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Weite und zugleich existenzieller Erschütterung. In beiden Stücken wird der Zuschauer erlebend auf ein höheres Denk-Niveau gehoben, indem zugleich mit dem Denken durch die ästhetische Vermittlung der Bilderfahrung die Gefühle des Zuschauers tief berührt werden. Vergleichbare Erlebnisse vermitteln auch die Regieentscheidungen (Pit Holzwarth) bei einem klassischen Drama wie Schillers „Maria Stuart“. Schon die Tatsache, dass die Schauspieler quasi aus der Alltagsrealität ihrer Garderobe in die Rollen treten, betont den Schein- und Spielcharakter des Theaters und beflügelt den Prozess des Mitdenkens. Eine wirkungsvolle Symbolik liegt u. a. in der Kahlköpfigkeit der beiden Protagonistinnen. Ihre Häupter wirken wie Totenköpfe und lassen so a priori erscheinen, dass das Machtstreben in sich den Keim des Todes birgt. Eine großartige Szene und eine seelisch-geistige Überwölbung des Stückes gelang der Regie durch den imaginären, pantomimisch angelegten Liebes- und Todestanz der beiden Königinnen: Dieses eine Bildsymbol erschließt wie in einem Brennpunkt die Handlung des gesamten Stücks: In ihm wird die Konzeption Pit Holzwarths sichtbar, der das Werk in die dramatische Sphäre Shakespeares versetzt und damit der Realität den Vorzug vor Schillers Idealisierung gibt. Wie heutige Regisseure denken, zeigt sich auch in den Opernaufführungen. Jelinek, Winterreise: Der Vater (Robert Brandt) wird ins Heim abgeschoben. (Foto: Thorsten Wulff) Rückblick auf die Spielzeit 2012/13 Mozart, Idomeneo: Der Königssohn Idamante (Wioletta Hebrowska mit Statisten, die die Gefahr repräsentieren) in Sorge um seinen Vater auf See. (Foto: Oliver Fantitsch) Das fulminante Konzept Anthony Pilavacchis, den „Parsifal“ als die Lebensrückschau eines Sterbenden zu inszenieren, ermöglicht auch religionsfernen Zuschauern die Einsicht, dass hier ein Raum der Transzendenz betreten wird. Auch Alberto Triolas Inszenierung von Verdis „Macbetto“ gibt Stoff zum Nachdenken. Er entdeckt in dem S h a k e s p e a r e t e x t eine anscheinend bisher übersehene Deutungsebene: Macht beruht in seiner Wahrnehmung weniger auf Gewalt als auf zahlreicher Nachkommenschaft. Dieses Konzept belegt er durchgehend in seiner Bühnen- und Spielgestaltung, sodass es sich dem Zuschauer im Laufe des Spiels vermitteln kann. Ein ähnliches Verfahren wird in Mozarts „Idomeneo“ sichtbar. Ro- setta Cucchi stellt ihre Inszenierung in das Spannungsfeld von Leidenschaft und Verstand. Denn sie glaubt nicht an die Existenz der Götter und sucht deshalb Dr. WeckWerth & Partner Mo. - Fr. 7:00 bis 20:00 · Sa. 7:00 bis 13:00 ganzjährig geöffnet St. Hubertus 4 · 23627 Groß Grönau Tel. 04509 / 1558 · www.dr-weckwerth.de Lübeckische Blätter 2013/9 153

Rückblick auf die Spielzeit 2012/13 Verdi, Macbetto: In der Krönungsszene zeigt Lady Macbetto (Alessandra Rezza) ihrem Gatten (Gerard Quinn) und dem Hofstaat stolz die Babyausstattung. (Foto: Quast) eine andere Bezugsebene. Die leidenschaftliche Seite vertreten die Akteure. Cucchi erfindet nun eine durchgängige Verdoppelung der Figuren, die eine rationale Ebene symbolisieren sollen, hier in Gestalt von Cyborgs, einer Kreuzung von Mensch und Maschine. Die Zuschauer haben das aus der Bildwelt kaum erschließen können. Sie erlebten eher eine Ästhetisierung des Geschehens, sozusagen eine klassische Folie für das antike Drama. Für mich ergab sich wieder ein Netzwerk von Assoziationen: das Abraham-Opfer, das Iphigenien-Opfer, durch die Figur der Elettra das antike Hindemith und Wagner mit dem NDR-Orchester Aus der Absicht, zwei Jubilare des Jahres 2013, Hindemith und Wagner, in einem Abendprogramm zu vereinen, hatte sich beim NDR-Orchester am 12. April in der MuK ein langes und nicht leicht zu fassendes Programm ergeben. Die Kammermusik Nr. 1 op. 24 Nr. 1 für zwölf Soloinstrumente (1921), ein frühes Werk, erklang in ihrem ersten Satz frisch, leicht, spritzig und hatte mit diesem Einstieg die Überraschung auf ihrer Seite. Nicht ganz unerwartet gab es einen geradezu akademischen Beginn des folgenden Satzes „Mäßig schnelle Halbe. Sehr streng im Rhythmus“, dieser entwickelte sich fortlaufend bis an die Grenze zur Filmmusik. Im 3. Satz „Quartett. Sehr langsam und mit Ausdruck“ zeigte sich in den verschiedensten Solopassagen die überragende Gestaltungsfähigkeit der einzelnen NDR- Atridendrama und schließlich durch den Opferwillen der Elia und den Gnadenakt Poseidons die Erinnerung an Goethes humane Wendung in seiner „Iphigenie“. Die dargebotenen Bildwelten, die zusätzlich in die Dramen (hier Opern) eingeführt werden, veranlassen die Zuschauer jedenfalls, komplexer über das Gesehene nachzudenken. Einen Höhepunkt der hier charakterisierten Tendenzen bildet die Neuinszenierung von Büchners satirischer Komödie „Leonce und Lena“ von Niklaus Helbling. Es gelingt dem Regisseur, mit diesem „Lustspiel“ sowohl die Zeit Büchners als Kammermusiker! Im letzten Satz herrschte anfänglich eher gedämpfte Stimmung, welche sich aber spät zu einem grandiosen Kehraus wendete (inklusive des Einsatzes einer Sirene!). Insgesamt ein Werk, welches man leider selten zu hören bekommt, aber das viel Frische in sich birgt; an diesem Abend gelang den zwölf Orchestermitgliedern gar eine Glanzleistung – ihr Dirigent Christoph Eschenbach würdigte diese im höchsten Maße und gab jedem Einzelnen dankend die Hand… Die nachfolgende „Sinfonie in Es“ (1940) hatte es daneben schwerer, denn sie war groß besetzt und sie war zeitlich ausufernder. Der kurze Anfangssatz wollte ausdrucksmäßig imponieren, seine Bedeutsamkeit darstellen und am Ende brachte er es sogar zu strahlendem Glanz. Der nachfolgende Kontrast zeigte sich in einem „gebrochenen“ Tempo mit archaisch anmutender Rhythmik; eindrucksvolle Charakterwechsel bestimmten den wei- auch das Herz unserer Zeit zu treffen: Denn mit der Tatsache der Langeweile, der Sinnleere des Lebens, wird schon im frühen 19. Jh. ein Lebensgefühl ironisch in Szene gesetzt, das in unserer Zeit hochaktuell ist, wenn auch das Totschlagen der Zeit heute industriell organisiert wird. Auch die bei Büchner demonstrierte Gewalttätigkeit der absoluten Herrschaft spiegelt heutige Verhältnisse überall in der Welt wider. Die Brisanz dieses Textes kommt insbesondere dadurch zur Wirkung, dass ausführliche Zitate aus Büchners sozialkritischer Flugschrift „Der hessische Landbote“ in die Darstellung eingebracht werden. Polemisch und bildstark wird hier die in oben und unten gespaltene Gesellschaft charakterisiert. Damit klingt ein aktuelles Thema an. Vor allem aber wird so der Slapstick-Automatismus mit Realismus grundiert, sodass einem das Lachen über die erschossenen Domestiken nicht recht gelingen will. Denn durch diese Montage gewinnen die karikierten Personen existenzielle Aussagekraft. Mit diesem Text soll der Theaterleitung ein Dank ausgesprochen werden. Im wahrsten Sinne des Wortes kann man von „Zumutungen“ sprechen, indem nämlich den Theaterbesuchern der Mut und das Vertrauen zugesprochen wird, sich selbst kreativ einzubringen in das theatralische Geschehen. Das Theater ist keineswegs nur eine Veranstaltung für schöne Stunden, sondern Teil des Lebens, denn es wirkt in den Alltag hinein, belebt und vertieft unsere Erfahrung. teren Verlauf. Flink lief dann der gut geölte Orchesterapparat weiter und lies erst beim Attacka-Übergang in den letzten Satz ein Ende dieses Werkes ahnen. Im zweiten Teil gab es dann Wagner. Beginnend mit dem Siegfried-Idyll, einem „zeitlich recht ausgedehnten“ Idyll, zeigte das NDR- Orchester in mittelgroßer Besetzung seine Meisterschaft im Klangsinnlichen – fast fehlte einem die Einbindung in ein Bühnengeschehen. Und dann zusammen mit der ausgewiesenen Wagner-Sängerin Petra Lang, Brünnhildes Schlussgesang aus „Götterdämmerung“. Eschenbach führte jetzt die 80 hervorragenden Musiker des NDR-Orchesters sowie die expressive Solistin durch den gewaltigen Text, das Geschehen schien, als wäre es noch einmal verdichtet. Gemeinsame Dramatik, eine sehr gut konditionierte Solistin und große Orchesterfarben prägten diesen wahnsinnigen musikalischen Rausch … Olaf Silberbach 154 Lübeckische Blätter 2013/9

Rückblick auf die Spielzeit 2012/13<br />

Verdi, Macbetto: In der Krönungsszene zeigt Lady Macbetto (Alessandra Rezza) ihrem<br />

Gatten (Gerard Quinn) und dem Hofstaat stolz die Babyausstattung. (Foto: Quast)<br />

eine andere Bezugsebene. Die leidenschaftliche<br />

Seite vertreten die Akteure.<br />

Cucchi erfindet nun eine durchgängige<br />

Verdoppelung der Figuren, die eine rationale<br />

Ebene symbolisieren sollen, hier in<br />

Gestalt von Cyborgs, einer Kreuzung von<br />

Mensch und Maschine.<br />

Die Zuschauer haben das aus der<br />

Bildwelt kaum erschließen können. Sie<br />

erlebten eher eine Ästhetisierung des Geschehens,<br />

sozusagen eine klassische Folie<br />

für das antike Drama. Für mich ergab sich<br />

wieder ein Netzwerk von Assoziationen:<br />

das Abraham-Opfer, das Iphigenien-Opfer,<br />

durch die Figur der Elettra das antike<br />

Hindemith und Wagner mit<br />

dem NDR-Orchester<br />

Aus der Absicht, zwei Jubilare des<br />

Jahres 2013, Hindemith und Wagner, in<br />

einem Abendprogramm zu vereinen, hatte<br />

sich beim NDR-Orchester am 12. April<br />

in der MuK ein langes und nicht leicht zu<br />

fassendes Programm ergeben. Die Kammermusik<br />

Nr. 1 op. 24 Nr. 1 für zwölf<br />

Soloinstrumente (1921), ein frühes Werk,<br />

erklang in ihrem ersten Satz frisch, leicht,<br />

spritzig und hatte mit diesem Einstieg die<br />

Überraschung auf ihrer Seite. Nicht ganz<br />

unerwartet gab es einen geradezu akademischen<br />

Beginn des folgenden Satzes<br />

„Mäßig schnelle Halbe. Sehr streng im<br />

Rhythmus“, dieser entwickelte sich fortlaufend<br />

bis an die Grenze zur Filmmusik.<br />

Im 3. Satz „Quartett. Sehr langsam und<br />

mit Ausdruck“ zeigte sich in den verschiedensten<br />

Solopassagen die überragende<br />

Gestaltungsfähigkeit der einzelnen NDR-<br />

Atridendrama und schließlich durch den<br />

Opferwillen der Elia und den Gnadenakt<br />

Poseidons die Erinnerung an Goethes humane<br />

Wendung in seiner „Iphigenie“. Die<br />

dargebotenen Bildwelten, die zusätzlich<br />

in die Dramen (hier Opern) eingeführt<br />

werden, veranlassen die Zuschauer jedenfalls,<br />

komplexer über das Gesehene nachzudenken.<br />

Einen Höhepunkt der hier charakterisierten<br />

Tendenzen bildet die Neuinszenierung<br />

von Büchners satirischer Komödie<br />

„Leonce und Lena“ von Niklaus Helbling.<br />

Es gelingt dem Regisseur, mit diesem<br />

„Lustspiel“ sowohl die Zeit Büchners als<br />

Kammermusiker! Im letzten Satz herrschte<br />

anfänglich eher gedämpfte Stimmung,<br />

welche sich aber spät zu einem grandiosen<br />

Kehraus wendete (inklusive des Einsatzes<br />

einer Sirene!). Insgesamt ein Werk, welches<br />

man leider selten zu hören bekommt,<br />

aber das viel Frische in sich birgt; an diesem<br />

Abend gelang den zwölf Orchestermitgliedern<br />

gar eine Glanzleistung – ihr<br />

Dirigent Christoph Eschenbach würdigte<br />

diese im höchsten Maße und gab jedem<br />

Einzelnen dankend die Hand…<br />

Die nachfolgende „S<strong>info</strong>nie in Es“<br />

(1940) hatte es daneben schwerer, denn<br />

sie war groß besetzt und sie war zeitlich<br />

ausufernder. Der kurze Anfangssatz wollte<br />

ausdrucksmäßig imponieren, seine<br />

Bedeutsamkeit darstellen und am Ende<br />

brachte er es sogar zu strahlendem Glanz.<br />

Der nachfolgende Kontrast zeigte sich in<br />

einem „gebrochenen“ Tempo mit archaisch<br />

anmutender Rhythmik; eindrucksvolle<br />

Charakterwechsel bestimmten den wei-<br />

auch das Herz unserer Zeit zu treffen: Denn<br />

mit der Tatsache der Langeweile, der Sinnleere<br />

des Lebens, wird schon im frühen 19.<br />

Jh. ein Lebensgefühl ironisch in Szene gesetzt,<br />

das in unserer Zeit hochaktuell ist,<br />

wenn auch das Totschlagen der Zeit heute<br />

industriell organisiert wird. Auch die bei<br />

Büchner demonstrierte Gewalttätigkeit der<br />

absoluten Herrschaft spiegelt heutige Verhältnisse<br />

überall in der Welt wider.<br />

Die Brisanz dieses Textes kommt insbesondere<br />

dadurch zur Wirkung, dass ausführliche<br />

Zitate aus Büchners sozialkritischer<br />

Flugschrift „Der hessische Landbote“<br />

in die Darstellung eingebracht werden.<br />

Polemisch und bildstark wird hier die in<br />

oben und unten gespaltene Gesellschaft<br />

charakterisiert. Damit klingt ein aktuelles<br />

Thema an. Vor allem aber wird so der<br />

Slapstick-Automatismus mit Realismus<br />

grundiert, sodass einem das Lachen über<br />

die erschossenen Domestiken nicht recht<br />

gelingen will. Denn durch diese Montage<br />

gewinnen die karikierten Personen existenzielle<br />

Aussagekraft.<br />

Mit diesem Text soll der Theaterleitung<br />

ein Dank ausgesprochen werden. Im<br />

wahrsten Sinne des Wortes kann man von<br />

„Zumutungen“ sprechen, indem nämlich<br />

den Theaterbesuchern der Mut und das<br />

Vertrauen zugesprochen wird, sich selbst<br />

kreativ einzubringen in das theatralische<br />

Geschehen. Das Theater ist keineswegs<br />

nur eine Veranstaltung für schöne Stunden,<br />

sondern Teil des Lebens, denn es wirkt in<br />

den Alltag hinein, belebt und vertieft unsere<br />

Erfahrung.<br />

teren Verlauf. Flink lief dann der gut geölte<br />

Orchesterapparat weiter und lies erst beim<br />

Attacka-Übergang in den letzten Satz ein<br />

Ende dieses Werkes ahnen. Im zweiten<br />

Teil gab es dann Wagner. Beginnend mit<br />

dem Siegfried-Idyll, einem „zeitlich recht<br />

ausgedehnten“ Idyll, zeigte das NDR-<br />

Orchester in mittelgroßer Besetzung seine<br />

Meisterschaft im Klangsinnlichen – fast<br />

fehlte einem die Einbindung in ein Bühnengeschehen.<br />

Und dann zusammen mit<br />

der ausgewiesenen Wagner-Sängerin Petra<br />

Lang, Brünnhildes Schlussgesang aus<br />

„Götterdämmerung“. Eschenbach führte<br />

jetzt die 80 hervorragenden Musiker des<br />

NDR-Orchesters sowie die expressive Solistin<br />

durch den gewaltigen Text, das Geschehen<br />

schien, als wäre es noch einmal<br />

verdichtet. Gemeinsame Dramatik, eine<br />

sehr gut konditionierte Solistin und große<br />

Orchesterfarben prägten diesen wahnsinnigen<br />

musikalischen Rausch …<br />

Olaf Silberbach<br />

154 Lübeckische Blätter 2013/9

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