S3_LL Bipolar Hauptartikel_2012
S3_LL Bipolar Hauptartikel_2012
S3_LL Bipolar Hauptartikel_2012
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Der Nervenarzt<br />
Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde,<br />
der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft<br />
Elektronischer Sonderdruck für<br />
M. Bauer<br />
Ein Service von Springer Medizin<br />
Nervenarzt <strong>2012</strong> · 83:568–586 · DOI 10.1007/s00115-011-3415-3<br />
© Springer-Verlag <strong>2012</strong><br />
www.DerNervenarzt.de<br />
zur nichtkommerziellen Nutzung auf der<br />
privaten Homepage und Institutssite des Autors<br />
A. Pfennig · T. Bschor · T. Baghai · P. Bräunig · P. Brieger · P. Falkai · D. Geissler · R. Gielen · H. Giesler ·<br />
O. Gruber · I. Kopp · T.D. Meyer · K.H. Möhrmann · C. Muche-Borowski · F. Padberg · H. Scherk · D. Strech ·<br />
M. Bauer<br />
<strong>S3</strong>-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bipolarer<br />
Störungen<br />
Entwicklungsprozess und wesentliche Empfehlungen
Leitthema<br />
Nervenarzt <strong>2012</strong> · 83:568–586<br />
DOI 10.1007/s00115-011-3415-3<br />
© Springer-Verlag <strong>2012</strong><br />
„Der Widerspruch ist es,<br />
der uns produktiv macht“.<br />
Johann Wolfgang von Goethe<br />
<strong>Bipolar</strong>e Störungen sind schwerwiegende<br />
psychiatrische Erkrankungen<br />
mit einem rezidivierenden Verlauf.<br />
Suizidale Handlungen sind häufig<br />
und die individuellen und gesundheitsökonomischen<br />
Auswirkungen<br />
der Erkrankung sind von deutlicher<br />
Tragweite. Das Projekt zur Entwicklung<br />
der ersten deutschsprachigen<br />
evidenz- und konsensbasierten Leitlinien<br />
zur Diagnostik und Therapie bipolarer<br />
Störungen wurde 2007 von<br />
der Deutschen Gesellschaft für <strong>Bipolar</strong>e<br />
Störungen (DGBS) e. V. und der<br />
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,<br />
Psychotherapie und Nervenheilkunde<br />
(DGPPN) initiiert, um eine Entscheidungshilfe<br />
für Patienten, Angehörige<br />
und Therapeuten anzubieten.<br />
Hierbei wurden sie von der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Wissenschaftlichen<br />
Medizinischen Fachgesellschaften<br />
568 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
A. Pfennig 1 · T. Bschor 1, 2 · T. Baghai 3, 4 · P. Bräunig 5 · P. Brieger 6 · P. Falkai 7 ·<br />
D. Geissler 8 · R. Gielen 9 · H. Giesler 10 · O. Gruber 7 · I. Kopp 11 · T.D. Meyer 12 ·<br />
K.H. Möhrmann 13 · C. Muche-Borowski 11 · F. Padberg 4 · H. Scherk 14 · D. Strech 15 ·<br />
M. Bauer 1<br />
1 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum, Carl Gustav Carus,<br />
Technische Universität Dresden, 2 Abteilung für Psychiatrie, Schlosspark-Klinik, Berlin, 3 Klinik und<br />
Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Regensburg, 4 Klinik für Psychiatrie und<br />
Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität, München, 5 Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie<br />
und Psychosomatik, Vivantes Humboldt-Klinikum Berlin, 6 Bezirkskrankenhaus Kempten,<br />
Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Ulm, 7 Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie,<br />
Universitätsmedizin, Georg August Universität Göttingen, 8 Kempten, 9 Hamburg, 10 Niedenstein,<br />
11 AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement, Philipps-Universität Marburg, 12 Institute<br />
of Neuroscience, Newcastle University, Newcastle, 13 Bundesverband der Angehörigen psychisch<br />
Kranker e.V., Bonn, 14 AMEOS Klinikum Osnabrück, 15 Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der<br />
Medizin, CE<strong>LL</strong>S – Centre for Ethics and Law in the Life Sciences, Medizinische Hochschule Hannover<br />
<strong>S3</strong>-Leitlinie zur Diagnostik und<br />
Therapie bipolarer Störungen<br />
Entwicklungsprozess und<br />
wesentliche Empfehlungen<br />
(AWMF) unterstützt, um eine Leitlinie<br />
zu erstellen, welche die heute international<br />
geforderten hohen Ansprüche<br />
erfüllt. Die vorliegende Leitlinie<br />
bietet das Potenzial, Therapeuten,<br />
Patienten und Angehörigen mehr Sicherheit<br />
in der Entscheidungsfindung<br />
zu ermöglichen und die Versorgungserfahrungen<br />
von Patienten<br />
und Angehörigen zu verbessern.<br />
Neben Empfehlungen zur Diagnostik<br />
und Behandlung bipolarer Störungen<br />
enthält die Leitlinie auch solche<br />
zum trialogischen Handeln, zu Wissensvermittlung<br />
und Selbsthilfe sowie<br />
zu Versorgungsstrategien für diese<br />
komplexe Erkrankung.<br />
Im Folgenden werden die Methodik der<br />
Leitlinienentwicklung und die wesentlichen<br />
Empfehlungen skizziert, die an spezifischen<br />
Punkten durch die Artikel von<br />
Gielen et al. und Brieger et al. in diesem<br />
Heft ergänzt werden. Aufgrund der Beschränkungen<br />
im Umfang der vorliegenden<br />
Darstellung muss für eine detail<br />
lierte Darstellung der Prozesse der Evidenzbewertung<br />
und Konsensfindung auf<br />
die Langfassung der Leitlinie verwiesen<br />
werden, die auf der Homepage des Leitlinienprojekts<br />
abrufbar ist. Um eine Empfehlung<br />
im Sinne der „evidencebased<br />
medicine“ auf die individuelle Situation<br />
eines Patienten anwenden zu können, ist<br />
es wichtig, den Entstehungsprozess einer<br />
Empfehlung zu verstehen sowie z. B. besondere<br />
Hinweise bezüglich Einschränkungen<br />
der Gültigkeit auf bestimmte<br />
Patientengruppen oder zu beachtender<br />
Interaktionspotenziale oder häufiger unerwünschter<br />
Wirkungen nachzulesen.<br />
Eine Leitlinie ist kein „Kochbuch“ und<br />
auch keine Richtlinie mit verbindlichen<br />
Vorschriften. Von einer Leitlinienempfehlung<br />
kann und muss im Einzelfall abgewichen<br />
werden, sofern eine andere Entscheidung<br />
für den individuellen Patienten in<br />
einer gegebenen Situation sinnvoller erscheint.<br />
Es ist den Leitlinienentwicklern<br />
sehr wichtig, zu betonen, dass die vorliegende<br />
Leitlinie nicht missbraucht werden<br />
darf. Auch Verfahren, die in der Leitlinie
Infobox 1 Empfehlungsklassen a<br />
der <strong>S3</strong>-Leitlinie<br />
F A (starke Empfehlung): „soll“<br />
F B (einfache Empfehlung): „sollte“<br />
F 0 (Null; Empfehlung offen): „kann“<br />
F KKP (klinischer Konsenspunkt): für Fragestellungen,<br />
in denen z. B. Studien aufgrund<br />
ethischer Überlegungen nicht zu<br />
erwarten sind oder solche methodisch<br />
nicht umzusetzen sind, gleichwertig<br />
gegenüber evidenzbasierten Empfehlungsgraden<br />
A bis 0, Art der Formulierung<br />
drückt Stärke der Empfehlung aus<br />
F Statement: für Fragestellungen, in denen<br />
z. B. keine adäquate Evidenz gefunden<br />
wurde, aber dennoch eine Aussage festgehalten<br />
werden sollte<br />
a In Übereinstimmung mit den AWMF-Defini-<br />
tionen<br />
aufgrund mangelnder Evidenz oder fehlender<br />
Konsensfähigkeit nicht genannt<br />
oder nicht als „1. Schritt“ aufgeführt werden,<br />
können im Einzelfall die 1. Wahl darstellen.<br />
Gleichwohl kann die Leitlinie im<br />
Falle einer geforderten Begründung für<br />
eine Maßnahme unterstützend herangezogen<br />
werden.<br />
Methodik der Leitlinienerstellung<br />
und Leitliniengruppen<br />
Leitlinien im herkömmlichen Sinne stellen<br />
weitgehend Meinungen einer häufig<br />
eher kleineren Expertengruppe dar. In<br />
der Klassifizierung der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Wissenschaftlichen Medizinischen<br />
Fachgesellschaften (AWMF) entspricht<br />
dies der Entwicklungsstufe 1 (S1).<br />
Bei der nächst höheren Entwicklungsstufe<br />
2 (S2) erfolgt entweder eine formale<br />
Evidenzrecherche oder eine formale<br />
Konsensfindung. Die Entwicklungsstufe<br />
3 (<strong>S3</strong>) als höchste Stufe verknüpft Elemente<br />
der systematischen Leitlinienentwicklung<br />
(Logik, formale Evidenzrecherche<br />
und bewertung, formale und strukturierte<br />
Konsensusfindung, Entscheidungsanalyse<br />
(wo nötig und umsetzbar) und OutcomeAnalyse<br />
[3].<br />
Zu Projektbeginn wurden die zu beantwortenden<br />
Leitlinienfragestellungen<br />
formuliert und in der Steuergruppe diskutiert.<br />
Nach Bewertung der 2007 vorliegenden<br />
englischsprachigen internationalen<br />
Leitlinien für bipolare Störungen (für<br />
Details zum genutzten Instrument siehe<br />
[4]) wurde entschieden, dass sich keine für<br />
eine Adaptation (d. h. für eine Anpassung<br />
auf unseren Versorgungskontext) eignet.<br />
Um die Effizienz der systematischen Literaturrecherche<br />
zu erhöhen, wurde die<br />
Studienbasis der Leitlinie des britischen<br />
National Institute of Clinical Excellence<br />
(NICE) „<strong>Bipolar</strong> disorder: the management<br />
of bipolar disorder in adults, children<br />
and adolescents, in primary and secondary<br />
care“ von 2006 [18] genommen,<br />
sodass die neuen Recherchen (mit Adaptierung<br />
der NICESuchstrategie in den<br />
Datenbanken MedLine, Embase, PsychInfo<br />
und CINAHL und PsychLit) auf den<br />
Publikationszeitraum ab Mitte 2005 und<br />
auf in der britischen Leitlinie nicht bearbeitete<br />
Fragen fokussiert werden konnten.<br />
Alle relevanten so identifizierten Studien<br />
(vornehmlich randomisierte klinische<br />
Studien, Studienpopulation Patienten<br />
mit bipolaren Störungen oder separate<br />
Ergebnisse für diese Patientengruppe,<br />
letzte UpdateRecherche Mitte 2010) wurden<br />
bezüglich ihrer Qualität bewertet und<br />
unter Nutzung der Guidelines of the Scottish<br />
Intercollegiate Guidelines Network<br />
Grading Review Group (SIGN, [10, 12])<br />
je nach Risiko für systematische Verzerrungen<br />
der Studienergebnisse (Bias) eingestuft.<br />
Von den dann eingeschlossenen<br />
Studien wurden die wesentlichen Daten<br />
extrahiert.<br />
Im Sinne einer OutcomeAnalyse<br />
(s. auch [2]) wurden die folgenden OutcomeParameter<br />
als relevant definiert:<br />
F Psychopathologie/Schwere der Symptomatik<br />
in Fremd und Selbstrating<br />
Instrumenten,<br />
F Studienabbrüche,<br />
F Studienabbrüche aufgrund unerwünschter<br />
Wirkungen,<br />
F wesentliche unerwünschte Wirkungen<br />
und<br />
F Lebensqualität.<br />
Die Evidenz pro Fragestellung wurde zusammengestellt<br />
und in die 6 themenspezifischen<br />
Arbeitsgruppen gegeben, die bewusst<br />
sowohl mit Kollegen aus dem niedergelassenen<br />
als auch aus dem Klinik<br />
Setting sowie mit Patienten und Angehörigenvertretern<br />
besetzt wurden, um<br />
bereits bei der hier stattfindenden Bewertung<br />
der Evidenz in Anlehnung an<br />
die Kriterien des Instruments der Grading<br />
of Recommendations Assessment,<br />
Development and Evaluation (GRADE,<br />
[1], http://www.gradeworkinggroup.org)<br />
und der Formulierung der Vorschläge für<br />
Empfehlungen und Statements verschiedene<br />
Akteure einzubinden. In den insgesamt<br />
10 Konsensuskonferenzen wurden<br />
die Vorschläge im Rahmen eines moderierten<br />
formalen Konsensfindungsverfahrens<br />
mit den Stimmen von 13 Fachgesellschaften,<br />
Verbänden und Organisationen<br />
sowie 5 Experten diskutiert und verabschiedet.<br />
Aspekte, die zu einer Herauf<br />
oder Herabstufung des vorgeschlagenen<br />
Empfehlungsgrades (s. . Infobox 1) führen<br />
konnten, waren z. B. die Effektstärken,<br />
das NutzenRisikoVerhältnis, ethische<br />
Aspekte, Patienten und Angehörigenpräferenzen<br />
sowie die Anwendbarkeit<br />
und Umsetzbarkeit der Empfehlungen in<br />
der Praxis.<br />
In der Abstimmung wurde ein starker<br />
Konsens (≥95% der Stimmen) angestrebt.<br />
In Fällen mit schwachem (≥75%,<br />
aber
vermittlung und Selbsthilfe inklusive Familienhilfe<br />
formuliert. Für eine ausführlichere<br />
Diskussion siehe Langversion der<br />
Leitlinie und den Beitrag von Gielen et al.<br />
im vorliegenden Heft. Den Leitlinienentwicklern<br />
ist es wichtig, herauszustellen,<br />
dass vergleichbar mit den unten angesprochenen<br />
Themenbereichen Diagnostik<br />
und Versorgung gerade auch im Bereich<br />
der Einbindung, Information und<br />
Kompetenzstärkung von Patienten und<br />
Angehörigen ein wesentliches Verbesserungspotenzial<br />
für die Versorgung bestehen<br />
wird, zu dessen besserer Ausschöpfung<br />
die Leitlinie beitragen soll.<br />
Diagnostik bipolarer Störungen<br />
Die korrekte Diagnosestellung ist die<br />
Grundvoraussetzung für eine adäquate<br />
Behandlung des Patienten und somit für<br />
die Aufrechterhaltung eines höchstmöglichen<br />
Funktionsvermögens im beruflichen<br />
und sozialen Leben. Je eher die Diagnose<br />
feststeht, desto schneller kann die<br />
Information und Beratung des Patienten<br />
und, wenn gewünscht, seiner Bezugspersonen<br />
erfolgen sowie eine adäquate Behandlung<br />
beginnen. Die Diagnostik bipolarer<br />
Störungen ist nicht immer einfach,<br />
u. a. durch die im Erkrankungsverlauf<br />
häufig als erste Episode auftretende<br />
Depression und die oftmals fehlende Beeinträchtigung<br />
des Patienten durch hypomanische<br />
Symptome. Im Verlauf der Behandlung<br />
muss die Diagnose zu geeigneter<br />
Zeit überprüft werden, komorbid auftretende<br />
Erkrankungen, die den Verlauf<br />
der bipolaren Störung beeinflussen können,<br />
dürfen nicht übersehen werden.<br />
Neben der klassifikatorischen Diagnostik<br />
werden im ausführlichen Leitlinienkapitel<br />
auch Möglichkeiten zur dimensionalen<br />
Diagnostik dargestellt. Letztere erlaubt<br />
die detaillierte Abbildung der Symptomausprägung<br />
und des Schweregrades.<br />
Diagnostik2. Es wird empfohlen, die<br />
multiaxialen Möglichkeiten des ICD10<br />
zu nutzen und auch störungsrelevante<br />
somatische, psychologische und soziale<br />
Faktoren sowie die Funktionsbeeinträchtigung<br />
zu beschreiben (KKP).<br />
Diagnostik3–6. Es gibt validierte Instrumente<br />
zur Selbst und Fremdbeurteilung<br />
570 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
Zusammenfassung · Summary<br />
Nervenarzt <strong>2012</strong> · 83:568–586 DOI 10.1007/s00115-011-3415-3<br />
© Springer-Verlag <strong>2012</strong><br />
A. Pfennig · T. Bschor · T. Baghai · P. Bräunig · P. Brieger · P. Falkai · D. Geissler · R. Gielen ·<br />
H. Giesler · O. Gruber · I. Kopp · T.D. Meyer · K.H. Möhrmann · C. Muche-Borowski · F. Padberg ·<br />
H. Scherk · D. Strech · M. Bauer<br />
<strong>S3</strong>-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen.<br />
Entwicklungsprozess und wesentliche Empfehlungen<br />
Zusammenfassung<br />
<strong>Bipolar</strong>e Störungen sind schwerwiegende<br />
psychiatrische Erkrankungen mit weitreichenden<br />
individuellen und gesundheitsökonomischen<br />
Auswirkungen. Beginnend 2007<br />
wurde von der Deutschen Gesellschaft für bipolare<br />
Störungen (DGBS) e. V. und der Deutschen<br />
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie<br />
und Nervenheilkunde (DGPPN) die erste<br />
deutschsprachige evidenz- und konsensbasierte<br />
Leitlinie zur Diagnostik und Therapie<br />
bipolarer Störungen entwickelt, die das<br />
Potenzial bietet, Therapeuten, Patienten und<br />
Angehörigen mehr Sicherheit in der Entscheidungsfindung<br />
zu ermöglichen und die Versorgungserfahrungen<br />
von Patienten und Angehörigen<br />
zu verbessern. Neben Empfehlungen<br />
zur Diagnostik und Behandlung enthält<br />
die Leitlinie auch solche zum trialogischen<br />
Handeln, zu Wissensvermittlung und Selbsthilfe<br />
sowie zu Versorgungsstrategien für diese<br />
komplexe Erkrankung. Im vorliegenden<br />
Artikel werden die Methodik der Leitlinienentwicklung<br />
und wesentliche Empfehlungen<br />
skizziert, die an spezifischen Themenpunkten<br />
durch entsprechende Artikel in diesem<br />
Schwerpunktheft ergänzt werden. Aufgrund<br />
der Umfangsbeschränkung der vorliegenden<br />
Darstellung muss an vielen Stellen auf die<br />
Langversion der Leitlinie verwiesen werden,<br />
auch für eine ausführliche Diskussion der Limitationen.<br />
Schlüsselwörter<br />
<strong>Bipolar</strong>e Störung · Leitlinie · Evidenz ·<br />
Selbsthilfe · Qualität der Versorgung<br />
<strong>S3</strong> guidelines on diagnostics and therapy of bipolar disorders.<br />
Development process and essential recommendations<br />
Summary<br />
<strong>Bipolar</strong> disorders are severe psychiatric disorders<br />
with extensive individual and health<br />
economic consequences. Starting in 2007<br />
the first German evidence and consensus<br />
based guideline for diagnostics and treatment<br />
of bipolar disorders was developed<br />
which holds the potential of increasing confidence<br />
of therapists, patients and relatives<br />
in the decision-making process and improving<br />
healthcare service experiences of patients<br />
and relatives. Apart from recommendations<br />
for diagnostics and treatment the guidelines<br />
provide those for trialogue action, knowledge<br />
transfer and self-help and for strategies<br />
der Manie und der Depression. Diese sind<br />
bislang jedoch wenig verbreitet. Ein vermehrter<br />
Einsatz ist wünschenswert (Statement).<br />
Der Einsatz von Screeninginstrumenten<br />
für bipolare Störungen im Lebenszeitverlauf<br />
ist vor allem bei Risikopersonen<br />
(wie bspw. Patienten mit frühem Erkrankungsbeginn<br />
mit Depressionen, Suizidversuchen,<br />
Substanzabusus und/oder<br />
Temperamentsauffälligkeiten) sinnvoll.<br />
for healthcare provision of this complex disorder.<br />
In the present article the methodology<br />
and essential recommendations are outlined<br />
and complemented in specific topics by corresponding<br />
articles in this special issue. Due<br />
to restrictions of the length of this presentation<br />
there is the need to refer to the comprehensive<br />
version of the guidelines at several<br />
points also regarding a detailed discussion of<br />
the limitations.<br />
Keywords<br />
<strong>Bipolar</strong> disorders · Guidelines · Evidence ·<br />
Self-help · Quality of health care<br />
Diagnostik7. Es gibt validierte Screeninginstrumente<br />
zum Screening auf das<br />
Vorliegen einer bipolaren Störung im Lebenszeitverlauf.<br />
Diese sind bislang jedoch<br />
wenig verbreitet. Ein vermehrter Einsatz<br />
bei Risikopersonen ist wünschenswert<br />
(Statement).<br />
Die Diagnosesicherung sollte dann bei<br />
einem entsprechenden Facharzt erfolgen.
Leitthema<br />
Projektgruppe<br />
Steuergruppe<br />
Konsensuskonferenz<br />
Erweiterte Reviewgruppe inklusive Expertenpanel<br />
Abb. 1 8 Leitliniengruppen<br />
Diagnostik8. Screeninginstrumente allein<br />
eigenen sich nicht zur Diagnosestellung.<br />
Bei positivem Screening sollte zur<br />
Diagnosesicherung ein Facharzt für Psychiatrie<br />
und Psychotherapie/für Nervenheilkunde<br />
hinzugezogen werden (KKP).<br />
Die bipolare Erkrankung ist eine komplexe<br />
psychische Störung. Differenzialdiagnostische<br />
Probleme können sich aus der<br />
psychopathologischen Vielgestaltigkeit<br />
der bipolaren Erkrankung im Rahmen<br />
akuter Querschnittssituationen, während<br />
des Verlaufes bipolarer Episoden, im<br />
Intervall zwischen akuten Episoden sowie<br />
im Langzeitverlauf über die Lebensspanne<br />
ergeben.<br />
Diagnostik9. Bei jungen Erwachsenen<br />
mit Störungen der Emotionsregulation<br />
(z. B. bei Aufmerksamkeitsdefizit<br />
Hyperaktivitätsstörung, emotionalinstabiler<br />
Persönlichkeitsstörung, komplexen<br />
Impulskontrollstörungen, und Substanzmissbrauch<br />
oder abhängigkeit) wird<br />
eine sorgfältige Differenzialdiagnostik in<br />
Richtung einer bipolaren Störung empfohlen<br />
(0). <br />
<strong>Bipolar</strong>I und <strong>Bipolar</strong>IIStörungen<br />
eint das häufige Vorkommen initialer depressiver<br />
Episoden, welche zunächst auf<br />
einen unipolar depressiven Krankheitsverlauf<br />
hindeuten.<br />
Diagnostik10. Folgende Risikofaktoren<br />
bzw. Prädiktoren für die Entwicklung<br />
einer Hypomanie oder Manie sind publiziert<br />
worden:<br />
572 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
AG Trialog, Wissensvermittlung und<br />
Selbsthilfe<br />
AG Diagnostik<br />
AG Pharmakologische Therapie<br />
AG Nicht-medikamentöse somatische<br />
Behandlungsmethoden<br />
AG Psychotherapie<br />
AG Versorgungssystem<br />
F positive Familienanamnese für<br />
bipolare Störungen,<br />
F schwere, melancholische oder psychotische<br />
Depression im Kindes<br />
oder Jugendalter,<br />
F schneller Beginn und/oder rasche<br />
Rückbildung der Depression,<br />
F Vorliegen saisonaler oder atypischer<br />
Krankheitsmerkmale,<br />
F subsyndromale hypomanische<br />
Symptome im Rahmen depressiver<br />
Episoden und<br />
F hypomanische oder manische Symptomentwicklung<br />
im zeitlichen Zusammenhang<br />
mit einer Therapie mit<br />
Antidepressiva oder bei Exposition<br />
gegenüber Psychostimulanzien.<br />
(Statement)<br />
Diagnostik11. Beim Auftreten eines<br />
oder mehrerer der oben genannten Risikofaktoren<br />
bzw. Prädiktoren ist besonders<br />
sorgfältig zu prüfen, ob die Depression<br />
im Rahmen einer bipolaren Störung<br />
auftritt (0).<br />
Darüber hinaus wurden Empfehlungen<br />
zur Differenzialdiagnostik zur Zyklothymia,<br />
Schizophrenie, zur schizoaffektiven<br />
Störung (letztere Diagnose sollte<br />
nur als Ausschlussdiagnose nach längerer<br />
Verlaufsbeobachtung gestellt werden)<br />
und zum Missbrauch und Abhängigkeit<br />
von Substanzen formuliert. Hirnorganische<br />
Erkrankungen (wie Epilepsien, Enzephalitiden<br />
und Demyelinisierungen mit<br />
Läsionen der weißen Hirnsubstanz) sind<br />
ebenso differenzialdiagnostisch zu beachten<br />
wie Folgen zerebrovaskulärer Erkrankungen<br />
und beginnende frontotemporale<br />
Demenzen. An die Differenzialdiagnostik<br />
organischer Hirnerkrankungen<br />
ist insbesondere bei Jugendlichen mit atypischer<br />
bipolarer Symptomatik, aber auch<br />
bei Menschen mit Spätmanifestation manischer<br />
Episoden zu denken. Schilddrüsen<br />
und Nebennierenrindenerkrankungen<br />
sowie Hypophysentumoren können<br />
hypomanische oder manische Symptomatik<br />
imitieren. Iatrogen verursachte<br />
Hypomanien oder Manien können infolge<br />
einer Behandlung mit Glukokortikoiden,<br />
Schilddrüsen oder Sexualhormonen<br />
auftreten, aber auch durch eine Behandlung<br />
mit LDopa und Stimulanzien. Unter<br />
der Therapie mit Antidepressiva kann es<br />
bei manchen Patienten zu einem Switch<br />
in die Hypomanie oder Manie kommen,<br />
auch bei Patienten mit einer bipolaren<br />
Prädisposition.<br />
Bei bipolaren Störungen besteht eine<br />
besonders ausgeprägte Komorbidität mit<br />
unterschiedlichen anderen psychischen <br />
Störungen, die für den Verlauf und die<br />
Prognose und damit für die Therapieplanung<br />
der Primärstörung von entscheidender<br />
Bedeutung sein können.<br />
Diagnostik20. Bei bipolaren Störungen<br />
kommen eine oder mehrere psychische<br />
Störungen häufig komorbid vor. Die epidemiologisch<br />
häufigsten Störungen sind:<br />
F Angst und Zwangsstörungen,<br />
F Substanzmissbrauch und abhängigkeit,<br />
F Impulskontrollstörungen und Essstörungen<br />
sowie Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung<br />
(ADHD),<br />
F Persönlichkeitsstörungen.<br />
(Statement)<br />
Diagnostik21. Komorbide psychische<br />
Störungen sollten bei bipolaren Störungen<br />
zu Beginn und im Verlauf der Erkrankung<br />
bei bipolaren Störungen sorgfältig<br />
diagnostiziert und in Therapie und<br />
Verlaufsbeobachtung berücksichtigt werden<br />
(B).<br />
Patienten mit schweren psychischen<br />
Störungen und somit auch Patienten mit<br />
bipolaren Störungen weisen eine erhöh
Tab. 1 Zusammensetzung der Leitliniengruppen<br />
Projektgruppe<br />
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Bauer (Projektleitung)<br />
Prof. Dr. med. Andrea Pfennig; M.Sc. (Projektkoordination)<br />
Prof. Dr. med. Peter Falkai (DGPPN, off. Stellvertreter: Prof. Dr. med. Oliver Gruber)<br />
Dr. med. Johanna Sasse<br />
Dr. med. Harald Scherk<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Strech<br />
Prof. Dr. med. Ina Kopp (AWMF)<br />
Dr. med. Beate Weikert (Wiss. Mitarbeit)<br />
Dipl.-Psych. Marie Henke (Wiss. Mitarbeit)<br />
Dipl.-Psych. Maren Schmink (Wiss. Mitarbeit)<br />
Steuergruppe<br />
Projektgruppe<br />
Leiter der themenspezifischen Arbeitsgruppen<br />
Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V. (BPE e. V., Reinhard Gielen)<br />
<strong>Bipolar</strong> Selbsthilfenetzwerk e. V. (BSNe, bis Juni 2009), DGBS-Betroffenen-Selbsthilfe (ab Juli 2009)<br />
(Dietmar Geissler)<br />
Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK, Karl Heinz Möhrmann)<br />
DGBS Angehörigeninitiative (Horst Giesler)<br />
AKdÄ (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft; PD Dr. med. Tom Bschor)<br />
BVDN (Bundesverband deutscher Nervenärzte; Dr. med. Roland Urban)<br />
BVDP (Bundesverband deutscher Psychiater; Dr. med. Lutz Bode)<br />
Prof. Dr. med. Martin Härter (Projektgruppenvertreter der <strong>S3</strong>-Leitlinie Unipolare Depression)<br />
Themenspezifische Arbeitsgruppen<br />
AG Trialog, Wissensvermittlung und Selbsthilfe<br />
– Dietmar Geissler (Patientenvertreter)<br />
– Angehörigenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
– Prof. Dr. phil. Thomas Bock<br />
– Dipl. Psych. Maren Schmink<br />
AG Diagnostik<br />
– Prof. Dr. med. Peter Bräunig (AG-Leitung)<br />
– Dipl.-Psych. Dr. rer. nat. Katrin Rathgeber (Stellv. AG-Leitung)<br />
– Dipl.-Psych. Dr. phil. Katja Salkow<br />
– Dr. med. Emanuel Severus<br />
– Prof. Dr. med. Stephanie Krüger<br />
– Prof. Dr. phil. Stephan Mühlig<br />
– Prof. Dr. med. Christoph Correll<br />
– Prof. Dr. med. Wolfgang Maier<br />
– PD Dr. med. Hans-Jörg Assion<br />
– Dr. med. Thomas Gratz<br />
– Dr. med. Rahul Sarkar<br />
– Patientenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
– Angehörigenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
AG Pharmakotherapie<br />
– PD Dr. med. Tom Bschor (AG-Leitung)<br />
– Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Bauer (AG-Leitung)<br />
– Prof. Dr. med. Heinz Grunze<br />
– PD Dr. med. Harald Scherk, M.A.<br />
– Dr. med. Beate Weikert<br />
– Dr. med. Johanna Sasse<br />
– Dr. med. Ute Lewitzka<br />
– Prof. Dr. med. Christopher Baethge<br />
– Dr. med. Dr. phil. Günter Niklewski<br />
te Morbidität und Mortalität im Vergleich<br />
zu gesunden Personen auf. Dies ist (abgesehen<br />
von Suizid) vor allem auf kardiovaskuläre<br />
Erkrankungen und Diabetes mellitus<br />
Typ 2 zurückzuführen [13, 17].<br />
Patienten mit bipolaren Störungen haben<br />
ein höheres Risiko als psychiatrisch<br />
gesunde Kontrollpersonen, einige komorbide<br />
somatische Erkrankungen zu haben<br />
[5]. Dabei ist zu beachten, dass diese<br />
wahrscheinlich teilweise miteinander<br />
assoziiert sind, so wird beispielsweise<br />
das häufigere Auftreten von Adipositas<br />
für einen Teil des erhöhten Risikos für<br />
kardiovaskuläre Erkrankungen inklusive<br />
Schlaganfall und für Diabetes mellitus mit<br />
Komplikationen verantwortlich sein.<br />
Diagnostik22. Bei bipolaren Störungen<br />
kommen eine oder mehrere somatische<br />
Erkrankungen häufig komorbid vor. Die<br />
epidemiologisch bedeutsamsten Störungen<br />
sind:<br />
F kardiovaskuläre Erkrankungen,<br />
F metabolisches Syndrom und Diabetes<br />
mellitus,<br />
F muskuloskeletale Erkrankungen,<br />
F Migräne.<br />
(Statement)<br />
Diagnostik23. Komorbide somatische<br />
Erkrankungen sollten zu Beginn und im<br />
Verlauf der Erkrankung bei bipolaren Störungen<br />
sorgfältig diagnostiziert und in<br />
Therapie und Verlaufsbeobachtung berücksichtigt<br />
werden (KKP).<br />
Die Verlaufsdiagnostik hat zum Ziel,<br />
den individuellen Verlauf der bipolaren<br />
Erkrankung bei dem jeweiligen Patienten<br />
insbesondere bezüglich des Erreichens<br />
definierter Behandlungsziele zu dokumentieren.<br />
Diagnostik24. Empfohlen wird die sorgfältige<br />
Dokumentation des psychischen<br />
Befindens des Patienten im Verlauf einer<br />
bipolaren Erkrankung mithilfe bewährter<br />
Fremdbeurteilungsinstrumente seitens<br />
des Behandlers als auch mithilfe eines<br />
vom Patienten möglichst täglich auszufüllenden<br />
Stimmungstagebuchs (KKP).<br />
Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong> |<br />
573
Leitthema<br />
Tab. 1 Zusammensetzung der Leitliniengruppen (Fortsetzung)<br />
– Dr. med. Roland Urban<br />
– Patientenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
– Angehörigenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
AG Psychotherapie<br />
– Prof. Dr. phil. Thomas D. Meyer (AG-Leitung)<br />
– Prof. Dr. phil. Martin Hautzinger (Stellv. AG-Leitung)<br />
– Dr. Dipl.-Psych. Britta Bernhard<br />
– Prof. Dr. phil. Thomas Bock<br />
– PD Dr. med. Jens Langosch<br />
– Prof. Dr. med. Michael Zaudig<br />
– Prof. Dr. Anna Auckenthaler<br />
– PD Dr. rer. soc. Karin Tritt<br />
– Dipl.-Psych. Marie Henke<br />
– Patientenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
– Angehörigenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
AG Nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren<br />
– PD Dr. med. Frank Padberg (AG-Leitung)<br />
– PD Dr. med. T. Baghai (AG-Leitung)<br />
– Dipl. Psych. Marie Henke (Stellv. AG-Leitung)<br />
– Dr. med Anke Gross<br />
– PD Dr. med. Christine Norra<br />
– Dr. med. Herbert Pfeiffer<br />
– Prof. Dr. med. Dipl. Phys. Alexander Sartorius<br />
– Dr. med. Martin Walter<br />
– Patientenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
– Angehörigenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
AG Versorgung und Versorgungssystem<br />
– Prof. Dr. med. Peter Brieger (AG-Leitung)<br />
– Prof. Dr. med. Andrea Pfennig, M.Sc., Juniorprofessur (AG-Leitung)<br />
– PD Dr. med. Bernd Puschner<br />
– Dr. med. Hans-Joachim Kirschenbauer<br />
– Philipp Storz-Pfennig, M.A., MPH.<br />
– Dipl.-Psych. Rita Bauer<br />
– Dr. med. Lutz Bode<br />
– Ivanka Neef/Antje Drenckhahn<br />
– PD Dr. med. Mazda Adli<br />
– Dipl.-Psych. Maren Schmink<br />
– PD Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Schützwohl<br />
– Dietmar Geissler<br />
– Angehörigenvertreter (Name auf Anfrage)<br />
Konsensuskonferenz<br />
– Deutsche Gesellschaft für <strong>Bipolar</strong>e Störungen (DGBS): Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael<br />
Bauer<br />
– Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie<br />
und Nervenheilkunde (DGPPN):<br />
Prof. Dr. med. Peter Falkai,<br />
Prof. Dr. med. Oliver Gruber<br />
– Bundesverband deutscher Psychiater (BVDP): Dr. med. Lutz Bode<br />
– Bundesverband deutscher Nervenärzte (BVDN): Dr. med. Roland Urban<br />
– Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs): Prof. Dr. phil. Martin Hautzinger,<br />
Prof. Dr. med. Thomas D. Meyer<br />
– Bundesdirektorenkonferenz (BDK): Prof. Dr. med. Lothar Adler,<br />
PD Dr. med. Harald Scherk, M.A.<br />
– Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin<br />
(DEGAM):<br />
Dipl.-Soz. Martin Beyer<br />
574 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
DDie Aufrechterhaltung eines<br />
höchstmöglichen psychosozialen<br />
Funktionsvermögens ist das primäre<br />
Ziel der Diagnostik und Behandlung.<br />
Da Patienten mit bipolaren Störungen<br />
gerade in frühen Stadien oftmals (noch)<br />
nicht stark in ihrem Funktionsvermögen<br />
beeinträchtigt sind, sondern sich die Beeinträchtigungen<br />
auf einzelne Funktionsbereiche<br />
beschränken, sollten differenzierte<br />
und trotzdem effizient einsetzbare<br />
Instrumente zur Beurteilung herangezogen<br />
werden. Diese sollten im Verlauf der<br />
Erkrankung wiederholt eingesetzt werden,<br />
um Veränderungen im Funktionsvermögen<br />
abbilden und ggf. therapeutisch positiv<br />
beeinflussen zu können.<br />
Diagnostik25. Empfohlen wird die sorgfältige<br />
Dokumentation des psychosozialen<br />
Funktionsvermögens des Patienten im<br />
Verlauf einer bipolaren Erkrankung, z. B.<br />
mithilfe bewährter Fremdbeurteilungsinstrumente<br />
(KKP).<br />
Die Baseline-Diagnostik vor Beginn <br />
einer Pharmakotherapie dient der Erfassung<br />
von Risikokonstellationen, welche<br />
substanzspezifisch sowie alters und<br />
komorbiditätsabhängig sind. In der<br />
Baseline Diagnostik sollen entsprechend<br />
somatische Auffälligkeiten, somatische<br />
und psychiatrische Komorbiditäten sowie<br />
etwaige Kontraindikationen vor Beginn<br />
einer Therapie erfasst werden. Im<br />
Sinne der klinischen Diagnostik gehören<br />
dazu eine Anamnese, ein internistischer<br />
und neurologischer Untersuchungsbefund<br />
sowie die Erfassung soziodemographischer<br />
und biologischer Daten, die<br />
einen Einfluss auf die geplante Pharmakotherapie<br />
haben. Hierzu zählen insbesondere<br />
Alter, Geschlecht und Körpergewicht.<br />
Da in der akuten klinischen Situation eine<br />
zügige Behandlung im Vordergrund steht,<br />
sollte die BaselineDiagnostik so schnell<br />
wie möglich nachgeholt werden. Die notwendige<br />
Labordiagnostik ist substanzspezifisch<br />
und richtet sich auch nach der<br />
Wirkstoffgruppe, die angewendet werden<br />
soll. Hier wird auf die Tabellen und Empfehlungen<br />
in der Leitlinie verwiesen. Bei<br />
Frauen ist darüber hinaus eine weiterführende<br />
Diagnostik erforderlich.<br />
Eine allgemeine Diagnostik während<br />
einer Pharmakotherapie sollte abhängig
Tab. 1 Zusammensetzung der Leitliniengruppen (Fortsetzung)<br />
– Arbeitskreis der Chefärztinnen und Chefärzte der Kliniken<br />
für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern<br />
in Deutschland (ACKPA):<br />
Dr. med. Dr. phil. Günter Niklewski<br />
– Arzneimittelkommission der dt. Ärzteschaft (AKdÄ): PD Dr. med. Tom Bschor<br />
– DGBS Betroffenen-Selbsthilfe: Dietmar Geissler<br />
– Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V.: Reinhard Gielen<br />
– DGBS-Angehörigen-Initiative: Horst Giesler<br />
– Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker<br />
(BApK):<br />
Karl Heinz Möhrmann<br />
– Vertreter AG Diagnostik: Prof. Dr. med. Peter Bräunig<br />
– Vertreter AG Pharmakotherapie: Dr. med. Johanna Sasse<br />
– Vertreter AG Psychotherapie: Prof. Dr. phil. Thomas D. Meyer<br />
– Vertreter AG Nichtmedikamentöse somatische<br />
Therapieverfahren:<br />
PD Dr. med. Frank Padberg, PD Dr.<br />
med. Thomas Baghai<br />
– Vertreter AG Versorgung und Versorgungssystem: Prof. Dr. med. Peter Brieger, Prof. Dr.<br />
med. Andrea Pfennig, M.Sc., Juniorprofessur<br />
Erweiterte Reviewgruppe<br />
Fachgesellschaften<br />
– Deutsche ärztliche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e. V. (DÄVT)<br />
– Deutsche Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DFT)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie<br />
(DGPT)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e. V. (DGVT)<br />
– Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP)<br />
– Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft e. V. (DPG)<br />
– Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV)<br />
– Deutscher Fachverband für Verhaltenstherapie (DVT)<br />
– Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG)<br />
– Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)<br />
– Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM)<br />
Berufsverbände<br />
– Bundesverband Deutsche Psychologinnen und Psychologen (BDP)<br />
– Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Deutschlands<br />
(BPM)<br />
– Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten e. V. (BVVP)<br />
– Deutscher Psychotherapeutenvereinigung (DPTV)<br />
– Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (DAGSHG)<br />
Weitere<br />
– Vereinigung der leitenden Krankenhausärzte für psychosomatische und psychotherapeutische<br />
Medizin<br />
– Vertreter Pflege: Bundesfachvereinigung Leitender Pflegepersonen der Psychiatrie (BFLK)<br />
– Vertreter Kinder- und Jugendpsychiatrie: Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie<br />
(DGKJP)<br />
– Deutscher Fachverband für Kunst- und Gestaltungstherapie (DFKGT)<br />
– Deutscher Verband der Ergotherapeuten e. V. (DVE)<br />
– AK Depressionsstationen<br />
– Aktion psychisch Kranker<br />
– Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen<br />
– Private Krankenversicherer<br />
– Deutsche Rentenversicherung Bund<br />
von der Wirkstoffklasse (Antidepressivum,<br />
Neuroleptikum, Lithium, Benzodiazepin<br />
oder Antiepileptikum) und unter<br />
Berücksichtigung der pharmakokinetischen<br />
Eigenschaften auch eine regelmäßige<br />
Messung des Medikamentenspiegels<br />
beinhalten. Die allgemeine Diagnostik<br />
beinhaltet des Weiteren die Erfassung<br />
der allgemeinen Verträglichkeit und Sicherheit<br />
der Pharmakotherapie. Auch hier<br />
wird auf die Tabellen und Empfehlungen<br />
in der Leitlinie verwiesen.<br />
Grundsätzliches zur Behandlung<br />
bipolarer Störungen<br />
Das übergeordnete Ziel einer jeden Behandlung<br />
muss die Aufrechterhaltung<br />
eines möglichst hohen psychosozialen<br />
Funktionsniveaus des Patienten sein, was<br />
wiederum in erheblichem Maße seine gesundheitsbezogene<br />
Lebensqualität bestimmt.<br />
Therapie-Grundsätzliches1. Die Akutbehandlung<br />
einer Episode der bipolaren<br />
Erkrankung muss bereits unter Berücksichtigung<br />
einer ggf. notwendigen Phasenprophylaxe<br />
gestaltet werden. Neben<br />
der akuten Symptomatik müssen dafür<br />
der anamnestische Verlauf der Erkrankung<br />
sowie Risiko bzw. prädiktive Faktoren<br />
für den weiteren Verlauf berücksichtigt<br />
werden (KKP).<br />
Hinzu kommen je nach Anamnese,<br />
Schwere der akuten Episode und Präferenzen<br />
des Patienten (und der Angehörigen)<br />
pharmako und psychotherapeutische<br />
Elemente sowie nichtmedikamentöse<br />
somatische Behandlungsverfahren und<br />
weitere unterstützende Verfahren in Betracht.<br />
In der Pharmakotherapie bipolarer Störungen<br />
kommen folgende Wirkstoffe und<br />
Wirkstoffgruppen zum Einsatz:<br />
F Antidepressiva (zur Akutbehandlung<br />
der unipolaren Depression zugelassen,<br />
etliche mit weiteren Indikationen<br />
und Zulassungen, jedoch selten explizit<br />
für bipolare Depression);<br />
F Stimmungsstabilisierer im Sinne der<br />
Leitlinie (Lithium sowie die Antikonvulsiva<br />
Carbamazepin, Valproinsäure<br />
und Lamotrigin);<br />
Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong> |<br />
575
Leitthema<br />
Tab. 1 Zusammensetzung der Leitliniengruppen<br />
Expertenpanel<br />
PD Dr. med. Mazda Adli<br />
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Bauer<br />
Prof. Dr. med. Mathias Berger<br />
Prof. Dr. phil. Bernhard Borgetto<br />
Prof. Dr. med. Peter Bräunig<br />
Prof. Dr. med. Brieger<br />
PD Dr. med. Tom Bschor<br />
Dr. med. Christoph Correll<br />
Prof. Dr. med. Peter Falkai<br />
Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel<br />
Prof. Dr. med. Waldemar Greil<br />
Prof. Dr. med. Heinz Grunze<br />
Prof. Dr. med. Fritz Hohagen<br />
Prof. Dr. med. Georg Juckel<br />
Prof. Dr. med. Stephanie Krüger<br />
Prof. Dr. med. Wolfgang Maier<br />
Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Andreas Marneros<br />
Prof. Dr. phil. Thomas D. Meyer<br />
Prof. med. Dr. Hans-Jürgen Möller<br />
Prof. Dr. med. Thomas Schläpfer<br />
Prof. Dr. phil. Hans-Ulrich Wittchen<br />
F atypische Neuroleptika im Sinne dieser<br />
Leitlinie (Amisulprid, Aripiprazol,<br />
Olanzapin, Sertindol, Quetiapin, Risperidon,<br />
und Ziprasidon, ohne dass<br />
die Leitlinie hiermit intendiert, diesen<br />
Substanzen besondere Eigenschaften<br />
in Abgrenzung zu den übrigen<br />
Neuroleptika zuzuschreiben).<br />
Für eine detaillierte Darstellung der Wirkmechanismen,<br />
Indikationen, Kontraindikationen,<br />
Dosierungen, Interaktionsprofile<br />
und möglichen kurz und längerfristigen<br />
unerwünschten Wirkungen wird auf<br />
die Leitlinie verwiesen, die in den Empfehlungen<br />
immer auch Limitationen des<br />
Einsatzes der Substanzen aufzeigt, z. B.<br />
durch wesentliche unerwünschte Wirkungen,<br />
das Interaktionspotenzial oder<br />
eine fehlende Zulassung in der speziellen<br />
Indikation.<br />
» Die Qualität der therapeutischen<br />
Beziehung ist einer der wichtigsten,<br />
unspezifischen Behandlungsfaktoren<br />
Psychotherapie bei bipolaren Störungen<br />
wird im Rahmen der Akutbehandlung,<br />
zur Stabilisierung und vor allem zur Ver<br />
576 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
(Fortsetzung)<br />
hinderung neuer Krankheitsepisoden<br />
eingesetzt.<br />
Therapie-Grundsätzliches6. Auch wenn<br />
es keine klaren Wirksamkeitsnachweise<br />
gibt, sollte die einfache Psychoedukation<br />
das Minimum sein, das in jeder ärztlichen,<br />
psychologischen oder psychosozialen Behandlung<br />
mit Patienten mit bipolaren Störungen<br />
durchgeführt wird (Statement).<br />
Die Qualität der therapeutischen Beziehung<br />
bzw. des Arbeitsbündnisses von<br />
Patient und Therapeut trägt signifikant<br />
zur Erklärung positiver Therapieeffekte<br />
bei und gilt als einer der wichtigsten,<br />
unspezifischen Behandlungsfaktoren [16,<br />
19]. Der Effekt von Psychotherapie ist zu<br />
einem beträchtlichen Teil auf nicht für das<br />
jeweilige Psychotherapieverfahren spezifische<br />
Faktoren, sondern auf die therapeutische<br />
Beziehung zurückzuführen [6].<br />
Therapie-Grundsätzliches7. Eine phasenübergreifende<br />
tragfähige therapeutische<br />
Beziehung trägt wesentlich zum Behandlungserfolg<br />
in der Akut und prophylaktischen<br />
Therapie bei (Statement).<br />
Therapie-Grundsätzliches8. Effiziente<br />
Psychotherapie bei bipolaren Störungen<br />
umfasst zumindest:<br />
F Psychoedukation,<br />
F Selbstbeobachtung von Stimmungsveränderungen,<br />
Ereignissen, Verhalten<br />
und Denken,<br />
F Reflexion von Erwartungen und<br />
Maßstäben,<br />
F Förderung von Kompetenzen zum<br />
Selbstmanagement von Stimmungsschwankungen<br />
und Frühwarnzeichen,<br />
F Normalisierung und Stabilisierung<br />
von SchlafWach und sozialem<br />
Lebensrhythmus,<br />
F Stressmanagement,<br />
F Aktivitätenmanagement,<br />
F Steigerung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung,<br />
F Einbezug der Angehörigen,<br />
F Vorbereitung auf Krisen und Notfälle<br />
(Rückfälle).<br />
(Statement)<br />
Die zurzeit am besten bewährten und<br />
evaluierten Psychotherapien zur Behandlung<br />
bipolarer Störungen sind die psychoedukative<br />
Therapie [7], die kognitive Verhaltenstherapie<br />
(KVT, [14]), die familienfokussierte<br />
Therapie (FFT, [15]) und die<br />
interpersonelle und soziale Rhythmustherapie<br />
(IPSRT, [9]; siehe unten).<br />
In Kliniken bzw. Institutsambulanzen<br />
werden immer häufiger spezifische und<br />
vereinfachte Psychoedukationsangebote<br />
implementiert, welche den Patienten<br />
neben einer Psychoedukation einen ersten<br />
Einblick in die Psychotherapie bieten<br />
und dadurch zu einer weiterführenden<br />
Therapie oder aktiven Teilnahme in<br />
einer Selbsthilfegruppe motiviert werden<br />
können.<br />
Therapie-Grundsätzliches11. Unterstützende<br />
Therapieverfahren (wie Entspannungs<br />
und Bewegungstherapie sowie<br />
Ergo, Kunst und Musik/Tanztherapie)<br />
sollten, wenn sie angeboten werden,<br />
Bestandteil des individuellen integrierten<br />
Behandlungsplans sein. Die spezifischen<br />
Behandlungsziele sollten in Absprache<br />
mit allen Beteiligten festgelegt<br />
und im Verlauf überprüft werden (KKP).<br />
Wie bereits beschrieben werden sehr<br />
häufig Kombinationen von Therapiever
Leitthema<br />
A<br />
u<br />
s<br />
s<br />
c<br />
h<br />
l<br />
u<br />
s<br />
s<br />
fahren genutzt und die Kombination wird<br />
auch empfohlen, obgleich dies leider auf<br />
wenig Evidenz fußt.<br />
Therapie der akuten Episoden<br />
und Phasenprophylaxe<br />
Therapie der Manie<br />
Systematische Literaturrecherche**<br />
Screening Titel/Abstracts<br />
Screening Volltexte<br />
Qualitätsbewertung<br />
Datenextraktion<br />
Evidenzlevel pro Studie (SIGN 2 )<br />
Zusammenstellung der Evidenz<br />
Evidenzgrad pro Fragestellung<br />
/Intervention (nach GRADE 3 )<br />
Considered Judgement<br />
Empfehlung/Statement<br />
Zur Behandlung einer akuten manischen<br />
Episode spielt die Pharmakotherapie<br />
häufig eine zentralere Rolle als bei<br />
anderen Therapieindikationen im Rahmen<br />
bipolarer Erkrankungen. Insbesondere<br />
Psychotherapie (s. unten) ist auf eine<br />
aus einem Leidensdruck entstehende Veränderungsmotivation<br />
des Patienten und<br />
auf damit einhergehendes Krankheitsgefühl<br />
und Krankheitseinsicht angewiesen.<br />
Diese Aspekte sind während einer<br />
manischen Krankheitsphase aber häufig<br />
nur gering ausgeprägt. Gleichwohl stellt<br />
eine professionelle Beziehungsgestaltung<br />
und die Schaffung therapeutisch günstiger<br />
Umweltbedingungen die Basis für die<br />
Maniebehandlung noch vor dem Einsatz<br />
eines Medikaments dar.<br />
Leitlinienfragestellungen<br />
Ein- und aussgeschlossene<br />
Studien NICE Guideline 2006 1*<br />
Abb. 2 8 Entwicklungsprozess. 1 The management of bipolar disorder in adults, children and adolescents,<br />
in primary and secondary care, NICE 2006, 2 Guidelines of the Scottish Intercollegiate Guidelines<br />
Network Grading Review Group, 3 Grading of Recommendations Assessment, Development and<br />
Evaluation, *Literatur bis Mitte 2005, **ab 2005 neue Recherche mit NICE-Suchkriterien plus Recherche<br />
für zusätzliche Fragestellungen<br />
578 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
Die Evidenzbasis ist relativ umfangreich.<br />
Wie im Algorithmus (. Abb. 3) ersichtlich,<br />
wurden für Lithium, Carbamazepin,<br />
Haloperidol, Valproinsaure sowie<br />
die atypischen Neuroleptika Aripiprazol,<br />
Olanzapin, Quetiapin, Risperidon und Ziprasidon<br />
und mit Einschränkungen auch<br />
für Asenapin und Paliperidon Empfehlungen<br />
formuliert. Auch für einige zusätzlich<br />
zu einer bestehenden Behandlung<br />
gegebenen Wirkstoffe (bei unzureichender<br />
Response auf die Monotherapie)<br />
konnten trotz sehr eingeschränkter Evidenzlage<br />
Empfehlungen formuliert werden.<br />
Auswahlkriterien sind u. a. spezifische<br />
Vorerfahrungen und der Wunsch des<br />
Patienten, die unterschiedlichen Nebenwirkungsprofile,<br />
der Bedarf nach einem<br />
sedierenden oder nichtsedierenden Pharmakon<br />
und die Eignung eines Antimanikums<br />
zur anschließenden Fortführung<br />
als Phasenprophylaktikum. Zur Information<br />
für die Entscheidung sind spezifische<br />
Profile möglicher Interaktionen und unerwünschter<br />
Wirkungen in der Leitlinie<br />
aufgeführt. Für den Einsatz von Lamotrigin,<br />
Oxcarbazepin, zur zusätzlichen Gabe<br />
von Amisulprid zu Valproat und zur<br />
Kombination zweier Stimmungsstabilisierer<br />
konnten keine Empfehlungen formuliert<br />
werden (meist aufgrund fehlender<br />
adäquater Evidenz). Für die Monotherapie<br />
mit weiteren Substanzen, für die<br />
ein antimanischer Effekt diskutiert wird<br />
(Phenytoin, Zonisamid, Retigabin, Topiramat,<br />
Gabapentin, Pregabalin, Tiagabin,<br />
Chlorpromazin, Tamoxifen, Calciumantagonisten<br />
und Memantin) wurden aus<br />
demselben Grunde keine Empfehlungen<br />
formuliert. Abgeraten wird vor der zusätzlichen<br />
Gabe von Levitiracetam zu Valproat,<br />
und von Topiramat oder Gabapentin<br />
zu Lithium oder Valproat.<br />
Psychotherapie in manischen oder<br />
hypomanischen Zuständen zu beginnen<br />
oder fortzusetzen, kann unter bestimmten<br />
Bedingungen sinnvoll sein (z. B. Kontakthalten<br />
und Motivation für Veränderung<br />
schaffen, wenn die akute manische<br />
Symptomatik im Rahmen einer bereits<br />
bestehenden Psychotherapie auftritt oder<br />
wenn Betroffene (oder deren Angehörige)<br />
in diesem Zustand gezielt Hilfe aufsuchen).<br />
Eine psychotherapeutische Begleitung<br />
in hypomanischen und manischen<br />
Zuständen zielt einerseits auf eine Stabilisierung<br />
und Reduktion der Symptomatik<br />
bei den Betroffenen selbst hin (z. B. durch<br />
Stimuluskontrolle, Aktivitätsplan, Reduktion<br />
von Stimulation, Strategien zur Energieabfuhr),<br />
aber sie kann auch helfen, die<br />
emotionale Expressivität in Familie und<br />
Partnerschaften zu reduzieren oder vor<br />
einer Eskalation zu schützen. Ein Einüben<br />
von klaren Kommunikationsregeln<br />
– idealerweise unter Einbezug der Bezugspersonen<br />
in der Therapie – ist hierbei hilfreich,<br />
auch und vor allem unter Berücksichtigung<br />
von potenziell reizbaraggressivem<br />
Verhalten.<br />
Bei den nichtmedikamentösen somatischen Therapieverfahren<br />
ist die Evidenzlage<br />
insgesamt sehr begrenzt. Vor allem<br />
in Fällen von Pharmakotherapieresistenz<br />
kommt eine Elektrokonvulsionstherapie<br />
(EKT) infrage. Die repetitive transkranielle<br />
Magnetstimulation (rTMS) wird noch<br />
als experimentelles Verfahren angesehen,<br />
zu dem keine ausreichenden Daten vorliegen,<br />
die den Einsatz der rTMS bei Manie<br />
unterstützen. Ein therapeutischer Schlafentzug<br />
ist kontraindiziert.<br />
Ein Algorithmus zur Behandlung der<br />
Manie ist in . Abb. 3 dargestellt.
Monotherapie<br />
Kombinationstherapie<br />
ARI, CBZ 1 , DVP 3 , HAL 2 , Li, OLZ, QUE, RIS, ZIP<br />
DVP 3 + OLZ, DVP 3 + RIS, Li + OLZ, Li + RIS<br />
Therapie der bipolaren Depression<br />
Erst in der jüngeren Vergangenheit werden<br />
getrennte Studien für bipolare und<br />
unipolare Depressionen durchgeführt<br />
[11]; die Therapie der unipolaren Depression<br />
ist hierbei aber deutlich umfangreicher<br />
untersucht. In der klinischen Praxis<br />
werden daher häufig Therapiestrategien<br />
auf bipolare Depressionen übertragen,<br />
die nur für unipolar erkrankte Patienten<br />
ausreichend untersucht sind. Ferner<br />
wird nicht in allen Studien zwischen<br />
depressiven Episoden bei <strong>Bipolar</strong>I und<br />
<strong>Bipolar</strong>IIVerläufen unterschieden, obwohl<br />
vor allem bei <strong>Bipolar</strong>IVerläufen,<br />
und weniger bei <strong>Bipolar</strong>IIVerläufen, ein<br />
Umschlagen der Depression in eine manische<br />
Phase unter der medikamentösen<br />
Behandlung gefürchtet wird.<br />
Innerhalb der Akuttherapie können<br />
verschiedene Therapieziele abgegrenzt<br />
werden. Erst in jüngerer Zeit wurde systematisch<br />
beachtet, dass auch Patienten,<br />
deren depressive Symptomatik als<br />
remittiert betrachtet wird, häufig anhaltende<br />
Schwierigkeiten in der vollständigen<br />
Wiederaufnahme ihres Lebensalltags<br />
(z. B. Berufstätigkeit, familiäre Aufgaben)<br />
haben. Die vollständige funktionelle Genesung<br />
wird daher inzwischen als ein noch<br />
Schutzmaßnahmen (für Patienten und ggf. für andere Personen)<br />
Beratung, Aufklärung, Einwilligung des Patienten/gesetzl. Vertreters bzgl. Behandlung (gut: zusätzlich Einbezug Angehörige)<br />
zusätzlich EKT<br />
ASE, PAL<br />
Nicht ausreichendes Ansprechen<br />
DVP 3 + ARI, DVP 3 + QUE, Li + ARI, Li + QUE,<br />
HAL 2 + Allop, Li + Allop<br />
weiter gefasstes Ziel verstanden. (Zur<br />
Phasenprophylaxe s. unten.)<br />
Die Studienlage zur Frage der Indikation<br />
einer Pharmakotherapie bei bipolarer<br />
Depression unterscheidet leider kaum bezüglich<br />
des Schweregrades.<br />
Therapie-Depression3. Bei einer leichten<br />
depressiven Episode besteht nur in<br />
Ausnahmefällen die Indikation zu einer<br />
depressionsspezifischen Pharmakotherapie,<br />
da hier Risiken und Nebenwirkungen<br />
den erhofften Nutzen überwiegen.<br />
Psychoedukation, psychotherapeutische<br />
Interventionen im engeren Sinne, Anleitung<br />
zum Selbstmanagement und Einbeziehung<br />
von Selbsthilfegruppen stehen im<br />
Vordergrund (KKP).<br />
Therapie-Depression4. Für eine akutantidepressive<br />
Pharmakotherapie bei<br />
einer leichten depressiven Episode können<br />
u. a. sprechen:<br />
F Wunsch/Präferenz des Patienten,<br />
F positive Erfahrung des Patienten mit<br />
gutem Ansprechen auf eine medikamentöse<br />
Therapie in der Vergangenheit,<br />
F Fortbestehen von Symptomen nach<br />
anderen Interventionen,<br />
+<br />
Benzos 4<br />
B 0 KKP<br />
+<br />
Psychotherapie<br />
5<br />
Weiterhin nicht ausreichendes oder fehlendes Ansprechen<br />
Aufklärung, Einwilligung des Patienten/gesetzl. Vertreters bzgl. EKT (gut: zusätzlich Einbezug Angehörige)<br />
Abb. 3 8 Phasenspezifische Therapie der Manie. 1 Beachte hohes Interaktionsrisiko, 2 im Rahmen einer Notfallsituation oder<br />
zur Kurzzeittherapie, 3 Vorsicht: gilt nicht für Frauen im gebärfähigen Alter, 4 zeitlich eng begrenzt, 5 Kontakt halten, bei leichteren<br />
Phasen verhaltensnahe Maßnahmen. Empfehlungsgrade: B, 0, KKP (klinischer Konsenspunkt). Allop Allopurinol, ASE Asenapin,<br />
ARI Aripiprazol, Benzos Benzodiazepin, CBZ Carbamazepin, EKT Elektrokonvulsionstherapie, HAL Haloperidol, Li Lithium,<br />
OLZ Olanzapin, PAL Paliperidon, QUE Quetiapin, RIS Risperidon, DVP Valproat, ZIP Ziprasidon<br />
F Episoden mittelgradiger oder schwerer<br />
Depression in der Vorgeschichte<br />
des Patienten,<br />
F rasche Symptomprogredienz als Hinweis<br />
auf eine sich möglicherweise<br />
entwickelnde schwere depressive Episode,<br />
F psychiatrische Komorbidität.<br />
(Statement)<br />
Therapie-Depression5. Wenn bei einem<br />
Patienten mit einer akuten bipolaren Depression<br />
eine Phasenprophylaxe besteht,<br />
dann ist es sinnvoll, diese bezüglich Dosis<br />
und ggf. Serumspiegel zu optimieren. Besteht<br />
keine Phasenprophylaxe, ist es sinnvoll,<br />
zu prüfen, ob eine Indikation besteht<br />
und diese ggf. in der akuten depressiven<br />
Phase zu beginnen (KKP).<br />
Therapie-Depression6. Bei einer mittelgradigen<br />
Episode einer bipolaren Depression<br />
stellt die depressionsspezifische pharmakotherapeutische<br />
Behandlung eine wesentliche<br />
Option dar (Statement).<br />
Therapie-Depression7. Eine schwere<br />
Episode einer bipolaren Depression sollte<br />
pharmakotherapeutisch behandelt werden<br />
(s. spezifische Empfehlungen und<br />
Therapiealgorithmus; KKP).<br />
Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong> |<br />
579
Leitthema<br />
Therapie-Depression8. In den ersten<br />
4 Wochen der pharmakologischen Behandlung<br />
einer akuten bipolaren Depression<br />
sind Untersuchung und Gespräch<br />
mit dem Patienten mindestens wöchentlich<br />
angeraten, um Risiken und Nebenwirkungen<br />
der Pharmakotherapie zu erkennen,<br />
den Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen<br />
beurteilen zu können und die<br />
Zusammenarbeit zwischen Patient und<br />
Arzt zu verbessern. Danach sind Intervalle<br />
von 2 bis 4 Wochen, nach 3 Monaten<br />
bei ausreichender Stabilität eventuell längere<br />
Intervalle möglich. Je nach klinischer<br />
Situation können häufigere Frequenzen<br />
notwendig sein (KKP).<br />
Therapie-Depression9. Nach 3 bis 4<br />
Wochen sollte eine genaue Wirkungsprüfung<br />
das Ausmaß des noch bestehenden<br />
depressiven Syndroms mit der Ausgangsschwere<br />
zu Beginn der Pharmakotherapie<br />
vergleichen. Hiervon sollte abhängig gemacht<br />
werden ob ein Wechsel oder eine<br />
Ergänzung der Behandlungsstrategie indiziert<br />
ist oder nicht (s. Therapiealgorithmus;<br />
KKP).<br />
In der Leitlinie werden Patientencharakteristika<br />
genannt, die für oder gegen<br />
eine mehrmonatige unveränderte Fortführung<br />
der zur Remission führenden<br />
Medikation sprechen.<br />
Zur pharmakologischen Behandlung<br />
bipolarer Depressionen wurden Pharmaka<br />
aus den Substanzklassen Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer, atypische <br />
Neuroleptika und Phytotherapeutika systematisch<br />
untersucht. Die Evidenzsichtung<br />
ergab keine endgültige Klarheit bezüglich<br />
der Höhe des tatsächlichen Risikos<br />
für einen Switch in die Manie unter Antidepressiva.<br />
Am ehesten war davon auszugehen,<br />
dass dieses Risiko unter Fluoxetin,<br />
Paroxetin und Bupropion gering ist,<br />
unter trizyklischen Antidepressiva hingegen<br />
größer zu sein scheint. Aus den anderen<br />
Wirkstoffgruppen konnten für Carbamazepin,<br />
Lamotrigin, Olanzapin und<br />
Quetiapin Empfehlungen formuliert werden<br />
(für letzteren Wirkstoff mit den besten<br />
Belegen der Wirksamkeit). Abgeraten<br />
wurde vom Einsatz von Valproinsäure<br />
und Aripiprazol und auch von Lithium<br />
als alleinige Medikation.<br />
580 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
Viele Patienten (insbesondere mit einer<br />
<strong>Bipolar</strong>IIStörung) suchen vor allem im<br />
Rahmen einer akuten depressiven Phase<br />
psychotherapeutische Hilfe. Psychotherapie<br />
zielt hierbei auf die Überwindung der<br />
Depression und die Besserung der depressiven<br />
Symptomatik. In der Leitlinie wurde<br />
eine Empfehlung für eine Psychotherapie<br />
formuliert und angemerkt, dass es empirische<br />
Belege für die Wirksamkeit von KVT,<br />
FFT und IPSRT gibt.<br />
Nichtmedikamentöse somatische Therapieoptionen:<br />
Vor allem in Fällen von<br />
Therapieresistenz und in schweren Fällen<br />
kommt eine EKT infrage und sollte<br />
in akut lebensbedrohlichen Situationen<br />
mitbedacht werden. Obwohl die Datenlage<br />
zur rTMS bei bipolarer Depression unzureichend<br />
ist, wurde aufgrund der Evidenz<br />
zur Wirksamkeit bei unipolar depressiven<br />
Episoden eine Empfehlung formuliert<br />
(für Details zu Applikationsform<br />
und ort s. Leitlinie). Auch für die zusätzlich<br />
zur Standardbehandlung eingesetzte<br />
Lichttherapie wurde eine Empfehlung<br />
formuliert. Wenn eine kurzfristige<br />
antidepressive Wirkung angestrebt wird,<br />
kann Wachtherapie allein oder zusätzlich<br />
zur Standardtherapie eingesetzt werden.<br />
Ein Algorithmus zur Behandlung der<br />
bipolaren Depression ist in . Abb. 4 dargestellt.<br />
Therapie zur Phasenprophylaxe<br />
Die akuten Krankheitsepisoden bipolar<br />
affektiver Erkrankungen (insbesondere<br />
Manie und Depression) werden aufgrund<br />
der mit ihnen verbundenen Leiden<br />
und Beeinträchtigungen vorrangig wahrgenommen.<br />
Dennoch sind es der Langzeitverlauf<br />
und die Langzeitbehandlung,<br />
die für die Erkrankten entscheidend für<br />
die Frage sind, in welchem Ausmaß die<br />
Krankheit die Biographie und die Partizipation<br />
am Leben beeinträchtigt.<br />
Wie auch bei der Therapie der akuten<br />
Krankheitsphasen der bipolaren Störung<br />
und generell bei den meisten psychiatrischen<br />
Behandlungen ist in der Regel eine<br />
Kombination pharmako und psychotherapeutischer<br />
und ggf. weiterer Strategien<br />
für eine effektive Phasenprophylaxe am<br />
erfolgversprechendsten.<br />
Eine ideale Phasenprophylaxe führt<br />
zu einer völligen Freiheit von depressiven,<br />
manischen und gemischten Episoden, zu<br />
allenfalls minimaler interepisodischer<br />
Symptomatik und zum Erhalt einer unbeeinträchtigten<br />
Teilhabe am Leben (übergeordnetes<br />
Therapieziel). Es gelingt häufig<br />
nicht unmittelbar, dieses Ziel in vollem<br />
Umfang zu erreichen, sodass zum Teil vorübergehend<br />
nur das Erreichen von nachgeordneten<br />
Therapiezielen (z. B. seltenere,<br />
kürzere und/oder schwächer ausgeprägte<br />
Krankheitsepisoden und/oder eine verringerte<br />
interepisodische Symptomatik)<br />
akzeptiert werden muss. Während das Erreichen<br />
des übergeordneten Therapieziels<br />
in der Regel von Patient und Behandler<br />
leicht erkannt werden, können Teilerfolge<br />
(das Erreichen nachgeordneter Therapieziele)<br />
aufgrund der langen Behandlungs<br />
und Beobachtungsdauer einer phasenprophylaktischen<br />
Behandlung leicht übersehen<br />
werden. Hier besteht die Gefahr, aus<br />
einer solchen Fehleinschätzung heraus<br />
eine phasenprophylaktische Strategie zu<br />
beenden und damit den Teilerfolg wieder<br />
aufzugeben. Auch wenn zu diesen behandlungsstrategischen<br />
Fragen kaum Erkenntnis<br />
aus systematischen Studien besteht,<br />
wird bei vollkommener Wirkungslosigkeit<br />
einer Phasenprophylaxe eher die<br />
Entscheidung zur Beendigung der Behandlung<br />
und dem Beginn einer neuen<br />
Therapie (Umstellen) fallen, während bei<br />
Teilerfolgen eher eine Kombinationsbehandlung<br />
unter Beibehaltung der bisherigen<br />
Therapie vorgezogen werden dürfte.<br />
» In der langen<br />
Behandlungsdauer können<br />
Teilerfolge oft übersehen werden<br />
Therapie-Prophylaxe1. Trotz weitgehend<br />
fehlender Evidenz bietet sich in der<br />
Verlaufskontrolle bei vollkommener Wirkungslosigkeit<br />
der phasenprophylaktischen<br />
Strategie eher eine Umstellung auf<br />
eine neue Therapie, bei Teilerfolgen eher<br />
eine zusätzliche Maßnahme zur bereits<br />
laufenden Strategie an (Statement).<br />
Um auch phasenprophylaktische Teilerfolge<br />
sicher zu erkennen, ist es unumgänglich,<br />
dass jede Form der Phasenprophylaxe<br />
grundsätzlich von einer systematischen<br />
Verlaufsdokumentation begleitet<br />
wird (s. Diagnostik).
Beratung, Aufklärung, Einwilligung des Patienten/gesetzl. Vertreters bzgl. Behandlung (gut: zusätzlich Einbezug Angehörige)<br />
QUE<br />
Eine gleichermaßen wichtige und<br />
schwierig zu beantwortende Frage in der<br />
Phasenprophylaxe ist, wie lange eine Behandlung<br />
beibehalten werden soll, bis ihre<br />
Wirksamkeit beurteilt werden kann und<br />
darüber entschieden wird, ob eine Veränderung<br />
der Behandlung erfolgen soll.<br />
Während in der Behandlung akuter Episoden<br />
die Therapie in der Regel nach wenigen<br />
Wochen ansprechen soll, muss in<br />
der Phasenprophylaxe zum Teil sehr viel<br />
länger gewartet werden. Es ist jedoch<br />
zu vermeiden, dass eine nicht vollständig<br />
erfolgreiche Phasenprophylaxe ungeprüft<br />
und unverändert über Jahre fortgeführt<br />
wird. Den besten Anhaltspunkt<br />
für die Dauer, über welche eine phasenprophylaktische<br />
Strategie bis zur Beurteilung<br />
erprobt werden sollte, gibt der individuelle<br />
Verlauf. Bei Patienten mit häufigen<br />
Krankheitsphasen ist auch nach Beginn<br />
einer Phasenprophylaxe schneller<br />
mit einer neuen Krankheitsepisode zu<br />
rechnen (deren Ausbleiben ein Hinweis<br />
auf eine Wirksamkeit sein kann), als bei<br />
Patienten mit seltenen Krankheitsphasen.<br />
Therapie-Prophylaxe2. Die Wirksamkeit<br />
einer phasenprophylaktischen Be<br />
Schutzmaßnahmen (für Patienten und ggf. für andere Personen)<br />
Bestehende Phasenprophylaxe?<br />
ja nein<br />
Prüfen, optimieren Beginn<br />
CBZ 1 , LAM 2 , OLZ 3 , SSRI*/BUP 4 , WT<br />
Aufklärung, Einwilligung des Patienten oder gesetzlichen Vertreters bzgl. EKT (gut: zusätzlich Einbezug Angehörige)<br />
zusätzlich EKT 5<br />
Nicht ausreichendes Ansprechen<br />
Wechsel der Substanz oder zusätzliche Substanz<br />
+<br />
Psychotherapie<br />
(FFT, KVT<br />
oder<br />
IPSRT)<br />
Weiterhin nicht ausreichendes oder kein Ansprechen<br />
B 0<br />
handlung sollte entsprechend dem individuellen<br />
Krankheitsverlauf überprüft werden.<br />
Nach klinischer Erfahrung bietet es<br />
sich an, diese nach Ablauf der doppelten<br />
Dauer des durchschnittlichen Krankheitszyklus<br />
des Patienten zu beurteilen. In der<br />
Regel sollte bei Rezidiven innerhalb der<br />
ersten 6 Monate nach Beginn einer phasenprophylaktischen<br />
Behandlung keine<br />
Veränderungen im Behandlungsregime<br />
vorgenommen werden (KKP).<br />
Die Pharmakotherapie stellt bei den<br />
allermeisten Patienten einen unverzichtbaren<br />
Bestandteil der Phasenprophylaxe<br />
dar. Wenngleich eine lange klinische Erfahrung<br />
in der pharmakologischen Phasenprophylaxe<br />
besteht (Lithium wird z. B.<br />
seit den 1950er Jahren umfangreich eingesetzt),<br />
gibt es, wie die Leitlinie im Detail<br />
aufzeigt, an vielen Stellen erhebliche<br />
Defizite bezüglich der wissenschaftlichen<br />
Fundierung. Für die Monotherapie mit<br />
den Wirkstoffen Lithium (konsistenteste<br />
Wirksamkeitsbelege), Lamotrigin (nur<br />
zur Prophylaxe depressiver Episoden),<br />
Carbamazepin, Valproinsäure, Olanzapin,<br />
Aripiprazol und Risperidon wurden<br />
Empfehlungen formuliert (für letztere<br />
+ WT + LT<br />
Abb. 4 8 Phasenspezifische Therapie der bipolaren Depression. 1 Beachte hohes Interaktionsrisiko, 2 Beachte Erfordernis langsame<br />
Aufdosierung, 3 Evidenz für Überlegenheit der Kombination mit Fluoxetin ist spärlich, 4 nicht zur alleinigen Phasenprophylaxe<br />
geeignet, 5 Grad B in lebensbedrohlichen Situationen, *Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin. Empfehlungsgrade: B, 0, KKP<br />
(klinischer Konsenspunkt). BUP Bupropion, CBZ Carbamazepin, EKT Elektrokonvulsionstherapie, FFT familienfokussierte Therapie,<br />
IPSRT interpersonelle und soziale Rhythmustherapie, KVT kognitive Verhaltenstherapie, LAM Lamotrigin, LT Lichttherapie,<br />
OLZ Olanzapin, QUE Quetiapin, SSRI selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer, WT Wachtherapie<br />
KKP<br />
drei nur, sofern sie bereits in der Akutbehandlung<br />
vertragen wurden und wirksam<br />
waren). Von Quetiapin in Monotherapie<br />
wurde abgeraten, da zum Zeitpunkt der<br />
letzten systematischen Literaturrecherche<br />
nur eine Studie vorlag, die aufgrund ihrer<br />
Fallzahl und heterogenen Vergleichsgruppe<br />
keine validen Aussagen zuließ (bezüglich<br />
der zusätzlichen Gabe zu einem klassischen<br />
Stimmungsstabilisierer s. unten).<br />
Erste Schritte bei unzureichender Response<br />
sind die Überprüfung der Einnahmeregelmäßigkeit,<br />
die Überprüfung der<br />
Dosis und, sofern für das Pharmakon etabliert,<br />
des Serumspiegels und die Anpassung<br />
von Dosis oder Serumspiegel nach<br />
oben, sofern hier noch Spielraum besteht<br />
und die Verträglichkeit dies ermöglicht.<br />
Aufgrund der hohen Quote unzureichender<br />
Response finden in der klinischen<br />
Praxis häufig eine pharmakologische<br />
Kombinationsbehandlungen statt,<br />
was im Missverhältnis zu der nur dürftigen<br />
Erkenntnislage zu Kombinationsbehandlungen<br />
aus kontrollierten Studien<br />
steht. Die Leitlinie spricht sich dafür aus,<br />
eine rezidivprophylaktische Monotherapie<br />
anzustreben. Sofern trotzdem nötig,<br />
finden sich differenzierte Empfehlun<br />
Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong> |<br />
581
Leitthema<br />
Beratung, Aufklärung, Einwilligung des Patienten/gesetzl. Vertreters bzgl. Behandlung (gut: zusätzlich Einbezug Angehörige)<br />
Monotherapie<br />
Li ARI 2 , CBZ, DVP, LAM 3 , OLZ 4 , RIS 5<br />
LAM 1<br />
Kombinationstherapie<br />
Nicht ausreichendes Ansprechen<br />
DVP + QUE 6 , DVP + ZIP 7 , DVP + Li,<br />
Li + QUE 6 , Li + ZIP 7 , TAU* + RIS 3,5<br />
Aufklärung, Einwilligung des Patienten/gesetzl. Vertreters bzgl. EKT (gut: zusätzlich Einbezug Angehörige)<br />
gen zu Kombinationsmöglichkeiten. Diese<br />
beziehen sich u. a. auf die zusätzliche<br />
Gabe von Quetiapin oder Ziprasidon zu<br />
einer bestehenden Behandlung mit Lithium<br />
oder Valproat, wenn die Patienten<br />
auf die Kombination bereits in der Akutphase<br />
respondiert haben.<br />
In der Phasenprophylaxe ist das Ziel<br />
der Psychotherapie, den gebesserten bzw.<br />
remittierten Zustand zu erhalten und<br />
neue Krankheitsepisoden zu verhindern.<br />
Die Behandlung setzt somit nach Abklingen<br />
einer akuten depressiven bzw. (hypo)<br />
manischen Episode ein. In einem solchen,<br />
zumindest teilremittierten Zustand scheinen<br />
Patienten mit einer bipolaren Störung<br />
am meisten von einer Psychotherapie zu<br />
profitieren. Das Neulernen und die Verbesserung<br />
der Adaptionsfähigkeit erfordert<br />
Zeit. Daher ist es günstig, die Psychotherapiekontakte<br />
nach anfänglichen<br />
wöchentlichen Kontakten (in Krisen sogar<br />
mehrmals wöchentlich) über mehrere<br />
Monate, über ein Jahr oder sogar auf<br />
mehrere Jahre zu verteilen. In der Leitlinie<br />
ist eine Empfehlung zur rezidivprophylaktischen<br />
Behandlung mit einer aus<br />
zusätzlich EKT<br />
Kein Ansprechen<br />
oder keine Evidenz für<br />
Kombination des<br />
Monotherapie-Wirkstos<br />
Umstellung auf anderen<br />
Wirksto in Monotherapie<br />
führlichen und interaktiven Gruppenpsychoedukation<br />
formuliert. Eine manualisierte,<br />
strukturierte kognitive Verhaltenstherapie<br />
kann bei aktueller Stabilität und<br />
weitgehend euthymer Stimmungslage<br />
empfohlen werden. Auch eine FFT kann<br />
angeboten werden (und zeigte eine gute<br />
rezidivprophylaktische Wirkung), allerdings<br />
machen die Therapiemodalitäten<br />
(2 Therapeuten, zu Hause bei der Familie)<br />
die Umsetzung schwierig. Eine IPSRT<br />
kann dann fortgeführt werden, wenn sie<br />
bereits in der akuten Episode begonnen<br />
wurde und eine langfristige und kontinuierliche<br />
Betreuung intendiert ist.<br />
Für die Anwendung nichtmedikamentöser somatischer Therapieverfahren<br />
in der<br />
Phasenprophylaxe bipolarer Erkrankungen<br />
liegen keine systematischen und methodisch<br />
höherwertigen Studien vor. Hinzu<br />
kommt, dass alle genannten Verfahren<br />
mit Ausnahme von Vagusnervstimulation<br />
(VNS) und tiefer Hirnstimulation (DBS)<br />
akute und im Rahmen von wiederholten<br />
Einzelbehandlungen eingesetzte Interventionen<br />
sind und methodisch an sich nicht<br />
für eine kontinuierliche Langzeitbehand<br />
A<br />
+Psycho -<br />
therapie<br />
ausführliche und<br />
interaktive PE<br />
KVT,<br />
FFT,<br />
IPSRT 8<br />
B 0 KKP<br />
Abb. 5 8 Phasenprophylaxe der bipolaren Störungen. 1 Gegen depressive Episoden bei Ansprechen in Akutphase, KKP für<br />
Einsatz gegen depressive Episoden auch ohne Ansprechen in Akutphase, 2 gegen manische Episoden bei Ansprechen in Manie,<br />
3 bei Rapid Cycling, 4 bei Ansprechen in Manie, 5 Depotpräparat, bei Ansprechen in Akutphase, 6 bei Ansprechen auf diese<br />
Kombination in Akutbehandlung, 7 bei Ansprechen auf ZIP in Manie, 8 bei Beginn in akuter Phase und längerfristiger Planung,<br />
*Behandlung wie üblich: jede Monotherapie und Kombination von Antidepressiva Stimmungsstabilisierer und Anxiolytika<br />
erlaubt. Empfehlungsgrade: A, B, 0, KKP (klinischer Konsenspunkt). ARI Aripiprazol, CBZ Carbamazepin, DVP Valproat, EKT Elektrokonvulsionstherapie,<br />
FFT familienfokussierte Therapie, IPSRT interpersonelle und soziale Rhythmustherapie, KVT kognitive<br />
Verhaltenstherapie, LAM Lamotrigin, Li Lithium, OLZ Olanzapin, PE Psychoedukation, QUE Quetiapin, RIS Risperidon, ZIP Ziprasidon<br />
582 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
lung optimiert sind. Wenn eine Langzeitbehandlung<br />
erfolgt, geht es darum, die<br />
intermittierende Einzelbehandlung bezüglich<br />
Zeitpunkt und Intervall zwischen<br />
den Behandlungen so abzustimmen, dass<br />
der therapeutische Effekt der Einzelbehandlung<br />
möglichst bis zur nächsten Behandlung<br />
aufrechterhalten bleibt. In der<br />
Leitlinie findet sich eine offene Empfehlung<br />
für EKT nach erfolgreicher Akutbehandlung.<br />
Obwohl empirische Untersuchungen<br />
spezifisch zu bipolaren Störungen in ausreichender<br />
Qualität fehlen, legt die klinische<br />
Erfahrung nahe, dass kreative und <br />
handlungsorientierte Therapieverfahren<br />
wie beispielsweise Ergo, Kunst und Musik/Tanztherapie<br />
im Rahmen eines ambulanten<br />
oder (teil) stationären Behandlungskonzepts<br />
zur psychischen und sozialen<br />
Stabilisierung bipolarer Patienten beitragen<br />
können und dass Entspannungsverfahren<br />
(wie z. B. die progressive Muskelrelaxation)<br />
im Rahmen eines ambulanten<br />
oder (teil)stationären Behandlungskonzepts<br />
bipolarer Patienten beitragen können,<br />
Patienten durch die Linderung spezi
Leitthema<br />
fischer Symptome (wie z. B. Anspannung<br />
oder Schlafstörungen) zu stabilisieren.<br />
Ein Algorithmus zur Phasenprophylaxe<br />
bei bipolaren Störungen ist in . Abb. 5<br />
dargestellt.<br />
Zur Behandlung spezifischer Patientengruppen und in besonderen Situationen<br />
ist<br />
die Datenlage insgesamt nochmals spärlicher<br />
als bei bipolaren Störungen ohnehin,<br />
da diese Patienten (und Situationen)<br />
in klassischen randomisierten kontrollierten<br />
klinischen Studien meist Ausschlusskriterien<br />
erfüllen. Dennoch stehen Therapeuten,<br />
Patienten und Angehörige gerade<br />
hier in häufig komplexen Situationen<br />
schwierigen Therapieentscheidungen<br />
gegenüber. Für die folgenden Themenbereiche<br />
wurde daher versucht, Empfehlungen<br />
und Statements zu formulieren: Behandlung<br />
von Frauen im gebärfähigen<br />
Alter sowie in der Schwangerschaft und<br />
Stillzeit, älterer Patienten, von Patienten<br />
mit den häufigen komorbiden psychiatrischen<br />
und/oder somatischen Erkrankungen<br />
und von Patienten mit Therapieresistenz<br />
inklusive „rapid cycling“.<br />
Spezifische Situation Suizidalität<br />
Mit dem separaten Kapitel zur Suizidalität<br />
wird der Häufigkeit und Schwere der<br />
Konsequenz von Suizidgedanken, Suizidversuchen<br />
und vollendeten Suiziden bei<br />
Patienten mit bipolaren Störungen Rechnung<br />
getragen.<br />
Suizidalität1. Aufgrund des besonders<br />
hohen Risikos muss der Behandler Suizidalität<br />
bei jedem Patientenkontakt klinisch<br />
einschätzen und ggf. direkt thematisieren,<br />
präzise und detailliert erfragen<br />
und vor dem Hintergrund der Anamnese<br />
früherer Suizidalität und vorhandener<br />
Eigenkompetenz und sozialer Bindungen<br />
beurteilen (KKP).<br />
Suizidalität3. Suizidale Patienten müssen<br />
eine besondere Beachtung und Betreuung<br />
im Sinne einer Intensivierung<br />
des zeitlichen Engagements und der therapeutischen<br />
Bindung erhalten (KKP).<br />
(Wörtlich übernommener Satz einer<br />
Empfehlung aus der <strong>S3</strong>Leitlinie Unipolare<br />
Depression [8].)<br />
584 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
Insgesamt wurde nur für wenige Wirkstoffe<br />
eine potenziell antisuizidale Wirkung<br />
explizit untersucht.<br />
Suizidalität6. In der Rezidivprophylaxe<br />
bei suizidgefährdeten bipolaren Patienten<br />
soll zur Reduzierung suizidaler Handlungen<br />
(Suizidversuche und Suizide) eine<br />
Medikation mit Lithium in Betracht gezogen<br />
werden (A).<br />
(Geänderte Empfehlung mit wörtlicher<br />
Übernahme einzelner Elemente<br />
einer Empfehlung aus der <strong>S3</strong>Leitlinie<br />
Unipolare Depression [8].)<br />
Von der Gabe von Valproat oder Lamotrigin<br />
zur Reduzierung suizidaler<br />
Handlungen bei gefährdeten Patienten<br />
wird aufgrund der vorhandenen Datenlage<br />
abgeraten. Für oder gegen Carbamazepin<br />
konnte keine Empfehlung formuliert<br />
werden.<br />
Suizidalität10. Abratend: Zur akuten<br />
Behandlung des Zielsyndroms Suizidalität<br />
sollten Antidepressiva nicht eingesetzt<br />
werden (B).<br />
(Geänderte Empfehlung mit wörtlicher<br />
Übernahme einzelner Elemente<br />
einer Empfehlung aus der <strong>S3</strong>Leitlinie<br />
Unipolare Depression [8].)<br />
Es wurde konstatiert, dass es keine<br />
Hinweise dafür gibt, dass Neuroleptika<br />
eine suizidalitätsreduzierende Wirkung<br />
haben.<br />
Suizidalität13. Bei suizidgefährdeten<br />
Patienten soll eine Psychotherapie in Betracht<br />
gezogen werden, die zunächst auf<br />
die Suizidalität fokussiert. Das kurzfristige<br />
Ziel besteht dabei in intensiver Kontaktgestaltung<br />
und aktiver unmittelbarer<br />
Unterstützung und Entlastung bis zum<br />
Abklingen der Krise.<br />
Bei suizidgefährdeten Patienten kann<br />
eine tragfähige therapeutische Beziehung<br />
per se suizidpräventiv wirken (KKP).<br />
EKT stellt aufgrund klinischer Erfahrung<br />
eine therapeutische Option dar.<br />
Versorgung und<br />
Versorgungssystem<br />
Die 2010 durchgeführte Analyse von Versorgungserfahrungen<br />
bipolarer Patienten<br />
in Deutschland [20] hat selbst bei in der<br />
DGBS organisierten Patienten Verbesserungspotenziale<br />
aufzeigen können. In der<br />
Leitlinie werden anhand erster nationaler<br />
und internationaler Initiativen zur effektiven<br />
Versorgung der Patienten Rahmenbedingungen<br />
aufgeführt, welche für eine solche<br />
Versorgung nötig sind. Wir gehen davon<br />
aus, dass Verbesserungen in der Versorgungsrealität<br />
bipolarer Patienten ein<br />
großes Potenzial für das Erreichen eines<br />
günstigeren Erkrankungsverlaufs und damit<br />
einer besseren psychosozialen Funktionsfähigkeit<br />
bieten. Um die in der Leitlinie<br />
formulierten Rahmenbedingungen<br />
stärker im System umsetzen zu können,<br />
bedarf es einer konstruktiven Zusammenarbeit<br />
aller Akteure und Systempartner<br />
in der Versorgung der Patienten. Für<br />
eine ausführlichere Darstellung siehe den<br />
Beitrag von Brieger et al. in diesem Heft.<br />
Verbreitung und Einführung<br />
der Leitlinie in die Praxis<br />
sowie Aktualisierung<br />
Das entwickelte Konzept für die Disseminierung<br />
(Verbreitung) und Implementierung<br />
(Einführung in die Praxis) der vorliegenden<br />
Leitlinie beinhaltet u. a. verschiedene<br />
Publikationsversionen der Leitlinie<br />
inklusive einer englischen Kurzversion,<br />
die Präsentation von Leitlinieninhalten<br />
bei Kongressen und anderen Veranstaltungen,<br />
bei Fortbildungs und Weiterbildungsveranstaltungen<br />
sowie in der<br />
studentischen Lehre sowie ein modulares<br />
OnlineLernprogramm (welches über<br />
die LeitlinienHomepage angeboten werden<br />
wird).<br />
Um die Aktualität der vorliegenden<br />
Leitlinie zu gewährleisten und eine Überprüfung<br />
der Empfehlungen vorzunehmen,<br />
wird eine Überarbeitung alle 4 Jahre angestrebt.<br />
Limitationen<br />
Bei der Nutzung der vorliegenden Leitlinie<br />
müssen entscheidende Limitationen<br />
berücksichtigt werden, die an verschiede
nen Punkten im Entwicklungsprozess auf<br />
die Empfehlungsformulierung eingewirkt<br />
haben können. Die wesentlichen werden<br />
im Folgenden kurz aufgelistet, wobei die<br />
Reihenfolge keine Gewichtung darstellt:<br />
F methodische Wertigkeit der unterschiedlichen<br />
Studiendesigns bei speziellen<br />
Fragestellungen (z. B. Psychotherapie),<br />
F Datenlage zur Abschätzung des NutzenRisikoVerhältnisses,<br />
F Einfluss der Publikationsqualität bei<br />
der Studienbewertung (s. auch Soltmann<br />
et al. in diesem Heft),<br />
F Einfluss unpublizierter Daten auf die<br />
Einschätzung der Evidenzlage,<br />
F möglicher Sponsoreneinfluss auf die<br />
Auswahl der in Studien untersuchten<br />
Interventionen, der veröffentlichten<br />
Ergebnisse und auf deren Interpretation,<br />
F keine unmittelbare Berücksichtigung<br />
ökonomischer Überlegungen bei der<br />
Empfehlungsformulierung.<br />
Für eine ausführlichere Diskussion muss<br />
auf die Langversion der Leitlinie verwiesen<br />
werden.<br />
Fazit und weiterführende<br />
Hinweise<br />
Neben der <strong>S3</strong>/NVL-Leitlinie Unipolare<br />
Depression [8] ist nun auch für die zweite<br />
Patientengruppe mit affektiver Störung,<br />
die Patienten mit bipolaren Störungen,<br />
eine deutschsprachige evidenz- und<br />
konsensbasierte Leitlinie zur Diagnostik<br />
und Therapie entwickelt worden. Sie soll<br />
eine Entscheidungshilfe für Patienten,<br />
Angehörigen und Therapeuten bieten<br />
und entstand im Trialog. Die Themenbereiche<br />
mit dem größten Verbesserungspotenzial<br />
in der Versorgung der Patienten<br />
werden die Schwerpunkte Trialog,<br />
Wissensvermittlung und Selbsthilfe, Diagnostik<br />
sowie Versorgung und Versorgungssystem<br />
sein. Das Konzept für die<br />
Verbreitung und Einführung der Leit linie<br />
in die Praxis beinhaltet u. a. verschiedene<br />
Publikationsversionen der Leitlinie<br />
inklusive einer englischen Kurzversion,<br />
die Präsentation von Leitlinieninhalten<br />
bei Kongressen und anderen Veranstaltungen,<br />
bei Fortbildungs- und Weiterbildungsveranstaltungen<br />
sowie in der<br />
studentischen Lehre und ein modulares<br />
Online-Lernprogramm.<br />
Sie entscheiden mit, ob unser Leitlinienprojekt<br />
erfolgreich ist. Gemäß Goethes<br />
Zitat bitten wir Sie, sich die Leitlinie anzuschauen<br />
und mit uns zu diskutieren.<br />
Die Langfassung und weiterführende<br />
Details finden Sie unter http://www.<br />
leitlinie- bipolar.de.<br />
Korrespondenzadresse<br />
Prof. Dr. Dr. M. Bauer<br />
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,<br />
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,<br />
Technische Universität Dresden<br />
Fetscherstr. 74, 01307 Dresden<br />
Michael.Bauer@uniklinikum-dresden.de<br />
Danksagung. An der Entwicklung der vorliegenden<br />
Leitlinie haben sehr viele Personen mit hohem Engagement<br />
gearbeitet, die allermeisten ehrenamtlich.<br />
Allem voran gilt unser Dank den Vorständen und Mitgliedern<br />
der DGBS und der DGPPN, die das Projekt<br />
über Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert und<br />
auch darüber hinaus in jeder Hinsicht unterstützt haben.<br />
Ohne sie wäre das Projekt nicht zu Stande gekommen.<br />
Vom Projektteam in Dresden sollen vor allem Beate<br />
Weikert, Maren Schmink, Marie Henke, Björn Jabs<br />
und Steffi Pfeiffer Erwähnung und Dank erfahren.<br />
In . Tab. 1 sind die Mitglieder der einzelnen Leitliniengruppen<br />
aufgeführt, die sich jeweils mehrfach<br />
zu Arbeitssitzungen trafen und Themen in Kleingruppen<br />
bearbeiteten.<br />
Für die Unterstützung der AWMF gilt unser besonderer<br />
Dank Frau Prof. Ina Kopp und Frau Dr. Cathleen<br />
Muche-Borowski. Das Koordinationsteam der <strong>S3</strong>-Leitlinie/Nationalen<br />
Versorgungsleitlinie Unipolare Depression<br />
(insbesondere Herr Prof. Martin Härter, Herr<br />
Prof. Matthias Berger und Herr Dipl.-Psych. Christian<br />
Klesse) und das der <strong>S3</strong>-Leitlinie Schizophrenie (insbesondere<br />
Herr Prof. Peter Falkai) haben unser Projekt<br />
von Beginn an begleitet und ihre Expertise weitergegeben.<br />
Den an der Konsensuskonferenz beteiligten<br />
Fachgesellschaften danken wir für die anteilige Übernahme<br />
der Reisekosten.<br />
Interessenkonflikte. Der korrespondierende Autor<br />
weist für sich und seine Koautoren auf folgende Beziehungen<br />
hin:<br />
Über Beziehungen zu der sie entsendenden Fachgesellschaft<br />
oder sonstigen Organisation hinaus weisen<br />
folgende Autoren auf zusätzliche Beziehungen (für die<br />
letzten 5 Jahre) hin:<br />
A.P. hat finanzielle Unterstützung für wissenschaftliche<br />
Projekte sowie Vortragshonorare bzw. Reisekosten<br />
für eigene wissenschaftliche Inhalte von AstraZeneca<br />
erhalten. T.B. hat Vortragshonorare der Firmen Lilly,<br />
Bristol-Myers-Squibb, Lundbeck, Servier und Astra-<br />
Zeneca und Kongressreiseunterstützung der Firmen<br />
Servier und AstraZeneca erhalten. T.C.B. hat Honorare<br />
für Vorträge und Beratertätigkeit der Firmen Astra-<br />
Zeneca, GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, Organon, Pfizer<br />
und Servier erhalten. T.Brä hat in Beraterfunktion<br />
für Astra Zeneca, Otsuka, BMS und Lundbeck fungiert<br />
und hat Vortragshonorare von AstraZeneca, Lundbeck,<br />
BMS, Otsuka, Pfizer und Servier erhalten. P.Bri hat Vortragshonorare<br />
bzw. Reisekosten von folgenden pharmazeutischen<br />
Firmen erhalten: AstraZeneca, Boehringer<br />
Ingelheim, Bristol-Myers-Squibb, GlaxoSmithKline,<br />
Janssen, Lilly Deutschland, Lundbeck, Pfizer, Servier.<br />
P.F. hat Vortragshonorare bzw. Reisekosten von<br />
folgenden pharmazeutischen Firmen erhalten: AstraZeneca,<br />
Lundbeck, Janssen-Cilag, BMS, Essex, GlaxoSmithKline,<br />
Lilly, Lundbeck, Pfizer, war Mitglied des<br />
Scientific Advisory Boards von: Astra Zeneca, Janssen-<br />
Cilag, Lilly, Lundbeck und hat finanzielle Unterstützung<br />
für ein wissenschaftliches Projekt von AstraZeneca<br />
erhalten. O.G. hat Vortragshonorare bzw. Reisekosten<br />
von AstraZeneca, Bristol-Myers-Squibb, Janssen-Cilag,<br />
Lilly, Lundbeck, Otsuka und Pfizer erhalten sowie<br />
finanzielle Unterstützung durch Servier für ein wissenschaftliches<br />
Projekt. T.D.M. hat an einer wissenschaftlichen<br />
Veranstaltung als Vortragender mitgewirkt, die<br />
von Bristol-Myers-Squibb finanziert wurde. F.P. hat projektbezogene<br />
Forschungsförderung von folgenden Firmen<br />
erhalten: neuroConn GmbH, Ilmenau, Aspect Medical<br />
Systems Inc., Norwood, USA und Brainsway Inc.,<br />
Jerusalem, Israel. H.S. hat Vortragshonorare bzw. Reisekosten<br />
von folgenden pharmazeutischen Firmen erhalten:<br />
AstraZeneca, Bristol-Myers-Squibb, Janssen, Lilly<br />
Deutschland, Medice, Pfizer, Servier. D.S. erhielt Vortragshonorare<br />
von Roche, Pfizer, Abbott und vom Verband<br />
forschender Arzneimittelhersteller (VfA). M.B. hat<br />
Vortragshonorare von folgenden pharmazeutischen<br />
Firmen erhalten: AstraZeneca, Bristol-Myers-Squibb/<br />
Otsuka, Esparma, GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, Lilly,<br />
Lundbeck, Pfizer, Servier. Er war Mitglied der Advisory<br />
Boards von AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers-Squibb/Otsuka,<br />
GlaxoSmithKline, Janssen-<br />
Cilag, Lilly, Lundbeck/Takeda und Servier. I.K, C.M-B.,<br />
D.G., R.G., H.G., K.H.M. haben keine weiteren potentiellen<br />
Interessenkonflikte.<br />
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Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong> |<br />
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586 | Der Nervenarzt 5 · <strong>2012</strong><br />
Buchbesprechungen<br />
M. Linden (Hrsg.)<br />
Therapeutisches Milieu<br />
Healing Environment in medizinischer<br />
Rehabilitation und stationärer Behandlung<br />
Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft<br />
2011, (ISBN 978-3-941468-32-0),<br />
Broschiert, 39.00 EUR<br />
Der Mensch wird im positiven wie im negativen<br />
Sinne durch seine räumliche wie soziale<br />
Umgebung beeinflusst. Trotz dieser unmittelbar<br />
einleuchtenden – und insbesondere in<br />
der Psychiatrie weit zurück reichenden –<br />
Erkenntnis, auf der das Konzept des therapeutischen<br />
Milieus fußt, findet sie in der Konzeption<br />
von medizinischer Versorgung relativ<br />
wenig Beachtung.<br />
Während für den Bereich der Jugendarbeit,<br />
der Gerontologie oder der Psychiatrie zahlreiche<br />
Arbeiten zum Thema vorgelegt wurden,<br />
mangelt es bislang an einer umfassenden<br />
Beschäftigung mit den Milieubedingungen<br />
in der medizinischen Rehabilitation und<br />
stationären Behandlung. Das von Michael<br />
Linden herausgegebene Sammelwerk füllt<br />
diese Lücke.<br />
In den einleitenden Beiträgen wird der Blick<br />
auf die grundlegende Bedeutung und Funktion<br />
des therapeutischen Milieus sowie auf<br />
einige seiner zentralen Komponenten wie<br />
etwa die Rolle der Mitpatienten, die architektonische<br />
Ausgestaltung oder die klimatischen<br />
Bedingungen gerichtet. Im Folgenden geht<br />
es am Beispiel der Behandlung von Patienten<br />
nach einem Herzinfarkt bzw. von Patienten<br />
mit einer Alkoholabhängigkeit darum, zu<br />
zeigen, dass der Erfolg einer Rehabilitationsmaßnahme<br />
nicht nur durch die Wahl des geeigneten<br />
(stationären, teilstationären, ambulanten)<br />
Behandlungssettings, sondern auch<br />
durch einen möglichst nahtlosen Übergang<br />
zwischen verschiedenen Settings beeinflusst<br />
wird. Weitere Beiträge behandeln die Indikationsstellung<br />
für eine teilstationäre Rehabilitationsbehandlung,<br />
die Bedeutung mobiler<br />
Rehabilitationsmaßnahmen insbesondere für<br />
ältere Patienten in ihrem häuslichen Umfeld,<br />
die hausärztliche Indikation zur Einleitung<br />
einer stationären Rehabilitationsmaßnahme<br />
sowie die Frage nach der Entwicklung sinnvoller<br />
Indikationskriterien für eine Krankenhaus-<br />
bzw. stationäre Rehabilitationsbehandlung.<br />
Die beiden aus der Deutschen Rentenversicherung<br />
stammenden Beiträge geben<br />
einen guten Einblick in die dort praktizierten<br />
Verfahren zur Auswahl eines geeigneten<br />
Rehabilitationssettings durch den Sozialmedizinischen<br />
Dienst und stellen die Verfahren zur<br />
Qualitätssicherung in Form spezieller Visitationsverfahren<br />
vor.<br />
Abgerundet wird der Sammelband durch<br />
Befunde aus der Versorgungsforschung zu<br />
einem Patientenklassifikationssystem, das die<br />
Differenzierung des speziellen Behandlungsbedarfs<br />
von Patienten erlaubt und (zukünftig)<br />
für eine bedarfsbasierte Klinikdifferenzierung<br />
genutzt werden kann. Schließlich schärft ein<br />
gesundheitsökonomischer Beitrag den Blick<br />
für die Notwendigkeit ökonomischer Evaluationsstudien.<br />
Das Buch wendet sich, wie der Herausgeber<br />
einleitend erklärt, ebenso an Therapeuten<br />
und Klinkbetreiber wie an jene Personengruppen,<br />
die mit der Patientenzuweisung<br />
beschäftigt sind und nicht zuletzt an die<br />
Kostenträger im Gesundheitssystem. Das<br />
Sammelwerk bündelt die vielfältigen, relevanten<br />
Facetten und trägt mit einer gelungenen<br />
Mischung aus konzeptionell-theoretischen<br />
wie praxisbezogenen Beiträgen viel zum Verständnis<br />
der Wirkungen des therapeutischen<br />
Milieus allgemein und speziell der Notwendigkeit<br />
einer theorie- und evidenzbasierten<br />
Settingauswahl bei – jenseits manch undifferenziert<br />
vorgetragener Parole „ambulant vor<br />
stationär“. Wenn auch aus Sicht der Rezensenten<br />
die Diskussion um die Verwendungsgeschichte<br />
des Begriffs „therapeutisches Milieu“<br />
und dessen Abgrenzung etwa von der Milieutherapie<br />
oder der therapeutischen Gemeinschaft<br />
ebenso knapp ausfällt wie die Frage<br />
nach dem Einfluss der professionellen Teams<br />
auf die Patienten, handelt es sich zusammengefasst<br />
um ein sehr empfehlenswertes<br />
Buch für einen breiten, an der medizinischen<br />
Rehabilitation und stationären Behandlung<br />
interessierten Leserkreis.<br />
S. Krumm, T. Becker (Günzburg)