pik - Ludwig Boltzmann Institut für Medizin- und ...
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patientInnenorientierte integrierte krankenbetreuung (in wien 14.–17. bezirk)<br />
Newsletter08spezial<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
Juli 2004<br />
Inhalt<br />
2 Editorial<br />
3 Vorwort<br />
Das Projekt<br />
5 Die Arbeit der Fokusgruppe PatientInnen/Angehörige im Modellprojekt PIK<br />
11 Autonomie <strong>und</strong> Aufklärung<br />
Gastbeiträge<br />
14 Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
20 Die Bedeutung der Selbsthilfegruppen <strong>für</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
23 Die neue PatientInnenbeteiligung in Deutschland<br />
Partner<br />
28 Die Wiener Patientenanwaltschaft<br />
29 Das Martha Frühwirt Zentrum <strong>für</strong> medizinische Selbsthilfegruppen<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
30 PatientInnenbeteiligung in Holland <strong>und</strong> England<br />
31 Wussten Sie schon?<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber<br />
Auftraggeber<br />
Wiener Gebietskrankenkasse – WGKK<br />
Bereichsleitung <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heitsplanung<br />
<strong>und</strong> Finanzmanagement – BGF<br />
Wiener Krankenanstaltenverb<strong>und</strong> – KAV<br />
Projektbegleitung<br />
<strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong> <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Medizin</strong>-<br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssoziologie<br />
Österreichische Gesellschaft <strong>für</strong> Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />
der Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />
Redaktionsteam<br />
Seitens der Auftraggeber<br />
Dr. Werner Schröder - WGKK<br />
Dir. Rudolf Jank – WGKK<br />
Dr. Susanne Herbek – BGF<br />
GO Charlotte Staudinger – KAV<br />
Seitens der Projektbegleitung<br />
Mag. Peter Nowak, Mag. Christa Peinhaupt,<br />
Univ.Prof. Dr. Jürgen M. Pelikan<br />
Redaktionelle Koordination<br />
Dr. Beate Greiner, Mag. Andreas Keclik<br />
email <strong>pik</strong>.soziologie@univie.ac.at<br />
<strong>pik</strong><br />
ludwig boltzmann institut <strong>für</strong><br />
medizin- <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitssoziologie<br />
rooseveltplatz 2/4, 1090 wien<br />
telefon (01) 4277/48255<br />
fax (01) 4277/48290<br />
email <strong>pik</strong>.soziologie@univie.ac.at<br />
net www.<strong>pik</strong>-wien.at<br />
wissenschaftlich begleitet<br />
<strong>und</strong> unterstützt von<br />
<strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong> <strong>Institut</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Medizin</strong>- <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitssoziologie<br />
Österreichische Gesellschaft<br />
<strong>für</strong> Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />
der Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />
beauftragt von
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Editorial<br />
PatientInnenbeteiligung, als Chance <strong>für</strong> ein an<br />
den Bedürfnissen der PatientInnen orientiertes,<br />
qualitativ hochwertiges <strong>und</strong> effizientes Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />
wird in Ges<strong>und</strong>heitspolitik <strong>und</strong><br />
Wissenschaft vielfach diskutiert.<br />
Als Innovation in Österreich wird PatientInnenbeteiligung<br />
im Modellprojekt PIK exemplarisch<br />
erprobt. Darüber hinaus hat sich das Team der<br />
Projektbegleitung mit unterschiedlichen Modellen<br />
der PatientInnenbeteiligung, <strong>und</strong> wie sie in anderen<br />
Ländern umgesetzt sind, beschäftigt.<br />
Dieser PIK Newsletter widmet sich als Sondernummer<br />
ganz dem Thema PatientInnenbeteiligung.<br />
Das Modellprojekt steht unter dem Leitprinzip der<br />
PatientInnenorientierung.<br />
Das bedeutet, dass alle Maßnahmen, die im<br />
Modellprojekt entwickelt <strong>und</strong> umgesetzt werden,<br />
den Bedürfnissen <strong>und</strong> Anliegen der PatientInnen<br />
dienen sollen.<br />
Um diese Anliegen <strong>und</strong> Sichtweisen von Patient-<br />
Innen (<strong>und</strong> Angehörigen) in alle Projektschritte<br />
direkt einfließen zu lassen, wurde die „Fokusgruppe<br />
PatientInnen/Angehörige“ eingerichtet. Die<br />
PatientInnen <strong>und</strong> Angehörigen haben in allen<br />
Projektphasen mitgewirkt <strong>und</strong> einen wichtigen<br />
Beitrag <strong>für</strong> die Projektarbeit geleistet.<br />
Da<strong>für</strong> einen herzlichen Dank an die Mitglieder<br />
der Fokusgruppe.<br />
Über Erfolge <strong>und</strong> Erfahrungen der PatientInnenbeteiligung<br />
in PIK lesen Sie einen Beitrag in<br />
diesem Newsletter.<br />
Eine aus Sicht der PatientInnen überaus wichtige<br />
Maßnahme im Modellprojekt, die im Wilhelminenspital,<br />
Abteilung 1. Med. (Schwerpunkt<br />
Onkologie) entwickelt wurde, ist das „Patient-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 2<br />
Innenorientierte Aufklärungsgespräch“. Lesen Sie<br />
dazu ein Beitrag von OA Dr. Leitgeb.<br />
Über diese Erfahrungen hinaus, hat sich das<br />
Modellprojekt PIK mit verschiedenen Modellen<br />
der PatientInnenbeteiligung beschäftigt. Einen<br />
Artikel über PatientInnenbeteiligung in England<br />
<strong>und</strong> Holland finden Sie ebenfalls in diesem<br />
Newsletter.<br />
Über den Beitrag von Selbsthilfegruppen<br />
zum Ges<strong>und</strong>heitswesen schreibt Frau Prof. Susanne<br />
Kircher (Martha Frühwirt Zentrum).<br />
Der Österreichsprecher der Patientenanwaltschaften,<br />
Dr. Gerald Bachinger erörtert, wie<br />
PatientInnenbeteiligung aus Sicht der PatientInnenvertretung<br />
in Österreich aussehen könnte.<br />
Weiters finden Sie einen Gastbeitrag aus<br />
Deutschland von Mag. Kranich (Verbraucherzentrale<br />
Hamburg).<br />
An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Autor-<br />
Innen, die <strong>für</strong> diesen Newsletter geschrieben haben.<br />
Zum Thema passend, stellen sich als Partner<br />
im Modellprojekt diesmal die Wiener Patientenanwaltschaft<br />
<strong>und</strong> das Martha Frühwirt<br />
Zentrum vor.<br />
Abger<strong>und</strong>et wird der Newsletter mit einem<br />
Hinweis auf eine Präsentation, die von Mag. Peter<br />
Nowak (LBI) <strong>und</strong> Dr. Susanne Herbek (BGF) zum<br />
Thema „Patient participation and empowerment<br />
in integrated care. Concepts, experiences and<br />
challenges in an Viennese model project“<br />
in Moskau gehalten wurde.<br />
Wir wünschen wieder viel Spaß beim Lesen <strong>und</strong><br />
hoffen auf Ihre Reaktionen zu diesem spannenden<br />
Thema auf der PIK-Homepage: www.<strong>pik</strong>-wien.at<br />
Rudolf Brenner, Eugen Hauke, Hannes Schmidl
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Vorwort<br />
„Die Organisations- <strong>und</strong><br />
Behandlungsabläufe in der<br />
Krankenanstalt sind nach<br />
den Bedürfnissen der<br />
Patienten auszurichten“,<br />
normiert das Wr. KAG <strong>und</strong><br />
rückt damit zumindest <strong>für</strong><br />
den intramuralen Bereich die Bedürfnisse der<br />
PatientInnen in den Mittelpunkt. Die gesetzliche<br />
Norm geht also von einem hohen Grad an Patientenorientierung<br />
aus, die Praxis ist bemüht aber<br />
nicht immer erfolgreich. Deshalb ist ja ein Projekt<br />
wie das PIK, das die Patientenorientierung schon<br />
im Titel trägt, dringend notwendig. Die oben zitierte<br />
Sollensnorm mit Leben auszufüllen, sie also in<br />
die Seinswelt hereinzuholen, ist eine Aufgabe,<br />
die je nach Wissensstand <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Bewusstsein mit unterschiedlichen Methoden<br />
erfüllt wird.<br />
In der Zeit der paternalistischen <strong>Medizin</strong>, als<br />
noch die „Götter in Weiß“ regierten, waren es diese,<br />
die über die Bedürfnisse der Patienten bescheid<br />
wussten <strong>und</strong> wie daher die Abläufe in der<br />
Krankenanstalt zu organisieren seien. Mit dem<br />
Paradigmenwechsel zur partnerschaftlichen<br />
<strong>Medizin</strong>, die den mündigen Patienten fokussiert,<br />
war es notwendig, diesen Patienten auch artikulationsfähig<br />
zu machen. Eine Hilfestellung hier<strong>für</strong><br />
war in den 90 Jahren die Schaffung der Patientenanwaltschaften,<br />
die in Wirklichkeit Ges<strong>und</strong>heitsombudspersonen<br />
sind, also soft-law-Einrichtungen<br />
ohne Befehls- <strong>und</strong> Zwangsgewalt. Der<br />
Patientenanwalt hilft im Einzelfall dem betroffenen<br />
Bürger, der sich im System nicht zurecht findet oder<br />
nicht Willens ist einen zeit-, geld- <strong>und</strong> nerven-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 3<br />
kostenden <strong>Medizin</strong>prozess zu führen, trotzdem zu<br />
seinem Recht zu kommen. Patientenorientierung<br />
geht aber über Durchsetzung von Rechten hinaus,<br />
da nicht alle Bedürfnisse von PatientInnen in<br />
Rechtsnormen gefasst werden können. Dies sei<br />
an einem Beispiel demonstriert: Man kann, wie es<br />
auch das Krankenanstaltengesetz in Wien versucht,<br />
ein Recht auf eine Mutter-Kind-Zimmer in Krankenanstalten<br />
festschreiben. Abgesehen von dem<br />
Totschlagargument, dass dieses Recht nicht im ausreichenden<br />
Maße umgesetzt werden könne, weil die<br />
finanziellen Ressourcen knapp seien, stellt sich<br />
bald heraus, dass mit Mutter-Kind-Zimmern allein<br />
es nicht getan ist. Die Bedürfnisse von Mutter <strong>und</strong><br />
Kind verlangen nach einer Spielecke <strong>und</strong> Spielzeug,<br />
nach Trennung von großen Kindern von kleinen<br />
Babys, größere Kinder, die von ihrer Fre<strong>und</strong>esschar<br />
besucht werden, wollen eine Geburtstagsparty<br />
feiern, Kleinkinder (<strong>und</strong> deren Mütter) fühlen sich<br />
dadurch vielleicht gestört usw. Die Liste der denkbaren<br />
<strong>und</strong> wohl auch legitimen Bedürfnisse ließe<br />
sich noch lange fortsetzten. Der Gesetzgeber, stoßt<br />
aber sehr bald an seine regulative Kraft, wenn er<br />
diese Vielzahl von Bedürfnissen normieren wollte.<br />
Er kann nicht jeden individuell konkreten Einzelfall<br />
gerecht normieren, sondern muss im Generell –<br />
abstrakten verhaftet bleiben. Dennoch existieren<br />
diese nicht normierten Bedürfnisse in der realen<br />
Welt <strong>und</strong> in der Regel wird ihnen Legitimität nicht<br />
abgesprochen werden. Um sie zu kennen <strong>und</strong> damit<br />
befriedigen zu können gilt es, die mündigen PatientInnen<br />
selbst <strong>und</strong> nicht mediatisiert durch<br />
einen Verein oder eine Anwaltschaft an Abläufen<br />
im Krankenhaus zu beteiligen. Ein gutes Beispiel<br />
der Einbindung von Patienten ist ja die im Rahmen
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Vorwort<br />
des PIK gebildete Fokusgruppe.<br />
Ein weiteres wichtiges Instrument, um diesen<br />
Bedürfnissen näher zu kommen, sind Patientenbefragungen,<br />
die heute auf einer doch elaborierteren<br />
Methodik aufbauen als noch vor 6 oder<br />
8 Jahren. Methodisch abgesicherte Befragungen<br />
sind eine wertvolle Hilfe <strong>für</strong> die Akteure im Ges<strong>und</strong>heitssystem,<br />
dieses zu optimieren.<br />
Bei aller Orientierung an den Bedürfnissen<br />
der PatientInnen darf aber die Kernaufgabe des<br />
Ges<strong>und</strong>heitssystems nicht vergessen werden <strong>und</strong><br />
die besteht natürlich nicht darin, kindergerechtes<br />
Spielzeug zur Verfügung zu stellen sondern sie<br />
besteht im Heilen <strong>und</strong> dort wo dies nicht möglich<br />
ist, im Lindern des Leides.<br />
Ich bin überzeugt, dass dies auch das Hauptbedürfnis<br />
der mündigen PatientInnen ist.<br />
Patientenorientierung <strong>und</strong> Einbindung der Patient-<br />
Innen bei der Erfüllung dieser Kernaufgabe des<br />
Ges<strong>und</strong>heitssystems setzt einen relative hohen<br />
Informationsstand voraus. Ein Instrument hie<strong>für</strong><br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 4<br />
ist das Aufklärungsgespräch, auf das dieser<br />
Newsletter ebenfalls näher eingeht. Eine andere<br />
<strong>und</strong> wichtige Voraussetzung, um von mündigen<br />
<strong>und</strong> wohlinformierten PatientInnen sprechen zu<br />
können ist eine transparente Datenlage. Zu fordern<br />
ist <strong>für</strong> PatientInnen Kenntnis nicht nur des outputs<br />
von Krankenanstalten, sondern auch das outcome.<br />
Den Output, also wie viel Blinddarmoperationen,<br />
Hüftgelenksimplantationen etc. wurden in diesem<br />
oder jenen Spital gemacht, dieser Output ist im<br />
Großen <strong>und</strong> Ganzen bekannt, interessanter aber<br />
(daher?) intransparent ist jedoch die Erfolgsquote<br />
bzw. die Komplikationsquote. Wenn die mündigen<br />
PatientInnen schon im Mittelpunkt stehen, <strong>und</strong> sich<br />
das Ges<strong>und</strong>heitssystem an ihnen orientieren soll,<br />
um wirklich patientenorientierte Krankenbetreuung<br />
anbieten zu können, dann muss sich<br />
auch die mündige PatientIn an Krankenanstalten<br />
orientieren können, <strong>und</strong> bedarf dazu einer transparenten<br />
Datenlage, die derzeit in Österreich leider<br />
den Patienten nicht zur Verfügung steht.<br />
Walter Dohr, Wiener Patientenanwalt
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Arbeit der Fokusgruppe Patientinnen/Angehörige<br />
im Modellprojekt „PatientInnenorietierte integrierte<br />
Krankenbetreuung (in Wien 14.-17. Bezirk)“<br />
(aus Sicht der Projektbegleitung <strong>und</strong> der Fokusgruppen-Mitglieder)<br />
Das Projekt<br />
Das Projektziel<br />
Vorrangiges Ziel des Projekts „PIK“ ist die Entwicklung<br />
<strong>und</strong> Umsetzung von Veränderungsmaßnahmen<br />
in der Krankenbetreuung unter dem Gesichtspunkt<br />
der PatientInnenorientierung, das heißt<br />
unter besonderer Bedachtnahme auf die Anliegen<br />
<strong>und</strong> Bedürfnisse der PatientInnen.<br />
Um das zu gewährleisten, werden PatientInnen<br />
<strong>und</strong> Angehörige unmittelbar in die Projektarbeit<br />
einbezogen.<br />
Bisher einmalig in einem österreichischen<br />
Projekt, arbeiten PatientInnen <strong>und</strong> Angehörige<br />
– mit Unterstützung der Projektbegleitung<br />
– in allen Projektschritten mit <strong>und</strong> bringen ihre<br />
Sichtweisen <strong>und</strong> Anliegen ein.<br />
Im Folgenden werden die Aufgaben der Patient-<br />
Innen <strong>und</strong> Angehörigen in den einzelnen Projektphasen<br />
beschrieben:<br />
Die Konstituierung der Fokusgruppe<br />
Interessierte PatientInnen <strong>und</strong> Angehörige<br />
wurden über die Wiener Selbsthilfegruppen, über<br />
die ProjektpartnerInnen <strong>und</strong> über die Projekthomepage<br />
zur Mitarbeit im Projekt eingeladen.<br />
Bedingungen zur Teilnahme an der Projektarbeit<br />
waren: Erfahrungen mit Spitalsaufenthalten <strong>und</strong>/<br />
oder professioneller Krankenbetreuung zu Hause<br />
<strong>und</strong> Wohnort in einem der Projektbezirke.<br />
Im Laufe der ersten Arbeitstreffen hat sich<br />
eine stabile Gruppe von zwölf PatientInnen <strong>und</strong><br />
Angehörigen gebildet, die bereit sind über die Projektlaufzeit<br />
von zweieinhalb Jahren unentgeltlich<br />
im Projekt mitzuarbeiten.<br />
Während des gesamten Projektverlaufes finden<br />
14 mehrstündige Arbeitstreffen (Treffen aller<br />
Mitglieder der Fokusgruppe mit Moderation der<br />
Projektbegleitung) statt. Je zwei Delegierte der<br />
Fokusgruppe sind in jedes Teilprojekt entsandt.<br />
Der Beitrag der Fokusgruppe<br />
in den einzelnen Projektphasen<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 5<br />
Maßnahmenauswahl<br />
Im ersten Arbeitstreffen ist es gelungen,<br />
die Delegierten der Fokusgruppe mit einer Reihung<br />
der Maßnahmen in die Teilprojektgruppen zu<br />
entsenden.<br />
Im Großen <strong>und</strong> Ganzen stimmte die Sicht der<br />
PatientInnen <strong>und</strong> der Profis hinsichtlich der<br />
Priorisierung der Maßnahmen überein.<br />
Besonders erfreulich ist, dass eine Maßnahme,<br />
die von den PatientInnen eingebracht wurde<br />
– das patientInnenorientierte Aufklärungsgespräch<br />
– zusätzlich in die Maßnahmenauswahl<br />
aufgenommen wurde.<br />
Nicht zur detaillierten Planung gelangte<br />
– obwohl von PatientInnen mehrmals eingefordert<br />
– der Einbezug von Ehrenamtlichen in die<br />
Krankenbetreuung zu Hause.
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Die Arbeit der Fokusgruppe Patientinnen/Angehörige<br />
im Modellprojekt „PatientInnenorietierte integrierte<br />
Krankenbetreuung (in Wien 14.-17. Bezirk)“<br />
(aus Sicht der Projektbegleitung <strong>und</strong> der Fokusgruppen-Mitglieder)<br />
Das Projekt<br />
Maßnahmenplanung<br />
Die Fokusgruppe hat zu jenen Maßnahmen, zu<br />
denen sie ihre Sichtweise einbringen wollte,<br />
schriftlich Punktationen erarbeitet <strong>und</strong> den<br />
Planungsgruppen zur Verfügung gestellt.<br />
Zu ausgewählten Maßnahmen haben Mitglieder der<br />
Fokusgruppe in den Planungsgruppen mitgearbeitet.<br />
Darüber hinaus hat die Fokusgruppe die Planung<br />
von drei „eigenen“ Maßnahmen übernommen.<br />
Zur Maßnahme „Informationsstelle“ hat die<br />
Fokusgruppe mit Unterstützung der Projektbegleitung<br />
ein detailliertes Konzept erarbeitet.<br />
Die Maßnahme „Beschwerdebriefkasten“ kam<br />
aufgr<strong>und</strong> der Initiative eines Fokusgruppenmitgliedes<br />
zustande.<br />
Die Planung der Maßnahme „Selbsthilfegruppen<br />
greifbar im Spital“ wurde mit Mitgliedern der<br />
Fokusgruppe begonnen, die weitere Koordination<br />
von der Projektbegleitung übernommen.<br />
Baseline-Erhebung<br />
Um Anmerkungen <strong>und</strong> Anregungen seitens der<br />
Projektpartner zu den Instrumenten der Baseline-<br />
Erhebung zu gewinnen, wurde ein so<strong>und</strong>ing-board<br />
eingerichtet. Ein Mitglied der Fokusgruppe war<br />
in diesem so<strong>und</strong>ing-board vertreten <strong>und</strong> hat<br />
die PatientInnen-Fragebögen kommentiert.<br />
Die Interpretation der Daten durch die<br />
Fokusgruppen-Mitglieder erfolgte mit Unterstützung<br />
der Projektbegleitung.<br />
Maßnahmenumsetzung<br />
Im November 2003 wurde in den Partnerinstitutionen<br />
mit der Umsetzung der Maßnahmen<br />
begonnen. In zwei Arbeitstreffen der Teil-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 6<br />
projektgruppen wurden die Leistungserbringer bei<br />
der Maßnahmenumsetzung supervisorisch beraten.<br />
Die Delegierten der Fokusgruppe nahmen<br />
daran teil.<br />
Die Umsetzung der drei „Fokusgruppen-Maßnahmen“<br />
stellt sich folgendermaßen dar:<br />
Hinsichtlich der Umsetzung der „Informationsstelle“,<br />
einer Website mit allen Informationen zu<br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, war bald klar, dass es<br />
dabei vorrangig um die Entscheidung <strong>für</strong> die Übernahme<br />
der Trägerschaft ging. Die Mitglieder der<br />
Fokusgruppe konnten diese insoweit „vorantreiben“,<br />
als sie in Besprechungen mit Auftraggebern<br />
<strong>und</strong> potentiellen Trägern immer wieder<br />
auf die Wichtigkeit der Realisierung hinwiesen.<br />
Die Maßnahme „Beschwerdebriefkasten“ wurde<br />
in einer Partnerinstitution erfolgreich umgesetzt.<br />
Die Maßnahme „Selbsthilfegruppen greifbar im<br />
Spital“ wurde in drei Modellabteilungen umgesetzt<br />
– in einer besonders engagiert. (siehe dazu auch<br />
den Bericht im vorigen Newsletter). Mitglieder der<br />
Fokusgruppen haben geholfen, den Kontakt zu den<br />
Selbsthilfegruppen herzustellen.<br />
Evaluation<br />
Von Mitte März bis Mitte Juni 2004 wurde<br />
die Evaluationserhebung durchgeführt. Die<br />
Ergebnisse werden im September vorliegen<br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Projektpartner aufbereitet.<br />
Die Mitglieder der Fokusgruppe erwarten die<br />
Ergebnisse mit Spannung; da daraus abzulesen<br />
sein wird, was einzelne Maßnahmen aus Patient-<br />
Innensicht gebracht haben.
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Die Arbeit der Fokusgruppe Patientinnen/Angehörige<br />
im Modellprojekt „PatientInnenorietierte integrierte<br />
Krankenbetreuung (in Wien 14.-17. Bezirk)“<br />
(aus Sicht der Projektbegleitung <strong>und</strong> der Fokusgruppen-Mitglieder)<br />
Das Projekt<br />
Stabilitätsprüfung der Maßnahmen-Umsetzung<br />
Im September/Oktober 2004 werden zur Prüfung<br />
der Stabilität der Maßnahmen-Umsetzung<br />
Gruppeninterviews zu jeder Maßnahme in den<br />
Partnerinstitutionen durchgeführt. Mitglieder der<br />
Fokusgruppe werden zu ausgewählten Maßnahmen<br />
an diesen Interviews teilnehmen.<br />
Transferempfehlungen<br />
Die Ergebnisse des Projekts werden in Transferempfehlungen<br />
münden. Diese werden sich einerrseits<br />
auf die Implementation der einzelnen Maßnahmen<br />
beziehen, andererseits Erfahrungen <strong>und</strong><br />
Anleitungen <strong>für</strong> das Gelingen von Veränderungsprozessen<br />
bereit stellen <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
einen Blick auf notwendige Veränderungen in den<br />
Rahmenbedingungen des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
werfen. Ein Teil der Transferempfehlungen wird<br />
sich auf Strukturen von PatientInnenbeteiligung<br />
<strong>und</strong> PatientInnenvertretung in Wien/Österreich<br />
beziehen. Erste konzeptionelle Überlegungen<br />
dazu wurden auch in Zusammenarbeit mit der<br />
Fokusgruppe bereits begonnen.<br />
Reflexion der Arbeit<br />
Die Konstituierung der Fokusgruppe im ersten<br />
Arbeitstreffen ist überraschend gut gelungen. Die<br />
TeilnehmerInnen waren hoch motiviert <strong>und</strong> haben<br />
klar ihre Erwartungen an die Mitarbeit im Projekt<br />
zum Ausdruck gebracht: Sie wollten übereinstimmend<br />
ernst genommen werden <strong>und</strong> keinesfalls als<br />
Feigenblatt <strong>für</strong> die PatientInnenorientierung im<br />
Projekt dienen. Und sie wollten, dass sich wirklich<br />
etwas verändert.<br />
Im Laufe der Zusammenarbeit in der Fokus-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 7<br />
gruppe wurde deutlich, dass es großen Bedarf an<br />
Auseinandersetzung unter den Gruppenmitglieder,<br />
z.B. hinsichtlich notwendiger Reformen im Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />
gab. Aus Zeitmangel konnte der<br />
Diskussion innerhalb der Gruppe zu wenig Raum<br />
gegeben werden.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Fülle <strong>und</strong> der Komplexität musste<br />
auch die inhaltliche Vorbereitung zu jeder einzelnen<br />
Maßnahme teilweise zu kurz kommen.<br />
Es war von vornherein klar, dass die Mitglieder<br />
der Fokusgruppe aus Zeitgründen nicht in allen<br />
Planungsgruppen vertreten sein konnten. Wie<br />
weit die schriftlichen Beiträge der Fokusgruppenmitglieder<br />
in die Detailplanung der Maßnahmen<br />
Eingang gef<strong>und</strong>en haben, ist nicht nachvollziehbar.<br />
Das Angebot der Mitglieder der Fokusgruppe,<br />
in Planungsgruppen mitzuarbeiten, wurde nicht<br />
von allen aufgegriffen. Zusammenfassend muss<br />
gesagt werden, dass die Einbeziehung der Patient-<br />
Innen <strong>und</strong> Angehörigen in die Detailplanung der<br />
einzelnen Maßnahmen nur teilweise gelungen ist.<br />
In dieser Phase der Projektarbeit hat sich gezeigt,<br />
dass die Zusammenarbeit von PatientInnen/<br />
Angehörigen <strong>und</strong> Profis auf gleicher Ebene nicht<br />
ohne weiteres funktioniert. Das Einbringen von<br />
Anliegen <strong>und</strong> Vorschlägen ist <strong>für</strong> die Betroffenen<br />
leichter, je konkreter die Maßnahmen sind.<br />
Die Interpretation der Baselineerhebung durch<br />
die Fokusgruppe ist gelungen. Die Mitglieder der<br />
Fokusgruppe wurden durch einige Ergebnisse in<br />
eigenen Wahrnehmungen bestätigt, waren von<br />
anderen aber auch überrascht.<br />
Durch die Teilnahme der Delegierten in den<br />
Supervisions-Arbeitstreffen zur Unterstützung bei<br />
der Maßnahmenumsetzung, gewannen diese ein
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Arbeit der Fokusgruppe Patientinnen/Angehörige<br />
im Modellprojekt „PatientInnenorietierte integrierte<br />
Krankenbetreuung (in Wien 14.-17. Bezirk)“<br />
(aus Sicht der Projektbegleitung <strong>und</strong> der Fokusgruppen-Mitglieder)<br />
Das Projekt<br />
größeres Verständnis <strong>für</strong> die oft schwierigen<br />
Bedingungen der Leistungserbringer. In der<br />
Fokusgruppe entstand der Eindruck, dass die<br />
MitarbeiterInnen der Ges<strong>und</strong>heitsorganisationen<br />
(Krankenhaus-Abteilungen, Pflegevereine) oftmals<br />
keine Unterstützung seitens ihrer Leitungen bei der<br />
Implementation der Maßnahmen hatten <strong>und</strong> dass<br />
viele Anforderungen aus PatientInnensicht an<br />
strukturelle Rahmenbedingungen stoßen.<br />
Die Mitarbeit an den Transferempfehlungen ist<br />
<strong>für</strong> die Mitglieder der Fokusgruppe schwierig.<br />
Einerseits ist der Umfang des Berichts in den<br />
Arbeitstreffen kaum zu bearbeiten, aber auch die<br />
wissenschaftliche Sprache des Transferberichts<br />
stellt <strong>für</strong> die PatientInnen eine Hürde dar. Hier<br />
wird es Aufgabe der Projektbegleitung sein, mit<br />
den Mitgliedern der Fokusgruppe die aus Patient-<br />
Innensicht wesentlichsten Passagen des Berichts<br />
herauszufiltern <strong>und</strong> die Meinung der Fokusgruppenmitglieder<br />
einfließen zu lassen.<br />
Die Zusammenarbeit mit den „Profis“<br />
in den Teilprojektgruppen<br />
Die gemeinsame Arbeit im Projekt ist sowohl <strong>für</strong><br />
die PatientInnen/Angehörigen als auch <strong>für</strong> die<br />
Profis eine neue Erfahrung.<br />
Seitens der Delegierten der Fokusgruppe, die in<br />
den Teilprojektgruppen – <strong>und</strong> teilweise in den<br />
Planungsgruppen – unmittelbar mit den Profis<br />
zusammengearbeitet haben, wurden folgende<br />
Eindrücke geäußert:<br />
Die Bereitschaft zu direkter, offener Kommunikation<br />
ist sehr stark von der Persönlichkeit des<br />
Einzelnen abhängig. Das aus Behandlungssituationen<br />
bekannte Gefälle zwischen ÄrztInnen als Ex-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 8<br />
pertInnen <strong>und</strong> „Wissenden“ gegenüber den Patient-<br />
Innen als „Unwissenden“ wurde auch in der Projektarbeit<br />
erlebt. Zudem fühlten sich die PatientInnen/<br />
Angehörigen oftmals sprachlich <strong>und</strong> argumentativ<br />
unterlegen. Aus Sicht vieler Gruppenmitglieder<br />
haben sie aber viele neue Gesichtspunkte im Zusammenhang<br />
mit den Problemen des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
kennen gelernt.<br />
Im Treffen aller ProjektteilnehmerInnen am<br />
1.7.2004 wurde die Zusammenarbeit von Patient-<br />
Innen/ Angehörigen <strong>und</strong> Professionellen gemeinsam<br />
reflektiert.<br />
Das erfreuliche Ergebnis dieser Reflexion ist,<br />
dass alle Beteiligten die Zusammenarbeit<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich sehr positiv beurteilen.<br />
Seitens der Professionellen wurde das Erleben<br />
der direkten Sichtweise der PatientInnen als sehr<br />
bereichernd empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> hat das Einnehmen<br />
der PatientInnenperspektive erleichtert. Die direkte<br />
Beteiligung der PatientInnen hat geholfen,<br />
an den Punkten „dran zu bleiben“, die <strong>für</strong> Patient-<br />
Innen am Wichtigsten sind. Das Feedback der<br />
PatientInnen <strong>und</strong> Angehörigen an die professionellen<br />
Partner wurde auch als Unterstützung<br />
<strong>und</strong> Motivation erlebt.<br />
Es wurden aber auch die Kommunikationsschwierigkeiten<br />
erkannt <strong>und</strong> die Grenzen, an die<br />
die Profis stoßen, sichtbar. Eine Beobachtung war,<br />
dass das Verhältnis von zwei PatientInnen/<br />
Angehörigen zu zehn bis fünfzehn professionellen<br />
Mitgliedern der Projektgruppen eine Unterrepräsentation<br />
der PatientInnen bedeutet, die<br />
möglicherweise auch zum teilweise vorhandenen<br />
Gefühl der Unterlegenheit beigetragen hat.<br />
Einige Profis hätten sich noch mehr Input <strong>und</strong>
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Arbeit der Fokusgruppe Patientinnen/Angehörige<br />
im Modellprojekt „PatientInnenorietierte integrierte<br />
Krankenbetreuung (in Wien 14.-17. Bezirk)“<br />
(aus Sicht der Projektbegleitung <strong>und</strong> der Fokusgruppen-Mitglieder)<br />
Das Projekt<br />
klarere Forderungen von den PatientInnen<br />
gewünscht.<br />
Resumee<br />
Das Projekt PIK ist in seiner gesamten Komplexität<br />
ein ehrgeiziges Projekt.<br />
Die Herausforderung, die Interessen <strong>und</strong><br />
Unterschiedlichkeiten der einzelnen Projektpartner<br />
„unter einen Hut zu bringen“, die Anforderung<br />
30 in sich komplexe Maßnahmen umzusetzen <strong>und</strong><br />
zusätzlich eine breit angelegte, patientInnenbezogene<br />
Evaluation durchzuführen, haben<br />
einiges an Konzentration <strong>und</strong> Aufwand erfordert.<br />
Darüber hinaus PatientInnen/Angehörige so<br />
einzubeziehen, dass sie aktiv an allen Projektschritten<br />
mitarbeiten können, ist ein hoher<br />
Anspruch.<br />
Die kontinuierliche, engagierte Arbeit der<br />
Fokusgruppe zeigt jedoch, dass PatientInnen<br />
<strong>und</strong> Angehörige den Wunsch <strong>und</strong> den Willen zur<br />
Mitgestaltung des Ges<strong>und</strong>heitswesens haben.<br />
Sie sind diejenigen, die das Ges<strong>und</strong>heitssystem am<br />
eigenen Körper erfahren <strong>und</strong> durch das Einbringen<br />
dieser Erfahrungen einen unverzichtbaren Beitrag<br />
zur Entwicklung von Verbesserungen leisten<br />
können (auch hinsichtlich Einsparungsmöglichkeiten).<br />
Die neue Rolle, als Partner in der Mitgestaltung<br />
des Ges<strong>und</strong>heitssystems gefragt zu sein,<br />
muss auch von PatientInnen/Angehörigen erst gelernt<br />
werden. Sie brauchen dazu Rahmenbedingungen<br />
zur Unterstützung, wie z.B. Coaching<br />
oder Supervision.<br />
Auch wenn der Beitrag der PatientInnen zur<br />
Planung <strong>und</strong> Umsetzung einzelner Maßnahmen nie<br />
messbar sein wird, hat es einen Unterschied<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 9<br />
gemacht, dass Betroffene Seite an Seite mit den<br />
Profis an Verbesserungsmaßnahmen gearbeitet<br />
haben.<br />
Die Beteiligung der PatientInnen <strong>und</strong> Angehörigen<br />
hätte noch stärker sein können.<br />
Das hätte eine größere Anzahl von PatientInnen<br />
<strong>und</strong> Angehörigen <strong>und</strong> eine noch intensivere Vorbereitung<br />
in der Fokusgruppe gebraucht. Der<br />
dazu notwendige Zeitaufwand ist allerdings ohne<br />
Aufwandsentschädigung oder einen Anerkennungsbeitrag<br />
von ehrenamtlich engagierten<br />
Personen nicht zu verlangen.<br />
Die Mitarbeit der PatientInnen <strong>und</strong> Angehörigen<br />
hat klar gemacht, dass bei Verbesserungen im<br />
Ges<strong>und</strong>heitssystem die individuellen Bedürfnisse<br />
des Menschen, in der schwierigen Situation von<br />
Krankheit, im Mittelpunkt stehen sollen.<br />
Auch das sichtbar gewordene Autoritätsgefälle<br />
zwischen Professionellen <strong>und</strong> PatientInnen – das<br />
sich auch im Team der Projektbegleitung wiedergespiegelt<br />
hat – birgt große Lernchancen. Vor allem<br />
die Fragen: Wessen Position hat im Prozess mehr<br />
Gewicht – die rationale, fachliche Position des<br />
Managements <strong>und</strong> der VertreterInnen der Ges<strong>und</strong>heitsberufe<br />
oder die subjektiv <strong>und</strong> emotional<br />
geprägte Betroffenenposition? Und: Wie sind<br />
diese zwei Positionen – vom ärztlichen Anamnesegespräch<br />
bis zur Gesamtplanung der Strukturen<br />
des Ges<strong>und</strong>heitswesens – miteinander vereinbar?<br />
Fragen, die unter Berücksichtigung aller Interessen<br />
der im Ges<strong>und</strong>heitssystem Beteiligten beantwortet<br />
werden müssen.<br />
Die Erfahrung aus dem Modellprojekt zeigt, dass<br />
ein direkter Austausch zwischen PatientInnen/Angehörigen<br />
<strong>und</strong> Professionellen zu gegenseitigem Verste-
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Arbeit der Fokusgruppe Patientinnen/Angehörige<br />
im Modellprojekt „PatientInnenorietierte integrierte<br />
Krankenbetreuung (in Wien 14.-17. Bezirk)“<br />
(aus Sicht der Projektbegleitung <strong>und</strong> der Fokusgruppen-Mitglieder)<br />
Das Projekt<br />
hen, Problemlösungen, <strong>und</strong> Verbesserungen beiträgt.<br />
Ernst gemeinte PatientInnenbeteiligung<br />
bedarf aber gezielter Investitionen.<br />
Investitionen die zum Nutzen aller im Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />
Beteiligten beitragen.<br />
Gabi Absenger, Horst Achatz,<br />
Hans Peter Berger, Walter Doerfler,<br />
Beate Greiner, Peter Herold, Elfriede Houschka,<br />
Elisabeth Kahnert, Andreas Keclik,<br />
Johann Rotter, Franz Schiener,<br />
Christine Schnaubelt, Erich Wolfrum<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 10
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Autonomie <strong>und</strong> Aufklärung<br />
Das Projekt<br />
Das Recht der Patienten auf Autonomie <strong>und</strong><br />
auf Mitbestimmung im medizinischen Betreuungsprozess<br />
<strong>und</strong> deren Bedeutung <strong>für</strong> eine moderne<br />
<strong>Medizin</strong> wird immer zu Zeiten von Projekten hervorgehoben<br />
<strong>und</strong> betont.<br />
Wie aber sieht es in der Realität aus? Wie<br />
kann die Patientenautonomie gestärkt werden?<br />
Und welche strukturellen Veränderungen sind<br />
notwendig? Der vorliegende Artikel wird versuchen<br />
aus den Projekterfahrungen heraus auf diese<br />
Fragen Antworten zu geben.<br />
Das Thema Patientenbeteiligung in der <strong>Medizin</strong><br />
entsteht vor dem Hintergr<strong>und</strong> von Emanzipation<br />
<strong>und</strong> Demokratisierung der Gesellschaft. Es entsteht<br />
aus einem Unbehagen der Patienten, aus einem<br />
Gefühl des Ausgeliefertseins <strong>und</strong> der mangelnden<br />
Kontrolle über zutiefst einschneidende Vorgänge<br />
im Leben der Patienten. Nach wie vor, <strong>und</strong> allen<br />
Beteuerungen zum Trotz, besteht bei den Professionellen<br />
in der <strong>Medizin</strong> eine paternalistische Sicht<br />
wie Therapie <strong>und</strong> Betreuung zu gestalten sind. Aus<br />
dieser Gr<strong>und</strong>haltung erwächst ein Unvermögen<br />
geplante Vorgänge klar <strong>und</strong> verständlich darzustellen<br />
oder auch die Bedeutung von Krankheit,<br />
Behinderung <strong>und</strong> Therapie <strong>für</strong> den Patienten<br />
zu verstehen.<br />
Mehr als bei anderen Erkrankungen sind Patienten<br />
mit Krebs sowohl durch die Diagnose, wie<br />
durch die Therapie in ihrer Lebensplanung <strong>und</strong><br />
Lebensführung beeinträchtigt. Die Notwendigkeit,<br />
Therapien in geplanten zeitlichen Abläufen <strong>und</strong><br />
nach fixen standardisierten Schemata durchzuführen,<br />
erfordert ein hohes Maß an Akzeptanz<br />
<strong>und</strong> Mitarbeit durch die Patienten.<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 11<br />
Ziel der Patientenbeteiligung am Betreuungsprozess<br />
soll die aktive Teilnahme von Patienten an<br />
den ärztlichen <strong>und</strong> pflegerischen Maßnahmen <strong>und</strong><br />
die bewusste <strong>und</strong> informierte Zustimmungen oder<br />
Ablehnung von therapeutischen Handlungen sein.<br />
Diese aktive Rolle im Ges<strong>und</strong>heitsprozess setzt<br />
schon wesentlich früher an, nämlich im verantwortungsvollen<br />
Umgang mit der eigenen Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> betrifft daher die Bereiche der Prävention,<br />
der Früherkennung <strong>und</strong> der Lebensstilführung.<br />
Auf diese Aspekte der Beteiligung an<br />
Ges<strong>und</strong>heitsprozessen im Rahmen der primären<br />
Prävention kann hier nicht eingegangen werden.<br />
Information über Prävention <strong>und</strong> Lebensstilführung<br />
sind jedoch von besonderer Bedeutung<br />
im Zusammenhang mit Selbsthilfegruppen <strong>und</strong><br />
Patientenvertretungen, die eine wesentliche Rolle<br />
in der Patientenbeteiligung an Behandlungsprozessen<br />
spielen.<br />
Moderne medizinische Betreuung ist ohne<br />
die Einbeziehung von Selbsthilfegruppen <strong>und</strong><br />
Ehrenamtlichen Mitarbeitern, die spezifische<br />
Betreuungsaufgaben übernehmen, nicht denkbar.<br />
Das vielfältige Wissen <strong>und</strong> die Erfahrungen, die in<br />
Selbsthilfegruppen vorhanden sind, können, wenn<br />
sie den <strong>Institut</strong>ionen zur Verfügung gestellt<br />
werden, zur Entwicklung patientenorientierter<br />
Behandlungs- <strong>und</strong> Betreuungspfade beitragen.<br />
Professionelle werden daher, wie es in Teilen dieses<br />
Projektes versucht wurde, in zunehmendem Maße<br />
Wege suchen müssen, um in der Zusammenarbeit<br />
mit Selbsthilfegruppen, dieses Wissen zu erschließen<br />
<strong>und</strong> verfügbar zu machen.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Autonomie <strong>und</strong> Aufklärung<br />
Das Projekt<br />
Patientenorientierte Betreuung bedeutet zu<br />
allererst Wahrnehmen der Ängste <strong>und</strong> Bedürfnisse<br />
der Patienten <strong>und</strong> Aufklärung über Diagnose,<br />
Therapie <strong>und</strong> erwarteten Verlauf. Aus den Besonderheiten<br />
bei onkologischen Erkrankungen heraus<br />
wurde im Rahmen des Teilprojektes<br />
„Diagnosespezifische Krankenbetreuung“ der<br />
patientenorientierten Aufklärung besonderes<br />
Augenmerk geschenkt.<br />
Aus juridischer Sicht bedarf selbst der medizinisch<br />
indizierte Heileingriff in die körperliche<br />
Integrität des Patienten der Einwilligung. Dies folgt<br />
aus dem Persönlichkeits- <strong>und</strong> Selbstbestimmungsrecht<br />
des Patienten. Wenn der Heileingriff<br />
nicht von einer wirksamen Einwilligung gedeckt ist,<br />
so ist er rechtswidrig. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist eine solche<br />
Einwilligung nur dann rechtskräftig, wenn der<br />
Patient darüber, worin er einwilligt vollständig <strong>und</strong><br />
umfassend aufgeklärt ist. Denn der Patient kann<br />
nur dann wirksam einwilligen, wenn er die ärztliche<br />
Maßnahme kennt <strong>und</strong> gegebenenfalls die Gefahren,<br />
die sich mit ihr verbinden. Außerdem müssen die<br />
Alternativen bekannt sein <strong>und</strong> im Falle von Unheilbarkeit,<br />
wie sie bei onkologischen Erkrankungen<br />
häufig ist, auch der Verlauf bei Therapieunterlassung.<br />
Über diesen juridischen Aspekt hinaus zeigt<br />
die Praxis, dass umfassendes Wissen Angst <strong>und</strong><br />
Hilflosigkeit <strong>und</strong> das Gefühl der Abhängigkeit<br />
reduzieren. Gleichzeitig verbessert eine umfassende<br />
Information die Akzeptanz <strong>und</strong> die<br />
Mitarbeit am Betreuungsprozess. Nicht zuletzt<br />
haben klare Informationen <strong>für</strong> alle an der<br />
Betreuung beteiligten Personen, also Patienten,<br />
Pflegepersonen <strong>und</strong> Ärzte, eine Verbesserung der<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 12<br />
Kommunikation <strong>und</strong> damit einen optimierten<br />
Ablauf des Behandlungsprozesses zur Folge.<br />
Das fehlende Wissen um die Krankheitssituation,<br />
um das weitere diagnostische <strong>und</strong> therapeutische<br />
Vorgehen <strong>und</strong> um die Auswirkungen<br />
auf das tägliche Leben wurde von Patienten in den<br />
ersten Befragungen als besonders belastend<br />
angegeben. Daher wurde im vorliegenden Projekt<br />
<strong>für</strong> Patienten mit onkologischer Diagnose eine<br />
verbesserte <strong>und</strong> dokumentierte Aufklärung etabliert.<br />
Als Eckpunkte dieser patientenorientierten<br />
Aufklärung wurden unter anderem die Nominierung<br />
eines verantwortlichen Arztes, die Information<br />
über wesentliche diagnostische <strong>und</strong> therapeutische<br />
Aspekte außerhalb der Routinevisite<br />
<strong>und</strong> eine schriftliche Protokollierung des Gesprächsinhaltes<br />
<strong>für</strong> den Patienten umgesetzt.<br />
Erste Erfahrungen zeigen, dass diese Maßnahmen<br />
von den Patienten sehr gut angenommen<br />
werden. Patienten sind oftmals nicht in der Lage die<br />
Fülle an Information, die im Zusammenhang mit<br />
Aufklärung über Diagnose, Therapie <strong>und</strong> Prognose<br />
gegeben wird zu fassen. Die Gesprächsprotokollierung,<br />
bei der die wesentlichen Aspekte nochmals<br />
schriftlich ausgehändigt werden, erlaubt es dem<br />
Patienten das Gespräch auch zu einem späteren<br />
Zeitpunkt nochmals nachzuvollziehen.<br />
Die Aufklärung außerhalb der Visite unterstreicht<br />
die Individualisierung der Zuwendung<br />
<strong>und</strong> gibt Raum, um auf persönliche Aspekte des<br />
Patienten besonders einzugehen. Auf diese Weise<br />
können auch Angehörige <strong>und</strong> bei Wunsch auch<br />
Pflegepersonen in das Gespräch eingeb<strong>und</strong>en<br />
werden.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Autonomie <strong>und</strong> Aufklärung<br />
Das Projekt<br />
Gerade an dieser, von Patienten besonders geschätzten<br />
Maßnahme, werden jedoch auch die<br />
Limitationen der Umsetzung im Routinebetrieb<br />
deutlich, die in neu zu schaffenden räumlichen<br />
Strukturen <strong>und</strong> vor allem in fehlenden zeitlichen<br />
<strong>und</strong> personellen Ressourcen bestehen.<br />
Dies wird die Herausforderung <strong>für</strong> die tägliche<br />
Umsetzung der Maßnahmen sein. Die Bearbeitung<br />
des Komplexes „Patientenorientierten Aufklärung“<br />
im Rahmen des Projektes hat den Umgang mit<br />
diesem Thema an der 1. <strong>Medizin</strong>ischen Abteilung<br />
bereits verändert.<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 13<br />
Wir sind davon überzeugt, dass erfolgreiche<br />
medizinische Behandlung <strong>und</strong> qualitätvolle<br />
pflegerische Betreuung ohne Kooperation von<br />
Patienten nicht möglich ist. Diese Kooperation<br />
kann jedoch nur von informierten <strong>und</strong> vollständig<br />
in den Behandlungsprozess integrierten Patienten<br />
erbracht werden.<br />
Die Umsetzung der Erfahrungen aus dem<br />
Projekt wird unsere Aufgabe in den nächsten<br />
Monaten sein.<br />
Dr. Clemens Leitgeb<br />
1. <strong>Medizin</strong>ische Abteilung<br />
Wilhelminenspital
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
aus der Sicht der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft<br />
Gastbeiträge<br />
Patienten an die Macht!<br />
Die Abwandlung eines Liedtitels von Herbert<br />
Grönemeyer kommt mir öfter in den Sinn, wenn<br />
über PatientInnenbeteiligung <strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heitsreform<br />
diskutiert wird. Nun ist es so, dass die<br />
Forderung, Patienten an die Macht kommen zu<br />
lassen derzeit noch nicht durchsetzbar ist. So eine<br />
Forderung ist visionär, revolutionär, naiv <strong>und</strong><br />
blauäugig, aber sie könnte zum Ausgangspunkt von<br />
Überlegungen über eine neue Rolle von Patienten in<br />
den vorhandenen oder auch zukünftigen Ges<strong>und</strong>heitsstrukturen<br />
sein. Das Einbringen eines neuen<br />
potenten Mitspielers im Ges<strong>und</strong>heitsbereich bringt<br />
zusätzliche Unruhe in die laufende Diskussion <strong>und</strong><br />
wird bei manchen (im bestehenden System gut verankerten<br />
Interessengruppen) auch Widerstand hervorrufen.<br />
Wenn aber nunmehr die Chance <strong>für</strong> eine<br />
gr<strong>und</strong>sätzliche (<strong>und</strong> ich hoffe eine bessere als die<br />
bisherige) Neuordnung des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
besteht, sollte auch die Patientenposition in diesen<br />
neuen Strukturen überdacht <strong>und</strong> verstärkt werden.<br />
Patientenorientierung als Auftrag!<br />
Jede Ges<strong>und</strong>heitsreform stellt den Patienten in den<br />
Mittelpunkt <strong>und</strong> postuliert ein Orientieren an den<br />
Bedürfnissen dieser Patienten. Es ist ja wohl auch<br />
logisch, dass die Einrichtungen des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
<strong>und</strong> die geplante Reformen <strong>für</strong> den Patienten<br />
gemacht werden <strong>und</strong> nicht umgekehrt. Die<br />
Strukturen <strong>und</strong> Dienstleistungen müssen sich vor<br />
allem an den Bedürfnissen der Patienten orientieren<br />
<strong>und</strong> nicht an den Bedürfnissen der <strong>Institut</strong>ionen.<br />
Das ist zwar leicht gesagt – in der Praxis<br />
zeigt sich aber manchmal, dass andere Interessen<br />
als die der Patienten gewichtiger sind, daher als<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 14<br />
Priorität gesehen werden, viel eher berücksichtigt<br />
werden <strong>und</strong> sich dann auch durchsetzen; seien es<br />
Interessen anderer Berufsgruppen im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
oder strukturpolitische Interessen oder<br />
einfach die Arbeitsmarkt oder Regionalpolitik.<br />
Ein moderner Staat muss selbstverständlich verschiedene<br />
Interessen wahrnehmen, berücksichtigen<br />
<strong>und</strong> ausgleichen. Um ein ausgewogenes<br />
Verhältnis vorzufinden <strong>und</strong> damit Chancengleichheit<br />
innerhalb der verschiedenen Interessengruppen<br />
zu ermöglichen, muss aber den<br />
Betroffenen selbst die Möglichkeit gegeben werden,<br />
ihre eigenen Interessen vertreten zu können.<br />
Die Vorgabe von Patientenorientierung als wichtigem<br />
Ziel ist vollkommen richtig <strong>und</strong> absolut<br />
notwendig. Wie kann dieses Ziel aber erreicht<br />
werden? Genügt es wohlgesonnenes Personal zu<br />
haben <strong>und</strong> dann wird schon das „Beste“ <strong>für</strong> die<br />
Patienten gemacht? Woher wissen die, die guten<br />
Willens sind (<strong>und</strong> das ist die überwiegende Mehrheit<br />
des Personals <strong>und</strong> der Akteure im Ges<strong>und</strong>heitswesen),<br />
was das „Beste“ ist? Der einfachste Weg<br />
dazu ist wohl die Einbeziehung des Patienten.<br />
Denn wer kann schon sagen was <strong>für</strong> einen Patienten<br />
richtig ist, wenn nicht der Patient selbst.<br />
Diese Einbeziehung darf sich aber nicht darauf<br />
beschränken, den Patienten zuzuhören, sondern<br />
es müssen Möglichkeiten gef<strong>und</strong>en werden Patienten(-vertreter)<br />
aktiv in Entscheidungsprozesse<br />
einzubeziehen <strong>und</strong> sie dort auch mitentscheiden<br />
zu lassen.<br />
Alter Wein in neuen Schläuchen?<br />
Der Begriff „Paternalismus“ ist heute ein Unwort<br />
<strong>und</strong> es gibt niemanden der ein paternalistisches
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
aus der Sicht der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft<br />
Gastbeiträge<br />
Konzept ernsthaft <strong>und</strong> vor allem offen vertreten<br />
würde.<br />
Das Konzept des Paternalismus, also der Fremdbestimmung<br />
aus der einzigen Legitimation, dass<br />
man es als Experte ja gelernt (studiert) hat <strong>und</strong><br />
daher besser weiß, was <strong>für</strong> den Patienten gut ist,<br />
ist gefährlich. Es führt konsequent dazu, Patienten<br />
erst gar nicht einzubeziehen <strong>und</strong> schon gar nicht<br />
mitentscheiden zu lassen. Die Motivation ist allerdings<br />
durchaus ehrenhaft, denn der Therapeut will<br />
dem Patienten helfen <strong>und</strong> das beste <strong>für</strong> die Patienten<br />
erreichen. Eine solche Geisteshaltung ist<br />
nach wie vor in vielen Köpfen unbewusst fest<br />
verankert.<br />
Der moderne Paternalismus (mit neuem Antlitz)<br />
feiert fröhliche Urstände. So war kürzlich in einem<br />
Interview in der Ärztewoche 1 zur Ges<strong>und</strong>heitsreform<br />
von einem hohen Vertreter der Ärztekammer<br />
als Kernaussage zu lesen:<br />
„Wir Ärzte sind die besten Anwälte unserer jetzigen<br />
<strong>und</strong> künftigen Patienten“.<br />
Dies <strong>und</strong> ähnliches ist immer wieder zu lesen<br />
<strong>und</strong> zu hören. Das Durchsetzen von eigenen Interessen<br />
ist zwar legitim, aber leider oft schwer, weil<br />
dann sofort Widerstand entsteht. Um wie vieles ist<br />
es da leichter <strong>und</strong> weniger angreifbar, wenn es<br />
gelingt, Patienteninteressen als Begründung vorzuhalten,<br />
um eigene Interessenpolitik hinter<br />
Patienteninteressen zu verbergen. Wer kann sich<br />
schon gegen Vorschläge wehren, die ja nur im<br />
Interesse <strong>und</strong> zum Wohl der Patienten erfolgen.<br />
Für mich ist dieses Vorschieben von Patienteninteressen<br />
vor eigene Interessen einer<br />
Berufsgruppe <strong>und</strong> damit das „Tarnen <strong>und</strong><br />
Vernebeln“ der eigentlichen Ziele nur eine neue,<br />
2 Ärztewoche vom 16.Juni 2004, Seite 2<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 15<br />
zeitgerechte Form des „Paternalismus pur“.<br />
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Es ist<br />
nicht mein Ziel ausgestreckte Hände <strong>und</strong> Unterstützungsangebote<br />
zur Zusammenarbeit auszuschlagen.<br />
Patienten brauchen selbstverständlich<br />
Unterstützung von allen Seiten. Patienten brauchen<br />
aber keine selbsternannten Vertreter, deren Hauptaufgabe<br />
(durch Gesetz auch so definiert) die eigene<br />
Interessendurchsetzung ist.<br />
In diesem Zusammenhang noch ein Exkurs:<br />
Salus versus voluntas!<br />
Der klare Trend der letzten Jahre geht daher<br />
– zumindest auf der untersten strukturellen Ebene<br />
des Ges<strong>und</strong>heitswesens, nämlich dem Verhältnis<br />
Patient/Therapeut – den Weg von der Fremdbestimmung<br />
zur Selbstbestimmung. Wenn also<br />
die Frage gestellt wird: was wiegt mehr, das (von<br />
anderen beurteilte <strong>und</strong> bestimmte) Wohl oder der<br />
Wille des Patienten, dann ist die eindeutige<br />
Antwort: der Wille des Patienten geht vor!<br />
Was der konkrete Patient im Behandlungsprozess<br />
will (bei vorausgesetzter Einsichts- <strong>und</strong> Urteilsfähigkeit)<br />
kann nur er selbst entscheiden <strong>und</strong><br />
niemand sonst.<br />
Dieses Konzept bedeutet natürlich nicht unbeschränkte<br />
Willkür <strong>und</strong> damit die „Versklavung“ der<br />
Ges<strong>und</strong>heitsberufe, sondern dies muss im Sinne<br />
eines partnerschaftlichen <strong>und</strong> gleichberechtigten<br />
Miteinander verstanden werden. Beide Partner<br />
haben Rechte <strong>und</strong> Pflichten, beide haben das Recht<br />
auf respektvollen Umgang, beide haben das Recht<br />
auf Würde.<br />
Patientenorientierung <strong>und</strong> die Einbeziehung<br />
der Patienten bedeutet <strong>für</strong> mich: das Wissen des<br />
„Experten“ soll dem Patienten in einer verständ-
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
aus der Sicht der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft<br />
Gastbeiträge<br />
lichen <strong>und</strong> aufbereiteten Form zur Verfügung<br />
gestellt werden, bei gleichzeitiger Aufnahme <strong>und</strong><br />
Berücksichtigung der Bedürfnisse der Patienten.<br />
Letzendlich hat der Patient die Entscheidung zu<br />
treffen, was mit seinem Körper zu geschehen hat.<br />
Diese Entscheidung ist auch zuzulassen <strong>und</strong> zu<br />
respektieren.<br />
Für Menschen, die in Ges<strong>und</strong>heitsberufen tätig<br />
sind, bedeutet dies nicht ein Weniger an Verantwortung,<br />
sondern – im Gegenteil – ein Mehr an<br />
Verantwortung, vor allem aber: eine andere Art der<br />
Übernahme <strong>und</strong> des Umganges mit Verantwortung:<br />
den Patienten zur eigenen Entscheidung zu unterstützen<br />
bzw. zu befähigen.<br />
Der Weg der Zukunft: Partizipation<br />
„Participare“ 2 bedeutet „teilnehmen lassen“, „teilen“<br />
<strong>und</strong> „teilhaben“. Das Wort ist daher gut geeignet,<br />
die Richtung einer qualitätvollen Weiterentwicklung<br />
des Ges<strong>und</strong>heitswesens zu definieren.<br />
Dieses Wort zeigt, dass es nicht darum geht,<br />
die andere Akteure des Ges<strong>und</strong>heitswesens aus den<br />
Machtstrukturen zu verdrängen oder diese zu beschneiden,<br />
sondern eine Einbeziehung – also zumindest<br />
eine Teilnahme von Patienten- erfolgen soll.<br />
Es geht also nicht um „Machtspielchen“ oder<br />
Machtkämpfe sondern darum, ein strukturiertes<br />
<strong>und</strong> ausgewogenes Miteinander auf gleichberechtigter<br />
Ebene zu schaffen.<br />
Bestandsaufnahme<br />
Die derzeitige Situation zeigt bereits erste Ansätze<br />
von einem „Teilnehmen lassen“. Die Patienten<br />
finden auch jetzt durchaus schon Möglichkeiten<br />
2 Zitat aus: „Der kleine Stowasser“<br />
3 Die Arbeitsgemeinschaft der Patientenanwälte (ARGE PA) ist eine freiwillige<br />
Zusammenarbeit aller Patientenanwaltschaften in Österreich, mit<br />
einem gewählten Sprecher <strong>für</strong> eine Periode von zwei Jahren. Ziele der<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 16<br />
<strong>und</strong> Wege vor, ihre Anliegen in die Ges<strong>und</strong>heitsstruktur<br />
einzubringen.<br />
Solche Ansätze sehe ich vor allem in folgenden<br />
Bereichen:<br />
1. Die Existenz von Selbsthilfegruppen <strong>und</strong><br />
vor allem von Dachverbänden der Selbsthilfeorganisationen.<br />
2. Die gesetzliche Einrichtung von Patientenanwaltschaften<br />
<strong>und</strong> vor allem die b<strong>und</strong>esweite<br />
Zusammenarbeit im Rahmen der ARGE PA 3 .<br />
3. Die derzeit vorhandene Mitarbeit in verschiedenen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsstrukturen, zB:<br />
1 Strukturkommission des B<strong>und</strong>es (Vertreter<br />
ARGE PA)<br />
1 Transplantationsbeirat (Vertreter SHG<br />
<strong>und</strong> ARGE PA)<br />
1 Landesfonds (Vertreter PA)<br />
1 Landessanitätsrat (Vertreter PA)<br />
1 Qualitätssicherungskommissionen<br />
auf Landesebene (Vertreter PA)<br />
1 Ethikkommissionen (Vertreter SHG <strong>und</strong> PA)<br />
1 Entschädigungskommissionen (Vertreter PA<br />
<strong>und</strong> teilweise SHG)<br />
Diese Beteiligungen sind aber (vor allem) auf<br />
Landesebene von B<strong>und</strong>esland zu B<strong>und</strong>esland sehr<br />
unterschiedlich <strong>und</strong> nur schwer zu vergleichen.<br />
Intensität der Partizipation<br />
Die Partizipation kann in verschieden<br />
starker Intensität eingerichtet sein.<br />
Durch das Recht auf:<br />
1 (passive) Teilnahme<br />
1 Beratung<br />
1 Mitentscheidung<br />
ARGE PA sind ua eine b<strong>und</strong>esweite Vertretung der Patienteninteressen<br />
<strong>und</strong> eine Koordination <strong>und</strong> Zusammenarbeit der Patientenanwaltschaften<br />
um gemeinsame Anliegen effektiver durchsetzen können.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
aus der Sicht der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft<br />
Gastbeiträge<br />
Teilnahme: Die schwächste Beteiligungsform ist<br />
wohl das Recht auf bloße Teilnahme, also bloße<br />
Anwesenheit bei der Diskussion bzw. der Abstimmung<br />
in den verschiedenen Entscheidungsgremien.<br />
Freilich ist dieses Beteiligungsrecht nicht als gering<br />
oder unnötig einzuschätzen, denn es verschafft den<br />
Teilnehmern wichtige Informationen, zu denen sie<br />
sonst gar keinen Zugang hätten. Weiters zeigt sich<br />
immer wieder in den Diskussionsprozessen, dass<br />
die bloße Anwesenheit eines Patientenvertreters<br />
oftmals genügt Sensibilität entstehen zu lassen,<br />
damit die Interessen der Patienten besser wahrgenommen<br />
<strong>und</strong> berücksichtigt werden.<br />
Beratung: Zu dem Recht auf Teilnahme kommt das<br />
Recht, aktiv an der Diskussion teilzuhaben. Damit<br />
ist es möglich, das Wissen <strong>und</strong> die Erfahrungen als<br />
Patientenvertreter <strong>und</strong> das spezielle „know how“<br />
einzubringen. Spätere Entscheidungen können<br />
daher wesentlich beeinflusst werden, weil Aspekte,<br />
die früher nicht einfließen <strong>und</strong> daher auch nicht<br />
berücksichtigt werden konnten, nunmehr zu einer<br />
umfassenderen Betrachtung führen. Das Feedback<br />
der Patientenvertreter bewirkt, dass die Betroffenen<br />
über ihre Vertreter selbst artikulieren<br />
können, was ihrer Meinung nach das „Beste“<br />
<strong>und</strong> das „Wohl“ ist.<br />
Diese Form der Partizipation ist derzeit b<strong>und</strong>es<strong>und</strong><br />
landesweit am häufigsten vorgesehen.<br />
Mitentscheidung: Das ist wohl die stärkste Form<br />
der Beteilung. Sie bewirkt den größten Einfluss,<br />
bedeutet aber auch eine sehr hohe Verantwortung.<br />
In diesem Zusammenhang ergibt sich die noch<br />
ungeklärte Frage , in welcher Form <strong>und</strong> wem<br />
4 Das Leitbild der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft lautet:<br />
„Von den Patienten lernen“.<br />
gegenüber sich die Patientenvertreter zu<br />
verantworten haben.<br />
Hier ist derzeit die geringste Einbeziehung<br />
festzustellen. Ich denke aber, dass dies der Weg<br />
der Zukunft sein wird <strong>und</strong> sein muss.<br />
Partizipation auf den verschiedenen Ebenen<br />
Die Partizipation ist auf verschiedenen Ebenen<br />
des Ges<strong>und</strong>heitswesens denkbar <strong>und</strong> möglich:<br />
1 Patient- Therapeut<br />
1 Patient- Krankenhaus<br />
1 Patient- Rechtsträger des Krankenhauses<br />
1 Patient-Landesebene<br />
1 Patient- B<strong>und</strong>esebene<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 17<br />
Patient - Therapeut<br />
Auf der untersten strukturellen Ebene (Patient -<br />
Therapeut) ist die Einbeziehung <strong>und</strong> Mitentscheidung<br />
wohl am intensivsten rechtlich verwirklicht<br />
<strong>und</strong> gesetzlich bereits umgesetzt.<br />
Das Selbstbestimmungsrecht hat sowohl in der<br />
Patientencharta als auch in den einzelnen B<strong>und</strong>es<strong>und</strong><br />
Landesgesetzen einen zentralen Stellenwert.<br />
Im Behandlungsprozess ist auch keine eigentliche<br />
Vertretung (Beratung <strong>und</strong> Information natürlich<br />
schon) durch Patientenvertretungen notwendig,<br />
da der Patient selbst zu entscheiden hat.<br />
Aus dieser Ebene erhalten die Patientenvertreter<br />
die meisten Informationen von den Patienten.<br />
Aus diesem Bereich stammt das Wissen<br />
darum 4 , was die Patienten wahrnehmen, was ihnen<br />
wirklich ein Anliegen ist <strong>und</strong> was sie brauchen.<br />
So können die Vertreter dann in den höheren<br />
Ebenen der Ges<strong>und</strong>heitsstrukturen effektiv <strong>und</strong><br />
im Sinne <strong>und</strong> Auftrag der Patienten tätig werden.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
aus der Sicht der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft<br />
Gastbeiträge<br />
Patient-Krankenhaus<br />
Auf dieser Ebene ist noch wenig Aktivität festzustellen.<br />
Ein möglicher Ansatzpunkt könnte sein,<br />
dass – ausgehend <strong>und</strong> unterstützt von Ombudsstellen<br />
des Krankenhauses 5 – Patientenvertretungen<br />
eingerichtet werden, die von Selbsthilfegruppen<br />
beschickt werden.<br />
Patient-Rechtsträger (KH Holding)<br />
Patientenvertretungen könnten hier bei gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Entscheidungen, die ein oder mehrere<br />
Krankenhäuser betreffen, einbezogen werden.<br />
Patient-Landesebene<br />
Auf dieser Ebene könnten typischerweise landesweite<br />
Dachverbände von Selbsthilfegruppen oder<br />
auch Patientenanwälte in die verschiedenen Strukturen<br />
aufgenommen werden (in einigen B<strong>und</strong>esländern<br />
ist dies bereits auf Beratungsebene gegeben).<br />
Patient-B<strong>und</strong>esebene<br />
Auf der höchsten strukturellen Ebene des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
kann ein b<strong>und</strong>esweiter Dachverband<br />
der Selbsthilfegruppen oder auch die ARGE PA<br />
einbezogen werden (ist auf Beratungsebene bereits<br />
in einigen Bereichen gegeben).<br />
Damit nun zur eigentlichen Kardinalfrage:<br />
Wer soll die Patienten vertreten?<br />
Patient sein ist meist (ausgenommen chronisch<br />
Kranke) ein Zustand von zeitlich begrenzter Dauer.<br />
Was heute <strong>für</strong> einen Menschen als Patient noch von<br />
existentieller Bedeutung ist, kann morgen <strong>für</strong> den<br />
gleichen Menschen, der nunmehr ges<strong>und</strong> ist, mehr<br />
5 Siehe das Projekt „Netzwerk Ombudsstellen“ der NÖ Patienten-<br />
<strong>und</strong> Pflege-anwaltschaft, nachzulesen auf www.patientenanwalt.com<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 18<br />
oder weniger unwichtig sein. Der ehemalige Patient<br />
wird sich dann auch meist nicht mehr engagieren<br />
wollen oder können.<br />
Es müssen also Strukturen vorhanden sein,<br />
die unabhängig von der Betroffenheit im jeweiligen<br />
Lebensabschnitt solche Patientenanliegen aufnehmen<br />
<strong>und</strong> kontinuierlich <strong>und</strong> beständig<br />
vertreten.<br />
Solche Strukturen können vollkommen neu aufgebaut<br />
werden (dies ist nicht realistisch) zB unter<br />
dem Gesichtspunkt einer demokratisch legitimierten<br />
<strong>und</strong> damit gewählten Patientenvertretung oder<br />
man kann auf Vorhandenem <strong>und</strong> bereits Entstandenem<br />
aufbauen, was mir persönlich realistischer<br />
erscheint.<br />
Zwei bereits vorhandene Interessenvertretungen<br />
<strong>für</strong> Patienten bieten sich an:<br />
1 Selbsthilfegruppen<br />
1 Patientenanwälte<br />
Patientenanwälte<br />
als Interessenvertreter von allen Patienten sind<br />
indirekt demokratisch legitimiert, nämlich durch<br />
die Einrichtung aufgr<strong>und</strong> von Gesetzen (Landesgesetze<br />
<strong>und</strong> der Patientencharta 6 ).<br />
Selbsthilfegruppen<br />
(als Vereine eingerichtet) beziehen die Berechtigung<br />
zur Vertretung von Patienten von ihren Vereinsmitgliedern.<br />
Streng genommen haben sie nur die<br />
Berechtigung <strong>für</strong> ihre Mitglieder zu sprechen, nicht<br />
aber <strong>für</strong> alle anderen Patienten, die keine Vereinsmitglieder<br />
sind.<br />
Hier zeigt sich auch manchmal ein Spannungsverhältnis<br />
<strong>und</strong> Konfliktpotential, denn es sind oft<br />
6 Ich weiß, dass die Patientencharta kein Gesetz, sondern ein Staatsvertrag<br />
ist; dies erscheint mir aber im gegenständlichen Kontext unbedeutend.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Visionen von PatientInnenbeteiligung<br />
aus der Sicht der NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwaltschaft<br />
Gastbeiträge<br />
<strong>für</strong> ein <strong>und</strong> diesselbe Krankheit mehrere Selbsthilfegruppen<br />
tätig. Wer soll dann in die Entscheidungsstrukturen<br />
einbezogen werden? Alle,<br />
oder etwa die SHG mit den meisten Mitgliedern?<br />
Die größte Stärke von SHG ist die Mitarbeit von<br />
engagierten Menschen, die unmittelbar betroffen<br />
sind <strong>und</strong> großes Wissen <strong>und</strong> Erfahrung mit einer<br />
Krankheit <strong>und</strong> damit auch den Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen<br />
einbringen können.<br />
Dieses Wissen bezieht sich auf eine bestimmte<br />
Krankheit oder Krankheitsgruppe, aber je höher<br />
die Beteiligungsebene, desto mehr wird von einer<br />
einzelnen Krankheit zu abstrahieren sein. Darüberhinaus<br />
bringt ein dauernder Wechsel der<br />
spezialisierten Vertreter nicht die <strong>für</strong> eine<br />
erfolgreiche Arbeit in den Ges<strong>und</strong>heitsstrukturen<br />
erforderliche Kontinuität <strong>und</strong> Professionalität.<br />
Ein Ausweg ist die Einrichtung von Dachverbänden<br />
auf Landes- <strong>und</strong> eines Dachverbandes auf<br />
B<strong>und</strong>esebene. Diese beziehen ihre Berechtigung<br />
zur Vertretung von Patienten aus der demokratischen<br />
Wahl durch die einzelnen SHG auf<br />
Landesebene bzw. auf B<strong>und</strong>esebene aus den<br />
Wahlen durch die Landesdachverbände. Freilich<br />
wird hier ein Weniger an Betroffenheit durch ein<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 19<br />
absolut notwendiges Mehr an Kontinuität <strong>und</strong><br />
Professionalität ersetzt.<br />
Mein Resumee lautet dahingehend, dass beide<br />
bestehenden Interessenvertretungen<br />
(Selbsthilfgruppen <strong>und</strong> Patientenanwälte) parallel<br />
zueinander, aber mit verschiedenen Aufgaben,<br />
einbezogen werden sollen:<br />
Die einzelnen Selbsthilfegruppen als Vertreter<br />
<strong>und</strong> Profis „in der Krankheit“ jeweils auf den unteren<br />
Ebenen des Ges<strong>und</strong>heitswesens, die Dachverbände<br />
auf der Landes- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esebene.<br />
Die Patientenanwälte bzw. die ARGE PA als Vertreter<br />
<strong>und</strong> Profis <strong>für</strong> den rechtlichen Bereich, das<br />
Beschwerdemanagement <strong>und</strong> ihrem Wissen <strong>und</strong><br />
ihren Erfahrungen in Hinblick auf die Ges<strong>und</strong>heitsinstitutionen<br />
auf Landes- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esebene.<br />
Schlussbemerkung<br />
Dieser schriftliche Beitrag ist als erste gedankliche<br />
Reflexion der Praxis zu dem Thema PatientInnenbeteiligung<br />
gedacht. Ich verbinde damit die<br />
Hoffnung, einen wissenschaftlich f<strong>und</strong>ierten <strong>und</strong><br />
regen Auseinandersetzungsprozess zu beginnen.<br />
Dr. Gerald Bachinger<br />
NÖ Patienten- <strong>und</strong> Pflegeanwalt
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Bedeutung der Selbsthilfegruppen<br />
<strong>für</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Gastbeiträge<br />
<strong>Medizin</strong>ische Selbsthilfegruppen sind Zusammenschlüsse<br />
von Betroffenen mit einem spezifischen<br />
Krankheitsbild, wie z.B. Brustkrebs, Morbus<br />
Bechterew, Diabetes mellitus, Migräne oder<br />
Menschen mit künstlichem Darmausgang, Halsatmer<br />
<strong>und</strong> viele andere mehr. Gelegentlich handelt<br />
es sich um Krankheitsbilder, die so schwerwiegend<br />
sind oder so früh auftreten, dass nicht die Betroffenen<br />
selbst eine Gruppe bilden können,<br />
sondern die Angehörigen die Initiative ergreifen:<br />
bei kindlichen Erkrankungen, wie zum Beispiel<br />
angeborenen Stoffwechselstörungen oder<br />
schweren angeborenen Herzerkrankungen, sind<br />
es die Eltern, bei Erkrankungen, die das gesamte<br />
soziale Gefüge innerhalb von Familien oder Partnerschaften<br />
massiv beeinflussen, sind es auch die<br />
Angehörigen, man denke an die Angehörigen von<br />
Alzheimererkrankten, von Alkoholkranken oder<br />
von Schlaganfallpatienten.<br />
Immer handelt es sich um definierte Krankheitsbilder,<br />
die <strong>für</strong> den Betroffenen eine lange<br />
andauernde Beeinträchtigung durch chronische<br />
Krankheit oder Behinderung bedeuten, eine Beeinträchtigung<br />
allerdings, die medizinisch-therapeutisch<br />
nicht ausgeheilt werden kann <strong>und</strong> <strong>für</strong> den<br />
Patienten eine Änderung seiner Lebensplanung,<br />
seiner Zukunft, seines persönlichen Schicksals<br />
bedeutet. Diese veränderte Situation bedeutet <strong>für</strong><br />
den Betroffenen aber auch, dass sein Alltag anders<br />
abläuft als jener von Nichtbetroffenen, dass er in<br />
vielerlei Hinsicht Nachteile erlebt, eingeschränkt<br />
ist <strong>und</strong> besondere Bedürfnisse entwickelt, dass er<br />
<strong>für</strong> die Umgebung „anders“ ist.<br />
Dieses Anderssein kann unterschiedlich ausgelebt<br />
werden: Manche Patienten ziehen sich<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 20<br />
zurück <strong>und</strong> leben sehr einsam <strong>und</strong> zurückgezogen,<br />
mit geringer Lebensqualität, sozialer Isolation <strong>und</strong><br />
passivem Erleben ihrer Krankheit. Manche werden<br />
durch ihre Erkrankung <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Erlebnisse ungeheuer stark <strong>und</strong> sagen der neuen<br />
Lebenssituation den Kampf an. Sie gründen eine<br />
Selbsthilfegruppe oder arbeiten aktiv darin mit.<br />
Eine dritte Gruppe wiederum versucht, zu Gleichbetroffenen<br />
Kontakte zu knüpfen, um zu sehen,<br />
wie andere mit der Erkrankung oder Behinderung<br />
umgehen <strong>und</strong> möglichst unauffällig <strong>und</strong> mit<br />
einigermaßen akzeptabler Lebensqualität leben.<br />
Primäres Ziel einer Selbsthilfegruppe ist es,<br />
Kontakte von Betroffenen mit Gleichbetroffenen<br />
zu fördern. Der Umgang mit Menschen, die gleiche<br />
Schicksale haben, vor denselben Problemen stehen<br />
<strong>und</strong> dieselben Gefühle empfinden, schafft große<br />
Verb<strong>und</strong>enheit, Vertrautheit, Verständnis <strong>und</strong><br />
erleichtert die Kommunikation ungemein. In der<br />
aktiven Auseinandersetzung um die Information<br />
über die Erkrankung, die Therapie, die Heilbehelfe<br />
oder die sozialen Probleme <strong>und</strong> Strukturen, die es<br />
gibt, wird der Wissensstand angehoben. Nicht<br />
umsonst heißt es, dass das Wissen des Einzelnen<br />
dem Wissen der gesamten Gruppe entspricht.<br />
Gerade bei seltenen Erkrankungen übertrifft das<br />
Wissen der Selbsthilfegruppe jenes der behandelnden<br />
<strong>Medizin</strong>er, Therapeuten <strong>und</strong> Pflegepersonen,<br />
weshalb man vom Patienten spricht, der zum „Experten<br />
<strong>für</strong> die eigene Erkrankung“ wird. Dieses<br />
Wissen wird durch die Gruppe erarbeitet <strong>und</strong><br />
weitergegeben, denn medizinische Selbsthilfegruppe<br />
pflegen enge nationale <strong>und</strong> internationale<br />
Kontakte zu Ärzten, Therapeuten, Pflegepersonen<br />
<strong>und</strong> Forschern, die sich eingehend mit dem spezi-
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Bedeutung der Selbsthilfegruppen<br />
<strong>für</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Gastbeiträge<br />
fischen Krankheitsbild beschäftigen. Einem einzelnen<br />
Patienten würde dieses Wissen im medizinischen<br />
Routinebetrieb nicht zur Verfügung<br />
stehen.<br />
Die Möglichkeiten im Bereich der sozialen Hilfen,<br />
Pflegegeld, Invaliditätspension, Selbstbehalte,<br />
Ansuchen, Förderungen, arbeitsrechtliche Faktoren,<br />
Befreiungen <strong>und</strong> vieles andere mehr, mit denen<br />
ein Patient konfrontiert wird, sind unübersichtlich<br />
<strong>und</strong> kaum durchschaubar. Erschwert durch organisatorische<br />
Hürden, bürokratische Strukturen, örtliche<br />
Hindernisse, Unzuständigkeiten, wenig<br />
Flexibilität, kapitulieren viele Patienten <strong>und</strong><br />
bleiben auf der Strecke. Noch gibt es kaum eine<br />
individuelle Betreuung eines chronisch kranken<br />
oder behinderten Patienten, bei welcher alle<br />
notwendigen Informationen konkret <strong>und</strong> umfassend<br />
<strong>für</strong> den betreffenden Fall vermittelt<br />
werden. Viele Patienten erleiden Nachteile, weil sie<br />
dieses Wissen nicht haben, denn – paradoxerweise<br />
– wird doch gerade von jenen, die körperlich,<br />
psychisch oder sozial geschwächt sind, verlangt,<br />
dass sie aktiv werden <strong>und</strong> sich selbst um die relevanten<br />
Informationen kümmern. In diesem Fall<br />
sind Selbsthilfegruppen eine unverzichtbare<br />
Informationsquelle, denn sie geben dieses Wissen<br />
an neu hinzukommende Patienten weiter.<br />
Unzählige Patienten berichten, dass sie die <strong>für</strong> sie<br />
notwendigen Informationen in der gesamten Breite<br />
erst in der Selbsthilfegruppe erfahren hätten. Hier<br />
füllen medizinische Selbsthilfegruppen ein Manko<br />
aus, welches durch andere <strong>Institut</strong>ionen des Ges<strong>und</strong>heits-<br />
<strong>und</strong> Sozialsystems in diesem Umfang<br />
nicht angeboten wird.<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 21<br />
Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Selbsthilfegruppen<br />
ist jener der Prävention, <strong>und</strong> zwar<br />
sowohl der Sek<strong>und</strong>är-, als auch Tertiärprävention.<br />
Die Sensibilisierung <strong>für</strong> bestimmte Erkrankungen<br />
<strong>und</strong> Begleiterkrankungen führt zu einer Reduktion<br />
von Folgesymptomen, zu deren früherem<br />
Erkennen, zu einem abgeschwächtem Verlauf der<br />
Erkrankung. Dies sei an mehreren Beispielen<br />
erläutert: Die Gruppe der Morbus Bechterew-<br />
Patienten bietet ein regelmäßiges gemeinsames<br />
Turnen über das ganze Jahr hindurch an. Der Herzverband<br />
animiert zum Koronarturnen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />
Wanderungen. Die Gruppe der Lymphödemerkrankten<br />
organisiert Lymphdrainagen mit<br />
mindestens 45-minütiger Therapie. Die Diabetiker-<br />
Selbsthilfegruppe schult z.B. ältere Leute noch<br />
gesondert im Umgang mit dem Insulin <strong>und</strong> der<br />
Handhabung mit dem Pen nach, usw. In allen Fällen<br />
wird den Patienten klar gemacht, dass Therapien<br />
konsequent eingehalten werden müssen, will man<br />
das Fortschreiten der Erkrankungen verringern<br />
oder stoppen. Die aktiven Mitglieder sehen es als<br />
ihre Aufgabe an, durch Vorbildwirkung <strong>und</strong> vorgelebter<br />
Disziplin den anderen Betroffenen zu<br />
zeigen, wie wichtig es ist, die medizinisch-therapeutischen<br />
Vorgaben einzuhalten. Mit dem Ergebnis,<br />
dass die Eigenverantwortung des Patienten<br />
steigt, dass die Selbstbestimmung über das Einhalten<br />
von Therapien zunimmt, dass die Lebensqualität<br />
zunimmt.<br />
Sehr oft werden notwendige Therapien nur beschränkt<br />
von den (leistbaren) <strong>Institut</strong>ionen des<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesens angeboten, bewilligt oder die<br />
angebotenen Therapiekapazitäten reichen gar nicht<br />
aus. Oder Maßnahmen werden empfohlen, ohne
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die Bedeutung der Selbsthilfegruppen<br />
<strong>für</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Gastbeiträge<br />
eine konkrete Möglichkeit der Umsetzung anzubieten.<br />
Hier sorgen medizinische Selbsthilfegruppen<br />
<strong>für</strong> ein verbessertes Angebot. Es macht<br />
wenig Sinn, einem stressgeplagten, übergewichtigen<br />
Herzinfarktpatienten zu sagen, dass er in Zukunft<br />
gesünder leben soll, ohne ihm die konkrete<br />
Hilfestellung <strong>und</strong> Umsetzung dazu anzubieten, wie<br />
er das persönlich in seinem Leben auch umsetzen<br />
kann. Das aber tun Selbsthilfegruppen. Mit großer<br />
Geduld <strong>und</strong> viel Zeit, Einfühlungsvermögen <strong>und</strong><br />
Verständnis, in einem Umfang, der in einem Routinebetrieb<br />
niemals möglich ist. Mit dem zusätzlich<br />
vorgelebten Beispiel, dass man mit einem chronischen<br />
Leiden oder einer Behinderung gut umgehen<br />
kann.<br />
Im Rahmen des PIK-Projektes wird der Kontakt<br />
zwischen einzelnen Selbsthilfegruppen, Betroffenen<br />
<strong>und</strong> Patienten gefördert, auf Wunsch bereits<br />
im Krankenhaus. Kein ärztliches Aufklärungs-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 22<br />
gespräch vor einer schweren Operation kann<br />
wirklich vermitteln, wie es ist, z.B. ohne Kehlkopf<br />
zu leben. Keine Zuversicht <strong>und</strong> Hoffnung kann aber<br />
besser gefördert werden, als Patienten kennen zu<br />
lernen, die bereits alles überstanden haben, die<br />
durchaus kommunizieren können <strong>und</strong> Lebensmut<br />
vermitteln.<br />
Selbsthilfegruppen sind heute ein unverzichtbarer<br />
<strong>und</strong> notwendiger Bereich des Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />
Sozialwesens, was dann besonders deutlich<br />
werden würde, würde es sie nicht mehr geben.<br />
Es ist umso verw<strong>und</strong>erlicher, dass sie unter großen<br />
Mühen, Spenden <strong>und</strong> vielen selbst aufgebrachten<br />
Mitteln arbeiten müssen, ohne die notwendige<br />
finanzielle Absicherung <strong>und</strong> Anerkennung durch<br />
die Politik <strong>und</strong> Gesellschaft zu erfahren<br />
ao.Univ.Prof.Dr.Susanne G. Kircher<br />
Vorsitzende des <strong>Medizin</strong>ischen<br />
Selbsthilfezentrums Wien „Martha Frühwirt“
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die neue Patientenbeteiligung<br />
in Deutschland<br />
Gastbeiträge<br />
Die Beteiligung von Patientinnen <strong>und</strong> Patienten<br />
an der Gestaltung des Ges<strong>und</strong>heitswesens ist in<br />
Deutschland etwas ganz Neues. Sie wird zwar seit<br />
vielen Jahren gefordert, die Politik hat sich jedoch<br />
bisher sehr zögerlich verhalten. Jetzt hat sie plötzlich<br />
einen Sprung gewagt: Seit Anfang 2004 sitzen<br />
Patientenvertreter in etlichen wichtigen Ausschüssen<br />
– mit Rede- <strong>und</strong> Antragsrecht, aber ohne<br />
Stimmrecht. Ich werde kurz die bisherige Entwicklung<br />
der Patientenbeteiligung in Deutschland beschreiben<br />
<strong>und</strong> das Ergebnis kritisch bewerten.<br />
Theorie <strong>und</strong> Entwicklung<br />
An der individuellen Behandlung, also auf der<br />
Mikro-Ebene des Arzt-Patient-Kontaktes, sind<br />
Patienten schon relativ weitgehend beteiligt, jedenfalls<br />
theoretisch: Ohne wirksame Einwilligung des<br />
Patienten ist jeder Eingriff, also jede Therapie in<br />
Deutschland eine strafbare Körperverletzung. Die<br />
umfassende, verständliche Aufklärung <strong>und</strong> Einbeziehung<br />
des Patienten in die Behandlungsplanung<br />
ist also – theoretisch – eine notwendige Voraussetzung<br />
jeder Therapie. Dass Ärzte sich in der Praxis<br />
noch häufig schwer damit tun, Patienten als<br />
Partner anzuerkennen, dürfte niemanden verw<strong>und</strong>ern.<br />
Zu neu ist in Deutschland das Paradigma<br />
des shared decision making, der partnerschaftlichen<br />
Entscheidungsfindung. Erst seit wenigen<br />
Jahren wird damit systematisch experimentiert<br />
(Scheibler/Pfaff 2003). Die theoretische Gr<strong>und</strong>lage<br />
kommt aus Großbritannien, wo sie schon wesentlich<br />
weiter entwickelt <strong>und</strong> besser verankert ist<br />
(Literatur bei Scheibler/Pfaff 2003).<br />
In Organisationen <strong>und</strong> Körperschaften, also auf der<br />
Meso-Ebene, findet sich Patientenbeteiligung in<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 23<br />
Deutschland auch konzeptionell sehr viel seltener.<br />
Nur bei den Krankenkassen bilden die Versicherten<br />
einen Teil (bei den Ersatzkassen sogar die Gesamtheit)<br />
der demokratischen Basis – nicht jedoch die<br />
Patienten. Und bei den Leistungserbringern, etwa<br />
Krankenhäusern, ist Patientenbeteiligung noch<br />
gänzlich unbekannt.<br />
Die kollektive Einbeziehung von Patientenvertretern<br />
in politische Entscheidungen der ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Versorgung, also auf der Makro-Ebene,<br />
wird seit vielen Jahren auf nationaler, europäischer<br />
<strong>und</strong> internationaler Ebene von Politikern, Patientenorganisationen,<br />
Juristen <strong>und</strong> Wissenschaftlern<br />
gefordert (z.B. 1992 vom Sachverständigenrat in<br />
Deutschland; 1994 von der WHO; 1996 von der<br />
Ges<strong>und</strong>heitsministerkonferenz des Europarates;<br />
1996 <strong>und</strong> 1999 von der Ges<strong>und</strong>heitsministerkonferenz<br />
in Deutschland… Literatur siehe bei<br />
Francke/Hart 2001).<br />
Aber erst 1999, nach Ablösung der konservativen<br />
CDU/FDP-Regierung durch eine SPD/Grüne-<br />
Koalition, gab die deutsche B<strong>und</strong>esregierung ein<br />
Gutachten in Auftrag, das die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
aufarbeiten <strong>und</strong> Vorschläge <strong>für</strong> sinnvolle <strong>und</strong><br />
durchsetzbare Formen der Bürgerbeteiligung im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen machen sollte (Francke/Hart<br />
2001). Im Rahmen dieses Werkes finden sich auch<br />
viele Hinweise auf Beispiele im nicht nur europäischen<br />
Ausland, die zeigen, dass Bürgerbeteiligung<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen schon funktioniert <strong>und</strong> dass<br />
wir in Deutschland das Rad nicht völlig neu erfinden<br />
müssen.<br />
Das Gutachten unterscheidet drei Stufen der<br />
Beteiligung von Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen:<br />
die Verfahrensbeteiligung, bei der
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die neue Patientenbeteiligung<br />
in Deutschland<br />
Gastbeiträge<br />
die Bürger durch Information <strong>und</strong> Anhörung eher<br />
passiv beteiligt sind; die Beratungsbeteiligung, bei<br />
der sie die Möglichkeit haben, Diskussionsprozesse<br />
durch ihre Anträge <strong>und</strong> Argumente zu beeinflussen;<br />
<strong>und</strong> als dritte Stufe die Entscheidungsbeteiligung,<br />
bei der sie in den entsprechenden Gremien vollwertige<br />
Mitglieder mit Stimmrecht sind.<br />
Verfahrens- <strong>und</strong> Beratungsbeteiligung bleiben<br />
ohne Entscheidungskompetenz <strong>für</strong> die beteiligten<br />
Bürger, daher ist es auf diesen Stufen nicht allzu<br />
bedeutsam, wie deren Vertreter legitimiert sind.<br />
Wichtig wird dies erst auf der dritten Stufe, der<br />
Entscheidungsbeteiligung. Nur sie wird vom<br />
hauptsächlichen Argument gegen die Patientenbeteiligung<br />
getroffen: den Patienten mangele es<br />
an Legitimation. Denn es gibt weder ein Patientenparlament<br />
noch eine Patientenkammer, also keine<br />
Basis, die ihre Vertreter repräsentativ wählen<br />
könnte. Das wäre auch recht schwer vorstellbar,<br />
denn Patienten sind keine abgegrenzte Gruppe<br />
– Jede <strong>und</strong> Jeder ist irgendwann einmal Patient.<br />
Nur die chronisch Kranken, die ein Leben lang mit<br />
ihrer Krankheit leben müssen, sind ausreichend<br />
motiviert, sich zu organisieren <strong>und</strong> in Selbsthilfegruppen<br />
<strong>und</strong> -verbänden auch <strong>für</strong> ihre Anliegen<br />
zu kämpfen. Diese meist vereinsrechtlich verfassten<br />
Organisationen kennen auch die demokratische<br />
Legitimierung ihrer Vertreter – die dem Ausmaß an<br />
Demokratie, das beispielsweise Gewerkschaften<br />
oder Ärztekammern aufweisen, nicht nachsteht! Bei<br />
ihnen ist das Hindernis eher, dass ihre Vertreter<br />
meist nur <strong>für</strong> ihre eigene Gruppe sprechen können<br />
<strong>und</strong> nicht gleichzeitig <strong>für</strong> alle Patienten.<br />
Aus diesem – zum Teil nur scheinbaren – Legitimations-Dilemma<br />
half der Politik die Beschrän-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 24<br />
kung auf eine Beteiligungsform ohne Stimmrecht.<br />
Die seit Januar 2004 gültige Ges<strong>und</strong>heitsreform<br />
(Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
vom 27.12.2003) hat die Beteiligung<br />
von Patientenvertretern mit Rede- <strong>und</strong> Antragsrecht<br />
an einigen wichtigen Gremien eingeführt: im<br />
Gemeinsamen B<strong>und</strong>esausschuss, der eine Fülle von<br />
Fragen unterhalb der Ebene von Gesetz <strong>und</strong> Verordnung<br />
zu regeln hat, vom Leistungskatalog der Krankenkassen<br />
über die Qualitätssicherung in ambulanten<br />
<strong>und</strong> stationären Einrichtungen bis hin zu<br />
Festzuschüssen <strong>für</strong> Zahnersatz; in der noch zu<br />
schaffenden Arbeitsgemeinschaft <strong>für</strong> Aufgaben der<br />
Datentransparenz; <strong>und</strong> schließlich in einigen Ausschüssen<br />
auf Ebene der 23 Kassenärztlichen <strong>und</strong><br />
Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, die sich mit<br />
Fragen der Versorgung <strong>und</strong> deren Sicherstellung<br />
durch Kassenärzte beschäftigen (Landesausschüsse,<br />
Zulassungs- <strong>und</strong> Berufungsausschüsse).<br />
Durch die Beschränkung auf die Stufe der Beratungsbeteiligung<br />
war das Problem der Legitimierung<br />
der Patientenvertreter zwar gemildert,<br />
jedoch nicht aus der Welt geschafft. Denn auch<br />
Rede- <strong>und</strong> Antragsrecht in mehr oder weniger<br />
wichtigen Gremien sind Beteiligungsformen, bei<br />
denen die Frage aufkommt, wer dazu berechtigt<br />
sein soll. Das Gesetz ermächtigt die Regierung,<br />
dies in einer Rechtsverordnung zu regeln (Patientenbeteiligungsverordnung<br />
vom 19.12.2003). Diese<br />
zählt zunächst sieben Kriterien auf, denen Patientenorganisationen<br />
genügen müssen, wenn sie<br />
beteiligt werden wollen: Beispielsweise müssen<br />
diese Organisationen demokratisch verfasst <strong>und</strong><br />
gemeinnützig sein sowie ihre finanzielle Unabhängigkeit<br />
nachweisen. Anschließend nennt die
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die neue Patientenbeteiligung<br />
in Deutschland<br />
Gastbeiträge<br />
Verordnung einige Organisationen, die sozusagen<br />
„geborene“ Beteiligte sind: alle Verbände <strong>und</strong> Gruppen<br />
aus dem Bereich der von Krankheit <strong>und</strong> Behinderung<br />
Betroffenen, die im Deutschen Behindertenrat<br />
zusammengeschlossen sind, sowie drei Organisationen<br />
der professionellen Patientenunterstützung<br />
(die B<strong>und</strong>esverbände der Verbraucherzentralen,<br />
Patientenstellen <strong>und</strong> Selbsthilfe-Kontaktstellen).<br />
Fühlen sich andere Organisationen ebenfalls zur<br />
Beteiligung berufen, müssen sie dies bei der B<strong>und</strong>esregierung<br />
beantragen <strong>und</strong> die Erfüllung der<br />
Kriterien nachweisen.<br />
Bewertung<br />
Mir scheint die neue Regelung der Patientenbeteiligung<br />
ein guter Einstieg zu sein. Im Kreis der<br />
Patientenorganisationen bedauern Manche, dass<br />
sie nicht mit Stimme <strong>und</strong> Einfluss an den Entscheidungen<br />
mitwirken dürfen. Ich habe damit<br />
– zunächst jedenfalls – keine Probleme. Erstens<br />
müssen wir uns an die Beteiligung erst gewöhnen,<br />
sie ist <strong>für</strong> alle Seiten neu. Zweitens fehlen uns bisher<br />
die nötigen Ressourcen, die eine kompetente<br />
Entscheidungsbeteiligung erst möglich machen<br />
würden. Uns werden nur die Reisekosten erstattet,<br />
die Arbeit müssen die meisten Patientenvertreter<br />
in ihrer Freizeit erledigen – anders als die Vertreter<br />
der Leistungserbringer <strong>und</strong> Kostenträger, die da<strong>für</strong><br />
selbstverständlich Arbeitszeit verwenden können.<br />
Und drittens werden die Patientenvertreter auch<br />
jetzt schon in der Öffentlichkeit mit den Entscheidungen,<br />
bei denen sie beteiligt waren, in Verbindung<br />
gebracht – <strong>und</strong> wenn wir tatsächlich mitbestimmen<br />
könnten, wären wir wirklich mitverantwortlich.<br />
Ohne Entscheidungsbeteiligung können<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 25<br />
<strong>und</strong> müssen wir stets korrigierend entgegnen,<br />
dass wir ja gar kein Stimmrecht haben.<br />
Die Auswertung der praktischen Erfahrung<br />
des ersten halben Jahres Patientenbeteiligung in<br />
Deutschland fällt gemischt aus. Weder Leistungserbringer<br />
noch Kostenträger schienen zunächst von<br />
der neuen Patientenbeteiligung begeistert zu sein.<br />
Manche <strong>für</strong>chteten vielleicht, die Patientenvertreter<br />
würden nichts von der komplizierten Materie<br />
verstehen, würden völlig unpassend ihre individuelle<br />
Krankengeschichte in die Gremien hineintragen<br />
oder einfach nur dumm <strong>und</strong> überflüssig<br />
dasitzen. Auch wenn das eine oder andere vorgekommen<br />
sein mag <strong>und</strong> einige Startschwierigkeiten<br />
zu überwinden waren, wurden wir doch meist<br />
fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> zuvorkommend aufgenommen<br />
<strong>und</strong> unsere Beiträge in den Diskussionen berücksichtigt.<br />
In einzelnen Fällen hält sich allerdings auch die<br />
Unwilligkeit der „Großen“, die bisher unter sich<br />
waren, gegenüber allzuviel Patientenbeteiligung.<br />
So wird uns beispielsweise in Hamburg die Teilnahme<br />
an den Entscheidungen der Zulassungs- <strong>und</strong><br />
Berufungsausschüsse verweigert – wir dürfen an<br />
der Darstellung <strong>und</strong> Diskussion der Sachverhalte<br />
teilnehmen <strong>und</strong> am Ende wieder an der Verkündung<br />
der Entscheidung, während der Abstimmung jedoch<br />
müssen wir den Raum verlassen, damit wir<br />
nicht erfahren, wie die stimmberechtigten Beteiligten<br />
abgestimmt haben. Manche Ausschüsse<br />
meinen sogar, wir dürften nicht einmal das Ergebnis<br />
erfahren, andere wieder verweigern uns das<br />
Material zur Vorbereitung, das den stimmberechtigten<br />
Beteiligten vor der Sitzung zugesandt wird…<br />
Diese Unsicherheiten über die Auslegung des neuen
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die neue Patientenbeteiligung<br />
in Deutschland<br />
Gastbeiträge<br />
Gesetzes (vielleicht sind es auch Widerstände gegen<br />
eine unbequeme Neuerung) werden sich jedoch<br />
hoffentlich im Laufe dieses Jahres gelegt haben.<br />
Gefahren<br />
Als Vertreter von Patienteninteressen habe ich<br />
mich seit Jahren <strong>für</strong> Patientenbeteiligung eingesetzt<br />
(z.B. Kranich/Böcken 1997). Daher mag es<br />
erstaunen, dass ich jetzt vor deren Gefahren warne.<br />
Vielleicht sollte ich lieber von notwendigen Voraussetzungen<br />
sprechen, die <strong>für</strong> eine funktionierende<br />
Patientenbeteiligung unabdingbar sind.<br />
Das Wichtigste: Wir brauchen Ressourcen!<br />
Damit meine ich nicht nur Geld (davon war weiter<br />
oben schon die Rede), sondern vor allem auch Unterstützung<br />
in Form von Schulung, Vorbereitung<br />
<strong>und</strong> f<strong>und</strong>ierter Meinungsbildung. Wenn ich irgendwo<br />
die Position der Patienten vertreten <strong>und</strong> gegenüber<br />
Leistungserbringern <strong>und</strong> Kostenträgern zur<br />
Geltung bringen soll, muss ich etwas von der Sache<br />
verstehen, muss argumentieren können, muss die<br />
Meinung der Patienten genau kennen. Damit haben<br />
es ganz besonders die selbst Betroffenen schwer,<br />
die das Verständnis <strong>für</strong> die Bedürfnisse von Menschen,<br />
die an anderen Krankheiten leiden als sie<br />
selbst, naturgemäß nicht immer mitbringen.<br />
Beteiligte Patientenvertreter brauchen einen<br />
umfangreichen Strauß von Kompetenzen, die in<br />
der Regel nur durch Schulung erworben werden<br />
können – niemand ist auf allen Gebieten ausgebildet<br />
oder gar Naturtalent. Das Wissen <strong>und</strong> die<br />
Fähigkeiten, die zur Beteiligung an ges<strong>und</strong>heitspolitischen<br />
Entscheidungen erforderlich sind,<br />
stellen die höchste Stufe der Patientenkompetenz<br />
dar (Kranich 2004).<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 26<br />
Und natürlich brauchen Patientenvertreter auch<br />
ein funktionierendes System der Meinungsbildung<br />
sowie der Rückkopplung an ihre „Basis“. Angesichts<br />
der Verschwiegenheitspflichten, die den Mitgliedern<br />
von B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Landesausschüssen auferlegt<br />
werden, ist das nicht nur eine Frage von Infrastruktur<br />
<strong>und</strong> Ressourcen, sondern auch eine des<br />
Datenschutzes <strong>und</strong> der gewünschten (In-)Transparenz.<br />
Warum sollen Patienten kein Recht haben, zu<br />
erfahren, wie diese Gremien arbeiten, wie deren<br />
Entscheidungen zustande kommen, wer welche<br />
Position vertreten hat? Das mag bei Ausschüssen<br />
zur Landesverteidigung nachvollziehbar sein, aber<br />
hier geht es nur um die ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung<br />
der Bevölkerung.<br />
Wirksame, nicht nur symbolische Patientenbeteiligung<br />
kostet leider Geld. Solange sich die Regierenden<br />
mit Patientenbeteiligung schmücken,<br />
ohne sie auch zu ermöglichen – nämlich durch infrastrukturelle<br />
Förderung, Schulung <strong>und</strong> Selbstorganisation<br />
–, hat diese Beteiligung in meinen<br />
Augen mehr Gefahren als Nutzen. Patientenbeteiligung<br />
wird schon heute von den Regierenden<br />
genutzt, um ihre unbequemen Entscheidungen<br />
gegenüber verärgerten <strong>und</strong> aufgebrachten Bürgern<br />
zu legitimieren – obwohl die beteiligten Patienten<br />
ja gerade nicht als legitimiert angesehen werden<br />
<strong>und</strong> genau deswegen nicht stimmberechtigt sind!<br />
Dieser Missbrauch ist bereits in der Begründung zu<br />
§ 140 f des Ges<strong>und</strong>heitsreformgesetzes formuliert:<br />
„Die Versicherten 1 sollen künftig stärker in die Entscheidungsprozesse<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
(GKV), die die Versorgung betreffen,<br />
eingeb<strong>und</strong>en werden. Sie müssen von Betroffenen<br />
zu Beteiligten werden. Nur dann ist ihnen mehr<br />
1 Sollte wohl eigentlich heißen Die Patienten, denn die Versicherten sind ja<br />
bereits durch die Sozialwahlen in den Verwaltungsräten der Krankenkassen<br />
vertreten <strong>und</strong> hier soll ja gerade die oftmals andere Interessenlage der<br />
Patienten Berücksichtigung finden.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Die neue Patientenbeteiligung<br />
in Deutschland<br />
Gastbeiträge<br />
Eigenverantwortung zuzumuten.“ Mit dem Terminus<br />
Eigenverantwortung dürfte wenigstens schwerpunktmäßig<br />
die Verlagerung von immer mehr finanziellen<br />
Lasten auf die Kranken gemeint sein.<br />
Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin <strong>für</strong><br />
Patientenbeteiligung! Aber wenn sie ausgerechnet<br />
zu einem Zeitpunkt eingeführt wird, an dem<br />
Patienten immer mehr zur Kasse gebeten werden,<br />
liegt der Verdacht der Instrumentalisierung besonders<br />
nahe. Er könnte durch Bereitstellung<br />
der angesprochenen infrastrukturellen <strong>und</strong> natürlich<br />
finanziellen Voraussetzungen <strong>für</strong> wirksame,<br />
unabhängige <strong>und</strong> sachgemäße Patientenbeteiligung<br />
ausgeräumt werden.<br />
Christoph Kranich<br />
Verbraucherzentrale Hamburg,<br />
Fachabteilung Ges<strong>und</strong>heitsdienstleistungen<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 27<br />
Literatur<br />
1 Francke, Robert/Hart, Dieter:<br />
Bürgerbeteiligung im Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />
Baden-Baden 2001 (Nomos)<br />
1 Kranich, Christoph / Böcken, Jan (Hrsg):<br />
Patientenrechte <strong>und</strong> Patientenunterstützung in<br />
Europa. Ideen <strong>und</strong> Anregungen <strong>für</strong> Deutschland.<br />
Baden-Baden 1997 (Nomos)<br />
1 Kranich, Christoph:<br />
Patientenkompetenz – Was müssen Patienten<br />
wissen <strong>und</strong> können?<br />
In: B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsblatt 47/10, Oktober 2004<br />
1 Scheibler, Fülöp / Pfaff, Holger (Hrsg):<br />
Shared Decision-Making. Der Patient als Partner<br />
im medizinischen Entscheidungsprozess.<br />
Weinheim / München 2003 (Juventa)
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Wiener Patientenanwaltschaft<br />
Partner<br />
Die Wiener Patientenanwaltschaft ist eine Einrichtung<br />
des Landes Wien, welche auf Gr<strong>und</strong> eines<br />
Wiener Landesgesetzes zur Wahrung <strong>und</strong> Sicherung<br />
der Rechte <strong>und</strong> Interessen der Patienten in allen<br />
Bereichen des Ges<strong>und</strong>heitswesens in Wien geschaffen<br />
wurde <strong>und</strong> seit 1. Juli 1992 besteht. Sie<br />
wird vom unabhängigen Wiener Patientenanwalt<br />
geleitet.<br />
Sie ist eine unabhängige <strong>und</strong> weisungsfreie<br />
Anlaufstelle im Wiener Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Spitalsbereich<br />
<strong>und</strong> wird nicht nur von Patienten, sondern<br />
auch von Ärzten <strong>und</strong> anderen im Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />
tätigen Personen in Anspruch genommen.<br />
Die Tätigkeit der Wiener Patientenanwaltschaft<br />
dient der Stärkung der Position der Patienten im<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbereich, der weiteren Verbesserung<br />
des Verhältnisses zwischen Patienten <strong>und</strong> allen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsdiensten, sowie der notwendigen<br />
allgemeinen Bewusstseinsbildung am Wege zu<br />
einem integrierten Ges<strong>und</strong>heitssystem in Wien.<br />
Die Zuständigkeit umfasst das gesamte Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
von Wien, also Krankenanstalten,<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 28<br />
Pflegeheime, Rettung <strong>und</strong> Krankenbeförderung,<br />
freipraktizierende Ärzte, Apotheken, Dentisten,<br />
Hebammen <strong>und</strong> andere Dienste im Ges<strong>und</strong>heitsbereich,<br />
wie z.B. Hauskrankenpflege oder soziale<br />
Dienste.<br />
Die Hilfestellung durch die Wiener Patientenanwaltschaft<br />
erfolgt durch die Prüfung von Beschwerden<br />
<strong>und</strong> die außergerichtliche Schadensregulierung<br />
bei Patientenschäden, die Aufklärung<br />
von Mängeln oder Missständen sowie die Abgabe<br />
von Empfehlungen zu deren Abstellung. Die Beratung<br />
<strong>und</strong> Erteilung von Auskünften im Zusammenhang<br />
mit Patientenrechten zählt ebenfalls<br />
zum Aufgabenbereich. Weiters wird die Wiener<br />
Patientenanwaltschaft im Sinne von Vermittlung<br />
bei Konflikten im Ges<strong>und</strong>heitsbereich tätig.<br />
Hilfestellung erfolgt auch bei der Bewältigung<br />
organisatorischer Probleme. Die Handhabung<br />
eines patientenorientierten Entlassungsmanagements<br />
in Spitälern ist dabei ein wesentliches<br />
Anliegen.<br />
Walter Dohr, Wiener Patientenanwalt
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Das Martha Frühwirt Zentrum<br />
<strong>für</strong> medizinische Selbsthilfegruppen Wien<br />
Partner<br />
Das Martha Frühwirt Zentrum <strong>für</strong> medizinische<br />
Selbsthilfegruppen, Obere Augartenstrasse 26-28,<br />
1020 Wien wurde auf Initiative des damaligen<br />
amtsführenden Stadtrates Prof. Dr. Alois Stacher<br />
gegründet <strong>und</strong> am 28. März 1987 durch Bürgermeister<br />
Helmut Zilk eröffnet.<br />
Es war der Zusammenschluss von 13 medizinischen<br />
Selbsthilfegruppen.<br />
Die notwendigen Räumlichkeiten wurden von<br />
der Gemeinde Wien zur Verfügung gestellt.<br />
Im Jänner1987 wurde das Kuratorium ins Leben<br />
gerufen. Ein Verein, der sich aus Vertretern aller im<br />
Zentrum ansässigen Gruppen zusammensetzt. Die<br />
Aufgabe dieses Kuratoriums ist, das Zentrum zu<br />
verwalten, zu leiten <strong>und</strong> den einzelnen Gruppen<br />
ein ungestörtes Arbeiten zu ermöglichen.<br />
Mit der Entstehung <strong>und</strong> dem Aufbau des Zentrums<br />
eng verknüpft, war das Wirken von Frau<br />
Regierungsrat Martha Frühwirt, die als Vorsitzende<br />
des Kuratoriums über viele Jahre hindurch in<br />
unnachahmlicher Art <strong>und</strong> Weise dazu beigetragen<br />
hat, die medizinischen Selbsthilfegruppen zu einen,<br />
zu fördern <strong>und</strong> ihnen zur gesellschaftlicher Akzeptanz<br />
zu verhelfen. Mittlerweile besteht unser<br />
Zentrum bereits aus 25 medizinischen Selbsthilfegruppen<br />
<strong>und</strong> 4 sozialen Selbsthilfegruppen.<br />
Wir sind auch eine kooperative Vernetzung mit<br />
dem Wiener Hilfswerk eingegangen, wo ebenfalls<br />
r<strong>und</strong> 30 Selbsthilfegruppen im sozialen <strong>und</strong> medizinischen<br />
Bereich tätig sind. Dadurch können wir<br />
uns noch wirkungsvoller <strong>für</strong> die Selbsthilfebewegung<br />
einsetzen.<br />
Unser Zentrum versteht sich nicht nur als eine<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 29<br />
Einrichtung <strong>für</strong> <strong>und</strong> von schwerer Krankheit Betroffener<br />
<strong>und</strong> deren Angehörigen, sondern auch als<br />
Anlaufstelle <strong>für</strong> Auskunft <strong>und</strong> Vermittlung von<br />
Ratsuchenden untereinander <strong>und</strong> zu anderen<br />
bestehenden Selbsthilfegruppen. Das Zentrum<br />
will auch die Kommunikation zu öffentlichen<br />
Einrichtungen des Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialwesens<br />
fördern. Neue Initiativen werden bei der Gründung<br />
neuer Selbsthilfegruppen unterstützt.<br />
Auch wenn die Miete der Räumlichkeiten<br />
weitgehend durch die Gemeinde Wien subventioniert<br />
wird, müssen die laufenden Kosten von<br />
den Gruppen selbst aufgebracht werden.<br />
Deshalb ist unser Zentrum zum großen Teil<br />
auf Spenden angewiesen.<br />
In unserem Zentrum gibt es auch einen Bewegungsraum,<br />
einen Massageraum, einen Clubraum<br />
<strong>für</strong> 30 Personen, einen Festsaal <strong>für</strong> 80 Personen<br />
<strong>und</strong> einen w<strong>und</strong>erschönen Ges<strong>und</strong>heitsgarten.<br />
Alle diese Räumlichkeiten können von den Selbsthilfegruppen<br />
des Marthe Frühwirt Zentrums verwendet<br />
werden; von Gruppen außerhalb des Zentrums,<br />
wenn es freie Termine gibt.<br />
Wir würden uns freuen wenn Sie uns einmal<br />
besuchen kommen <strong>und</strong> wir Ihnen unser Zentrum<br />
persönlich vorstellen können.<br />
Unsere Sekretärin <strong>und</strong> guter Geist des Hauses<br />
Frau Elfi Ahmadian zeigt ihnen sehr gerne unsere<br />
Räumlichkeiten <strong>und</strong> gibt auch gerne Tips <strong>und</strong><br />
Ratschläge.<br />
Auf ein baldiges Wiedersehen mit Ihnen in<br />
unserem Zentrum freuen sich<br />
Univ.Prof.Dr. Susanne Kircher (1. Vorsitzende)<br />
Johann Rotter (2. Vorsitzender)
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
PatientInnenbeteiligung 1 ist in der europäischen<br />
Ges<strong>und</strong>heitspolitik als Thema gut etabliert, wenn<br />
auch in unterschiedlichem Ausmaß implementiert.<br />
Sowohl die WHO 2 als auch der Europarat 3 haben<br />
diesbezügliche Empfehlungen erlassen, Regierungen<br />
(vgl. die in diesem Newsletter vorgestellten Länder)<br />
sprechen sich <strong>für</strong> eine stärkere Beteiligung der<br />
PatientInnen aus <strong>und</strong> auf Konferenzen zur Qualität<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen hat das Thema mittlerweile<br />
einen festen Platz (z.B. am Kongress der Europäischen<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> <strong>Medizin</strong>soziologie 2004 4<br />
mit einem Schwerpunkt „Patient Empowerment:<br />
Towards a New Role For Patients in Health Care?“).<br />
Mit diesem Beitrag soll ein Einblick in unterschiedliche<br />
Formen der PatientInnenbeteiligung<br />
gegeben werden. Exemplarisch werden Beteiligungsstrukturen<br />
von Holland <strong>und</strong> England vorgestellt.<br />
Da sich diese weitgehend voneinander<br />
unterscheiden, ist es möglich anhand der beiden<br />
Länder ein relativ breites Spektrum an unterschiedlichen<br />
Ansätzen von PatientInnenbeteiligung<br />
zu beschreiben.<br />
Eckdaten des englischen Ges<strong>und</strong>heitssystems<br />
„National Health Service“ (NHS)<br />
Staatliches Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />
1 Mitgliedschaft beim NHS ist obligatorisch<br />
1 Privatversicherungen können nur zusätzlich<br />
abgeschlossen werden<br />
Finanzierung<br />
1 erfolgt größtenteils über Steuern<br />
1 intra- <strong>und</strong> extramuraler Bereich werden aus<br />
einer Hand finanziert<br />
1 In diesem Artikel wird PatientInnenbeteiligung synonym mit NutzerInnenbeteiligung<br />
<strong>und</strong> BürgerInnenbeteiligung im Ges<strong>und</strong>heitswesen verwendet<br />
<strong>und</strong> umfasst die direkte Beteiligung von PatientInnen, Angehörigen <strong>und</strong><br />
BürgerInnen ebenso wie die Beteiligung durch VertreterInnen.<br />
2 WHO 1994: Iliev D, Vienonen M. Patients’ Rights in Europe as at June 1997.<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 30<br />
1 Ges<strong>und</strong>heitsausgaben lagen bis in die späten<br />
90er Jahre unter dem europäischen Durchschnitt,<br />
werden allerdings gegenwärtig stark<br />
angehoben<br />
Gate Keeping System<br />
1 Ngl. ÄrztInnen (General Practitioners GPs)<br />
haben aufgr<strong>und</strong> ihrer Stellung als Gatekeeper<br />
einen großen Einfluss auf den fachärztlichen<br />
<strong>und</strong> stationären Behandlungsverlauf ihrer<br />
PatientInnen<br />
Sehr starke Regionalisierung<br />
1 Öffnung der Krankenhäuser <strong>für</strong> ambulante<br />
fachärztliche Behandlungen<br />
1 großer Anteil von Ges<strong>und</strong>heitszentren, in denen<br />
ca. 75% der General Practitioners (GPs) mit<br />
anderen Allgemein-, Zahn- <strong>und</strong> Augenärzten,<br />
Pflegeeinrichtungen oder Apothekern zusammenarbeiten<br />
1 regionale Aushandlungen der Primary Care<br />
Trusts (PCTs) mit den lokalen, ambulanten <strong>und</strong><br />
stationären Einrichtungen über Art <strong>und</strong> Preis<br />
der zu erbringenden Leistungen <strong>und</strong> sektorübergreifende<br />
Behandlungsstandards<br />
Letzte größere Reformen<br />
1 in den 80er Jahren intensive Stärkung <strong>und</strong><br />
Ausbau der Managementstrukturen im NHS<br />
1 seit den 90er Jahren regulierter Wettbewerb<br />
durch Einführung eines internen Marktes: PCTs<br />
sind mittlerweile fast die alleinigen Einkäufer<br />
von Krankenhaus <strong>und</strong> Community-Services<br />
(Verfügen über 75% des <strong>für</strong> diesen Bereich<br />
aufgewendeten Budgets)<br />
WHO regional Office for Europe.<br />
3 Council of Europe (2000): The development of structures for citizen and<br />
patient participation in the decision-making process affecting health care.<br />
Recommendation Rec(2000)5 and explanatory memorandum. Strasbourg.<br />
4 http://www.bolognacongress.org
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
1 Einführung der PCT beendete die getrennte<br />
Finanzierung von Primary Care, Krankenhäusern<br />
<strong>und</strong> Community Services<br />
Eckdaten des holländischen Ges<strong>und</strong>heitssystems<br />
Sozialversicherungsmodell<br />
1 baut auf dem Prinzip der Sozialversicherung auf<br />
1 eine beitragsfinanzierte Krankenversicherung<br />
<strong>für</strong> die Basisversorgung ist <strong>für</strong> die gesamte<br />
Bevölkerung obligatorisch<br />
1 r<strong>und</strong> 90 Prozent der Versicherten nehmen die<br />
Möglichkeit einer Zusatzversicherung wahr<br />
Finanzierung<br />
Der Anteil der nationalen Ges<strong>und</strong>heitsausgaben<br />
am BIP rangiert mit ca. 8,5 Prozent im europäischen<br />
Durchschnitt<br />
Gate Keeping System<br />
1 selbständig tätige HausärztInnen nehmen<br />
eine zentrale Stellung ein<br />
1 in mehr als 90 Prozent der Fälle werden die<br />
PatientInnen vom Hausarzt behandelt<br />
1 HausärztInnen fungieren als Gatekeeper zur<br />
Facharzt- oder Krankenhausbehandlung<br />
Letzte Reformen<br />
1 seit Ende der 80er Jahre umfassende Ges<strong>und</strong>heitsreform<br />
(so genannter Dekker-Simons-Plan)<br />
1 angestrebt wird ein „regulierter Wettbewerb“<br />
auf der Ebene der Krankenversicherungen<br />
<strong>und</strong> Leistungserbringer<br />
1 Ziele sind Effizienzsteigerung <strong>und</strong> Kostenregulierung<br />
durch Einführung von Markt-<br />
<strong>und</strong> Wettbewerbselementen, ohne die<br />
Versorgungssicherheit <strong>für</strong> die Gesamtbevölkerung<br />
zu gefährden<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 31<br />
PatientInnenbeteiligung in England<br />
PatientInnenbeteiligung hat in England eine lange<br />
Tradition. Skandale in psychiatrischen Anstalten<br />
machten in den 1960er Jahren deutlich, zu welchen<br />
Problemen die mangelnde Einbeziehung der Öffentlichkeit<br />
führt.<br />
Als Konsequenz wurden 1974 die Community<br />
Health Councils (CHCs) eingeführt. Diese hatten die<br />
Aufgabe, die Vertretung der Interessen der lokalen<br />
Bevölkerung wahrzunehmen, die Qualität in den<br />
Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen zu kontrollieren <strong>und</strong><br />
unterrepräsentierte Personengruppen zu unterstützen.<br />
1997 übernahm die Labourparty die Regierung.<br />
Der Staatssekretär <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit nannte in seinem<br />
Reformplan 5 neben dem Problem der zu starken<br />
Zentralisierung des Ges<strong>und</strong>heitswesens nicht<br />
empowerte PatientInnen als eine der zentralen<br />
Herausforderungen <strong>für</strong> kommende Reformen. In<br />
diesem Reformplan wurde PatientInnen stärkeres<br />
Mitspracherecht, mehr Macht <strong>und</strong> Einflussmöglichkeiten<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen in Aussicht gestellt.<br />
Ein wesentlicher Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die hohe Priorität der<br />
PatientInnenbeteiligung innerhalb der Ges<strong>und</strong>heitsreform<br />
waren Skandale im NHS, welche eine<br />
Welle öffentlicher Diskussionen auslösten. Ausführlich<br />
dokumentiert sind die Vorfälle im Zusammenhang<br />
mit der fehlerhaften Versorgung von<br />
Kindern im Bereich der kardiologischen Chirurgie<br />
5 The NHS Plan: A Plan for Investment. A Plan for Reform.<br />
http://www.nhs.uk/nationalplan/
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
des Bristol Royal NHS. Im entsprechenden Untersuchungsbericht<br />
6 wurde explizit empfohlen, dass<br />
PatientInnen im Zentrum des NHS stehen müssen,<br />
<strong>und</strong> deren Perspektive in der Planung <strong>und</strong> Leistungserbringung<br />
auf allen Ebenen berücksichtigt<br />
werden muss.<br />
2001 wurden im Abschnitt 11 des Health and<br />
Social Care Acts die rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>für</strong> die<br />
gegenwärtig bestehenden Strukturen der Patient-<br />
Innenbeteiligung geschaffen:<br />
Alle Personen, welche Leistungen von Primary<br />
Care Trusts (PCTs) 7 oder NHS Trusts 8 in Anspruch<br />
nehmen sind entweder direkt, oder durch VertreterInnen<br />
in die Planung <strong>und</strong> in Entscheidungen<br />
über die Leistungserbringung der Einrichtungen<br />
einzubeziehen.<br />
Durch die National Health Service Reform and<br />
Health Care Professions Act 2002 waren die letzten<br />
gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>für</strong> die Abschaffung<br />
der CHCs einerseits <strong>und</strong> die Implementation<br />
der vorläufig letzten Strukturen <strong>für</strong> Patient-<br />
Innenbeteiligung andererseits geschaffen.<br />
Zentrale <strong>Institut</strong>ionen <strong>für</strong> PatientInnenbeteiligung<br />
in England<br />
Neben der Reformierung des Beschwerderechts<br />
<strong>und</strong> der Ausstattung der regionalen Ges<strong>und</strong>heitsbehörden<br />
mit stärkeren Kontrollfunktionen wurden<br />
über einen Zeitraum von fünf Jahren folgende<br />
Einrichtungen zur Information <strong>und</strong> Beteiligung von<br />
PatientInnen <strong>und</strong> BürgerInnen im NHS geschaffen:<br />
1 Healthcare Commission<br />
Zu den Aufgaben dieses unabhängigen <strong>Institut</strong>s<br />
zählen sowohl landesweite standardisierte<br />
6 Kennedy, I. (2001): Learning from Bristol: the report of the public inquiry<br />
into children's heart surgery at the Bristol Royal Infirmary 1984 –1995.<br />
http://www.bristol-inquiry.org.uk<br />
7 Primary Care Trusts sind Zusammenschlüsse von ca. 50 GPs. Geleitet werden<br />
diese von einem Gremium, dass GPs, Community Nurses, die lokale<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 32<br />
PatientInnen- <strong>und</strong> MitarbeiterInnenbefragungen,<br />
als auch die jährliche Überprüfung<br />
der Versorgungsqualität aller PCTs <strong>und</strong> NHS<br />
Trusts an der auch PatientenvertreterInnen<br />
beteiligt sind. Die Ergebnisse der Untersuchungen<br />
sind öffentlich, erlauben einen systematischen<br />
Vergleich der Betreuungseinrichtungen<br />
<strong>und</strong> eine langfristige Kontrolle der stattgef<strong>und</strong>enen<br />
Veränderungen. Außerdem bilden sie die<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> das neue englische Zertifizierungssystem<br />
„Star Rating“, welches z.T. weitreichenden<br />
Einfluss auf die Managementebene<br />
der betroffenen Einrichtungen hat.<br />
1 Patient Advice and Liaison Services (PALS)<br />
PALS sind ein zentraler Bestandteil der Patient-<br />
Innenbeteiligungsstrukturen in England.<br />
Eingerichtet als kleine Büros erfüllen sie in allen<br />
PCTs <strong>und</strong> NHS Trusts vielfältige Funktionen:<br />
1 Ombudsstelle <strong>für</strong> PatientInnen/Angehörige:<br />
PALS unterstützen PatientInnen/ Angehörige<br />
bei ihren Anliegen, egal ob es sich dabei um<br />
Fragen zur Krankenbetreuung, Probleme<br />
während des KH-Aufenthalts oder den<br />
Wunsch nach einer offiziellen Beschwerde<br />
handelt.<br />
1 Feedback- <strong>und</strong> Qualitätssicherungssystem:<br />
aufgr<strong>und</strong> des unmittelbaren Kontakts mit<br />
der Bevölkerung sind PALS in der Lage,<br />
Probleme rechtzeitig zu erkennen <strong>und</strong> Fehlentwicklungen<br />
entgegenzusteuern. Dazu<br />
nutzen die PALS die von den PatientInnen<br />
vorgebrachten Anliegen <strong>und</strong> Fragen <strong>und</strong><br />
nehmen auch proaktiv den Kontakt mit<br />
PatientInnen/Angehörigen auf, um deren<br />
Bevölkerung <strong>und</strong> Gebietskörperschaft/Verwaltung repräsentiert.<br />
PCTs sind Einkäufer von Krankenhaus- <strong>und</strong> Community Services<br />
8 NHS Trusts sind öffentlich rechtlich geführte Krankenhausorganisationen,<br />
die mit einem autonomen Management ausgestattet sind.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
Meinung über die Qualität der Betreuung<br />
einzuholen. Durch eine möglichst enge Zusammenarbeit<br />
mit den MitarbeiterInnen der<br />
Trusts <strong>und</strong> deren Leitungen wird versucht,<br />
Probleme möglichst rasch zu beheben.<br />
1 Katalysator <strong>für</strong> Kulturänderung innerhalb<br />
der Trusts in Richtung partnerschaftlicher<br />
Zusammenarbeit zwischen LeistungserbringerInnen<br />
<strong>und</strong> PatientInnen/Angehörigen:<br />
PALS vermitteln den MitarbeiterInnen<br />
der Trusts Zugänge, wie sie ihre Arbeit patientInnenorientierter<br />
gestalten können.<br />
1 Durch Zusammenarbeit von regionalen PALS<br />
ist Qualitätssicherung über die Grenzen der<br />
Betreuungseinrichtungen hinaus möglich.<br />
1 Patient’s and Public Involvement Forums (PPIs)<br />
Die PPIs sind Einrichtungen, die die unmittelbarste<br />
Beteiligung der Öffentlichkeit am Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
ermöglichen. Per Gesetz ist in<br />
jedem Trust ein Forum einzurichten. Mittlerweile<br />
haben ca. 575 Foren mit insgesamt r<strong>und</strong><br />
4.000 Mitgliedern ihre Arbeit aufgenommen.<br />
Neben der Kontrolle der Betreuungseinrichtungen<br />
<strong>und</strong> den dort arbeitenden PALs haben die<br />
Foren die Aufgabe, die Anliegen der Bevölkerung<br />
in Bezug auf das regionale Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
einzubringen.<br />
Wie die Foren diese Aufgabe wahrnehmen <strong>und</strong><br />
welchen Themen sie sich konkret widmen ist<br />
ihnen größtenteils freigestellt. (z.B. Initiierung<br />
von PatientInnenbefragungen, Beauftragung<br />
eines Gutachtens, Fragen zu bestimmten Diagnosen<br />
oder Bevölkerungsgruppen aber auch<br />
Untersuchungen über Zusammenhänge zwi-<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 33<br />
schen Arbeits- oder Verkehrsbedingungen <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heit).<br />
Die Trusts sind zur Zusammenarbeit verpflichtet,<br />
d.h. Forumsmitglieder haben direkten<br />
Zugang zu vielen Daten <strong>und</strong> angeforderte<br />
Informationen müssen binnen 20 Tagen<br />
bereitgestellt werden.<br />
Die Foren der PCTs haben zudem das Recht,<br />
einen Delegierten in den Vorstand ihres PCTs zu<br />
entsenden um dort die Perspektive der Patient-<br />
Innen einzubringen.<br />
Unterstützt werden die Foren in ihrer Arbeit<br />
durch „Forum Support Groups“. Dabei handelt<br />
es sich um ausgewählte Non-Profit Organisationen,<br />
welche einen Großteil der administrativen<br />
Forum-Arbeit übernehmen <strong>und</strong> die Forenmitglieder<br />
bei ihrer Arbeit unterstützen.<br />
Durch die Arbeit der Foren <strong>und</strong> die starke<br />
Regionalisierung des englischen Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
bestehen zudem gute Vorraussetzungen,<br />
PatientInnenbeteiligung auch im Rahmen der<br />
integrierten Versorgung zu realisieren. Die Zusammenarbeit<br />
zwischen den Foren wird von der<br />
Commission for Patient and Public Involvement<br />
in Health (CPPIH) geleitet.<br />
1 Commission for Patient and Public Involvement<br />
in Health (CPPIH)<br />
Diese unabhängige, nicht weisungsgeb<strong>und</strong>ene<br />
<strong>Institut</strong>ion ist die zentrale Instanz <strong>für</strong> die Umsetzung<br />
von PatientInnenbeteiligung auf nationaler,<br />
regionaler <strong>und</strong> lokaler Ebene. Bei ihr<br />
laufen die Ergebnisse der PPIs <strong>und</strong> des neuen<br />
Beschwerdesystems zusammen, außerdem<br />
evaluiert sie das Gelingen von PatientInnen-
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
beteiligung im NHS. Ihre Berichte übermittelt<br />
die CPPHI je nach Zuständigkeit an die Healthcare<br />
Commission, an das Ges<strong>und</strong>heitsministerium<br />
<strong>und</strong> im Bedarfsfall sogar an die Justiz.<br />
PatientInnenbeteiligung in Holland<br />
Das wohl charakteristischste Merkmal von Patient-<br />
Innenbeteiligung im holländischen Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
ist der starke Einfluss von PatientInnenorganisationen.<br />
In Holland gibt es ca. 400 Selbsthilfegruppen<br />
die teils in Dachverbänden zusammengeschlossen,<br />
teils lokal organisiert sind. Diese 400 Gruppen sind<br />
auf nationaler Ebene in ungefähr 40 Verbänden<br />
zusammengeschlossen. Seit Anfang der 80er Jahre<br />
vernetzten sich diese Gruppen, um den Einfluss der<br />
PatientInnen im Ges<strong>und</strong>heitswesen zu stärken.<br />
Wichtige andere Organisationen haben sich in Folge<br />
diesen Netzwerken angeschlossen: Verbände der<br />
Versicherten, Organisationen <strong>für</strong> PatientInnenrechte,<br />
VerbraucherInnengruppen <strong>und</strong> Konsument-<br />
Innenenvereine. 1992 schließlich wurde der Nationale<br />
PatientInnen- <strong>und</strong> KonsumentInnenverband<br />
(NP/CF) gegründet, um die vielfältigen Interessen<br />
der Verbände <strong>und</strong> Organisationen zu bündeln. Mit<br />
einer Mitgliedschaft von 15 – 20% der erwachsenen<br />
Bevölkerung (= r<strong>und</strong> 2 Millionen Menschen) besitzt<br />
der NP/CF ein entsprechendes politisches Gewicht,<br />
um die Interessen ihrer Mitglieder durchsetzen zu<br />
können. Mittlerweile vereinigt der NP/CF 18 Mitgliederorganisationen,<br />
die wiederum aus landesweiten<br />
Netzwerken bestehen <strong>und</strong> beherbergt<br />
ca. 70% aller PatientInnenorganisationen.<br />
Das Ziel des NP/CF ist die Realisierung eines an<br />
den Vorstellungen der PatientInnen ausgerichteten<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 34<br />
bedürfnisorientierten Ges<strong>und</strong>heitssystems. Dazu<br />
arbeitet der NP/CF an drei Schwerpunkten:<br />
1. Wahlfreiheit <strong>und</strong> Transparenz (z.B. Entwicklung<br />
<strong>und</strong> Ausbau von Informationssystemen <strong>für</strong><br />
PatientInnen)<br />
2. Förderung der Qualität in der Krankenbetreuung<br />
(z.B.: ausreichende Berücksichtigung<br />
der Perspektive der PatientInnen)<br />
3. Struktur <strong>und</strong> Finanzierungssystem des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
(z.B.: Zugang zum Ges<strong>und</strong>heitwesen,<br />
solidarische Versicherungsmodelle,<br />
Stärkung der PatientInnenposition innerhalb<br />
des Ges<strong>und</strong>heitssystems)<br />
Insgesamt wurden im Jahr 2000 vom Ges<strong>und</strong>heitsministerium<br />
ca. 50 Mio. ¤ <strong>für</strong> Selbsthilfe- <strong>und</strong><br />
Konsumentengruppen ausgegeben. 2,5 – 3 Mio. ¤<br />
davon erhielt der NP/CF, der ca. 45 (größtenteils<br />
Teilzeit-) MitarbeiterInnen beschäftigt.<br />
Im Zuge der Ges<strong>und</strong>heitsreformen Ende der<br />
80er Jahre (Eckdaten des holländischen Ges<strong>und</strong>heitssystems)<br />
wurden auch die PatientInnenrechte<br />
reformiert <strong>und</strong> ausgeweitet. Zwei der Änderungen<br />
sind in diesem Kontext besonders hervorzuheben:<br />
Gesetz über die Mitbestimmung der KlientInnen<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieses Gesetzes haben alle <strong>Institut</strong>ionen<br />
des Ges<strong>und</strong>heitswesens – egal ob ngl. ÄrztInnen,<br />
Pflege- <strong>und</strong> Sozialdienste, Pflegeheime oder Krankenhäuser<br />
– KlientInnenenräte einzurichten, die<br />
verbindliche Beratungen bezüglich der Patient-<br />
Innenbelange durchführen sollen. Die Klient-<br />
Innenräte verfügen über weitgehende Rechte.<br />
So können bestimmte Entscheidungen der Einrichtungen<br />
nur mit Zustimmung des KlientInnen-
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
rats getroffen werden. Darunter fallen beispielsweise<br />
alle Veränderungen bezüglich Ernährung,<br />
Sicherheit <strong>und</strong> Wohlbefinden der PatientInnen,<br />
aber auch Veränderungen mit Auswirkngen auf<br />
die Qualität der Betreuung <strong>und</strong> das Beschwerdemanagement.<br />
Zudem können Manager <strong>für</strong> gewisse<br />
Bereiche nur mit Zustimmung des KlientInnenrats<br />
bestellt werden.<br />
Reformierung des Beschwerdemanagements<br />
Durch die gesetzliche Neuregelung des Beschwerdemanagements<br />
wurden die holländischen Krankenhäuser<br />
verpflichtet, Beschwerdekommissionen<br />
einzurichten.<br />
Um zu verhindern, dass bei jeder Beschwerde<br />
gleich eine Kommission aus 3-5 Mitgliedern tagen<br />
muss, verfügen die meisten holländischen Krankenhäuser<br />
mittlerweile über Beschwerdebeauftragte.<br />
Diese stellen eine sehr niederschwellige<br />
Ebene der Annahme <strong>und</strong> Bearbeitung von Beschwerden<br />
dar <strong>und</strong> unterstützen PatientInnen<br />
bei ihren Belangen im Krankenhaus.<br />
Vergleich der Strukturen <strong>für</strong> PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Bei einem Vergleich der beiden Länder hinsichtlich<br />
PatientInnenbeteiligung ist es wichtig, die unterschiedlichen<br />
Voraussetzungen nochmals zu verdeutlichen.<br />
Während Holland schon über eine lange<br />
Tradition auf diesem Gebiet verfügt, wurde in<br />
England erst in der jüngeren Vergangenheit mit<br />
dem Aufbau eines PatientInnenbeteiligungssystems<br />
begonnen. Einige Strukturen (z.B. die PPIs)<br />
haben erst seit kurzem ihre Tätigkeit aufgenommen,<br />
andere befinden sich noch im Aufbau (z.B. die<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 35<br />
<strong>Institut</strong>ion <strong>für</strong> Beschwerdeberatung: Independent<br />
Complaints Advocacy Services).<br />
Für den Ländervergleich werden drei verschiedenen<br />
Formen von PatientInnenbeteiligung auf<br />
der Ebene von Betreuungsorganisationen (Meso)<br />
<strong>und</strong> auf der politischen bzw. Makroebene<br />
unterschieden:<br />
1 PatientInneninformation<br />
1 Beratung durch PatientInnen, Angehörige<br />
oder deren Vertretungen <strong>und</strong><br />
1 (Mit-)Entscheidung<br />
Information ist eine Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> jede Form aktiver<br />
Beteiligung. PatientInneninformation meint<br />
in diesem Zusammenhang ges<strong>und</strong>heitspolitische<br />
Information im weitesten Sinn über Einrichtungen<br />
auf der Meso- <strong>und</strong> Makroebene <strong>für</strong> PatientInnen,<br />
Angehörige oder PatientenvertreterInnen<br />
(z.B. transparente Leistungsdaten).<br />
Der Bereich Beratung umfasst all jene Formen<br />
von PatientInnenbeteiligung, im Rahmen derer<br />
Stellungnahmen von PatientInnen oder deren<br />
VertreterInnen von Entscheidungsträgern im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen gehört werden. Diese Form<br />
der Beteiligung kann z.B. durch PatientInnenbefragungen,<br />
oder durch die Anhörung von<br />
Patienten(-vertreterInnen) umgesetzt werden<br />
(„Beratung durch Patienten(-vertreterInnen)“).<br />
(Mit-)Entscheidung umfasst jenen Bereich, in dem<br />
PatientInnen(-vertreter) stimmberechtigt Entscheidungen<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen beeinflussen<br />
können.
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
PatientInneninformation<br />
Bezüglich der Information <strong>für</strong> PatientInnen sind in<br />
England sehr gute Voraussetzungen geschaffen:<br />
systematische Untersuchungen über die Qualität<br />
der Betreuungseinrichtungen werden jährlich von<br />
einem unabhängigem wissenschaftlichem <strong>Institut</strong><br />
durchgeführt <strong>und</strong> im Internet veröffentlicht. Außerdem<br />
werden Berichte über alle Leitungs- <strong>und</strong><br />
Managementstrukturen der Trusts veröffentlich,<br />
welche die organisatorischen Rahmenbedingungen<br />
<strong>für</strong> die Qualität der Betreuungsleistungen bilden.<br />
Regelmäßig systematisch erhobene Daten über die<br />
Betreuungsqualität der Betreuungseinrichtungen<br />
wie sie in England der Bevölkerung zur Verfügung<br />
stehen existieren in Holland nicht. In holländischen<br />
Krankenhäusern wird zwar auf PatientInneninformation<br />
großer Wert gelegt, dabei handelt sich<br />
aber um Informationen über den Behandlungsverlauf<br />
der einzelnen PatientInnen <strong>und</strong> nicht um<br />
Angaben über die Qualität der Betreuungseinrichtung<br />
als solche.<br />
Beratung durch Patienten (-vertreterInnen)<br />
Im Bereich der PatientInnenbefragung wurden<br />
in England sehr gute Voraussetzungen geschaffen,<br />
um die Meinung der PatientInnen über die Betreuungseinrichtung<br />
zu erheben. Durch jährliche<br />
landesweit stattfindende PatientInnenbefragungen<br />
ist es möglich, ein regional <strong>und</strong> zeitlich differenziertes<br />
Bild über den Bedarf <strong>und</strong> die Bedürfnisse<br />
der PatientInnen zu zeichnen, welches eine solide<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> Entscheidungen auf der Meso- <strong>und</strong><br />
Makroebene im Ges<strong>und</strong>heitswesen bildet.<br />
Für Holland gilt wiederum, dass so umfangreiches<br />
<strong>und</strong> systematisch erhobenes Datenmaterial nicht<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 36<br />
vorhanden ist. Allerdings wurden in Holland im<br />
Rahmen mehrjähriger Projekte des NP/CF Erhebungsinstrumente<br />
entwickelt, welche speziell an<br />
den Bedürfnissen der PatientInnen orientiert sind.<br />
Mittlerweile wurden diese von einem wissenschaftlichen<br />
<strong>Institut</strong> weiterentwickelt <strong>und</strong> gelten als<br />
„models of good parctice“.<br />
Hinsichtlich der Beratung von Entscheidungsträgern<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen auf der Ebene der<br />
Betreuungseinrichtungen existieren in Holland<br />
<strong>und</strong> England zum Teil ähnliche Strukturen.<br />
Die Aufgaben der KlientInnenräte <strong>und</strong> Beschwerdebeauftragten<br />
in Holland decken sich weitgehend<br />
mit jenen der PALS. In beiden Fällen werden die<br />
MitarbeiterInnen <strong>und</strong> Leitungen der Einrichtungen<br />
von PatientenvertreterInnen über den Bedarf <strong>und</strong><br />
die Bedürfnisse der PatientInnen informiert. Der<br />
Vorteil der KlientInnenräte liegt darin, dass sie in<br />
deutlich mehr Betreuungseinrichtungen installiert<br />
sind während lediglich ein PALS pro Trust besteht.<br />
Da<strong>für</strong> fehlen den KlientInnenräten finanzielle Mittel,<br />
notwendige Infrastruktur <strong>und</strong> Unterstützung<br />
der ehrenamtlichen Mitglieder. Weiters haben sehr<br />
viele KlientInnenräte Schwierigkeiten überhaupt<br />
Mitglieder zu finden. PALS hingegen werden von<br />
Professionellen geleitet, verfügen über die nötige<br />
Infrastruktur <strong>und</strong> das Management der einzelnen<br />
PALS erhält Beratung <strong>und</strong> Arbeitshilfen zur<br />
Vereinfachung der administrativen Arbeit.<br />
Auch die PPIS können auf weitreichende Unterstützung<br />
zurückgreifen. Die CPPIH stellt beispielsweise<br />
umfangreiches Werbe- <strong>und</strong> Informationsmaterial<br />
<strong>für</strong> potentielle Forenmitglieder zur Verfügung,<br />
leitet niederschwellige Selektionsverfahren<br />
<strong>für</strong> Bewerber, bietet Ausbildungsseminare <strong>für</strong> Teil-
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
nehmerInnen der Foren an <strong>und</strong> hat eine eigene<br />
Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsplattform<br />
zur Vernetzung der Foren entwickelt. Vor diesem<br />
Hintergr<strong>und</strong> arbeiten die Forenmitglieder an<br />
weitestgehend selbstgewählten Aufgaben <strong>und</strong><br />
präsentieren ihre Ergebnisse den Leitungen der<br />
PCT <strong>und</strong> NHS Trusts.<br />
Auf der politischen Ebene (Makro) sind in<br />
Holland die großen PatientInnenorganisationen<br />
die einzigen Einrichtungen, welche durch Ihre<br />
Lobbyarbeit <strong>und</strong> Interessensvertretung Einfluss<br />
auf die jeweiligen Stakeholder ausüben.<br />
In England hingegen existieren zwei <strong>Institut</strong>ionen,<br />
deren Aufgaben genau dieses Segment<br />
abdecken: die Healthcare Commission, welche<br />
systematische PatientInnenbefragungen durchführt<br />
(siehe oben), <strong>und</strong> die Commission for Patient<br />
and Public Involvement in Health. In den Berichten<br />
der Commission werden Erfolge aber auch Verbesserungsbedarf<br />
im Bereich der PatientInnenbeteiligung<br />
zusammengefasst <strong>und</strong> an <strong>Institut</strong>ionen<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen weitergeleitet, um deren<br />
Arbeit in Richtung verstärkter PatientInnenorientierung<br />
zu lenken.<br />
(Mit-)Entscheidung der Patienten(-vertreter-<br />
Innen) im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Auf Ebene der Betreuungseinrichtungen kann man<br />
das „Vetorecht“ der KlientInnenräte in Holland als<br />
ersten Schritt in Richtung Mitentscheidung interpretieren.<br />
Auf nationaler Ebene (Makro) gelingt es den<br />
holländischen PatientInnenorganisationen bei<br />
ges<strong>und</strong>heitspolitischen Entscheidungen Einfluss zu<br />
nehmen. Beispielsweise wurde vom NP/CF <strong>und</strong> dem<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 37<br />
Dachverband der Krankenversicherungen ein Abkommen<br />
getroffen, wonach mehrere Projekte zur<br />
stärkeren Orientierung des Ges<strong>und</strong>heitswesens an<br />
den Bedürfnissen <strong>und</strong> dem Bedarf der PatientInnen<br />
durchgeführt werden.<br />
Verbriefte Rechte sind allerdings in beiden<br />
Ländern zur Zeit (noch) nicht vorhanden.<br />
Fazit<br />
Zusammengefasst zeigt sich, dass das englische<br />
Modell der PatientInnenbeteiligung stärker von<br />
Top-Down Prozessen bestimmt ist. Dies hat generell<br />
den Vorteil, dass Strukturen <strong>und</strong> Aufgaben<br />
besser geplant <strong>und</strong> rechtlich verankert werden<br />
können. Mit dem Aufkommen der neuen Aufgaben<br />
müssen aber sowohl PatientInnen als auch Leistungserbringer<br />
erst lernen ihre neuen Rollen<br />
auszufüllen.<br />
Außerdem zeigt sich, dass PatientInnenbeteiligung<br />
in England im Bereich PatientInneninformation<br />
sehr gut entwickelt ist. Auf der Ebene<br />
Beratung sind ebenfalls Strukturen geschaffen.<br />
Allerdings existiert bis jetzt kaum Evidence über<br />
tatsächliche Veränderungen in Richtung Demokratisierung,<br />
Verbesserung der Betreuung oder<br />
gesteigerter Zufriedenheit der PatientInnen.<br />
PatientInnenbeteiligung im Bereich (Mit-)Entscheidung<br />
besteht nicht.<br />
In Holland hingegen lassen sich sowohl Top-<br />
Down als auch Bottom-Up Prozesse nachweisen,<br />
wobei letztere bereits auf beachtliche Erfolge<br />
verweisen können.<br />
Als Erfolgsbedingungen der holländischen<br />
PatientInnenorganisationen können einerseits die<br />
Mitgliedschaft von 15-20% der wahlberechtigten
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
PatientInnenbeteiligung<br />
in England <strong>und</strong> Holland<br />
Über den Projektrand geschaut<br />
Bevölkerung gesehen werden. Andererseits wird<br />
häufig das Konsensmodell 9 als Charakteristikum<br />
der holländischen Kultur beschrieben, <strong>und</strong> gerne<br />
als gute Voraussetzung <strong>für</strong> gelungene Patient-<br />
Innenbeteiligung herangezogen. Egal wie stark<br />
die holländische Kultur tatsächlich von dem<br />
Konsensmodell geprägt ist – fest steht, dass<br />
eine stärkere Beteiligung von PatientInnen/<br />
Angehörigen in jedem Fall einer Kulturänderung<br />
bedarf, die von allen Beteiligten getragen werden<br />
muss.<br />
Keclik A., Greiner B., Peinhaupt C.<br />
9 Dieses Modell beschreibt die auf gesellschaftlichen Konsens orientierten<br />
Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen<br />
mit geringer Einflussnahme durch den Staat.<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
juli 2004<br />
SEITE 38
p a t i e n t e n o r i e n t i e r t e i n t e g r i e r t e k r a n k e n b e t r e u u n g i n w i e n 1 4 . – 1 7 .<br />
Wußten Sie schon?<br />
Am 28. Mai 2004 präsentierten Mag. Peter Nowak<br />
<strong>und</strong> Dr. Susanne Herbek das Modellprojekt PIK auf<br />
der 12th International Conference of Health<br />
Promoting Hospitals in Moskau. Schwerpunkt der<br />
Präsentation waren die bisherigen Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> Ergebnisse der Projektarbeit zu Empowerment<br />
<strong>und</strong> zur Beteiligung von PatientInnen im Wiener<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen. 14 Empfehlungen zur verstärkten<br />
Unterstützung von PatientInnen im Wienner<br />
Ges<strong>und</strong>heitssystem bilden den Abschluss der<br />
Präsentation, die Sie unter Ergebnisse/Publikationen<br />
& Präsentastionen auf der Projekt-Homepage<br />
www.<strong>pik</strong>-wien.at downloaden können.<br />
<strong>pik</strong><br />
newsletter 08<br />
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SEITE 39