ihre Hauptachse ist die Gerade, die durch die Mittelpunkte der vorgegebenen<br />

Kreise führt (siehe Abb. 14)<br />

Die Lage des gesuchten dritten Kreises wird schließlich durch eine weitere<br />

Bedingung festgelegt: es muss<br />

gelten. Dies führt zu zwei Lösungen für die gesuchten Mittelpunkte und Radien<br />

(siehe Abb. 15):<br />

138


139<br />

Jan Wörler<br />

Abb. 15: Es gibt zwei Lösungen: neben dem gesuchten Kreis (dunkel, oben<br />

links) erhält man auch einen zweiten (dunkel, unten Mitte).<br />

historisch-fraktaler Ansatz: Ein dritter Weg zur Analyse von Gerstners Werk<br />

geht – dem Bildtitel folgend – über das angesprochene Fachgebiet der<br />

»fraktalen <strong>Geometrie</strong>«. Benoît Mandelbrot behandelt in seinem Buch »Die<br />

Fraktale <strong>Geometrie</strong> der Natur« (vgl. Mandelbrot 1991, (1. Ausg. 1977)) fraktale<br />

Strukturen, die den Kreisstrukturen im Bild sehr ähnlich sind; er nennt sie<br />

»Apollonische Netze« (vgl. Mandelbrot 1991, S. 178). Ausgangspunkt sind<br />

dafür drei sich berührende Kreise. Sie bilden ein Bogendreieck, dem ein<br />

weiterer, vierter Kreis mit maximalem Radius einbeschrieben wird. Dadurch<br />

entstehen drei neue Bogendreiecke, an denen das Verfahren wiederholt wird.<br />

Führt man den Prozess (»Apollonischer Packungsprozess«) unendlich fort,<br />

entstehen die von Mandelbrot beschriebenen Strukturen. Unter dieser<br />

Perspektive kann Gerstners Werk als Apollonisches Netz zu einer speziellen<br />

(symmetrischen) Ausgangskonfiguration gesehen werden.<br />

Abb. 16: Erste Schritte des Apollonischen Packungsprozesses.<br />

Namensgeber ist dabei der Grieche Apollonius von Perge, der sich schon im<br />

3. Jh. v. Chr. mit der Frage beschäftigte, wie sich zu drei gegebenen Kreisen


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

(die sich nicht notwendigerweise berühren müssen) ein vierter finden ließe, der<br />

die gegebenen berührt. Dabei ließ er auch Punkte und Geraden als Spezialfälle<br />

von Kreisen mit Radien bzw. zu (vgl. Coxeter 1968, S. 5). Das<br />

Problem ist – wenn man es in seiner Allgemeinheit betrachtet – alles andere als<br />

trivial und so hat seine vollständige Lösung bis in die Neuzeit angedauert. Für<br />

den Sonderfall, dass die drei vorgegebenen Kreise sich paarweise berühren, fand<br />

René Descartes einen Zusammenhang, den er 1634 in einem Brief an Prinzessin<br />

Elisabeth von Böhmen, Enkelin der Maria Stuart, niederschrieb – allerdings<br />

ohne Beweis. Den lieferte im Jahre 1826 der Schweizer Jakob Steiner nach.<br />

Seither ist der Satz als »Descartes'scher Kreissatz« (auch: »Vier-Kreise-Satz«;<br />

siehe Lagarias & Mallows 2001) bekannt und wird heute wie folgt beschrieben:<br />

Es seien die Radien der gegebenen Kreise, der Radius des<br />

gesuchten. Für lässt sich die Krümmung eines Kreises als der<br />

Kehrwert seines Radius' definieren . Dann gilt:<br />

Offenbar lässt sich mit diesem Satz nur der Radius des gesuchten Kreises<br />

berechnen, nicht aber die Lage seines Mittelpunktes. Durch eine leichte<br />

Modifikation des Satzes und die Verwendung komplexer Zahlen konnte eine<br />

Forschergruppe um J. C. Lagarias 1998 auch das Problem der Mittelpunktsfindung<br />

lösen.<br />

Mit Hilfe dieser Sätze können die Lagen und Radien der Kreise in Gerstners<br />

Werk iterativ berechnet werden; des Aufwandes wegen bietet sich eine<br />

Auswertung am PC an (Bemerkung: Für folgt aus der<br />

Abgeschlossenheit von bezüglich der Addition auch . Für Gerstners<br />

Werk bedeutet dies: Alle Kreise dieser Packung haben einen rationalen Radius<br />

).<br />

Mandelbrot gibt darüber hinaus einen weiteren Weg an, wie die Lage der Kreise<br />

zueinander bestimmt werden kann: Apollonische Netze sind selbst-invers, d. h.<br />

sie lassen sich unter Inversion (auch: Spiegelung am Kreis) auf sich selbst<br />

abbilden. Da aktuelle DGS die Inversion als geometrische Abbildung<br />

beherrschen (Euklid DynaGeo und Cinderella bieten dafür eigene Makros),<br />

können die komplexen Zusammenhänge in apollonischen Netzen – also auch im<br />

»Farbfraktal« – computergestützt untersucht und nachvollzogen werden.<br />

140


141<br />

Jan Wörler<br />

Obgleich dieser Lösungsweg in seiner Tiefe nur von leistungsstarken Schülerinnen<br />

und Schülern beschritten werden kann, bietet er doch interessante<br />

Ausflüge und Einsichten in die Geschichte der <strong>Mathematik</strong>. Neben inhaltlichen<br />

Aspekten können dabei aber auch Methoden wissenschaftlichen Recherchierens<br />

thematisiert und vermittelt werden. Moderne, internetgestützte Quellen bieten<br />

leicht verfügbare Ausgangspunkte für weitergehende Nachforschungen in<br />

traditionellen Medien (Bücher, Zeitschriften,...).<br />

Fazit: Warum Konkrete Kunst?<br />

Die schlichte Ästhetik der Konkreten Kunst verschleiert ihren oft anspruchsvollen<br />

mathematischen Gehalt. Das Überraschungsmoment, das sich einstellt, wenn<br />

hinter scheinbar regellosen Farbflächen eine stringente Logik entdeckt wird,<br />

kann eine Art Forscherdrang erzeugen, den man im Unterricht sonst oft nur<br />

mühevoll herbeiführen kann. Muster zu suchen, sie als Regelmäßigkeiten zu<br />

erkennen und zu beschreiben erfordert zwar ein Hinsehen mit ‚mathematischem<br />

Augen‘, die Herausforderung ein Bild zu knacken wird aber – nach einer Eingewöhnungsphase<br />

– von Lernenden gern angenommen. Dabei ist hilfreich, dass<br />

das breite Spektrum mathematischer Themen in der Konkreten Kunst ganz unterschiedliche<br />

Interessenfelder und Kenntnisstände der Schülerinnen und Schüler<br />

anspricht. Dass die Analyse eines Bildes oft aber auf sehr verschiedene Arten<br />

erfolgen kann, Ergebnisse und Wege nicht eindeutig sind, ist – wie die Erfahrung<br />

aus den Projektgruppen gezeigt hat – für Schülerinnen und Schüler, aber<br />

auch für angehende Studierende des Fachs <strong>Mathematik</strong>, oft ungewohnt und nur<br />

schwer akzeptierbar. Dabei sind es gerade die Offenheit von Lösungsweg und<br />

Ziel, die Verschränkung unterschiedlicher Teilgebiete der <strong>Mathematik</strong> und das<br />

Zusammenspiel verschiedener Werkzeuge (DGS, CAS, TKP,...), die modernes<br />

Arbeiten (Problemlösen, Modellieren) im <strong>Mathematik</strong>unterricht ausmachen.<br />

Konkrete Kunst kann dafür ein interessantes Übungs- und Einstiegsfeld bieten.<br />

Literatur<br />

Coxeter, H. (1968). The Problem of Apollonius. In: The American Mathematical<br />

Monthly 75, S. 5–15.<br />

Lagarias, J. et al. (2001). Beyond the Descartes Circle Theorem. In: arXiv (E-Print):<br />

http://arxiv.org/abs/math/0101066.<br />

Maak, A. (2006). Mit Ecken und Kanten: Kunstwerke mit geometrischen Aspekten.<br />

Kempten : BVK Buch Verlag Kempten e. K.<br />

Mandelbrot, B. (1991). Die fraktale <strong>Geometrie</strong> der Natur. Basel ; Boston ; Berlin : Birkhäuser.


Konkrete Kunst im Schülerprojekt<br />

Rademakers, E. (2005). Kunst und <strong>Mathematik</strong>: Kreative Unterrichtsideen zu Mustern,<br />

Formen und optischen Täuschungen. Horneburg : Persen Verlag GmbH.<br />

Romain, L. et al. (Hrsg.) (2006). Künstler : Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst<br />

(Karl Gerstner). München : WB-Verlag.<br />

Roth, J. (2007). Konkrete Kunst und Bewegung : <strong>Mathematik</strong> als Kreativitäts- und Interpretationswerkzeug.<br />

In: Lauter, M. et al. (Hrsg.) Ausgerechnet ... <strong>Mathematik</strong> und<br />

Konkrete Kunst. Baunach : Spurbuchverlag, S. 24–30.<br />

Wörler, J. (2009). Konkrete Kunst: <strong>Mathematik</strong> in Bildern finden und dynamisch erforschen.<br />

In: Neubrand, M. (Hrsg.) Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2009. Münster<br />

: Martin Stein Verlag.<br />

142


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

Michael Schneider<br />

Zusammenfassung Problemlösen wird explizit in den KMK-Bildungsstandards erwähnt.<br />

Wir gehen auf den Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen ein und fokussieren<br />

den Kontext auf die Geometrischen Denkaufgaben von Paul Eigenmann. Wir stellen<br />

den Bezug her zum Kontext der Basiskompetenzen und schließen mit modifizierten<br />

Eigenmann-Aufgaben für den Einsatz in der Schule.<br />

Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen<br />

Die Rolle der <strong>Geometrie</strong> für die Schulmathematik ist allgemein anerkannt. Es<br />

gibt nicht nur im Hinblick auf den Beitrag des <strong>Geometrie</strong>unterrichts zum Problemlösen<br />

bereits zahlreiche Arbeiten, daher fasse ich mich hier kurz.<br />

Die <strong>Geometrie</strong> ermöglicht den Lernenden das Denken in Strukturen bei immer<br />

vorhandener Anschauung. Dementsprechend stellt die <strong>Geometrie</strong> ein gutes Gelände<br />

dar für eigene Gedankengänge. Des Weiteren bildet die <strong>Geometrie</strong> für<br />

Problemlösen und Problemlösestrategien einen natürlichen Rahmen mit einer<br />

überschaubaren Anzahl von Objekten, Werkzeugen und zulässigen Operationen<br />

(vgl. Weigand 2009, S. 23).<br />

Im geometrischen Kontext können Lernende gut angeleitet werden, die richtigen<br />

Fragen zu stellen, also die Kernfähigkeit wissenschaftlichen Denkens zu entwickeln<br />

und entdeckend zu lernen (zum letzten Punkt vgl. Kadunz und Sträßer<br />

2007, S. 118 ff.).<br />

Geometrische Denkaufgaben von Paul Eigenmann<br />

Den geometrischen Kontext fokussiere ich auf das Buch „Geometrische Denkaufgaben“<br />

von Paul Eigenmann 8 . Im Vorwort schreibt der Autor:<br />

Die hier für den <strong>Geometrie</strong>unterricht vorgeschlagenen Aufgaben sollen vor<br />

allem die Phantasie des Schülers anregen und ihn erleben lassen, wie er<br />

8 Durch Lutz Führer wurde ich auf die Arbeiten von Eigenmann, Pólya und vieles mehr<br />

aufmerksam.<br />

Schneider, M. (2010).Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen. In:<br />

Ludwig, M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>,<br />

Hildesheim: Franzbecker, S.143-154


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

aus eigener Kraft die verborgenen Zusammenhänge eines mathematischen<br />

Sachverhalts entdecken kann. Vergessen wir nicht, dass stoffliches Wissen<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht fast immer nur Mittel zu dem Zweck ist, das Denken<br />

zu lernen. Daher haben wir das Ziel des <strong>Mathematik</strong>unterrichts nicht<br />

erreicht, wenn wir nur die notwendigen Übungsaufgaben stellen. Die Freude<br />

an geistiger Arbeit erwächst nicht an Übungsaufgaben. Langweilen sich<br />

unsere Schüler oder beginnen sie sich hinter dem Wort zu verstecken, die<br />

<strong>Mathematik</strong> sei schwer, so sollten wir zunächst uns selbst fragen: Haben<br />

wir unsere Schüler zu einem eigenen produktiven Denken geführt, haben<br />

wir sie die Probleme selbst erkennen, die Lösungswege selbst wagen lassen?<br />

(Eigenmann 1981, S.3)<br />

Vor dem Hintergrund dieser Leitfrage legt Eigenmann insgesamt 296 Aufgaben<br />

vor. Diese gliedern sich in 176 Aufgaben im ersten Teil und 120 im zweiten Teil<br />

des Buches. Die Aufgaben sind in jedem Teil in vier Gruppen angeordnet. Zu<br />

jeder Aufgabengruppe werden sehr kurz Informationen gegeben, wie etwa Hinweise<br />

auf hilfreiche Sätze.<br />

Beispielaufgaben<br />

Abb. 1: Aufgabe Nr. 2 und Nr. 145 des ersten Teils 9<br />

Einen Lösungsweg für die Eigenmann-Aufgabe Nr. 2 führe ich kurz vor. In der<br />

folgenden Skizze sind einzelne Schritte eingekreist nummeriert. 10 Erst später<br />

sollen die Schüler ihren Lösungsweg oder einzelne Ideen exakt ausformulieren.<br />

Im dritten Lösungsschritt wird dann die Umfangsbedingung a+b+c=22cm benutzt<br />

und wir erhalten x=6cm.<br />

9 Hierbei steht das Symbolo für den Mittelpunkt eines Kreises. Wenn nichts weiter geschrieben<br />

wird, ist im Folgenden die jeweilige Aufgabe aus dem ersten Teil des Buches.<br />

Abgeänderte Aufgaben werden mit einem Hochstrich ' an der Nummer gekennzeichnet.<br />

10 Auf diesen Stil und die entsprechende Unterrichtserfahrung hat mich freundlicherweise<br />

Dörte Haftendorn hingewiesen.<br />

144


145<br />

Michael Schneider<br />

In den Eigenmann-Aufgaben des ersten Teils wird nach Größen gefragt, zum<br />

Beispiel nach Winkeln, Seitenlängen, Flächen oder einem Verhältnis. In den<br />

Aufgaben des zweiten Teils wird gefragt, ob eine bestimmte Bedingung zutrifft,<br />

zum Beispiel, ob zwei Größen übereinstimmen oder ob ein Dreieck rechtwinklig<br />

ist. Im Vorwort des zweiten Teils heißt es:<br />

Die Besonderheit dieser Aufgaben besteht darin, daß der Löser als Fahnder<br />

eingesetzt wird. Er muss abklären, ob die angegebene Vermutung richtig oder<br />

nur scheinbar richtig ist. Anhand der gezeichneten Figur kann die Frage nicht<br />

entschieden werden. Nur die Berechnung gibt die Antwort. Mit der Antwort ja<br />

oder nein ist aber das Problem noch nicht ausgeschöpft. Im Falle „nein“ erhebt<br />

sich nämlich sofort die Frage: Für welche Masse würde die Vermutung genau<br />

zutreffen? Das erfordert das Aufstellen und Lösen von Gleichungen. (Eigenmann<br />

1981, S. 26)<br />

Abb. 2: Nr.2 mit eingezeichneten Lösungsschritten<br />

Beispielaufgabe<br />

Abb. 3: Aufgabe Nr. 3, zweiter Teil


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

Eine Vielzahl dieser Aufgaben habe ich studiert und gelöst. Dann habe ich mir<br />

die Frage gestellt, ob es charakteristische Eigenschaften gibt und wie sich diese<br />

formulieren lassen. Als Antwort darauf gebe ich die folgende Liste.<br />

Charakteristische Eigenschaften der Eigenmann-Aufgaben<br />

1. Die Aufgabe ist minimalistisch gestellt: es gibt eine Zeichnung und eine<br />

Frage dazu. Die Zeichnung muss als geometrische Figur interpretiert werden.<br />

2. Die Frage ist kurz und direkt formuliert, es existiert eine eindeutige Antwort.<br />

3. Es gibt keine Abfolge von Arbeitsanweisungen.<br />

4. Hinweise werden nur sparsam und allgemein gegeben.<br />

5. Es ist eine Problemlöseaufgabe.<br />

Diese Charakterisierung ist wichtig als Basis weiterer Forschung, zum Beispiel<br />

wenn man neue Aufgaben dieses Typs komponieren will. Eigenmann gibt kein<br />

einziges Lösungsbeispiel, lediglich eine Einteilung der Aufgaben in Gruppen<br />

und die zur Bearbeitung benötigten Kenntnisse am Ende des Vorworts (jeweils<br />

im ersten und zweiten Teil des Buches).<br />

Zusatz und „Philosophie“<br />

Beim Lösen einer Eigenmann-Aufgabe soll ein ökonomisches Prinzip beachtet<br />

werden: es kommen keine ausgefallenen, komplizierten Formeln zum Einsatz. 11<br />

Das ist der Hauptgedanke und die Philosophie dieser Aufgaben. Statt etwa ein<br />

Koordinatensystem einzuführen, vorhandene Linien in Geradengleichungen zu<br />

übersetzen und das Problem algebraisch anzugehen, führen allgemeine Problemlösestrategien<br />

wie zum Beispiel das Ausnutzen von Symmetrie schneller und<br />

eleganter zum Ziel. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Eigenmann-Aufgaben,<br />

die im Laufe der Lösung sinnvoll algebraisch behandelt werden.<br />

Didaktisches Potenzial der Eigenmann-Aufgaben<br />

Standard- und Routineaufgaben sind wichtig, um schematisch-schablonenhaftes<br />

und reproduktives Denken anzusprechen. Darüber hinaus aber müssen Aufgaben<br />

an die Schüler herangetragen werden mit denen das produktive Denken<br />

geweckt und gepflegt wird (vgl. Schupp 1971, S.110-111).<br />

Bei den Eigenmann-Aufgaben werden die Lernenden nicht kleinschrittig in<br />

Form von Aufgabenteilen auf einem bestimmten Weg zur Lösung geführt, sondern<br />

erhalten Freiraum, den sie kreativ nutzen können - mit dem Lehrer oder<br />

11 Was das konkret bedeutet, muss im Unterricht diskutiert und ausgehandelt werden.<br />

146


147<br />

Michael Schneider<br />

anderen Lernenden als mögliche Partner. Kreativität und Freiraum dürfen natürlich<br />

nicht zu Beliebigkeit im Klassenraum führen. Des Weiteren sollte der Eindruck<br />

vermittelt und gefestigt werden, dass diese Form der Beschäftigung nicht<br />

nur Spaß bereiten darf, sondern sogar „richtige“ <strong>Mathematik</strong> ist!<br />

Mit Eigenmann-Aufgaben und deren Lösungen kann ein geometrisches Beispielrepertoire<br />

an Heuristiken aufgebaut werden. Dieser Punkt ist wichtig, denn<br />

es bringt nichts, einzelne Problemlösestrategien namentlich aufsagen zu können,<br />

ohne an ein konkretes Beispiel (working example) zu denken:<br />

In fact, problem solving can be learned only by solving problems. But it<br />

must be supported by strategies provided by the trainer. (Engel 1998, S. 1)<br />

Weiter können mit Eigenmann-Aufgaben Grundvorstellungen von Problemlösestrategien<br />

aufgebaut werden. Ich beschränke mich hier beispielhaft auf die Strategie<br />

des Vorwärts- bzw. Rückwärtslösens.<br />

Strategie des Vorwärts- und Rückwärtslösen<br />

Abb. 4: Aufgabe Nr. 13<br />

Abb. 5: Nr. 13 links vorwärts gelöst, rechts rückwärts gelöst 12<br />

12 In einem vierten Schritt wird dann die Winkelsumme im unteren bzw. oberen Teildreieck<br />

benutzt und es ergibt sich: α = 68°.


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

Beim Vorwärtslösen nähert man sich also (im wörtlichen Sinne) der gesuchten<br />

Größe, ausgehend von den gegebenen Größen. Beim Rückwärtslösen verläuft<br />

der Weg in der Gegenrichtung. Die jeweilige Strategie wird somit visuell veranschaulicht.<br />

Bei komplexen Problemen kommen häufig beide Strategien zum<br />

Einsatz. Das gilt auch für direkte Beweise. Direkte Beweise werden von der<br />

Voraussetzung zur Behauptung vorwärts formuliert, aber selten so gefunden.<br />

Schließlich gibt eine gefundene Lösung oft Anlass, daran anknüpfende Fragen<br />

zu stellen und sich einen größeren Kontext zu erschließen.<br />

Modifizierte Eigenmann-Aufgaben für die Schule<br />

Allgemein darf bezweifelt werden, dass Schüler mit solchen vergleichsweise<br />

stenographisch gestellten Aufgaben zurechtkommen. Die Eigenmann-Aufgaben<br />

sind in vollem Umfang nicht direkt für den Einsatz in einer Schule geeignet.<br />

Daher geht es mir darum, den Einstieg zu diesem Aufgabentyp zu erleichtern.<br />

Das kann zum Beispiel geschehen durch:<br />

1. Vorgabe der Bezeichnungen der Größen in der Aufgaben-Figur,<br />

2. Hinweis auf Hilfslinien,<br />

3. Änderungen bei den gegebenen und gesuchten Größen.<br />

Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Auf einzelne Punkte gehe ich<br />

gleich an Beispielen näher ein. Vorher möchte ich betonen, wie wichtig es ist,<br />

den Lernenden ihren Freiraum zu lassen, um selbständiger und selbstbewusster<br />

zu werden. Außerdem führen oft mehrere Wege zur Lösung, aber nicht jeder gut<br />

gemeinte Hinweis ist unabhängig vom Lösungsweg. Hier ist es unabdingbar,<br />

dass der Lehrer ohne die Scheuklappen eines eigenen Lösungsweges die Ideen<br />

der Schüler wohlwollend aufnimmt und Rückmeldung gibt 13 , also eher prozessorientiert<br />

als ergebnisorientiert Hilfestellung leistet. Trotzdem muss sich die<br />

Lehrperson haargenau durch eigenes Lösen Sicherheit verschaffen, dass die<br />

Schüler mit ihrem bisher erworbenen Wissen eine Lösung finden können. Anderenfalls<br />

macht sich Frustration breit und die Schüler wollen zurück zu Standardaufgaben.<br />

Zu Beginn und immer wieder aufs Neue muss im Klassenraum die<br />

richtige Atmosphäre geschaffen werden, eine Stimmung, in der das Suchen, das<br />

Vermuten und das Knobeln ausdrücklich gewünscht sind.<br />

Zu Punkt 1: Vorgabe der Bezeichnungen der Größen in der Aufgaben-Figur<br />

13 Für eine Darstellung von Hilfen im Lösungsprozess verweise ich auf Zech 1996, S.<br />

315 ff.<br />

148


149<br />

Michael Schneider<br />

Die (relevanten) Größen der Aufgaben-Figur zu bezeichnen geht einher mit dem<br />

Erfassen der Konfiguration und des Problems. Diese Tätigkeit legt die Basis für<br />

die eigenen Gedankengänge und später für die Kommunikation mit anderen<br />

Schülern und dem Lehrer (Ich-Du-Wir-Prinzip). Die Vorgabe relevanter Größen<br />

erleichtert die Aufgabe, sollte aber im geometrischen Kontext vorsichtig dosiert<br />

werden, damit die Lernenden nicht zu algebraisch vorgehen.<br />

Beispiel:<br />

Abb. 6: Aufgabe Nr. 65 Original und mit eingeführten Bezeichnungen<br />

Die zusätzlichen Bezeichnungen in der Eigenmann-Aufgabe 65 liefern angedeutete<br />

Hinweise. Das t steht für „Tangente“, sichert also den Eindruck, dass die<br />

Gerade durch A und B wirklich tangential am Kreis um M liegt. Alle Punkte A,<br />

B, C und M sind miteinander verbunden – mit einer Ausnahme, so dass Schüler<br />

möglicherweise auf die Idee kommen, die Strecke von B nach M als Hilfslinie<br />

zu benutzen.<br />

Zu Punkt 2: Hinweis auf Hilfslinien<br />

Hilfslinien gliedern ein Problem in Teilprobleme, von denen man hofft, dass<br />

diese einfacher als das Ausgangsproblem zu lösen sind. Die Lösungen der Teilprobleme<br />

werden schließlich zu einer Gesamtlösung zusammengesetzt. Auf<br />

diese Heuristik bezieht man sich oft mit der Formulierung „teile und herrsche“.<br />

Beispiel


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

Abb. 7: Aufgabe Nr. 145 Original und mit gestrichelten Hilfslinien<br />

Zu Punkt 3: Änderungen bei den gegebenen und gesuchten Größen<br />

Hier ist besondere Vorsicht geboten: Änderungen bei den gegebenen oder gesuchten<br />

Größen können das Problem vereinfachen, erschweren oder sogar unlösbar<br />

machen.<br />

Beispiel<br />

Abb. 8: Aufgabe Nr.2 und abgeänderte Aufgabe Nr. 2'<br />

Die abgeänderte Aufgabe Nr. 2' ist etwas leichter als das Original:<br />

• Die linke Seite des Dreiecks ist in Nr. 2' als x vorgegeben, im Original muss<br />

diese Seite als 2+x erkannt werden.<br />

• Als Bestimmungsgleichung für x ergibt sich für Nr. 2': 2+6+6+x=22 im Gegensatz<br />

zu 2+x+x+(2+x)=22 für die Originalaufgabe.<br />

Neue Aufgaben komponieren im Geiste von Eigenmann<br />

Es ist sehr aufwändig, Aufgaben zu generieren, die „aufgehen“, ästhetisch sind<br />

und darüber hinaus Einsicht vermitteln und zu weiteren spannenden Fragen<br />

führen. Als Ausgangspunkt und für den einfachsten Schwierigkeitsgrad neuer<br />

Aufgaben im Geiste von Eigenmann empfehle ich, von den Eigenmann-<br />

Symbolen (wie zum Beispiel o für den Mittelpunkt eines Kreises) auszugehen<br />

und diese einzuüben. Für höhere Schwierigkeitsstufen relevant ist das aus der<br />

Musik und dem Problemschach bekannte Prinzip, mit (Grund-)Mustern zu<br />

„spielen“ und zu variieren (Schupp 2002, S. 31-37). Denkbar sind auch Aufgaben<br />

dieses Typs für drei Dimensionen. Mit (oder ohne) Einsatz von DGS kommen<br />

weitere neue Aufgaben zu Ortskurven in Frage.<br />

150


Beispiele<br />

Abb. 9: Zwei neue Aufgaben im Geiste von Eigenmann<br />

Kontext Basiskompetenzen<br />

151<br />

Michael Schneider<br />

In den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss vom 4.12.<br />

2003 finden sich in Form von Kompetenzen und ausgerichtet an Leitideen<br />

Wunschbeschreibungen, was Schüler können und tun (sollen). Diese Kompetenzen<br />

fasse ich als Gesamtkatalog auf. Kompetenzen lassen sich nicht streng<br />

getrennt voneinander diskutieren. Das Gesamtkonzept lehne ich nicht ab, aber<br />

man blendet darin die didaktische Relevanz von Inhalten aus. So steht etwa bei<br />

der Leitidee Raum und Form:<br />

[Die Schülerinnen und Schüler] wenden Sätze der ebenen <strong>Geometrie</strong> bei<br />

Konstruktionen, Berechnungen und Beweisen an, insbesondere den Satz des<br />

Pythagoras und den Satz des Thales. (Bildungsstandards im Fach <strong>Mathematik</strong><br />

für den Mittleren Schulabschluss, Beschluss vom 4.12.2003, S. 11)<br />

Zur Bedeutung dieser Sätze oder anderen Inhalten findet man nichts. Es bleibt<br />

das didaktische Problem der Rechtfertigung: Was sollen (welche) Schüler warum<br />

in der <strong>Geometrie</strong> lernen?<br />

Mit zunehmendem Gebrauch des Kompetenzbegriffs verschwinden die Unterschiede<br />

zwischen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnissen. Weitere Kritikpunkte<br />

finden Sie in einem Artikel von F. Grigat (vgl. Forschung und Lehre<br />

4/2010, S. 250 ff.).<br />

Positiv halte ich fest: Kompetenzen sind so formuliert, dass sie sich leicht testen<br />

und feststellen lassen. Bei der Bearbeitung von Eigenmann-Aufgaben erwerben<br />

die Schüler folgende Basiskompetenzen:


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

• (K 1) Mathematisch argumentieren,<br />

• (K 2) Probleme mathematisch lösen,<br />

• (K 4) Mathematische Darstellungen verwenden,<br />

• (K 5) Mit symbolischen, formalen und technischen Elementen der <strong>Mathematik</strong><br />

umgehen.<br />

Die Kompetenz (K 3) mathematisch modellieren wird durch Eigenmann-<br />

Aufgaben nicht gefördert.<br />

Neben der Problemlösekompetenz liegen mir die Kommunikations- und allgemeiner<br />

die Sozialkompetenz am Herzen. Schüler sollen dazu erzogen werden,<br />

ihre Gedanken klar auszudrücken und die Gedanken ihrer Mitmenschen während<br />

einer Diskussion zu beachten. Im Klassenraum soll also die vernünftige<br />

Rede etabliert werden. Das ist über die <strong>Mathematik</strong> hinaus ein wichtiges Erziehungsziel.<br />

Ausblick<br />

Im Rahmen meiner Dissertation arbeite ich unter anderem auch an neuen Aufgaben<br />

im Geiste von Eigenmann, die in der Schule gestellt werden. Seit Januar<br />

2010 erprobe ich Original-, modifizierte und neue Eigenmann-Aufgaben im<br />

Rahmen einer <strong>Mathematik</strong>-AG in der Bettinaschule Frankfurt am Main. Die<br />

Aufgaben werden generell angenommen. Abschließend schildere ich eine keineswegs<br />

repräsentative, aber erfreuliche Lösung aus dieser AG, die mich in der<br />

Geschwindigkeit überrascht hat.<br />

Fallbetrachtung Elina (9. Klasse, G8, Bettinaschule Frankfurt am Main)<br />

Abb. 10: Eigenmann-Aufgabe Nr. 133<br />

Die Schüler haben diese Skizze in Euklid DynaGeo übertragen, manche dynamisch,<br />

andere statisch. Es wurden Hilfslinien gesucht. Elina hat die Querlinien<br />

152


153<br />

Michael Schneider<br />

verlängert und auf den Eckpunkten des großen Quadrates die Lote errichtet:<br />

Abb. 11: Nr. 133 mit eingezeichneten Hilfslinien<br />

Dann gab sie mir die Antwort 1/5 mit dem Zusatz, dass sie das sieht. Ich habe<br />

sie gebeten, mir das ausführlich zu erklären. Sie hat in ihren Worten mit Kongruenz<br />

und Umklappen argumentiert: Die Dreiecke (A und B) können ausgetauscht<br />

werden. Man hat also vier gleich große Quadratflächen um die mittlere<br />

und das mittlere Quadrat ist genau so groß. Dann war mir klar 14 : sie hat die<br />

Lösung gefunden.<br />

Solche schnellen und eleganten Lösungen sind natürlich (erfreuliche) Ausnahmen,<br />

es ist bereits viel gewonnen, wenn die vernünftige Rede im Klassenraum<br />

etabliert ist. Bei der Bearbeitung der Aufgabe 133 hatte ich in der Vorbereitung<br />

deutlich länger gebraucht. Mir fiel nach einigen Sackgassen die gleiche Lösung<br />

ein. Gleichzeitig hatte ich mir damit eine neue Heuristik erarbeitet: „erweitere<br />

und herrsche“.<br />

Schlussendlich sehe ich Problemlösen nicht zwangsgekoppelt an die Förderung<br />

irgendwelcher Eliten: „Problem“ ist ein individueller Begriff und <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

soll nicht auf <strong>Mathematik</strong>-Olympiaden vorbereiten, sondern auf das<br />

(Berufs-)Leben oder das Studium – dadurch, dass das Denken geübt wird.<br />

Literatur<br />

Eigenmann, P. (1981). Geometrische Denkaufgaben. Stuttgart: Ernst Klett<br />

Engel, A. (1998). Problem-Solving Strategies. New York : Springer<br />

14 ohne Videokamera, Tonbandgerät und Kompetenzkalkül


Problemlösen im Kontext der Basiskompetenzen<br />

Grigat, F. (2010). Die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. In: Forschung und Lehre<br />

4/2010, Bonn: Deutscher Hochschulverband, S. 250-253.<br />

Kadunz, G. und Sträßer, R. (2007). Didaktik der <strong>Geometrie</strong> in der Sekundarstufe I. Hildesheim,<br />

Berlin: Franzbecker.<br />

Schupp, H. (2002). Thema mit Variationen. , Hildesheim, Berlin: Franzbecker<br />

Weigand, H.-G. et al. (2009). Didaktik der <strong>Geometrie</strong> für die Sekundarstufe I, Spektrum<br />

Akademischer Verlag, Heidelberg<br />

Zech, F. (1996). Grundkurs <strong>Mathematik</strong>didaktik. Theoretische und praktische Anleitung<br />

für das Lehren und Lernen von <strong>Mathematik</strong>, Beltz, Weinheim, Basel<br />

154


Förderung von geometriespezifischen Kompetenzen - eine Bestandsaufnahme<br />

des Ist-Zustandes an Haupt- und Realschulen<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Zusammenfassung. „Inwiefern werden konstruktive Kompetenzen in der Sekundarstufe<br />

I mit dem Lineal/Geodreieck und dem Zirkel aktuell an baden-württembergischen Schulen<br />

gepflegt?“ Dieser Frage geht diese kurze Untersuchung mit unterschiedlichen Erhebungen<br />

nach. So werden Lehrpläne, Abschlussprüfungen und Schulbücher analysiert.<br />

Eine kleine empirische Erhebung, erste Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung<br />

an einer Grund- und Realschule bzw. eigene Erfahrungen werden anschließenden<br />

in einem Fazit gebündelt.<br />

Begriffsklärungen<br />

In der nachfolgenden Bestandsaufnahme wird ein sehr reduziertes Verständnis<br />

von „geometriespezifischen Kompetenzen“ zu Grunde gelegt. Hierbei geht es<br />

vor allem um den bewussten und zielgerichteten Umgang mit Lineal/Geodreieck<br />

und Zirkel. Bezüglich des Längenmesszeuges beinhaltet dies das Messen und<br />

Zeichnen von Strecken und Winkeln unter Berücksichtigung von Genauigkeitsvorgaben.<br />

Ebenfalls dazu gehört das Erstellen von Parallelen, Orthogonalen<br />

(Lotgeraden) und Seitenmitten. Mit dem Zirkel steht das Zeichnen des Kreises<br />

und der Streckenübertrag im Fokus, wobei die Bedeutung bzw. die Wirkung der<br />

„Zirkeltätigkeit“ beim Konstruieren in das Bewusstsein gerückt werden sollte<br />

(vgl. die Erzeugung der Lotgeraden, Mittelsenkrechten, der Winkelhalbierenden,<br />

etc.).<br />

Unter Skizzieren werden zeichnerische Ausführungen verstanden, bei denen<br />

folgende Eigenschaften berücksichtigt werden: Orthogonalität und Parallelität.<br />

Im Allgemeinen werden Strecken und Geraden mit dem Lineal/Geodreieck<br />

gezeichnet; Winkelarten (spitzwinklig, stumpfwinklig, …), als auch Streckenverhältnisse<br />

(gleichlang, doppelt so lang, …) sollen möglichst bzw. annähernd<br />

in der Skizze ihre Eigenschaften behalten; dies begünstigt eine spätere Strategieausbildung<br />

bei der Lösungsfindung.<br />

Beim Zeichnen werden unter Berücksichtigung eines Maßstabes (so notwendig)<br />

alle Maße berücksichtigt und eingehalten. Dabei wird der Prozess nicht thematisiert<br />

bzw. visualisiert. So können Streckenverhältnisse z.B. mit Hilfe der Lineal-<br />

Steinwandel, J. (2010). Förderung von geometrischen Kompetenzen – eine<br />

Bestandsaufnahme des Ist - Zustandes an Haupt- und Realschulen. In: Ludwig,<br />

M., Oldenburg, R. (Hrsg.) (2010). Basiskompetenzen in der <strong>Geometrie</strong>, Hildesheim:<br />

Franzbecker, S.155-174


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

skalierung erzeugt werden. Entsprechend werden beispielsweise Winkelhalbierende<br />

„abgelesen“.<br />

Konstruiert wird unter Verzicht auf Längen- und Winkelskalierungen mit skalenfreiem<br />

Lineal und Zirkel. Somit handelt es sich um einen Teilprozess bei der<br />

Erstellung einer „Konstruktionszeichnung“, da immer von einer „vermessenen“<br />

Ausgangssituation weiterentwickelt wird. Hier steht der Prozess im Vordergrund.<br />

Deshalb wird das „Tun“ protokolliert. Zum einen sind Konstruktionshilfslinien<br />

(Zirkelbogen, Zwischenparallelen, etc.) in dünnen Linien sichtbar.<br />

Des Weiteren kann der Prozess als Konstruktionsprotokoll notiert bzw. nachgelesen<br />

werden.<br />

Ein Blick in den Lehrplan der Hauptschule und Realschule<br />

Inwieweit werden nun aktuell geometriespezifische Kompetenzen im regulären<br />

Unterricht an Haupt- und Realschulen gefördert? Hierzu wird eine diesbezügliche<br />

Analyse der Lehrpläne der beiden Schularten durchgeführt. Dabei gilt ein<br />

besonderes Augenmerk der speziellen Kompetenz des Konstruierens bzw. des<br />

Umganges mit Geodreieck und Zirkel. Zunächst werden die Leitgedanken zum<br />

Kompetenzerwerb beleuchtet. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen<br />

den beiden Lehrplänen.<br />

156


157<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Inhalte Hauptschule Realschule<br />

Kompetenzen … Sie gebrauchen verschiedene Hilfsmittel (…,<br />

Messgeräte) für mathematische Aktivitäten und<br />

können die Grenzen dieser Hilfsmittel einschätzen.<br />

…<br />

Didaktische<br />

Hinweise und<br />

Prinzipien für<br />

den Unterricht<br />

Gliederung nach<br />

Leitideen<br />

… Dazu gehören auch, verschiedene Zugänge zur<br />

<strong>Mathematik</strong> zu eröffnen, wie zum Beispiel über<br />

Formen … aus der Natur, über Kunst, Architektur,<br />

…<br />

Die Leitidee „Messen“ wird für die Schülerinnen<br />

und Schüler konkret fassbar, wenn sie durch vielfältige<br />

Handlungsmöglichkeiten systematisches<br />

Vergleichen, sinnvolles Runden und Abschätzen<br />

lernen. Dies verhilft zur Ausbildung von geeigneten<br />

Größenvorstellungen.<br />

Unter der Leitidee „Raum und Form“ werden<br />

geometrische Inhalte thematisiert, deren Verbindungen<br />

zu arithmetischen und algebraischen Gesetzmäßigkeiten<br />

aufgezeigt, sowie das Raumvor-<br />

stellungsvermögen geschult. Bei der Realschule werden die Hinweise zum Kompetenzer-<br />

Es fällt auf, dass in der Hauptschule auf den Umgang mit geometrischen Hilfsmitteln<br />

hingewiesen wird – also ganz explizit eine Handlung damit eingefordert<br />

wird. Mit dem Hinweis auf „vielfältige Handlungsmöglichkeiten“ und der Einbeziehung<br />

realer Situationen erhält das Zeichnen und Messen eine gewichtige<br />

Rolle. Jedoch wird eine Konzentration auf das eigentliche Konstruieren hier<br />

nicht erwähnt. Bei der Realschule fehlt hingegen jeglicher Hinweis.<br />

In der nachfolgenden Tabelle wird auf die Leitideen „Messen“ und „Raum und<br />

Form“ detailliert und schulartspezifisch eingegangen. Dabei wird im Besonderen<br />

die Schwerpunktsetzung der geometriespezifischen Kompetenzen in Abhängigkeit<br />

mit dem Schuljahr in den Fokus genommen. Hier zeichnet sich eine<br />

„rückläufige“ Gewichtung der „konstruktiven“ <strong>Geometrie</strong> bis zur 10. Klasse ab,<br />

in der eigentlich nur noch rechnerisch mit Skizzen gearbeitet wird.<br />

werb nicht thematisiert.


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

Leitidee Klasse Hauptschule<br />

Messen<br />

Raum +<br />

Form<br />

Messen<br />

Raum +<br />

Form<br />

5 – 8<br />

9<br />

Messen -<br />

Raum +<br />

Form<br />

10<br />

alltagsbezogene Repräsentanten<br />

zur Vorstellung von Größen verwenden<br />

und beim Schätzen anwenden<br />

Längen-, Flächen-, Volumen- und<br />

Winkelmessung<br />

zueinander parallele und<br />

senkrechte Geraden erkennen und<br />

zeichnen<br />

geometrische Objekte der Ebene<br />

darstellen<br />

Netze und Modelle von Würfeln<br />

und Quadern anfertigen und die<br />

Körper in entsprechenden Darstellungen<br />

erkennen<br />

Netze, Schrägbilder und Modelle<br />

von Prismen und Zylindern<br />

den Satz des Pythagoras bei Berechnungen<br />

und Beweisen anwenden<br />

Netze und Schrägbilder von Pyramide<br />

und Kegel anfertigen<br />

geometrische Figuren unter Verwendung<br />

angemessener Hilfsmittel<br />

wie Zirkel, Geodreieck oder<br />

dynamischer <strong>Geometrie</strong>-Software<br />

zeichnen und konstruieren<br />

Netze, Schrägbilder, Modelle von<br />

Körpern<br />

158<br />

Einsatz von<br />

Zeichenwerkzeugen<br />

Geodreieck<br />

Gerade, Halbgerade<br />

Strecke (zeichnen, messen)<br />

Winkel (zeichnen, messen)<br />

konstruktiv<br />

Lotgerade<br />

Parallele<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelhalbierende<br />

Geradenspiegelung<br />

Punktspiegelung<br />

Zirkel<br />

Kreis, Kreisbogen<br />

Streckenübertrag<br />

konstruktiv<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelbalbierende<br />

abnehmende Relevanz


Leitidee Klasse Realschule<br />

Messen<br />

Raum +<br />

Form<br />

Messen<br />

Raum +<br />

Form<br />

Messen<br />

Raum +<br />

Form<br />

5 – 6<br />

7 – 8<br />

9 – 10<br />

die Prinzipien der Längen-, Flächen,<br />

Volumen und Winkelmessung<br />

nutzen<br />

geometrische Figuren auch im<br />

Koordinatensystem zeichnen<br />

unter Verwendung angemessener<br />

Hilfsmittel<br />

(Symmetrie, Flächen-, Körperbetrachtungen,<br />

zeichnerische Darstellungen)<br />

Die Prinzipien der Längen- und<br />

Winkelmessung sowie der Flächen-<br />

und Volumenberechnung<br />

nutzen<br />

Konstruktionskalküle ausführen<br />

Körper darstellen und aus ebenen<br />

Darstellungen erkennen<br />

Bei Konstruktionen, Berechnungen<br />

und einfachen Beweisen<br />

Sätze der <strong>Geometrie</strong> anwenden<br />

(Vielecke – Dreieck, Trapez,<br />

Parallelogramm, Gerade Prismen<br />

– Netze, Schrägbilder, Körpermodelle)<br />

die Prinzipien des Messens und<br />

Aspekte ihrer Anwendung zum<br />

Beispiel in den Naturwissenschaften<br />

nutzen<br />

gezielt Messungen vornehmen,<br />

Maßangaben entnehmen und<br />

damit Berechnungen durchführen<br />

---<br />

159<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Einsatz von Zeichenwerkzeugen<br />

Geodreieck<br />

Gerade, Halbgerade<br />

Strecke (zeichnen, messen)<br />

Winkel (zeichnen, messen)<br />

konstruktiv<br />

Lotgerade<br />

Parallele<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelhalbierende<br />

Geradenspiegelung<br />

Punktspiegelung<br />

Zirkel<br />

Kreis, Kreisbogen<br />

Streckenübertrag<br />

konstruktiv<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelbalbierende<br />

abnehmende Relevanz


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

Die <strong>Geometrie</strong> erlebt ihre „Hochzeit“ in der Haupt- und Realschule in der 7.<br />

Klasse. Hier werden Dreieckskonstruktionen und Konstruktionen im Dreieck<br />

(Umkreis, Inkreis, Schwerpunkt) durchgeführt. In den Klassen 8 – 10 werden<br />

vorwiegend Netze und Schrägbilder gezeichnet – d.h., i.A. wird auf die konstruierende<br />

Qualität des Lineals und des Zirkels verzichtet. Somit muss bescheinigt<br />

werden, dass diesbezüglich eine abnehmende Relevanz zu beobachten ist.<br />

In Klasse 9 bieten sowohl die Strahlensätze, als auch der Thaleskreis nochmals<br />

Konstruktionsmöglichkeiten. Hier steht jedoch nicht das Konstruieren mit im<br />

Fokus, sonder vielmehr der rechnerische Umgang bzw. die algebraische Beweisführung.<br />

Abschlussprüfungen – eine inhaltliche Übersicht<br />

Eine weitere Bestandsaufnahme gilt den Abschlussprüfungen der Realschulen<br />

der letzten 10 Jahre. Hier wird deutlich, warum die schuljahrspezifische Entwicklung<br />

hinsichtlich der <strong>Geometrie</strong>kompetenzen so rückläufig gestaltet ist. –<br />

„Was nicht abgeprüft wird, „darf“ auch nicht gelernt werden.“ – Denn letztendlich<br />

zählt am Schluss die Abschlussleistung, die weitere Türen der Bildung oder<br />

des Berufes öffnet. In der folgenden Tabelle sind die Felder der geometriespezifische<br />

Prüfungsaufgaben grau gefärbt. Es ist zu bemerken, dass in allen untersuchten<br />

<strong>Geometrie</strong>aufgaben ausschließlich rechnerische Lösungen gefordert<br />

sind, bei denen keinerlei konstruktive Fähigkeiten notwendig sind.<br />

Um die nachfolgende Tabelle besser lesen zu können, sei hier kurz auf die Abschlussprüfungsmodalitäten<br />

in Baden-Württemberg eingegangen. Die Prüfung<br />

besteht aus zwei Teilen, dem Pflichtbereich mit den Pflichtaufgaben P1 bis P8<br />

und dem Wahlbereich mit den Wahlaufgaben W1 – W4. Von den Wahlaufgaben<br />

streicht der unterrichtende Lehrer im Hinblick auf seinen Unterricht eine<br />

Aufgabe. Von den verbleibenden drei Nummern (z.B. W1, W3, W4) muss<br />

die/der Schüler/in zwei bearbeiten. Bei den Wahlaufgaben handelt es sich i.A.<br />

um vertiefende Aufgaben. Z.B. kommen geometrische Problemstellungen mit<br />

Formvariablen vor oder es sind bis zu 4 Zwischenschritte notwendig, um eine<br />

gesuchte Größe (Strecke, Fläche oder Volumen) bestimmen zu können.<br />

160


1999<br />

2000<br />

2001<br />

2002<br />

2003<br />

2004<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

Prozent, Zinsrechnung<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P7,8<br />

P6<br />

Ebene <strong>Geometrie</strong><br />

(Rechn.)<br />

P5,6<br />

W1<br />

P3,4<br />

W2<br />

P5<br />

W1,2<br />

P6<br />

W1,3<br />

P3,4<br />

W1,2<br />

W4<br />

P1,2<br />

W1,3<br />

P5,6<br />

W1,4<br />

P1,2,3<br />

W1,4<br />

P3<br />

W1,3<br />

W4<br />

P1,2<br />

W1<br />

P1,2<br />

Quader, Prisma,<br />

Würfel<br />

P6<br />

P5<br />

P2<br />

P4<br />

P4 W4<br />

Kugel, Zylinder<br />

W1<br />

P6<br />

W3,4<br />

P3<br />

Pyramide<br />

P2<br />

P1<br />

P2<br />

P1<br />

P2<br />

P5<br />

P1<br />

W1,3<br />

W4<br />

P1<br />

P3<br />

W2,4<br />

Kegel (Rechn.)<br />

P1<br />

P2<br />

P1<br />

P2<br />

P1<br />

W3<br />

P2<br />

W2<br />

Kegel-Pyr.-Stumpf<br />

W3<br />

W1<br />

W1<br />

W3<br />

W4<br />

W4<br />

W3<br />

161<br />

Zus.gesetzte<br />

Körper (Rechn.)<br />

W3<br />

W4<br />

P2<br />

P4<br />

Geraden<br />

W4<br />

P4<br />

P4<br />

Parabel<br />

P4 W2<br />

P6<br />

P3 W3<br />

P4<br />

W2,4<br />

P6 W3<br />

P4<br />

W2,4<br />

W2<br />

P6 W2<br />

P6 W2<br />

W3<br />

P4<br />

Gleichungssyteme<br />

P5<br />

P3<br />

P3<br />

P5<br />

P6<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Quadr. Gleichung<br />

P3<br />

P3<br />

P5 W2<br />

Bruchgleichung<br />

P4<br />

W2<br />

P5 W3<br />

W2<br />

W2<br />

W2<br />

P5<br />

P5<br />

Statistik, Wahrscheinlichkeit<br />

W4<br />

P7,8


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

In der tabellarischen Übersicht ist lediglich die Anzahl an Aufgaben, die im<br />

geometrischen Bereich gestellt wurden, dargestellt. Werden die Aufgaben hinsichtlich<br />

des konstruktiven Umganges mit Zeichenwerkzeugen untersucht, so<br />

muss kritisch zusammengefasst werden: allenfalls das Skizzieren wird verlangt,<br />

jedoch keine Messungen, keine Aufträge zum Zeichnen und weder Konstruktionen,<br />

noch geometrisch-logisch-qualitativen Aussagen. So fehlen z.B. Aufgabentypen,<br />

bei denen ein Ergebnis konstruktiv ermittelt und anschließend rechnerisch<br />

bestätigt wird.<br />

Schulbuchanalyse Klett + Schroedel (Realschule)<br />

Die folgende Schulbuchanalyse in Tabellenform stellt den Stellenwert der <strong>Geometrie</strong><br />

seitens der Schulbuchinhalte und die diesbezügliche Qualität dar. Es ist<br />

natürlich nichts Neues, dass ein Schulbuchverlag letztendlich eine ähnliche<br />

Analyse durchführt, wie dies auch in diesem Abhandlung bisher geschehen ist.<br />

Zum einen wird nach den Inhalten des Lehrplanes gefragt, dann wird analysiert,<br />

in wie weit man diese Vorgaben adäquat – für Lehrer und Schüler spannend und<br />

relevant – umsetzen kann. Und zuletzt – dies wird spätestens in der 10. Klasse<br />

deutlich – werden die Abschlussprüfungen in den Focus genommen und diesbezügliche<br />

Aufgabenfelder aufgespannt. Aufgaben bzw. Aufträge, die Konstruieren<br />

in dem hie diskutierten Sinne beinhalten oder vielleicht sogar als zwingende<br />

Voraussetzung benötigen, finden sich in den oberen Klassen nicht mehr.<br />

Klasse Inhalte Bemerkungen<br />

5<br />

<strong>Geometrie</strong><br />

Strecken, Geraden, Senkrechte, Parallele, Quadratgitter,<br />

Entfernung und Abstand, Symmetrische Figuren<br />

(Achsensymmetrie)<br />

Flächen und Körper<br />

Diagonalen, Symmetrieeigenschaften, Winkeleigenschaften,<br />

Gleichseitigkeit<br />

Netze, Schrägbild<br />

Rechteck, Quadrat, Parallelogramm, Raute, Drachen,<br />

Würfel, Quader<br />

162<br />

Hier wird konstruiert<br />

– mit<br />

Geodreieck und<br />

Zirkel<br />

Übrigens ist das<br />

Konstruieren der<br />

„alten“ Zeit mit<br />

Lineal ohne<br />

Skalierung und<br />

Zirkel kaum<br />

noch anzutreffen


6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Kreis und Winkel<br />

Kreis, Kreisbogen, Kreisausschnitt, Winkel, Winkelmessung<br />

(Einteilung der Winkel), Winkel im<br />

Schnittpunkt von Geraden<br />

Flächen und Körper<br />

Prisma (Netz, Schrägbild), Pyramide (Netz, Schrägbild),<br />

Zylinder, Kegel, Kugel<br />

Dreiecke<br />

Winkelsumme im Dreieck, Dreiecksformen, Konstruktion<br />

von Dreiecken, Umkreis und Inkreis, Höhenschnittpunkt<br />

und Schwerpunkt<br />

Vierecke, Vielecke<br />

Haus der Vierecke, Vierecke konstruieren, Regelmäßige<br />

Vierecke<br />

Umfang und Flächeninhalt (rechnerisch)<br />

Quadrat und Rechteck, Parallelogramm und Raute,<br />

Dreieck, Trapez, Vielecke<br />

Zentrische Streckung<br />

Konstruktion, Eigenschaften, Strahlensätze<br />

ähnliche Figuren, Ähnlichkeitssätze (bzgl. Dreiecken)<br />

Satzgruppe des Pythagoras (rechnerisch)<br />

Kathetensatz, Höhensatz, Satz des Pythagoras<br />

Trigonometrie<br />

Seitenverhältnisse im rechtwinkligen Dreieck<br />

Sinus, Kosinus, Tangens, Besondere Werte<br />

163<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Hier findet die<br />

„Konstruktions-<br />

Zeit“ der SEK I<br />

statt.<br />

Konstruktionen<br />

wären hier noch<br />

möglich<br />

„Letzte“ Konstruktionen<br />

im<br />

Leben eines<br />

Schülers; im<br />

Regelfall sehr<br />

kurz gehalten.<br />

Konstruktionen<br />

wären hier noch<br />

möglich


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

Zeichnerische und geometrische Fähigkeiten in der Sekundarstufe – eine empirische<br />

Untersuchung von Tanja Goldau – erste Ergebnisse 9/2009<br />

Zentrale Fragestellungen der wissenschaftlichen Arbeit:<br />

• Wie verändern sich zeichnerische und geometrische Fähigkeiten über die<br />

Schuljahre gesehen?<br />

• Gibt es Einflussfaktoren (Geschlecht, Interesse, Kunst, Technik)<br />

Rahmenbedingungen:<br />

• 25 Klassen (Grundschule Kl. 3, Realschule Kl. 5, 7, 9); alle Schüler erhielten<br />

den gleichen Test<br />

Zusammenfassung:<br />

Bei dieser Untersuchung wurden folgende Kompetenzen getestet:<br />

• Umgang mit dem Zeichenwerkzeug (Bleistift und Geodreieck)<br />

• Klassifizierung von Vierecken<br />

• Beobachten, Erkennen und Abzeichnen<br />

• perspektivisches Zeichnen (Schrägbilder): Vorlage = Schrägbild<br />

• perspektivisches Zeichnen (Schrägbilder): Vorlage = Körper<br />

Begriffsklärungen<br />

Unter Zeichnen wird hier eigentlich das Skizzieren verstanden, bei dem nicht<br />

auf Bemaßungen bzw. einen Maßstab geachtet werden muss. Bei Aufgabe 1<br />

steht sowohl das Sprachverständnis (Was versteht man unter „verschiedene“?),<br />

als auch eine Klassifizierungsstrategie im Fordergrund. Die Nummern 2 – 5<br />

beinhalten Beobachtungs- und Abzeichnungsaufträge, wobei entsprechende<br />

Skizzen bereitgestellt werden. Die nachfolgenden Aufgaben verlangen das Abzeichnen<br />

von Realbildern bzw. Realkörpern. Hier werden ausdrücklich nicht<br />

sichtbare Linien verlangt, die der Schüler mental erzeugen muss.<br />

164


Kurzübersicht der Auswertungen<br />

erreichte Punkte<br />

erreichte Punkte<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

1,5<br />

1,5<br />

1,4<br />

1,4<br />

1,3<br />

Klasse<br />

1,3<br />

0 2 4 6 8 10<br />

Klasse<br />

165<br />

Jürgen Steinwandel


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

erreichte Punkte<br />

erreichte Punkte<br />

4,0<br />

3,5<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

Klasse<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

Klasse<br />

166


erreichte Punkte<br />

erreichte Punkte<br />

5,0<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

5,0<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

Klasse<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

Klasse<br />

167<br />

Jürgen Steinwandel


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

erreichte Punkte<br />

erreichte Punkte<br />

erreichte Punkte<br />

3,5<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

5,0<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

Klasse<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

5,0<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

Klasse<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

Klasse<br />

168


Auswertung insgesamt:<br />

Mittelwerte aller Aufgaben:<br />

erreichte Punkte<br />

3,5<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0,0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

Klasse<br />

169<br />

Jürgen Steinwandel


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

Einfluss Geschlecht:<br />

Einfluss Interesse:<br />

erreichte Punkte (Mittelwert)<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

Klassenstufe<br />

170<br />

Technik<br />

Franz+MUM<br />

Musik<br />

Kunst<br />

noch keine<br />

Fächerwahl<br />

Die Ergebnisse sind teilweise uneinheitlich. So erkennt man mitunter starke<br />

spezifische Kompetenzsteigerungen beim Übergang von der Grundschule zur<br />

Sekundarstufe I mit einer Abflachung der Leistungskurve in den oberen Klassen<br />

(vgl. Aufgaben 4, 5, 7, 8, 9). Dies verwundert nicht, da wie schon oben beschrieben,<br />

ab Klasse 8 (in Abhängigkeit der zeitlichen Setzung der Dreieckskonstruktionen)<br />

wenig bis gar nicht mehr konstruiert bzw. gezeichnet wird.<br />

Dieser Trend wird ebenfalls von der Gesamtauswertung gestützt. Trotzdem<br />

muss mit den Ergebnissen vorsichtig umgegangen werden, da bestimmte Begrifflichkeiten<br />

(Skizze, Zeichnen, regelmäßiges Achteck, Zylinder, Quader,<br />

Pyramide, Kegel, Abbildung, …) in der Grundschule noch nicht ausgebildet<br />

sind. So hat ein Grundschüler im Regelfall einen anderen Anspruch an ein „unterschiedliches“<br />

Viereck, als eben hier erwartet wird (z.B. unterschiedlich bezogen<br />

auf die Größe, Form, Lage, …); dies wird von den detaillierten Auswertungen<br />

widergespiegelt. Geschlechtsspezifische Unterschiede bzw. Auffälligkeiten<br />

konnten nicht nachgewiesen werden. Eine Auswertung bzgl. Abhängigkeiten<br />

vom besuchten Wahlpflichtfach ab Klasse 7 bringt ebenfalls teilweise wider-


171<br />

Jürgen Steinwandel<br />

sprüchliche Befunde. So haben Schüler, die „Französisch“ belegt haben, von<br />

Klasse 7 bis 9 den größten Lernzuwachs (bezogen auf die hier gesetzten Items)<br />

und liegen in Klasse 9 über der Technikgruppe. Letztendlich sind hier keine<br />

Aussagen möglich, da die entsprechende Teilgruppe zu klein war.<br />

Meine eigenen Erfahrungen (Kl. 7 – 10)<br />

Als Physiklehrer unterrichtete ich seit meinem Dienstbeginn ausschließlich die<br />

Klassenstufen 7–10 – somit bleiben meine Erfahrungen auf diese Klassenstufen<br />

beschränkt. Besinne ich mich auf die didaktischen und methodischen „Freiheiten“,<br />

die man als Lehrer in diesen Klassenstufen genießt, so fällt auf, dass ab der<br />

9. Klasse ein starker Wandel hin zur Abschlussprüfungsorientierung stattfindet.<br />

Der Druck seitens der Eltern – und somit seitens der Schulleitung ist spätestens<br />

in Klasse 10 sehr groß. Zukunftsängste auf der einen Seite und nicht zuletzt<br />

Prestigesorgen auf der anderen prägen die Diskussion. Hinzu kommt manches<br />

Mal noch ein Konkurrenzgebarde zwischen Lehrern, die eine 10. Klasse unterrichten.<br />

So reduziert sich die didaktisch-methodische Bandbreite zunehmend auf<br />

das Üben von prüfungsähnlichen Aufgaben oder der Prüfungsaufgaben der<br />

letzten Jahre – hierfür gibt es „Gott-sei-Dank“ die Starkbücher im bekannten<br />

rot-weißen Design. Und darin enthalten sind logischerweise keine Konstruktionsaufgaben<br />

mehr – allenfalls das Geodreieck oder der Zirkel zur Anfertigung<br />

einer Skizze werden gebraucht. Genau genommen gibt es nur noch die <strong>Geometrie</strong><br />

der trigonometrischen Berechnungen. Immerhin kommen immer wieder<br />

Aufgaben vor, in denen das Erkennen von Ähnlichkeiten, das Zerlegen einer<br />

Fläche bzw. das Komplettieren von Figuren gefordert ist – und dann mit Pythagoras,<br />

Sinus, Kosinus und Tangens (im besonderen Falle auch Ähnlichkeitssätze,<br />

Höhensatz und Kathetensatz) berechnet werden darf. Der Schüler ist aber<br />

spätestens hier seiner geometrischen Handlung beraubt – der direkte Umgang<br />

mit Längen, Verhältnissen und geometrischen Strategien fehlt. Ergebnisse werden<br />

zunehmend rein abstrakt wahrgenommen. Dies fällt spätestens dann auf,<br />

wenn ein Schüler für den Durchmesser eines Fahrradreifens 30 Meter anbietet.<br />

Arbeiten mit z.B. einem dynamischen <strong>Geometrie</strong>programm? Dieser „Luxus“<br />

bzw. „Ausflug“ wird in Klassen 10 i.A. nicht mehr angeboten, da die so kostbare<br />

Zeit hier nicht mehr „vergeudet“ wird. Gegenüberstellungen von Zeichnungen<br />

/ Konstruktionen und Rechnungen , in denen z.B. durch Messungen Ergebnisse<br />

geprüft werden, kommen nicht vor.<br />

Kleiner empirischer Befund bzgl. des mathematischen Alltags an Realschulen.<br />

In der nachfolgenden begrenzten empirischen Erhebung wurden Lehrer zweier<br />

Realschulen befragt. Sie sollten die Unterrichtsintensität (0 = gar nicht, …<br />

3 = zentraler Bestandteil des Unterrichts) einschätzen. Je dunkler das Grau,


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

desto intensiver bewerten hierbei die Pädagogen die entsprechende Schwerpunktssetzung.<br />

Sehr schön kann man hier die Schwerpunktssetzung des Konstruierens mit dem<br />

Zirkel in Klasse 7 bzw. 8 (Mittelsenkrechte, Winkelhalbierende, Inkreis, Umkreis,<br />

…) sehen. Davor bzw. danach wird der Zirkel i.A. lediglich z.B. für Kuchendiagramme,<br />

Netze eines Zylinders/Kegels oder andere geometrischen Gebilde<br />

mit Kreisteilen benötigt. D.h., die „Wirkung“ des Konstruktionswerkzeuges<br />

Zirkel scheint tatsächlich an die Dreieckskonstruktionen gebunden zu sein.<br />

Ein erwähnenswertes Konstruieren beim Thaleskreis (Klasse 9) wird von den<br />

Lehrern unterschiedlich bestätigt. In Klasse 10 ist ein Rückgang des Konstruierens<br />

mit Geodreieck und Zirkel erkennbar.<br />

Klasse<br />

Gerade<br />

Lineal/Geodreieck Zirkel<br />

Zeichnen Messen Konstruieren<br />

Halbgerade<br />

Strecke<br />

Winkel<br />

Gerade<br />

Halbgerade<br />

Strecke<br />

Winkel<br />

Lotgerade<br />

Parallele<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelhalbierende<br />

172<br />

Geradenspiegelung<br />

Punktspiegelung<br />

Streckung<br />

Kreis<br />

Zeichnen/<br />

Messen<br />

Kreisbogen<br />

Streckenübertrag<br />

Konstruieren<br />

Schnittpunkt<br />

Mittelsenkrechte<br />

5 3 3 3 0 3 0 0 3 0 0 0 3 0 0 0 0 0 0 0<br />

5 3 3 3 3 3 3 3 3 1 3 0 0 0 0 0 3 1 0 0 0 0<br />

5 3 3 3 2 2 3 3 0 2 2 2 0 3 2 2 0 0 0<br />

5 3 1 3 3 1 3 3 3 3 3 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0<br />

5 2 1 3 0 2 0 2 0 2 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0<br />

6 3 2 3 3 3 3 0 3 1 1 0 2 0 3 3 1 1 0 0<br />

6 3 1 3 3 2 1 3 3 3 1 1 1 3 3 1 3 3 0 0 0 0<br />

6 1 0 2 3 1 0 2 3 2 2 0 0 2 0 0 2 2 0 2 0 0<br />

Winkelhalbierende


173<br />

Jürgen Steinwandel<br />

7 3 1 3 3 0 0 3 3 3 3 3 3 2 2 1 3 3 3 3 3 3<br />

7 2 0 3 3 3 3 0 2 2 2 1 2 0 3 3 3 3 3 3<br />

7 3 2 3 3 3 1 3 3 0 3 3 3 2 2 0 3 2 0 3 2 2<br />

7 3 1 3 3 1 3 3 3 2 3 3 0 0 0 1 1 0 3 3 3<br />

8 2 1 2 2 0 0 2 2 2 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1<br />

8 3 1 3 3 3 1 3 3 0 3 3 2 2 2 1 3 1 3 2 2<br />

8 3 1 3 3 1 3 3 1 2 3 3 0 0 0 1 1 0 3 3 3<br />

9 3 1 3 3 0 0 3 3 1 1 1 1 1 1 1 3 3 3 3 3 3<br />

9 3 1 3 2 3 3 0 2 1 1 2 2 3 2 2 1 2 0 0<br />

9 1 0 2 2 2 0 1 1 1 2 1 2 1 1 1 3 1 2 2 1 1<br />

9 3 1 3 3 1 1 3 3 1 1 2 2 3 3 3 3 3 0 0 0 0<br />

1<br />

0<br />

1<br />

0<br />

Klasse<br />

Gerade<br />

3 1 2 3 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 1 1<br />

1 0 2 2 2 0 1 1 1 2 1 2 1 1 1 3 1 2 2 1 1<br />

Halbgerade<br />

Strecke<br />

Winkel<br />

Gerade<br />

Halbgerade<br />

Strecke<br />

Winkel<br />

Lotgerade<br />

Parallele<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelhalbierende<br />

Geradenspiegelung<br />

Punktspiegelung<br />

Zeichnen Messen Konstruieren<br />

Streckung<br />

Kreis<br />

Kreisbogen<br />

Streckenübertrag<br />

Zeichnen/<br />

Messen<br />

Schnittpunkt<br />

Mittelsenkrechte<br />

Winkelhalbierende<br />

Konstruieren<br />

Lineal/Geodreieck Zirkel


Förderung von geometrischen Kompetenzen<br />

Fazit<br />

Was kann getan werden, damit die konstruktive <strong>Geometrie</strong> mit Lineal und Zirkel<br />

wieder einen höheren Stellenwert erhält? Denn eines zeigt die hier beschriebene<br />

geometriespezifische Lehr- und Lernkultur zunehmend: strategisch–<br />

konstruktives Denken und Handeln dient zunehmend nur noch der Einführung<br />

eines Themas, wird jedoch nicht mehr als didaktisches Prinzip verstanden. Ein<br />

Missstand, der sich spätestens bei Abschlussprüfungen deutlich zeigt – denn<br />

hier stellt man fest, dass viele Schüler nur geometrische Standardsituationen<br />

erkennen und aus einem sehr begrenzten diesbezüglichen Repertoire eingeübte<br />

Lösungsmodule „abspulen“ können. So bleibt die Erkenntnis, dass man „das<br />

Pferd von hinten aufzäumen muss“, wenn sich etwas ändern soll – denn nur<br />

wenn die Abschlussprüfungen entsprechende Kompetenzen verlangen, werden<br />

diese entsprechend (eben nicht nur als kurze Einführung, sondern wirklich als<br />

didaktisches Konzept) umgesetzt und gepflegt. Und genau hier anzusetzen, ist<br />

eine sehr diffizile Angelegenheit – denn die Erwartungshaltung und der Druck<br />

von/für Eltern, Lehrer(n), Schulleitungen, Schulämter(n) mit ihren Ministerien,<br />

weiterführende(n) Schulen, Ausbildungsbetriebe(n) und Schüler(n) sind vielfältig,<br />

teilweise unterschiedlich bis konträr und nicht selten sehr unsicher.<br />

Literatur<br />

Goldau (2009). Zeichnerische und geometrische Fähigkeiten in der Sekundarstufe – eine<br />

empirische Studie. <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> Weingarten. Nicht veröffentlicht, vorläufige<br />

Untersuchungsergebnisse<br />

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009). Abschlussprüfungen<br />

der Realschulen (1999 – 2009).<br />

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009). Bildungsplan für<br />

Hauptschulen und Werkrealschulen<br />

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009). Bildungsplan für<br />

Realschulen<br />

(2001). <strong>Mathematik</strong> heute Realschule Baden-Württemberg, Band 5 – 10. Schroedel<br />

Verlag GmbH, Hannover<br />

(2005). Schnittpunkt <strong>Mathematik</strong> Baden-Württemberg (Realschule), Band 1 – 6. Ernst<br />

Klett Verlag, Stuttgart Düsseldorf Leipzig<br />

174


Matthias Ludwig<br />

Fachbereich <strong>Mathematik</strong><br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> Weingarten<br />

Kirchplatz 2<br />

88250 Weingarten<br />

ludwig@ph-weingarten.de<br />

Michael Neubrand<br />

Institut für <strong>Mathematik</strong>´<br />

Autorenverzeichnis<br />

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg<br />

D-26111 Oldenburg<br />

neubrand@mathematik.uni-oldenburg.de<br />

Swetlana Nordheimer<br />

Humboldt Universität zu Berlin<br />

Institut für <strong>Mathematik</strong><br />

Rudower Chaussee 25<br />

12489 Berlin<br />

nordheim@mathematik.hu-berlin.de<br />

Eva-Maria Plackner<br />

Didaktik der <strong>Mathematik</strong> und Informatik<br />

Otto-Friedrich-Universität Bamberg<br />

Markusplatz 3<br />

96045 Bamberg<br />

eva-maria.plackner@uni-bamberg.de


Autorenverzeichnis<br />

Markus Ruppert<br />

Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />

Universität Würzburg<br />

Am Hubland<br />

97074 Würzburg<br />

ruppert@mathematik.uni-wuerzburg.de<br />

Reinhard Oldenburg<br />

Institut für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> und der Informatik<br />

Goethe-Universität Frankfurt am Main<br />

Robert-Mayer-Straße 10<br />

60054 Frankfurt am Main<br />

oldenbur@math.uni-frankfurt.de<br />

Michael Schneider<br />

Institut für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> und der Informatik<br />

Goethe-Universität Frankfurt am Main<br />

Robert-Mayer-Straße 10<br />

60054 Frankfurt am Main<br />

mschneid@math.uni-frankfurt.de<br />

Jürgen Steinwandel<br />

Fachbereich <strong>Mathematik</strong><br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong><br />

Kirchplatz 2<br />

88250 Weingarten<br />

steinwandel@ph-weingarten.de<br />

176


Autorenverzeichnis<br />

Jan Wörler<br />

Lehrstuhl für Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />

Universität Würzburg<br />

Am Hubland<br />

97074 Würzburg<br />

woerler@mathematik.uni-wuerzburg.de<br />

Prof. Dr. Heinrich Winter<br />

Prämienstraße 103.<br />

52076 Aachen<br />

heinrichwinter@gmx.de<br />

177

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