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Ludwigshafen, Januar 2010<br />
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8 Sonderausgabe<br />
Rückblicke und Aussichten<br />
von Seiten des Projektträgers<br />
Der Prot. Kirchenbezirk Ludwigshafen ist<br />
der Projektträger von BeobAchtung und<br />
ErziehungsPartnerschaft und wird in dieser<br />
Funktion vertreten durch Alida Zaanen<br />
und Jürgen Leuz.<br />
Den Anfang bildete eine gemeinsame Sitzung<br />
bei der Stadt Ludwigshafen im Mai<br />
2005, bei der neben uns auch Vertreter<br />
der BASF SE und der katholischen Trägerorganisation<br />
anwesend waren. Die<br />
BASF SE war im Vorfeld auf die Stadt<br />
Ludwigshafen zugekommen und hatte ihre<br />
Absicht bekundet, eine Offensive Bildung<br />
im Elementarbereich zu starten. Bei dieser<br />
Gelegenheit wurde der BASF SE bewusst,<br />
dass es neben kommunalen Kindertagesstätten<br />
auch Einrichtungen der freien Träger<br />
gibt, die immerhin die Mehrzahl in<br />
Ludwigshafen stellen.<br />
Nach dem ersten „Beschnuppern“ wurde<br />
es relativ schnell konkret, es mussten Projekte<br />
entwickelt werden, die den Vorstellungen<br />
der BASF SE, aber auch der jeweiligen<br />
Trägerorganisationen, den Bildungs-<br />
und Erziehungsempfehlungen des Landes<br />
<strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong>, aber auch dem aktuellen<br />
bildungspolitischen Zeitgeist entsprachen.<br />
Kein leichtes Unterfangen, vor allem konnte<br />
zu diesem Zeitpunkt noch niemand abschätzen,<br />
welche Dimensionen die Offensive<br />
Bildung annehmen würde. Zur gleichen<br />
Zeit wurde die konstruktive Arbeit<br />
aufgenommen, neben dem operativen<br />
Geschäft ein strategisches Konzept zu<br />
entwickeln. Hierbei mussten viele Hürden,<br />
Ängste, Verständnisschwierigkeiten und<br />
Weltanschauungen überwunden werden.<br />
Dieser Prozess hat dann auch nahezu 2 ½<br />
Jahre gedauert und ist bis heute in manchen<br />
Teilen noch nicht abgeschlossen.<br />
Unabhängig davon wurden letztendlich<br />
sieben Projekte ausgewählt und auch hier<br />
gab es im Vorfeld viele Stolpersteine aus<br />
dem Weg zu räumen. Die Projekte waren<br />
teilweise schon angelaufen, die ersten im<br />
2. Halbjahr 2005, denn die Zeit lief schlicht<br />
und ergreifend davon.<br />
Fortsetzung: Seite 2<br />
Themen<br />
Der Fachtag in Schnappschüssen<br />
Susanne Viernickel: BeobAchtung und<br />
ErziehungsPartnerschaft: Resonanzen<br />
Hans Rudolf Leu: Bildungs- und Lerngeschichten<br />
heute: Erfahrungen und<br />
Entwicklungsperspektiven<br />
Dörte Weltzien: Momente intensiver Interaktion<br />
Themen der Gesprächsrunden<br />
Lesetipps und Links<br />
Ansprechpartner
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Von evangelischer Seite haben wir in einem<br />
demokratischen Prozess und nach<br />
Kenntnis der Projektinhalte der anderen<br />
Kooperationspartner zusammen mit den<br />
Kindertagesstättenleitungen uns u. a. für<br />
das Themenfeld BeobAchtung und ErziehungsPartnerschaft<br />
sowie Kreativität entschieden.<br />
Aufgrund guter Kontakte unserer<br />
Fachberatung Alida Zaanen konnte ein<br />
renommiertes Institut gefunden werden,<br />
das letztendlich mit uns gemeinsam den<br />
Projektauftrag entwickelte. Daneben galt<br />
für alle 7 Projekte, dass eine wissenschaftliche<br />
Begleitung und Auswertung erfolgen<br />
soll. Ein weiterer Meilenstein war die Verabschiedung<br />
des Projektbudgets, das in<br />
einem wahren Verhandlungsmarathon für<br />
die gesamte Projektlaufzeit dezidiert dargestellt<br />
und berechnet werden musste.<br />
Ebenso musste die Vertretungsregelung<br />
der Fachkräfte in den Einrichtungen zufriedenstellend<br />
auf den Weg gebracht<br />
werden, eine schier unlösbare Angelegenheit,<br />
die von Jörg-Rainer Grottker für die<br />
evangelische Seite übernommen wurde.<br />
Neben der Festlegung der Standards und<br />
der Kriterien mussten auch die dazugehörigen<br />
Gelder hart verhandelt werden.<br />
Eine Reihe von Aktivitäten, Events, Highlights,<br />
Ereignissen und Weiterentwicklungen<br />
haben sich aufgezeigt, exemplarisch<br />
hier genannt die Fachtage der einzelnen<br />
Projekte, Konsultationskindertagesstätten<br />
Offensive Bildung, die Verleihung des<br />
Deutschen Kinderpreises und die Verleihung<br />
der Schirmherrschaft durch die<br />
Unesco und vieles mehr. Einzigartig auch<br />
in der Gestalt, dass es eine solche trägerübergreifende<br />
Zusammenarbeit mit<br />
Trägern/-organisationen und einem Wirtschaftunternehmen<br />
bisher in der Bundesrepublik<br />
nicht gegeben hat und Ansätze<br />
davon im Vorfeld gescheitert sind.<br />
Ungewöhnlich aber auch, dass innerhalb<br />
einer politischen Kommune ein qualitativ<br />
absolut hochwertiges Bildungsprogramm<br />
trägerübergreifend in 27 Kindertagesstätten<br />
durchgeführt wurde. Die Hauptlast<br />
hierbei lag neben allen Verantwortlichen<br />
der Offensive Bildung vor allem bei den<br />
Kindertagesstätten. Die pädagogischen<br />
Fachkräfte haben Unzähliges geleistet und<br />
dadurch letztendlich den Begriff „Qualität<br />
in Kindertagesstätten“ für Ludwigshafen<br />
2<br />
und von evangelischer Seite auch für<br />
Altrip neu definiert.<br />
Die Offensive Bildung hat mittlerweile ein<br />
Interesse erreicht, das weit über ein normales<br />
Maß hinaus geht. Gerade deshalb<br />
gilt unser intensives Streben, die Nachhaltigkeit<br />
des Projektes über das Ende der<br />
Projektlaufzeit hinaus trägerübergreifend<br />
zu sichern. Viele Grundsteine sind hierfür<br />
schon während der Projektphase gelegt<br />
worden. Das allein reicht aber nicht aus,<br />
wenn man einen gewissen Standard an<br />
Qualität sichern will. Es sind weitere Anstrengungen<br />
und Überlegungen notwendig,<br />
um hier für alle Beteiligten eine zufriedenstellende<br />
Lösung zu finden. Diesbezügliche<br />
Verhandlungen mit allen Kooperationspartnern<br />
finden seit längerer Zeit<br />
statt und es gilt auszuloten, was aufgrund<br />
jeweiliger finanzieller Möglichkeiten tatsächlich<br />
realisierbar ist. Auch wir als<br />
evangelische Trägerorganisation müssen<br />
hier klare Zeichen und Signale setzen, unter<br />
Berücksichtigung der wirtschaftlichen<br />
und finanziellen Zwänge.<br />
Zum Schluss möchten wir uns als Projektträger<br />
bei all denjenigen bedanken, die mit<br />
uns in der gemeinsamen Verantwortung<br />
standen. Es hat sich gezeigt, dass der hohe<br />
gesetzte Anspruch durch eine fundierte<br />
und qualitativ hochwertige Zusammenarbeit<br />
die Basis für die gemeinsame Projektarbeit<br />
war. Des Weiteren möchten wir aber<br />
auch allen Kindertagesstätten, Trägern<br />
und Trägerorganisationen, Eltern, Interessierten<br />
und Unterstützenden und natürlich<br />
ganz besonders allen Kindern für Ihr Interesse<br />
und Ihre konstruktive Mitarbeit danken.<br />
Wir konnten nur den Grundstein legen<br />
und am Aufbau behilflich sein. Die<br />
Vollendung des „Bauwerks“ lag letztendlich<br />
in ihrer Verantwortung.<br />
Dafür unser ganz persönlicher und herzlicher<br />
Dank.<br />
Ihre Ihr<br />
Alida Zaanen Jürgen Leuz
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Im Plenum<br />
Vorträge<br />
3<br />
Pausengespräche<br />
In den<br />
Gesprächsrunden
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Susanne Viernickel<br />
BeobAchtung und<br />
ErziehungsPartnerschaft:<br />
Resonanzen<br />
Beobachten und Dokumentieren sind in<br />
der Wahrnehmung pädagogischer Fachkräfte<br />
als Fachaufgaben von hoher Bedeutung<br />
präsent, als Herausforderungen, die<br />
jetzt stärker als vielleicht vor einigen Jahren<br />
an sie gerichtet sind und für die sie<br />
sich gut rüsten möchten. Gleichzeitig<br />
werden Beobachtungs- und Dokumentationsaufgaben<br />
häufig als Anforderungen erlebt,<br />
die zusätzlich zur sonstigen Arbeit<br />
zu leisten sind. In der Wahrnehmung vieler<br />
Fachkräfte führt dieser Mehraufwand dazu,<br />
dass die „eigentliche“ pädagogische<br />
Arbeit mit den Kindern verringert wird. Die<br />
Einführung von systematischer Beobachtung<br />
und Dokumentation – so könnte man<br />
zugespitzt formulieren – geht auf Kosten<br />
der direkten Beschäftigung und Auseinandersetzung<br />
mit den Kindern. Die Zeit, die<br />
für Beobachtung und Dokumentation aufgewendet<br />
wird, geht den Kindern quasi<br />
verloren.<br />
Es ist nicht nur schade, sondern geradezu<br />
gefährlich, wenn Beobachtung und pädagogisches<br />
Handeln im Kontakt mit den<br />
Kindern als etwas Gegensätzliches empfunden<br />
werden. Wenn Beobachtung dazu<br />
führen würde, dass der Kontakt, womöglich<br />
die Beziehung zu den Kindern darunter<br />
leidet, dann hat sie ihr Ziel und ihre<br />
Funktion verfehlt. Beobachtung, wie sie im<br />
Projekt BeobAchtung und Erziehungs-<br />
Partnerschaft verstanden wird, steht nicht<br />
in Konkurrenz zur Interaktion mit den Kindern,<br />
sondern kann und sollte diese bereichern<br />
und intensivieren.<br />
Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />
der Wirklogiken von stärken- und<br />
defizitorientierten Beobachtungsverfahren<br />
Stärkenorientierte Beobachtungsansätze<br />
zielen darauf, den „pädagogischen Blick“<br />
dahingehend zu schulen und zu differenzieren,<br />
dass einzelne Kinder und ihre ak-<br />
4<br />
tuellen Interessen sowie ihre individuellen<br />
Formen und Möglichkeiten, sich der Welt<br />
zu nähern und sich Wissen und Können<br />
anzueignen, angemessener wahrgenommen<br />
und besser verstanden werden können.<br />
Im Fokus steht die Wahrnehmung der<br />
kindlichen Stärken und ihres Könnensrepertoires<br />
sowie der Lerndispositionen, die<br />
sie besonders intensiv nutzen und der Aktivitäten,<br />
denen sie sich besonders intensiv<br />
und engagiert widmen (vgl. Viernickel,<br />
2009). Auf dieser Basis können dann<br />
sinnvolle Entscheidungen darüber getroffen<br />
werden, was man Kindern im pädagogischen<br />
Setting anbietet, damit die Fähigkeit<br />
der Kinder, sich zu bilden, angemessen<br />
begleitet, unterstützt und herausgefordert<br />
wird.<br />
Diese Wirkung bzw. diese Beziehung zwischen<br />
Beobachtung und pädagogischem<br />
Handeln lässt sich schematisch wie folgt<br />
darstellen:<br />
Abb. 1: Lineare Wirkannahme stärkenorientierter<br />
Beobachtungsansätze<br />
Eine etwas andere Wirklogik liegt denjenigen<br />
Beobachtungsverfahren zu Grunde,<br />
bei denen die Aufdeckung von Defiziten<br />
oder Verzögerungen im Fokus steht. Die<br />
Rolle oder Funktion der Pädagogin/des<br />
Pädagogen ist es hier, die vermeintlich erkannten<br />
Schwächen zu „bearbeiten“, dem<br />
Kind also gezielte Unterstützung oder Übungsmöglichkeiten<br />
anzubieten, um seine<br />
Fähigkeiten zu verbessern oder Änderungen<br />
im Verhalten herbeizuführen. Die Logik<br />
dieser Form der Beobachtung würde<br />
sich schematisch dann so abbilden:
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Abb. 2: Lineare Wirkannahme defizitorientierter<br />
Beobachtungsansätze<br />
In beiden Fällen wird Beobachtung also zu<br />
einer Grundlage pädagogischer Entscheidungen<br />
und pädagogischen Handelns.<br />
Vertreter beider Vorgehensweisen können<br />
für sich reklamieren, zuerst genau hingesehen<br />
zu haben, bevor es zum Handeln<br />
kommt. Beide haben sicherlich das Ziel,<br />
das jeweilige Kind in seiner Entwicklung<br />
zu fördern. Dennoch gibt es fundamentale<br />
Unterschiede zwischen diesen beiden Herangehensweisen.<br />
Diese Unterschiede liegen<br />
zum einen darin, welche Botschaften<br />
wir Kindern über ihre Person vermitteln,<br />
und zum anderen darin, wie die Rollen von<br />
Erwachsenen und Kind definiert sind und<br />
daraus folgend, wie die Beziehung – die<br />
pädagogische Beziehung – zwischen Erwachsenem<br />
und Kind sich formieren wird.<br />
Pädagogisches Handeln erzeugt<br />
Resonanzen<br />
Jede Pädagogik wird gespeist durch die<br />
Überzeugung, dass unser Verhalten, das,<br />
was wir im Kontakt mit Kindern tun, was<br />
wir sagen, wie wir es sagen, welche Materialien<br />
wir anbieten und welche Regeln wir<br />
aufstellen, eine bestimmte Reaktion von<br />
Seiten des Kindes auslöst, eine bestimmte<br />
Wirkung hat. Diese Wirkung bezieht sich<br />
zum einen auf das Gegenüber, zum anderen<br />
aber auch auf die Beziehung zwischen<br />
den Beteiligten. Es wäre allerdings eine<br />
gleichermaßen naive wie technokratische<br />
Vorstellung, dass Pädagoginnen und Pädagogen<br />
ihr Verhalten gegenüber Kindern<br />
zu jedem Zeitpunkt gezielt einsetzen und<br />
punktgenau steuern können. Ebenso abwegig<br />
ist die Annahme, dass direkte und<br />
lineare Beziehungen zwischen dem eige-<br />
5<br />
nen Verhalten – sozusagen dem pädagogischen<br />
„Input“ – und den Reaktionen und<br />
Wirkungen bei den Kindern bestünden.<br />
Wir gehen heute vielmehr davon aus, dass<br />
Kinder das, was sie wahrnehmen, erleben<br />
und erfahren, noch einmal aktiven und individuellen<br />
Verarbeitungsprozessen unterziehen<br />
(vgl. Gopnik, Meltzoff & Kuhl,<br />
2007), und dass es nicht nur geplante und<br />
beabsichtigte Wirkungen pädagogischen<br />
Handelns gibt, sondern mindestens ebenso<br />
häufig Reaktionen, die unbeabsichtigt,<br />
nicht vorhersehbar, unerwartet und oft genug<br />
auch nicht sofort ersichtlich sind (vgl.<br />
Lindemann, 2006, S. 151ff.).<br />
Um auch sprachlich zu markieren, dass es<br />
im sozialen Miteinander mit anderen Menschen<br />
– Kindern und natürlich auch Erwachsenen,<br />
z.B. den Eltern der betreuten<br />
Kinder – um komplexe, nicht lineare, sich<br />
wechselseitig beeinflussende Prozesse<br />
geht, soll in diesem Beitrag anstelle technokratisch<br />
gefärbter Begriffe wie „Wirkungen“<br />
oder „Effekte“ der Begriff der Resonanzen<br />
genutzt werden. Er kommt in verschiedenen<br />
Wissenschaftsdisziplinen vor 1 .<br />
Für die Pädagogik belege ich mit dem<br />
Begriff der Resonanzen die Impulse –<br />
selbst- und fremdbezogene Gefühle, Gedanken,<br />
Assoziationen, Handlungsbereitschaften<br />
– umschreiben, die das pädagogische<br />
und hier vor allem das kommunikative<br />
Handeln der Pädagogin bei Kindern<br />
(aber auch bei Eltern und beliebigen anderen<br />
Interaktionspartnern) auszulösen vermag.<br />
Genauso entstehen Resonanzen natürlich<br />
auch in anderer Richtung; das Handeln<br />
der Kinder wirkt auf das Erleben und<br />
die Reaktionen der Erwachsenen genau<br />
so wie umgekehrt.<br />
1 In der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns<br />
bezeichnet er ganz generell die „Übertragungsmöglichkeit<br />
(für Prozesse) zwischen miteinander<br />
verbundenen Systemen“. In der Ästhetik postuliert<br />
die Resonanztheorie (auch: Einfühlungstheorie),<br />
dass zum ästhetischen Genuss unabdingbar<br />
dazu gehört, das eigene Erleben des Wahrnehmenden<br />
in die wahrgenommenen Objekte hinein zu projizieren,<br />
sozusagen sinnliche Wahrnehmungen mit<br />
seelischem Gehalt zu erfüllen. Den anderen, das<br />
Gegenüber, kann man über die durch ihn ausgelösten<br />
Empfindungen erkennen. Schließlich werden als<br />
Resonanz in der Physik Vorgänge bezeichnet, bei<br />
denen ein schwingungs-fähiges System mit seiner<br />
Eigenfrequenz durch Energiezufuhr angeregt wird.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Ein erweitertes Resonanzmodell<br />
stärken- und dialogorientierter Beobachtung<br />
Wendet man den Begriff der Resonanzen<br />
auf die eben entworfenen Modelle der Beziehung<br />
zwischen Beobachtung und kindlicher<br />
Förderung an, fällt auf, dass diese<br />
verkürzt und somit ergänzungsbedürftig<br />
sind. Die erste Verkürzung liegt darin,<br />
dass Beobachtung einseitig als Handeln<br />
des Pädagogen beschrieben wird. Der<br />
Pädagoge beobachtet, zieht seine Schlüsse,<br />
trifft darauf basierend Entscheidungen<br />
und trägt diese an das Kind heran. Beobachtung<br />
in dieser Form ist nichtkommunikativ.<br />
Damit ist nicht gemeint,<br />
dass durch eine solche Form der Beobachtung<br />
nichts an das Kind heran getragen<br />
oder kommuniziert wird; aber die<br />
Kommunikation, der Dialog sind keine<br />
Notwendigkeiten, keine unabdingbaren<br />
Elemente dieses Verständnisses von Beobachtung<br />
und sie werden nicht bewusst<br />
eingesetzt. Gerade die Kommunikation<br />
und der Austausch mit dem Kind sind aber<br />
wichtige Voraussetzungen, um Beobachtung<br />
und Dokumentation nicht als konkurrierende<br />
Zusatzaufgabe zu empfinden,<br />
sondern als immanenten Bestandteil des<br />
pädagogischen Alltags nutzbar zu machen.<br />
Zumindest das Modell der stärkenorientierten<br />
Beobachtung muss um die<br />
Komponente des Dialogs erweitert werden.<br />
Die zweite Verkürzung liegt in der Annahme<br />
eines eindimensionalen und linearen<br />
Zusammenhangs zwischen pädagogischem<br />
Handeln und „Ergebnissen“ bei<br />
Kindern. Es handelt sich um klassische<br />
„Schrittfolgenmodelle“: auf einen Impuls<br />
von Seiten des Pädagogen folgt eine Wirkung,<br />
ein Effekt bei den Kindern. Tatsächlich<br />
entstehen jedoch Wirkungen oder Resonanzen<br />
nicht erst zum Schluss dieser<br />
Kette, sondern in jeder einzelnen Phase,<br />
und sie wirken wiederum auf den Pädagogen<br />
zurück. Es entsteht eine Wechselwirkung,<br />
die auch die Beziehung zwischen<br />
den Beteiligten beeinflusst. So formulierte<br />
Robert Hinde, ein bekannter Ethologe und<br />
Friedensforscher an der University of<br />
Cambridge, bereits 1989: "Beim Studium<br />
von Beziehungen können wir getrost von<br />
der Annahme ausgehen, dass jede Interaktion<br />
den Gang der Beziehung beein-<br />
6<br />
flusst, und sei es auch nur, indem sie den<br />
Status quo bestätigt" (Hinde, zitiert nach<br />
Damon, 1989, S. 32). Beziehungen entstehen<br />
also in ihrer Einzigartigkeit aus einem<br />
bestimmten Muster sozialer Interaktionen.<br />
Die Modelle müssen deshalb dahingehend<br />
erweitert werden, dass an jedem<br />
Punkt des Beobachtungsprozesses – und<br />
nicht erst am Schluss – Resonanzen entstehen.<br />
Das Entstehen von Resonanzen<br />
ist dabei unabhängig davon, ob wir mit<br />
Kindern an diesen Stellen in den Dialog<br />
treten oder nicht. Aber die Qualität der<br />
Resonanzen wird sehr unterschiedlich<br />
sein, weil durch die Entscheidung, mit<br />
Kindern zu kommunizieren oder es nicht<br />
zu tun, bereits ganz unterschiedliche Botschaften<br />
gesendet werden und in sehr unterschiedlichem<br />
Ausmaß eine Verbindung<br />
mit dem Kind eingegangen wird.<br />
Im Verlauf des Projekts BeobAchtung und<br />
ErziehungsPartnerschaft haben wir genau<br />
hierfür immer stärkere Hinweise gefunden.<br />
Ressourcenorientierte Beobachtung, wie<br />
sie auf der Grundlage der Bildungs- und<br />
Lerngeschichten eingeführt wurde, entfaltet<br />
auch und gerade über die Interaktion<br />
und den Dialog ihren entwicklungs- und<br />
bildungsförderlichen Wert. Tatsächlich<br />
wird dies im Ansatz der „Bildungs- und<br />
Lerngeschichten“ auch besonders betont.<br />
Beobachtung ist dann aber nicht mehr nur<br />
eine Sache des Pädagogen. Sie ist Ausgangspunkt<br />
für den beiderseitig von Interesse<br />
getragenen Austausch, bietet Gesprächsanlässe<br />
und Gesprächsthemen.<br />
Es kommt zu einer direkten Verbindung<br />
zwischen Beobachtung, pädagogischer Interaktion<br />
und der Gestaltung der pädagogischen<br />
Beziehung. Die Resonanzmöglichkeiten<br />
werden hierdurch erweitert, und<br />
vor allem: sie werden explizit und aktiv<br />
genutzt und sind nicht nur indirekt oder unterschwellig<br />
wirksam.<br />
Damit muss das erste Modell der stärkenorientierten<br />
Beobachtungsansätze in dreierlei<br />
Hinsicht verändert werden (vgl. Abb.<br />
3). Erstens muss der Austausch mit den<br />
Kindern zu den einzelnen Zeitpunkten integriert<br />
werden. Zweitens können Wirkungen<br />
oder Resonanzen nicht nur an das<br />
Ende der Kette verortet werden, sondern<br />
müssen zu jedem einzelnen Zeitpunkt betrachtet<br />
werden. Schließlich beziehen sich
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
drittens Resonanzen nicht nur auf die Anregung<br />
der kindlichen Selbstbildungspotenziale,<br />
sondern ebenso auf die kindliche<br />
Persönlichkeitsbildung und auf die Formierung<br />
der Beziehung zwischen Pädagogin<br />
und Kind. Zwischen diesen drei Elementen<br />
bestehen enge Wechselwirkungen.<br />
Abb. 3: Erweitertes Resonanzmodell stärken-<br />
und dialogorientierter Beobachtung<br />
Resonanzen stärken- und dialogorientierter<br />
Beobachtungspraxis<br />
Gemäß dieses ergänzten Modells kommt<br />
schon zu Beginn einer Beobachtung ein<br />
neues dialogisches Element ins Spiel: Das<br />
Kind wird vorab gefragt, ob es ihm recht<br />
ist, beobachtet zu werden. Welche Resonanzen<br />
können wir von dieser kleinen Änderung<br />
im Prozessablauf auf den Ebenen<br />
der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung,<br />
der Formierung der Beziehung zwischen<br />
Kind und Pädagogin und der Aktivierung<br />
der kindlichen Selbstbildungspotenziale<br />
erwarten?<br />
Zum einen erfährt das Kind, dass seine<br />
persönliche Integrität geachtet wird: „Ich<br />
möchte genau hinschauen – ist dir das<br />
recht?“ Es hört die Botschaft: „Du kannst<br />
entscheiden, was mit dir passiert“. Es erlebt<br />
Kontrolle darüber, was unter seiner<br />
Beteiligung geschieht. Daraus erwachsen<br />
Gefühle der Selbstachtung und der Aufbau<br />
interner Kontrollüberzeugungen. Zweitens<br />
überlässt die Pädagogin dem Kind die<br />
Entscheidung, ob beobachtet wird oder<br />
nicht. Sie bringt damit ein bestimmtes Definitionselement<br />
in die Beziehung ein. Es<br />
ist nicht allein der Erwachsene, der in die-<br />
7<br />
ser Beziehung die Entscheidungsmacht<br />
hat. Die Beziehung wird dadurch von ihrer<br />
Balance her symmetrischer. Ein weiteres<br />
Definitionselement besteht in der Achtung,<br />
dem Respekt vor der kindlichen Privatsphäre.<br />
Die Pädagogin erkennt an, dass<br />
es in dieser Beziehung Grenzen gibt; sie<br />
haben etwas mit dem Recht des Einzelnen<br />
zu tun, selber zu entscheiden, was ich von<br />
mir preisgeben möchte und zu welchem<br />
Zeitpunkt ich dies tue (oder auch nicht).<br />
Schließlich kann drittens angenommen<br />
werden, dass durch die Frage der Pädagogin<br />
die Aufmerksamkeit des Kindes für<br />
seine eigenen Aktivitäten sensibilisiert wird<br />
und es eventuell damit beginnt, sein eigenes<br />
Handeln bewusster wahrzunehmen<br />
und zu reflektieren.<br />
Auch im weiteren Verlauf des Beobachtungsprozesses<br />
entstehen sehr unterschiedliche<br />
Resonanzen in Abhängigkeit<br />
vom gewählten Fokus der Beobachtung<br />
und der Entscheidung, über die Beobachtungen<br />
in den Austausch mit den Kindern<br />
zu gehen. Liegt der Beobachtungsfokus<br />
auf den Stärken, Lerndispositionen und<br />
engagierten Aktivitäten des Kindes und<br />
wird hierüber der Austausch mit dem Kind<br />
gesucht, wird es sich in seinen Lebensäußerungen<br />
und Interessen ernst genommen<br />
und geachtet fühlen, was in das eigene<br />
Selbstbild integriert wird und zu Selbstachtung<br />
führt. Es erhält bestätigt, dass das,<br />
was es selber interessant und spannend<br />
findet, auch von der ihm wichtigen Bezugsperson<br />
in der Kindertagesstätte als<br />
wichtig erachtet wird. Diese Bestätigung<br />
führt zu einer Steigerung des Selbstvertrauens<br />
und des Kohärenzempfindens<br />
(„ich kann meinen eigenen Impulsen,<br />
Empfindungen und Wahrnehmungen trauen“).<br />
Wenn die Erzieherin aufmerksam<br />
zuhört, was das Kind zu erzählen, zu ergänzen<br />
oder zu korrigieren hat, erlebt sich<br />
das Kind als Experte, der anderen seine<br />
Handlungen, Theorien, Entscheidungen<br />
oder Strategien erläutert. Diese Erfahrung<br />
wird beim Kind als Kompetenzerleben<br />
verankert werden und es wird Selbstwirksamkeitsüberzeugungen<br />
ausbilden, also<br />
Annahmen über sich selbst als eine Person,<br />
die ihre selbst gesetzten Vorhaben<br />
aus eigener Kraft umsetzen und ihre Ziele<br />
erreichen kann.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Entscheidend für die Qualität der Beziehung<br />
zwischen Erzieherin und Kind ist im<br />
gesamten Beobachtungsprozess die Frage<br />
nach der Definitions- und Urteilsmacht<br />
über die Situation, aber auch über das,<br />
was das Kind tut. Bei offenen stärkenorientierten<br />
Verfahren ist diese Definitionsmacht<br />
(zumindest anteilig auch) beim<br />
Kind: sein Handeln und seine Themen<br />
sind Ausgangspunkt der Beobachtungen,<br />
und es wird in die Interpretation des<br />
Wahrgenommenen aktiv mit einbezogen.<br />
Das, was das Kind zu der Sache zu sagen<br />
hat, ist genauso wichtig oder wichtiger als<br />
das, was der Erwachsene meint gesehen<br />
zu haben. Dies stärkt die Symmetrie der<br />
Beziehung. Durch die Konzentration auf<br />
die Stärken und Interessen des Kindes<br />
werden positive Gefühle dem Kind gegenüber<br />
ausgelöst; diese werden in der Regel<br />
vom Kind gespiegelt; gegenseitige Sympathie<br />
und ein Wohlfühlen in der Nähe des<br />
anderen werden sich einstellen. Bleiben<br />
an dieser Stelle Dialoge mit dem Kind aus,<br />
erfährt das Kind: es ist der Erwachsene,<br />
der die Definitionsmacht hat. Er bestimmt,<br />
worauf bei mir besonders zu achten ist,<br />
wobei es unwichtig ist, womit ich mich gerade<br />
auseinandersetze oder identifiziere.<br />
Und nicht nur das: der Erwachsene bestimmt<br />
nicht nur, wo genau hinzuschauen<br />
ist, er weiß auch, wie ich sein sollte. Dies<br />
kann auf der individuellen Ebene zu Unsicherheit<br />
führen. Auf der Beziehungsebene<br />
verstärkt man hiermit die Asymmetrie und<br />
erzeugt Abhängigkeit.<br />
Selbstbildungspotenziale der Kinder werden<br />
durch dialogorientiertes Beobachten<br />
vor allem deshalb unterstützt, weil das<br />
Kind herausgefordert ist, rückblickend einer<br />
sprachlich-erzählerischen Rekonstruktion<br />
von Sinnzusammenhängen zu folgen<br />
(nämlich den Beobachtungen der Erzieherin)<br />
bzw. diese selbst mit sprachlichen Mitteln<br />
zu generieren. Die Bildungserfahrung<br />
besteht neben der Stärkung der sprachlichen<br />
Kompetenz darin, dass das Kind erlebt,<br />
dass man sich gemeinsam einer<br />
(subjektiven) Wahrheit annähern kann,<br />
dass es sich also an einer gemeinsamen<br />
Konstruktion geteilter Bedeutungen beteiligen<br />
kann. Als besonders förderlich hat<br />
sich in empirischen Studien das „gemeinsame<br />
anhaltende Nachdenken“ („sustained<br />
shared thinking“, Siraj-Blatchford,<br />
8<br />
2007) von Kindern und Erwachsenen erwiesen,<br />
das entstehen kann, wenn sich<br />
Erwachsene wirklich für die Ideen und Ansichten<br />
der Kinder interessieren, dies<br />
durch offene Nachfragen deutlich machen<br />
und sich darauf einlassen, mit ihnen gemeinsam<br />
an der Lösung einer Frage oder<br />
eines Problems zu arbeiten, Aktivitäten zu<br />
reflektieren und zu bewerten oder auch<br />
sich Geschichten auszudenken und Gedankenfäden<br />
„weiter zu spinnen“. Der<br />
Dialog über die Aktivitäten und Anliegen<br />
wird das Kind anregen, sich bewusster<br />
über die eigenen Lernprozesse und Lernstrategien<br />
zu werden, insbesondere wenn<br />
er mit echtem Interesse und Offenheit von<br />
Seiten des Erwachsenen geführt wird.<br />
Dieser Prozess wird in der Fachliteratur<br />
als „Lernen lernen“ oder als „lernmethodische<br />
Kompetenz“ bezeichnet.<br />
Zusammenfassung<br />
Pädagogische Beobachtung steht nicht im<br />
Gegensatz zur so genannten „Arbeit am<br />
Kind“ (nebenher bemerkt: Was für eine<br />
merkwürdige Begrifflichkeit, die suggeriert,<br />
man hätte es mit einem formbaren Objekt<br />
zu tun!). Sie benötigt nicht nur den Austausch,<br />
um detailliertere Informationen zu<br />
erhalten und Fehlschlüsse zu vermeiden,<br />
sondern sie intensiviert und bereichert den<br />
Kontakt mit den Kindern. Dazu ist es jedoch<br />
unabdingbar, dass die Bereitschaft<br />
besteht, mit Kindern in einen echten Dialog<br />
zu treten.<br />
Jedes Handeln eines Menschen erzeugt<br />
Resonanzen bei den Menschen in seiner<br />
Umgebung. Jedes Handeln einer Erzieherin<br />
erzeugt Resonanzen bei den Kindern,<br />
auch die Art und Weise, wie sie beobachtet,<br />
das Ziel, mit dem sie beobachtet und<br />
Inhalt und Form der Rückmeldung, die sie<br />
den Kindern über ihre Wahrnehmungen<br />
gibt.<br />
Resonanzen lassen sich nicht auf Bildungsergebnisse<br />
und Fördererfolge reduzieren,<br />
und sie sind auch nicht als Endprodukt<br />
eines Beobachtungsprozesses zu<br />
verstehen. Sie treten in allen Phasen eines<br />
solchen Prozesses auf. Resonanzen<br />
können auf der individuellen Ebene (im<br />
Hinblick auf die Persönlichkeit und die<br />
Selbstbildungspotenziale des Kindes) und<br />
auf der Beziehungsebene verortet werden.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Es ist von großer Bedeutung, sich dieser<br />
Resonanzen bewusst zu werden und das<br />
in ihnen liegende Potenzial feinfühlig und<br />
verantwortungsbewusst einzusetzen. Die<br />
Entscheidung für stärkenorientierte Beobachtungskonzepte,<br />
die den Dialog als integralen<br />
Bestandteil der Beobachtungspraxis<br />
verstehen, hat aus diesen Gründen<br />
weit reichende Konsequenzen für die<br />
Kommunikations- und Partizipationskultur<br />
und das pädagogische Verhältnis von Erzieherinnen,<br />
Kindern und Eltern. Dafür<br />
reicht die rein formal „korrekte“ Anwendung<br />
allerdings nicht aus. Es sind die mit<br />
diesen Konzepten verbundenen grundsätzlichen<br />
Haltungen und Orientierungen,<br />
die die beschriebenen positiven und wirkmächtigen<br />
Resonanzen hervorbringen.<br />
Literatur<br />
Damon, W. (1989). Die soziale Entwicklung<br />
des Kindes. Stuttgart: Klett-Cotta.<br />
Gopnik, A., Meltzoff, A. & Kuhl, P. (2007). Forschergeist<br />
in Windeln. Wie ihr Kind die Welt<br />
begreift. München Zürich: Piper.<br />
Lindemann, H. (2006). Konstruktivismus und<br />
Pädagogik. Grundlagen, Modelle, Wege zur<br />
Praxis. München: Reinhardt.<br />
Siraj-Blatchford, I. (2007). Effektive Bildungsprozesse:<br />
Lehren in der frühen Kindheit. In:<br />
Becker-Stoll, F. & Textor, M. R. (Hrsg.). Die<br />
Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von<br />
Bildung und Erziehung. Mannheim Berlin:<br />
Cornelsen Scriptor, S. 97-114.<br />
Viernickel, S. (Hrsg.) (2009). Beobachtung und<br />
Erziehungspartnerschaft. Mannheim Berlin:<br />
Cornelsen Scriptor.<br />
Dr. Susanne Viernickel ist Professorin für Pädagogik<br />
der frühen Kindheit an der Alice-<br />
Salomon-Hochschule in Berlin und dort im<br />
bundesweit ersten Studiengang für <strong>Kita</strong>-<br />
Fachkräfte tätig. Ihre Schwerpunkte sind Bildung<br />
und Entwicklung im frühen Kindesalter,<br />
Qualitätsmanagement und Qualitätsentwicklung<br />
in Kindertageseinrichtungen sowie die<br />
Beobachtung und Dokumentation früher Bildungsprozesse.<br />
E-Mail: viernickel@ash-berlin.eu<br />
9
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Hans Rudolf Leu<br />
Bildungs- und<br />
Lerngeschichten heute:<br />
Erfahrungen und Perspektiven<br />
Aufgabe des Projekts „Bildungs- und<br />
Lerngeschichten“ des Deutschen Jugendinstituts<br />
war es, die „Learning Stories“, die<br />
Margaret Carr als „assessment-Verfahren“<br />
für Kindertageseinrichtungen in Neuseeland<br />
entwickelt hatte, für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen<br />
in Deutschland zu<br />
adaptieren. In der ersten Projektphase, die<br />
von Februar 2004 bis Januar 2007 dauerte,<br />
wurden zu diesem Zweck Beobachtungs-<br />
und Dokumentationsmaterialien<br />
entwickelt und in 25 Kindertageseinrichtungen<br />
in unterschiedlichen Bundesländern<br />
in Kooperation mit den Fachkräften<br />
vor Ort erprobt. Parallel dazu wurden<br />
Fortbildungsmaterialien für die Arbeit mit<br />
Bildungs- und Lerngeschichten entwickelt.<br />
Sie waren die Basis sowohl für die Fortbildungen,<br />
die den Fachkräften in den Einrichtungen<br />
angeboten wurden, die mit dem<br />
Projekt kooperierten, als auch für die Fortbildung<br />
von über hundert Multiplikatorinnen<br />
und Multiplikatoren, die ihrerseits<br />
Fortbildungen durchführten und so zur<br />
weiteren Verbreitung dieses Ansatzes beitragen<br />
sollten. Schließlich gehörte zur Projektarbeit<br />
auch die wissenschaftliche Begleitung<br />
der ganzen Aktivitäten aller Projektbeteiligten.<br />
Zu diesem Zweck wurden<br />
zahlreiche Protokolle angefertigt und Befragungen<br />
der Fachkräfte, der Einrichtungsleitungen,<br />
der Multiplikatorinnen und<br />
Multiplikatoren und nicht zuletzt auch der<br />
Eltern durchgeführt und ausgewertet. 2<br />
Die Arbeit mit dem Ansatz der „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten“ hat inzwischen große<br />
Verbreitung gefunden und wird sowohl<br />
in Deutschland als auch in der Schweiz in<br />
zahlreichen Einrichtungen eingesetzt. Im<br />
folgenden ersten Abschnitt dieses Beitrags<br />
wird der Frage nachgegangen, welches<br />
2 Gefördert wurde die erste Projektphase vom Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren, Frauen und<br />
Jugend (BMFSFJ), von den Ländern Hessen, Niedersachsen,<br />
<strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> und Sachsen, der<br />
Stadt München und von vier Stiftungen: Bertelsmann,<br />
Bernard van Leer, Max Traeger und Nixdorf.<br />
10<br />
die Gründe für die breite Akzeptanz dieses<br />
Ansatzes sind. Dabei greife ich vor allem<br />
auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen<br />
Begleitung zurück, die im Abschlussbericht<br />
des Projektes, der über der Homepage<br />
des DJI zugänglich ist, zusammengefasst<br />
sind.<br />
Im zweiten Teil wird auf die zweite Projektphase<br />
eingegangen, die, erneut vom<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend und neu von der aktion<br />
mensch gefördert wurde. Im Verlauf<br />
dieser zweiten Projektphase, die im Sommer<br />
2009 abgeschlossen wurde, entstanden<br />
vier Broschüren, in denen aufgezeigt<br />
wird, dass das zunächst für die Arbeit in<br />
Kindertageseinrichtungen mit Kindern bis<br />
zum Schulalter entwickelte Konzept sich<br />
auch gut übertragen lässt auf Tagespflege,<br />
Hort, Integrationseinrichtungen und die<br />
Arbeit am Übergang vom Kindergarten in<br />
die Grundschule. In einer weiteren Broschüre<br />
wird die Tätigkeitstheorie in der<br />
Tradition von Wygotsky als Grundlage für<br />
eine Ergänzung des Ansatzes um eine<br />
entwicklungstheoretische Perspektive vorgestellt.<br />
Die Broschüren erscheinen alle im<br />
Herbst 2009 beim verlag das netz. Zum<br />
Projektabschluss ist außerdem ein auf<br />
DVD erhältlicher Film entstanden, in dem<br />
Leiterinnen von Kindertageseinrichtungen<br />
mit ihren Teams und eine Tagesmutter<br />
aufzeigen, wie sie diesen Ansatz in der alltäglichen<br />
Arbeit umsetzen, welche Anforderungen<br />
damit verbunden sind und wie<br />
sie bewältigt werden können und nicht zuletzt<br />
natürlich auch, welchen Gewinn sie<br />
dadurch erfahren haben. 3<br />
1 Einige Gründe für die schnelle<br />
Verbreitung der Bildungs- und<br />
Lerngeschichten<br />
Aus den Erfahrungen vor allem in der ersten<br />
Projektphase lassen sich mindestens<br />
fünf Gründe nennen, die zur weiten<br />
Verbreitung der Bildungs- und Lerngeschichten<br />
beigetragen haben und die im<br />
Folgenden kurz beschrieben werden.<br />
Nicht zu übersehen ist dabei allerdings die<br />
3 Der Film ist zu beziehen bei AV1 Pädagogik-Filme,<br />
<strong>Pfalz</strong>straße 10, 34260 Kaufungen.<br />
Zu den Broschüren siehe auch:<br />
www.dji.de/lerngeschichten-weiterentwicklung
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
große Rolle, die letztlich immer auch einzelne<br />
Personen spielen, die von diesem<br />
Konzept überzeugt sind und sich mit großem<br />
Engagement für seine Verbreitung<br />
einsetzen.<br />
1.1 Effekte der Beobachtung<br />
Als wichtige Erfahrungen wird von Fachkräften<br />
immer wieder die Wirkung beschrieben,<br />
welche die sorgfältige, Tätigkeiten<br />
und Äußerungen nur beschreibende<br />
und nicht bewertende Beobachtung hat.<br />
Diese Art der Aufmerksamkeit führt dazu,<br />
dass Fachkräfte entdecken, was alles an<br />
Lernprozessen, an Leistungen und Fähigkeiten,<br />
an Interessen und Neigungen in<br />
den alltäglichen Tätigkeiten der Kinder<br />
steckt.<br />
1.2 Erfahrung der positiven Effekte<br />
einer Ressourcenorientierung<br />
Ein Blick auf Kinder, der nicht all das in<br />
den Vordergrund rückt, was Kinder noch<br />
nicht können, sondern ihre Interessen und<br />
Fähigkeiten würdigt, kann zu grundlegenden<br />
Veränderungen des Bildes beitragen,<br />
das die Fachkräfte von einem Kind haben.<br />
Zudem vermag eine solche Ressourcenorientierung<br />
bei den Kindern enorme Potentiale<br />
zu engagierten Aktivitäten freizusetzen,<br />
die für Bildungs- und Lernprozesse<br />
besonders förderlich sind. Ein wichtiges<br />
Merkmal einer solchen Ressourcenorientierung<br />
ist, dass Fachkräfte bei der Unterstützung<br />
von Entwicklungs- und Lernprozessen<br />
unmittelbar an dem ansetzen, was<br />
Kinder an Interessen und Fähigkeiten zeigen.<br />
In diesem Sinne ist Ressourcenorientierung<br />
immer auch verbunden mit der<br />
Wahrnehmung des Entwicklungsstands<br />
der Kinder und schließt auch den Blick auf<br />
Entwicklungsverzögerungen nicht aus..<br />
1.3 Intensivierung des Austauschs<br />
mit allen Beteiligten<br />
Die Beobachtungen und Lerngeschichten<br />
bilden eine ausgezeichnete Grundlage,<br />
um sich mit Kolleginnen und Kollegen, den<br />
Kindern und auch den Eltern über Entwicklungs-<br />
und Lernprozesse auszutau-<br />
11<br />
schen. Dadurch wird der Blick auf die Kinder<br />
und ihre Aktivitäten und ihre Interpretation<br />
erweitert und abgesichert. Ein weiterer<br />
Effekt ist die Intensivierung des Kontaktes<br />
besonders zu Kindern und Eltern.<br />
Bei den Kindern trägt die Erfahrung, wie<br />
ernst sie mit ihren Äußerungen genommen<br />
werden, zudem auch zur Stärkung des<br />
Selbstbewusstseins bei.<br />
1.4 Lerndispositionen als leicht nachvollziehbares<br />
Konzept<br />
Das grundlegende Konzept zur Analyse<br />
von Beobachtungen sind fünf Lerndispositionen,<br />
die überschaubar sind und Merkmale<br />
fokussieren, die auch alltagssprachlich<br />
verständlich sind. Sie lassen sich auf<br />
alle Arten von Aktivitäten anwenden. Geht<br />
man der Frage nach, warum bestimmte<br />
Lerndispositionen nur schwach ausgeprägt<br />
sind, gilt es immer zu prüfen, welche<br />
Besonderheiten des situativen Arrangements<br />
einer stärkeren Realisierung dieser<br />
Dispositionen entgegenstehen und nicht<br />
allein auf den Anteil des Kindes zu achten.<br />
Die Auswertung der Beobachtungen und<br />
ihre Analyse nach den Lerndispositionen<br />
kann dadurch einen wichtigen Beitrag zur<br />
Evaluation der pädagogischen Qualität der<br />
eigenen Arbeit leisten.<br />
1.5 Kompatibilität mit allen Bildungsvereinbarungen<br />
und -plänen für<br />
Kindertagesbetreuung<br />
In allen Bildungsvereinbarungen und<br />
-plänen der Bundesländer wird die Beobachtung<br />
und Dokumentation der Entwicklung<br />
der Kinder gefordert. Dabei wird praktisch<br />
überall von einem ko-konstruktivistischen<br />
Blick auf Bildung und Lernen<br />
ausgegangen, der auch für den Ansatz der<br />
Bildungs- und Lerngeschichten charakteristisch<br />
ist. Zudem trägt auch die Anwendbarkeit<br />
der Lerndispositionen auf die ganze<br />
Palette von Qualifikationsbereichen<br />
wesentlich zur Vereinbarkeit dieses Verfahrens<br />
mit allen Bildungsvereinbarungen<br />
und -plänen bei.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
2 Ergebnisse der Elternbefragung<br />
Sprache spielt bei der Arbeit mit Bildungs-<br />
und Lerngeschichten eine große Rolle.<br />
Das wird besonders deutlich bei den Lerngeschichten,<br />
die Kindern und Eltern vorgelesen<br />
werden, aber auch bei der Bedeutung<br />
des Verfahrens für den Austausch<br />
zwischen Fachkräften und Eltern. Eine<br />
wichtige Frage war deshalb, wie die Bildungs-<br />
und Lerngeschichten von Eltern<br />
mit Migrationshintergrund oder mit einem<br />
vergleichbar niedrigen Bildungsabschluss<br />
eingeschätzt werden. Die nachfolgenden<br />
Tabellen zeigen, dass gerade diese Eltern<br />
sowohl die Veränderungen, die sie in Folge<br />
der Arbeit mit den Bildungs- und Lerngeschichten<br />
in ihrem Austausch mit den<br />
Fachkräften als auch in den Folgen für ihre<br />
Kinder wahrgenommen haben, überdurchschnittlich<br />
positiv einschätzen. 4<br />
Wahrgenommene Veränderung durch die BuLG<br />
im Austausch mit den Fachkräften<br />
Leu / Bildungs- und<br />
Lerngeschichten<br />
Seite 4<br />
Keine Positiv<br />
Muttersprache<br />
Deutsch 35% 65%<br />
Muttersprache<br />
nicht Deutsch 28% 72%<br />
Zurück zur ersten Seite<br />
Wahrgenommene Veränderung durch die BuLG<br />
für das eigene Kind<br />
Leu / Bildungs- und<br />
Lerngeschichten<br />
Seite 5<br />
Keine Positiv<br />
Muttersprache<br />
Deutsch 44% 56%<br />
Muttersprache<br />
nicht Deutsch 13% 87%<br />
Zurück zur ersten Seite<br />
4 Eine ausführliche Darstellung dieser Daten findet<br />
sich im Abschlussbericht der ersten Phase des Projektes<br />
„Bildungs- und Lerngeschichten“, der über die<br />
DJI-Homepage als download verfügbar ist.<br />
12<br />
Wahrgenommene Veränderung durch die BuLG<br />
für das eigene Kind, nach Schulabschluss<br />
Leu / Bildungs- und<br />
Lerngeschichten<br />
Seite 6<br />
Keine Positiv<br />
Volks- bzw. Hauptschule 13% 87%<br />
Mittlere Reife und sonstiger<br />
Schulabschluss 23% 77%<br />
Fachhochschulreife / Abitur 28% 72%<br />
Zurück zur ersten Seite<br />
Die Tabellen zeigen, dass alle Elterngruppen<br />
positive Veränderungen berichten.<br />
Dass Eltern mit Migrationshintergrund und<br />
Eltern mit vergleichsweise niedriger<br />
Schulbildung das Verfahren überdurchschnittlich<br />
positiv einschätzen, zeigt, dass<br />
diese Elterngruppen mit diesem Verfahren<br />
trotz der großen Bedeutung der Sprache<br />
gut erreicht werden können.<br />
3 Arbeiten zur Weiterentwicklung<br />
der Arbeit mit den Bildungs-<br />
und Lerngeschichten<br />
Im Folgenden werden stichwortartig einige<br />
zentrale Punkte zusammengefasst, die bei<br />
der Übertragung der Bildungs- und Lerngeschichten<br />
auf besondere Arbeitsfelder<br />
zu beachten sind bzw. die sich aus der<br />
Verknüpfung des Ansatzes mit einer entwicklungspsychologischen<br />
Sicht in der<br />
Tradition der Tätigkeitstheorie auf der<br />
Grundlage der Arbeiten von Wygotsky ergeben.<br />
Wie mit diesen Besonderheiten<br />
umzugehen ist und was bei der pädagogischen<br />
Arbeit besonders zu beachten ist,<br />
wird in den dazu erschienenen Broschüren<br />
ausführlicher dargestellt.<br />
3.1 Besonderheiten der Tagespflege<br />
Tagespflegepersonen arbeiten mit einer<br />
kleineren Gruppe von Kindern im Alter bis<br />
zu drei Jahren. Dementsprechend haben<br />
sie oft einen besonders engen Kontakt zu<br />
den von ihnen betreuten Kindern. Das<br />
kann sich günstig auf die Möglichkeit auswirken,<br />
Beobachtungen durchzuführen.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
und für die Kinder gehaltvolle Lerngeschichten<br />
anzufertigen, wobei die Altersgruppe<br />
der unter Dreijährigen besonders<br />
anschauliche Darstellungsformen erforderlich<br />
machen. Eingeschränkt wird dieser<br />
Vorteil der geringen Zahl allerdings durch<br />
die Tatsache, dass einzelne Tagespflegepersonen<br />
niemanden haben, der ihnen<br />
„den Rücken frei hält“ für die Durchführung<br />
von Beobachtungen. Auch der Austausch<br />
unter Fachkräften dürfte in der Regel hier<br />
– wenn er überhaupt stattfindet – einen<br />
besonderen Aufwand erfordern. Das ist<br />
angesichts der oft geringen fachlichen<br />
Qualifikation von Tagespflegepersonen<br />
besonders bedauerlich. Kaum Probleme<br />
scheint demgegenüber die Herausforderung<br />
zu bieten, den Haushalt und die<br />
Wohnungsumgebung als Orte für vielfältige<br />
Aktivitäten und Lernmöglichkeiten zu<br />
gestalten bzw. zu nutzen.<br />
3.2 Bildungs- und Lerngeschichten<br />
am Übergang vom Kindergarten in<br />
die Grundschule<br />
Mit der gewachsenen Beachtung des Bildungsauftrags<br />
der Kindertagesbetreuung<br />
sind auch die Bemühungen um eine anschlussfähige<br />
Gestaltung des Übergangs<br />
vom Kindergarten in die Grundschule gewachsen.<br />
Eine grundlegende Voraussetzung<br />
für die Kooperation zwischen diesen<br />
beiden Institutionen ist ein Austausch zwischen<br />
Fachkräften und Lehrkräften, in<br />
dem Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede<br />
im Auftrag der beiden Institutionen<br />
und in ihrem Bildungsverständnis geklärt<br />
werden und eine Atmosphäre gegenseitiger<br />
Wertschätzung entsteht. Der Ansatz<br />
der Bildungs- und Lerngeschichten kann<br />
dazu einen wichtigen Beitrag leisten, weil<br />
damit eine Reihe von Themen bzw. Forderungen<br />
aufgegriffen werden, die auch in<br />
der Diskussion zur Pädagogik der Grundschule<br />
eine wichtige Rolle spielen. Das<br />
sind insbesondere die Forderungen, die<br />
Feststellung von Leistungsfortschritten<br />
stärker am individuellen Bezugsmaßstab<br />
zu orientieren und dabei die Kinder selber<br />
mit ihrer Sichtweise einzubeziehen und die<br />
Leistungsbereitschaft der Kinder durch<br />
„subjektiv bedeutsame Lernaufgaben“ zu<br />
steigern. Zunehmend bedeutsam wird außerdem<br />
auch in der Schule die Arbeit mit<br />
13<br />
Portfolios, wie sie auch bei den Bildungs-<br />
und Lerngeschichten praktiziert wird.<br />
3.3 Bildungs- und Lerngeschichten im<br />
Hort<br />
Der Einsatz der Bildungs- und Lerngeschichten<br />
im Hort ist eine Möglichkeit, die<br />
Bedeutung außerunterrichtlichen Lernens<br />
eindrucksvoll aufzuzeigen. Das schließt<br />
nicht aus, dass dabei auch die Bewältigung<br />
von Hausaufgaben und die von den<br />
Kindern dabei eingesetzten Strategien<br />
thematisiert und reflektiert werden. Außerdem<br />
bieten sich dadurch auch zahlreiche<br />
Möglichkeiten, um die Kooperation zwischen<br />
pädagogischen Fachkräften und<br />
Lehrkräften zu intensivieren. Da die Kinder<br />
hier im Grundschulalter sind, sind sie in<br />
der Regel an einer intensiveren Beteiligung<br />
sowohl an der Erstellung von Lerngeschichten<br />
als auch an Dokumentationsarbeiten<br />
interessiert. Außerdem ist es hilfreich,<br />
bei der Wahrnehmung und Interpretation<br />
der Aktivitäten der Kinder eine Reihe<br />
von Entwicklungsaufgaben zu beachten,<br />
die für Kinder in diesem Alter in der<br />
Regel von zentraler Bedeutung sind. Dazu<br />
gehört etwa die Moralentwicklung: Diesbezügliche<br />
Regeln werden in jüngeren<br />
Jahren als unantastbar erlebt. Später<br />
kommen Differenzierungen hinzu, die aufgrund<br />
von Aushandlungsprozessen stattfinden<br />
und u.a. zur Einsicht führen, dass<br />
auch individuelle Differenzierungen ein<br />
Gebot von Gerechtigkeit sein können. Ein<br />
weiteres wichtiges Thema sind die Beziehungen<br />
zu Gleichaltrigen und speziell zu<br />
Freunden. Die Anerkennung durch diese<br />
Gruppe bildet eine wichtige Grundlage für<br />
die Identitätsbildung. Dazu gehören ein<br />
zunehmend elaboriertes Wechselspiel von<br />
Perspektivenübernahme und eine differenzierte<br />
Vertretung eigener Interessen<br />
unter Beachtung von Normen, Regeln und<br />
Interessen von anderen.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
3.4 Bildungs- und Lerngeschichten in<br />
Integrationseinrichtungen<br />
Entsprechend dem „Eisberg-Modell“ von<br />
Carr 5 gilt die Erfahrung von Zugehörigkeit<br />
als eine Voraussetzung dafür, dass Kinder<br />
die Lerndisposition „Interesse“ entwickeln.<br />
Ebenso wird Wohlbefinden als Voraussetzung<br />
für die Lerndisposition einer vertieften<br />
Beschäftigung mit bestimmten Aufgaben<br />
oder Angeboten verstanden. Bei Kindern<br />
mit besonderem Förderbedarf zeigt<br />
sich nun nicht selten, dass das, was als<br />
Voraussetzung für die Entwicklung der<br />
genannten Lerndispositionen gilt, für sie<br />
keineswegs gegeben ist, sondern ein vorrangiges<br />
Ziel ihrer Aktivitäten ist. Sie müssen<br />
sich um die Erfahrung von Zugehörigkeit<br />
und Wohlbefinden aktiv mühen. Das<br />
liegt auch daran, dass es ihnen mitunter<br />
schwer fällt, erfolgreich mit ihren Mitmenschen<br />
zu kommunizieren. Sie machen<br />
auch seltener die Erfahrung eines bedingungslosen<br />
Angenommen-Seins, die für<br />
das Wohlbefinden von Kindern so wichtig<br />
ist. Die Zuwendung ihrer Bezugsperson ist<br />
für sie deshalb von besonderer Bedeutung.<br />
Dass auch bei Kindern mit besonderem<br />
Förderbedarf die besonderen Interessen<br />
und Kompetenzen im Vordergrund stehen,<br />
ist sowohl für die Kinder als auch für die<br />
Eltern oft eine ungewohnte Erfahrung. Im<br />
Rahmen therapeutischer Angebote werden<br />
sie vor allem auf all das aufmerksam<br />
gemacht, was noch aussteht und zu trainieren<br />
ist. Demgegenüber ermöglicht der<br />
ressourcenorientierte Blick dem Kind die<br />
Erfahrung von Selbstwirksamkeit und<br />
stärkt sein Selbstbewusstsein. Die Zusammenarbeit<br />
sowohl mit den Kindern als<br />
auch mit den Eltern wird dadurch intensiver.<br />
Wenn sie sehen, wie die Fachkräfte<br />
ihr Kind in seiner Besonderheit wertschätzen<br />
und anerkennen, fühlen auch sie sich<br />
verstanden und wertgeschätzt. Sie reagieren<br />
erleichtert und positiv überrascht,<br />
wenn der Austausch mit den Erzieherin<br />
nicht in Form von »Problemgesprächen«<br />
5 Vgl. dazu Leu u.a. (2007): Bildungs- und Lerngeschichten.<br />
Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten,<br />
dokumentieren und unterstützen. Weimar<br />
und Berlin: verlag das netz<br />
14<br />
über ihr Kind verläuft, sondern als Erfahrungsaustausch,<br />
bei dem verschiedene<br />
Sichtweisen auf ihr Kind zusammengetragen<br />
werden. Gerade bei der Arbeit mit<br />
Kindern mit besonderem Förderbedarf<br />
wird aber auch die Notwendigkeit einer<br />
entwicklungstheoretischen Unterfütterung<br />
der Interpretation von Beobachtungen unübersehbar<br />
deutlich. Zu diesem Zweck<br />
wurde in einer eigenen Broschüre die theoretischen<br />
Grundlagen der Tätigkeitstheorie<br />
in der Tradition von Wygotsky aufbereitete<br />
und mit dem Ansatz der Bildungs- und<br />
Lerngeschichten verknüpft.<br />
3.5 Die Tätigkeitstheorie in der Tradition<br />
von Wygotsky als Grundlage<br />
für eine entwicklungstheoretische<br />
Fundierung der Bildungs- und<br />
Lerngeschichten<br />
Zwischen der Tätigkeitstheorie in der Tradition<br />
von Wygotsky und dem Ansatz der<br />
Bildungs- und Lerngeschichten gibt es eine<br />
Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten.<br />
Beide gehen davon aus, dass wesentliche<br />
Lernprozesse im alltäglichen Umgang von<br />
Kindern mit Dingen und Personen stattfinden<br />
und die Entwicklung und das Lernen<br />
der Kinder darauf zielen, zunehmend am<br />
gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein<br />
weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Tätigkeitstheorie<br />
den Wissens- und Entwicklungsstand<br />
von Kindern nicht an Persönlichkeitsmerkmalen,<br />
sondern an der beobachtbaren<br />
Qualität der Auseinandersetzung<br />
eines Kindes mit verschiedenen Gegenständen<br />
seiner Umgebung festmacht.<br />
Dabei werden fünf dominante Tätigkeitsformen<br />
unterschieden, die hier nur in aller<br />
Kürze genannt werden können. Die wahrnehmende<br />
Tätigkeit als dominante Tätigkeitsform<br />
von Säuglingen zeichnet sich<br />
dadurch aus, dass die Rezeption insbesondere<br />
visueller und auditiver Reize im<br />
Vordergrund steht, auf die die Kinder ihre<br />
Aufmerksamkeit richten. Charakteristisch<br />
für die Dominanz der manipulierenden Tätigkeit<br />
ist, dass Kinder nach Objekten greifen,<br />
sie in den Mund stecken, zu Boden<br />
fallen lassen und so auf unterschiedlichste<br />
Weise ihre Beschaffenheit erkunden.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Eine Art Leitfrage für diese Stufe dominierender<br />
Tätigkeit scheint zu sein: »Was<br />
passiert, wenn…?«. Lenkt ein Kind seine<br />
Aufmerksamkeit darauf, wie Erwachsene<br />
oder ältere Kinder beispielsweise mit einem<br />
Bleistift malen, zeichnen oder schreiben,<br />
wird es bald versuchen, diese Handlungen<br />
zu imitieren und den Gegenstand<br />
so zu gebrauchen, wie es Andere tun.<br />
Nach Wygotsky spricht man in diesem Fall<br />
von einer gegenständlichen Tätigkeit. Gegenständliche<br />
Tätigkeiten sind auf ein bestimmtes<br />
Ziel ausgerichtet, haben damit<br />
auch einen Anfang und ein Ende und können<br />
im Rahmen dieser Theorie erstmals<br />
auch als Handlungen bezeichnet werden.<br />
Symbolische Tätigkeiten können dominant<br />
werden, wenn Kinder lernen, dass alle<br />
Gegenstände einen Namen bzw. eine Bezeichnung<br />
haben. Dadurch können sie<br />
sich auch Objekte vergegenwärtigen, die<br />
aktuell nicht vorhanden sind. Das ist die<br />
Grundlage, auf der Kinder später auch lernen,<br />
Buchstaben und Zahlen zu schreiben<br />
und ihnen ein gezieltes Lernen, die Lerntätigkeit<br />
6 ermöglichen, die auf den Kompetenzen<br />
aufbaut, die durch Tätigkeiten auf<br />
dem symbolischen Niveau erworben wurden.<br />
Ein weiteres wichtiges Element in der<br />
Theorie von Wygotsky ist das Konzept der<br />
„Zone nächster Entwicklung“. Ihm liegt die<br />
Annahme zugrunde, dass die individuelle<br />
Entwicklung des Kindes nicht von selbst<br />
voranschreitet, sondern ein »Gemeinschaftsprodukt«<br />
des Kindes und eines<br />
kompetenteren Sozialpartners ist. Diese<br />
kompetenteren Sozialpartner sind in der<br />
Regel Erwachsene, können aber auch<br />
kompetentere Kinder sein. Sie gelten als<br />
unerlässliche »Schrittmacher«, ohne deren<br />
gezielte und pädagogisch geplante<br />
Anregungen es keine Entwicklung gibt.<br />
Den Fachkräften wird damit eine aktivere<br />
Rolle zugeschrieben, als dies in der aktuellen<br />
frühpädagogischen Diskussion in der<br />
Regel der Fall ist. Sie sollen als Träger<br />
und Vermittler der kulturellen Praktiken<br />
selbstbewusst in Erscheinung treten und<br />
sich bewusst sein, dass sie Werte, Wissen<br />
6 Die Einschränkung des Begriffs Lernen auf diese<br />
gezielte Form des Wissenserwerbs entspricht allerdings<br />
nicht der heute gängigen Sicht, dass wichtige<br />
Lernprozesse im frühen Kindesalter beiläufig erfolgen.<br />
15<br />
und Erfahrungen vermitteln, um Kindern<br />
die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen.<br />
Allerdings bedeutet das keineswegs,<br />
dass sie die Kinder belehren, dirigieren,<br />
Lösungen vorwegnehmen und<br />
sich als »Alleskönner« und »Besserwisser«<br />
präsentieren. Sie sind gefordert, die<br />
Konstruktionsleistungen der Kinder zu unterstützen,<br />
ihnen Orientierung zu geben<br />
und gleichzeitig ihre Unabhängigkeit zu<br />
fördern. Diese dialogische Interaktion mit<br />
den Kindern gilt auch in der Tätigkeitstheorie<br />
als zentrale Voraussetzung für die<br />
Förderung von tiefgreifenden und nachhaltigen<br />
Lernprozessen.<br />
Literatur<br />
Deutsches Jugendinstitut DJI (2007). Abschlussbericht<br />
des Projekts „Bildungs- und<br />
Lerngeschichten als Instrument zur Konkretisierung<br />
und Umsetzung des Bildungsauftrags<br />
im Elementarbereich“. Verfügbar unter:<br />
http://www.dji.de<br />
Leu H.R., Flämig, K., Frankenstein, Y., Koch,<br />
S., Pack, I., Schneider, K. & Schweiger, M.<br />
(2007). Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse<br />
in früher Kindheit beobachten,<br />
dokumentieren und unterstützen. Weimar<br />
und Berlin: Verlag das Netz<br />
Gerwig, K. & DJI (2009). Der Film „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten. Grundlagen, Praxiserfahrungen,<br />
Anregungen.“ Kaufungen: AV1<br />
Pädagogik-Filme<br />
Dr. Hans Rudolf Leu ist Leiter der Abteilung<br />
„Kinder und Kinderbetreuung“ am Deutschen<br />
Jugendinstitut DJI, München<br />
E-Mail: leu@dji.de
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Dörte Weltzien<br />
Momente intensiver Interaktion<br />
Veränderungen auf der interaktionalen<br />
Ebene<br />
Vier Jahre nach Beginn des Projekts BeobAchtung<br />
& ErziehungsPartnerschaft lassen<br />
sich in den Projektkitas zahlreiche<br />
Veränderungen nachzeichnen. In einer<br />
Abschlusserhebung stellen 97,6% der befragten<br />
Fachkräfte (n=214) rückblickend<br />
fest, dass sich die pädagogische Arbeit<br />
verändert hat. Jede vierte Fachkraft (42,1<br />
%) stellt sogar sehr große Veränderungen<br />
fest. Fast alle Fachkräfte halten die Veränderungen,<br />
z.B. in Räumlichkeiten, Materialangebot,<br />
Tagesablauf oder Wochenplanung,<br />
die aufgrund der Beobachtungen<br />
im Team entwickelt wurden, für wichtig,<br />
36,4% sogar für „sehr wichtig“. 7<br />
Neben diesen Veränderungen hat sich im<br />
Projekt etwas entwickelt, was ich als<br />
„zweite Ebene“ bezeichnen würde. Diese<br />
zweite Ebene liegt tiefer als von außen sofort<br />
sichtbare oder messbare Veränderungen,<br />
weil mit ihr sehr persönliche Erfahrungen<br />
verbunden sind, die tief berühren<br />
können und vielleicht deswegen auch besonders<br />
viel bewegen. Ich meine die Ebene<br />
der Interaktionen. Diese Ebene hat uns<br />
in der wissenschaftlichen Begleitung aus<br />
zwei Gründen von Anfang an sehr interessiert:<br />
• Erstens, weil bekannt ist, dass die<br />
Fachkraft-Kind-Interaktion ein Kernbereich<br />
der pädagogischen Arbeit darstellt,<br />
gleichzeitig aber in der Praxis<br />
häufig „zu wenig gesprochen wird“ oder<br />
Gespräche „nicht bewusst genug<br />
gestaltet werden“, wie zahlreiche Forschungsergebnisse<br />
zeigen (vgl. Weltzien/Viernickel,<br />
2008). In der EPPE-<br />
Studie weisen Sylva et al. (2003) beispielsweise<br />
darauf hin, dass selbst in<br />
Einrichtungen mit hoher Qualität nur<br />
rd. 5,1% der Fragen, die sich an Kin-<br />
7 Eine Zusammenfassung der Abschlussdokumentation<br />
befindet sich in Vorbereitung und steht ab<br />
Dezember 2009 auf der Homepage www.offensivebildung.de<br />
zum kostenfreien Download bereit.<br />
16<br />
der richten, so offen formuliert wurden,<br />
dass sie zum Nachdenken über das<br />
eigene Handeln anregen.<br />
• Zweitens, weil die Methode der Bildungs-<br />
und Lerngeschichten, die ja<br />
aus den learning stories von Margeret<br />
Carr (2001) für Deutschland adaptiert<br />
wurden, aus unserer Sicht gute Möglichkeiten<br />
bieten, „ins Gespräch zu<br />
kommen“, und die Qualität von Interaktionen<br />
zu verbessern. Die Methode der<br />
Bildungs- und Lerngeschichten sieht<br />
explizit als einen Baustein „offene Dialoge<br />
mit Kindern“ vor (vgl. Leu et al.,<br />
2007). Kinder sollen aktiv in die Auswertungen<br />
der Beobachtungen, den<br />
Austausch über Lerngeschichten und<br />
die Arbeit mit Portfolios einbezogen<br />
werden. M. Carr bezeichnet das Verfahren<br />
des assessment auch nicht als<br />
„Einschätzen“ (im Sinne von „Bewerten“),<br />
sondern als „Austausch mit dem<br />
Kind“ und zielt darauf ab, die eigene<br />
pädagogische Fachpraxis zu überprüfen.<br />
Welche Bedeutung diese zweite Ebene<br />
der Interaktionen in dem Projektverlauf<br />
haben wird, war für uns allerdings zu Beginn<br />
schwer vorherzusehen. Denn in dieser<br />
Hinsicht gab es bislang keine wissenschaftlich<br />
gesicherten Erfahrungen. Und<br />
daher war es nicht nur für uns als Projektteam<br />
ein spannender Prozess, sondern<br />
hat auch über das Projekt BeobAchtung &<br />
ErziehungsPartnerschaft hinaus für Interesse<br />
gesorgt.<br />
Die ersten Erkenntnisse<br />
Die ersten Zwischenerhebungen, ein halbes<br />
Jahr nach Projektbeginn, haben zu<br />
dem überraschenden Ergebnis geführt,<br />
dass von den Fachkräften die Teamgespräche<br />
zu den größten Veränderungen<br />
gezählt wurden. Überraschend deshalb,<br />
weil die Teamarbeit explizit ja gar kein<br />
Gegenstand in den Fortbildungen waren.<br />
Woran lag das? Offensichtlich führt der<br />
stärkenorientierte Blick, der mit der Methode<br />
der Bildungs- und Lerngeschichten<br />
erworben wird, dazu, auch die Stärken der<br />
Teamkolleginnen auf einmal besser erkennen<br />
zu können. Auf der Grundlage ge-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
genseitiger Wertschätzung zeigen sich<br />
Stärken, die vorher im Alltag keine Rolle<br />
spielten oder nicht wahrgenommen wurden<br />
(z.B. eine besonders gute Beobachtungsgabe<br />
oder Medienkompetenzen).<br />
Der gemeinsame Kompetenzerwerb in<br />
dem Projektjahr hat die professionelle Haltung<br />
und den fachlichen Austausch beflügelt.<br />
Dadurch haben sich nicht nur Zufriedenheit<br />
und Motivation erhöht, sondern<br />
auch das berufliche Selbstverständnis<br />
verändert. Viele Fachkräfte geben ihrer<br />
pädagogischen Arbeit eine neue Bedeutung<br />
und werden von Kolleginnen, Eltern<br />
und Trägern darin bestätigt. Auch ist eine<br />
größere Zielorientierung in den Teams<br />
festzustellen z.B. in der Festlegung von<br />
Teamvereinbarungen, in dem Aufbau eines<br />
Beobachtungsmanagementsystems<br />
oder der Gestaltung von Teamgesprächen.<br />
Auch dieser Prozess ist in den <strong>Kita</strong>s<br />
bei weitem noch nicht abgeschlossen, aber<br />
die intensive, ernsthafte Auseinandersetzung<br />
mit solchen Themen hat in allen<br />
Teams stattgefunden und erste Veränderungen<br />
waren ziemlich früh im Projekt zu<br />
erkennen.<br />
Diese Erkenntnisse über Veränderungen<br />
in der Interaktion (zunächst auf der Teamebene)<br />
hat uns dazu veranlasst, das Thema<br />
in der wissenschaftlichen Begleitung<br />
stärker in den Blick zu nehmen. So wurde<br />
in den jeweiligen Erhebungen vor Ort, in<br />
den Gruppenhospitationen und Leitfadeninterviews<br />
mit Leitungskräften und Beobachtungsbeauftragten<br />
sowie in den<br />
mehrmaligen schriftlichen Befragungen aller<br />
Fachkräfte versucht, Einblick in die Interaktionspraxis<br />
und ihrer Veränderungen<br />
im Projektverlauf zu bekommen. Dabei hat<br />
uns vor allem die Interaktion zwischen<br />
Fachkraft und Kind interessiert.<br />
Wir haben die Fachkräfte in der Abschlusserhebung<br />
gefragt, wie sie selbst ihre<br />
Dialogorientierung einschätzen. Dazu<br />
ein paar Ergebnisse:<br />
• Acht von zehn Fachkräften stellen fest,<br />
dass sie sich mehr für das einzelne<br />
Kind interessieren, aufmerksamer zuhören<br />
und das einzelne Kind stärker<br />
wahrnehmen als vor dem Projekt.<br />
17<br />
• Sieben von zehn Fachkräften haben<br />
das Gefühl, es gelinge ihnen besser,<br />
auf die Themen der Kinder einzugehen,<br />
sie unterbinden weniger Dinge,<br />
die die Kinder machen möchten und<br />
kommen leichter ins Gespräch mit den<br />
Kindern.<br />
Interessiere mich mehr für das<br />
einzelne Kind<br />
Höre aufmerksamer zu<br />
Nehme das einzelne Kind<br />
stärker wahr<br />
Mir gelingt es besser, auf die<br />
Themen der Kinder einzugehen<br />
Unterbinde weniger Dinge, die<br />
die Kinder machen möchten<br />
Stelle fest, dass wir leichter ins<br />
Gespräch kommen<br />
sehr viel viel<br />
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />
Nun kann man sagen, dies ist ja „nur“ eine<br />
Selbstauskunft, die sich vielleicht aus der<br />
Zufriedenheit mit dem gesamten Projektverlauf<br />
speist. Diesem Einwand kann man<br />
folgende Ergebnisse aus den Hospitationen<br />
entgegensetzen:<br />
In den Hospitationen wurden wissenschaftlich<br />
erprobte Verfahren (CIS) zur<br />
Einschätzung der Gruppenatmosphäre<br />
eingesetzt. Diese erfasst ähnliche Merkmale<br />
wie beispielsweise „.Die Erzieherin<br />
hört aufmerksam zu, wenn die Kinder etwas<br />
erzählen.“ Im Vergleich zu anderen<br />
Erhebungen liegen die Werte für Merkmale,<br />
die sich auf die Bereiche „Wertschätzung“<br />
und „Dialogorientierung“ beziehen,<br />
sehr gut. Auf der Werteskala von 1-4 lagen<br />
die Projektkitas im Durchschnitt bei<br />
2,95 (im Vergleich zu 2,61 bzw. 2,57 in<br />
anderen Untersuchungen, vgl. König<br />
2008).<br />
In einer weiteren Selbsteinschätzung wollten<br />
wir von den Fachkräften wissen, ob<br />
sich aus ihrer Sicht Veränderungen bei<br />
den Kindern gezeigt haben. Hier einige<br />
zentrale Ergebnisse:<br />
• Rund zwei Drittel der Fachkräfte haben<br />
das Gefühl, dass sich die Kinder woh-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
ler fühlen (68,7%) und engagierter<br />
(66,4%) sind.<br />
• Drei Viertel der Fachkräfte (75,0%)<br />
stellen fest, dass die Kinder häufiger<br />
ihre Meinungen und Gedanken äußern.<br />
• Gut die Hälfte der Fachkräfte nimmt<br />
häufiger Lerngemeinschaften unter<br />
den Kindern (57,2%) und eine größere<br />
Verantwortung (55,7%) wahr.<br />
Kinder fühlen sich wohler<br />
Kinder sind engagierter<br />
Kinder äußern häufiger ihre<br />
Meinung, Gedanken<br />
Kinder gehen häufiger<br />
Lerngemeinschaften ein<br />
Kinder übernehmen mehr<br />
Verantwortung<br />
sehr viel viel<br />
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />
Zusammenfassend zeigen diese Ergebnisse,<br />
dass in der Selbst- und Fremdeinschätzung<br />
wichtige Aspekte der Interaktion<br />
an Bedeutung gewonnen haben. Die<br />
Fachkräfte sind im Laufe des Projekts<br />
aufmerksamer, zugewandter, responsiver<br />
und empathischer den kindlichen Bedürfnissen<br />
und Interessen gegenüber geworden.<br />
Die Kinder sind, zumindest in der Einschätzung<br />
der Fachkräfte, durch ein größeres<br />
Wohlbefinden, Interesse und Engagiertheit<br />
gekennzeichnet.<br />
Beide Entwicklungen stehen vermutlich in<br />
einem wechselseitigen Zusammenhang.<br />
So ist aus der Interaktionsforschung bekannt,<br />
dass eine größere Engagiertheit der<br />
pädagogischen Fachkräfte direkte Auswirkungen<br />
auf das Verhalten der Kinder und<br />
ihr Wohlbefinden haben (Siraj-Blatchford<br />
et al. 2002).<br />
Warum es zu diesen positiven Veränderungen<br />
kommt (die von außen sehr<br />
schwer anzustoßen sind) und wie sich<br />
diese Veränderungen im Prozess entwickeln,<br />
wird aus solchen Daten nicht deutlich.<br />
Daher wurden in einem weiteren<br />
Auswertungsschritt die Interviews, die wir<br />
18<br />
mit Leitungskräften und Beobachtungsbeauftragten<br />
durchgeführt haben, analysiert.<br />
Die zentralen Ergebnisse dieser Analysen<br />
möchte ich Ihnen hier kurz vorstellen:<br />
Momente intensiver Interaktion<br />
Eine Auswertung der Fachkraft-Kind-<br />
Interaktionen ergab, dass es sog. Momente<br />
intensiver Interaktion gibt, die bestimmte<br />
Merkmale aufweisen: Sie sind kurz und<br />
finden meist im unmittelbaren Gruppengeschehen<br />
statt. Sie stehen im Kontext zu<br />
den Beobachtungen und setzen damit direkt<br />
an den Aktivitäten und Interessen der<br />
Kinder an. Die Interaktionen sind wertschätzend<br />
und zugewandt und sie gestalten<br />
sich für beide Dialogpartner als positives<br />
Erlebnis.<br />
Wir haben in einem weiteren Schritt alle<br />
Dialogerlebnisse, die als solche „Momente<br />
intensiver Interaktion“ gelten können, ausgewertet<br />
und geschaut, ob sich typische<br />
Interaktionen im Rahmen der Beobachtungen<br />
und Dokumentationen ergeben<br />
haben. Dabei haben wir acht typische<br />
„Momente intensiver Interaktion“ herausgefiltert,<br />
die mit einer offenen Frage zu<br />
Beginn der Beobachtung („Darf ich Dir<br />
beim Spielen zuschauen?“) beginnen und<br />
bis zu einem Austausch über gemeinsame<br />
Dialogerlebnisse („Ich freue mich, dass wir<br />
so gut miteinander sprechen können.“)<br />
gehen können (vgl. Weltzien/Viernickel<br />
2008, Weltzien 2009).<br />
Momente intensiver Interaktion, wie sie<br />
sich im Verlaufe ressourcenorientierter<br />
Beobachtungsverfahren darstellen, haben<br />
einen prozessualen Charakter. Die zunächst<br />
überwiegend im Rahmen geplanter<br />
Beobachtungen stattfindenden Dialoge<br />
entstehen bei zunehmender Fachpraxis<br />
häufiger spontan im Gruppengeschehen,<br />
weil sich mit der Wahrnehmung auch das<br />
Erkennen von Gesprächsgelegenheiten<br />
schärft. Das Gespräch über das Gespräch<br />
und Lerngeschichten über wertvolle Dialoge<br />
sind eine besondere Form, auf wertschätzende<br />
Art und Weise den Kindern zu<br />
vermitteln, wie wichtig ein verbaler Austausch<br />
ist und welche bedeutsamen Lebenskompetenzen<br />
damit erworben werden.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Warum kommt es zu Momenten intensiver<br />
Interaktion?<br />
Zunächst einmal „zwingt“ die Methode der<br />
systematischen Beobachtungen dazu, sich<br />
zurück zu halten, genau zuzuschauen und<br />
zuzuhören. Tatsächlich sind Beobachtungen<br />
eine sehr gute Wahrnehmungsschulung,<br />
die Erstaunliches zutage fördern. Die<br />
zweite Begründung ist die Haltung, die<br />
durch Interesse, Wertschätzung und individuelle<br />
Zuwendung geprägt ist. Diese<br />
Haltung wurde in den Fortbildungen zwar<br />
thematisiert, musste sich in der Praxis aber<br />
erst beweisen. Offensichtlich ist es<br />
den Fachkräften gelungen, diese Haltung<br />
auch im <strong>Kita</strong>-Alltag zu bewahren, was angesichts<br />
der teilweise doch schwierigen<br />
Strukturbedingungen und zahllosen Aufgaben<br />
nicht selbstverständlich ist.<br />
Ein dritter Grund ist die Methode der partnerzentrierten<br />
Gesprächsführung, die in<br />
den Fortbildungen erworben wurde und<br />
vornehmlich den Aufbau gelingender Erziehungspartnerschaften<br />
mit Eltern unterstützen<br />
soll. Die ersten Erfahrungen mit<br />
einer besseren Teamkultur und auch Erfahrungen<br />
mit Kindern zeigte, dass diese<br />
Art des zugewandten, aufmerksamen Zuhörens<br />
auch im pädagogischen Alltag zu<br />
einer veränderten Gesprächsführung führen<br />
konnte.<br />
„Wenn vorher ein Kind an der<br />
Spüle mit Wasser spielen<br />
wollte, sagte man vielleicht:<br />
´Komm, hör auf, da wird der<br />
ganze Boden nass´ und jetzt<br />
sagt man: ´Was brauchst du<br />
noch alles? Brauchst du noch<br />
irgendwelche Becher, Tassen<br />
oder Flaschen?´“<br />
Diese drei Faktoren, die wertschätzende<br />
Form der Beobachtung, eine durch Interesse<br />
und Zuwendung geprägte Haltung<br />
den Kindern gegenüber und das aufmerksame<br />
Zuhören haben die Kinder bemerkt.<br />
Und dies ist wohl der wichtigste Grund für<br />
die weiteren Veränderungsprozesse! Viele<br />
Fachkräfte berichteten, dass die Kinder<br />
der Motor in dem Projekt waren, die kaum<br />
gefüllten Portfolios von Anfang an liebten<br />
19<br />
und mit ihnen arbeiten wollten, und immer<br />
wieder Beobachtungen und Lerngeschichten<br />
eingefordert haben. Die Zuwendung,<br />
die ihnen in den verschiedenen Phasen<br />
der Bildungs- und Lerngeschichten zuteil<br />
wird und die Bedeutung intensiver Momente,<br />
wie ich sie oben beschrieben habe,<br />
nahmen sie aber nicht nur dankbar auf,<br />
sondern ihr Verhalten hat sich verändert:<br />
Sie wurden selbstbewusster, aufgeschlossener,<br />
interessierter, engagierter, kommunikativer,<br />
mutiger, verantwortungsvoller.<br />
Diese Verhaltensänderungen bei den Kindern<br />
führen beispielsweise dazu, dass unsinnige<br />
Regeln abgeschafft und durch<br />
gemeinsam ausgehandelte ersetzt werden.<br />
Es führt dazu, dass mehr auf die Situation<br />
geschaut wird, was brauchen die<br />
Kinder in diesem Moment und wie können<br />
wir sie darin unterstützen? Und dass es<br />
mehr zu Begegnungen auf gleicher Augenhöhe<br />
kommt. Und es führt dazu, dass<br />
die Kinder freier werden und die Partizipation<br />
im Alltag zunimmt.<br />
„Man sagt einfach nicht mehr<br />
so strikt nein. Es waren viel<br />
mehr Dinge, wo die Kinder<br />
keinen Zugang hatten und<br />
jetzt dürfen sie halt mit gewissen<br />
Regeln an diese Dinge<br />
heran. Das war vorher alles<br />
nicht so.“<br />
Wer sich nun mit den Bildungs- und Lerngeschichten<br />
beschäftigt hat, merkt sofort:<br />
Alle Lerndispositionen, die Margaret Carr<br />
in ihren Learning Stories entwickelt hat,<br />
werden über das Verfahren der Bildungs-<br />
und Lerngeschichten selbst positiv beeinflusst.<br />
Denn aus der Methode des wertschätzenden<br />
Beobachtens hat sich ein<br />
echtes Interesse an den Themen der Kinder<br />
entwickelt. Man entdeckt die Kinder in<br />
ihren Kompetenzen, weil sie die Gelegenheit<br />
bekommen, diese zu zeigen, zu erproben<br />
und weiter zu entwickeln. Wenn<br />
man so will, führt allein die erfolgreiche<br />
Einführung der Bildungs- und Lerngeschichten<br />
dazu, dass neue Bildungsgelegenheiten<br />
geschaffen werden, weil die<br />
Möglichkeiten im Alltag zur Bildung er-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
kannt und genutzt werden, ohne dass explizite<br />
„Bildungsprojekte“ durchgeführt<br />
werden.<br />
Dieses Wechselspiel aus Interesse, Zugewandtheit<br />
und Wertschätzung führt häufiger<br />
zu Dialogen mit den Kindern, wie sie<br />
in den Momenten intensiver Interaktion<br />
zum Ausdruck kommen. Dabei ist es keineswegs<br />
so, dass sich Dialoge nur mit<br />
Kindern ergeben, die über sehr gute<br />
sprachliche Kompetenzen verfügen.<br />
Kleinstkinder, Kinder mit geringen<br />
Deutschkenntnissen oder Kinder mit<br />
Sprachentwicklungsstörungen oder behinderte<br />
Kinder kommen – so die Erfahrungen<br />
in den Projektkitas – ebenso in Dialoge<br />
- in ihren Sprachen! Und genießen die<br />
Momente intensiver Interaktion genauso<br />
wie Kinder, bei denen der verbale Austausch<br />
im Vordergrund steht.<br />
Portfolioarbeit als Beziehungsgestaltung:<br />
Ergebnisse der Kinderinterviews<br />
In einem weiteren Schritt wollten wir wissen,<br />
welche Bedeutung das Projekt für die<br />
Kinder selbst hat. Dazu wurden insg. 57<br />
Kinder mit Hilfe einer Methode der sog.<br />
„dialoggestützten Interviews“ zu ihren<br />
Portfolios befragt. Über die Methode, die<br />
Durchführung und die Möglichkeiten, diese<br />
in der pädagogischen Praxis einzusetzen,<br />
werde ich heute Nachmittag in dem Gesprächskreis<br />
berichten.<br />
Umfang und Struktur der Kinderinterviews*<br />
1 Krippenbereich (2Jährige) 2<br />
8 Kindergartenbereiche (3- bis 6Jährige) 42<br />
1 Hortbereich (7- bis 9Jährige) 6<br />
Antworten<br />
* Interviews nach der Methode der „dialoggestützten Interviews“.<br />
Zusätzlich wurden 2 Interviews mit drei Kindern im<br />
Kindergartenbereich sowie 1 Einzelinterview durchgeführt,<br />
die aus methodischen Gründen in der späteren Auswertung<br />
nicht berücksichtigt wurden.<br />
An dieser Stelle möchte ich jedoch auf einen<br />
Aspekt hinweisen, der in praktisch allen<br />
Interviews mit den Kindern deutlich<br />
hervortrat und der unmittelbar in Zusam-<br />
20<br />
menhang mit dem Thema Interaktionen<br />
steht: Portfolios werden meist mit „Entwicklungsdokumentationen“<br />
gleichgesetzt.<br />
Die „Ordner“ sammeln das Wichtigste von<br />
und für die Kinder und zeigen, wie sich die<br />
Kinder im Laufe der Zeit weiter entwickelt<br />
und welche Lerngeschichten sie erlebt haben.<br />
Bei den Interviews mit den Kindern<br />
kommt aber darüber hinaus ein weiterer<br />
Aspekt zum Ausdruck.<br />
Die Portfolios sind für die Kinder eine<br />
wichtige Gelegenheit zur Beziehungsgestaltung<br />
und Beziehungsarbeit und zwar in<br />
allen möglichen Formen. Beispiele:<br />
• Wenn Kinder von Bildungsangeboten<br />
berichten, die sie in ihren Portfolios<br />
festgehalten haben, steht dies immer<br />
im Kontext zu Beziehungen (wer war<br />
dabei, als ich experimentiert habe, wer<br />
hat was gesagt, getan, warum ist das<br />
Projekt so verlaufen, wer hat gesteuert<br />
oder bestimmt, wer hat die beste Idee<br />
gehabt?). Die Kinder können noch<br />
Monate später genau rekonstruieren,<br />
wie sich ein Projekt entwickelt hat und<br />
welche Rolle sie und andere in dem<br />
Prozess gespielt haben.<br />
• Kinder beschäftigen sich intensiv mit<br />
ihren Beziehungen in der <strong>Kita</strong>, und<br />
zwar in jedem Alter. Anhand der Portfolios<br />
haben sie die Möglichkeit, ihre<br />
Freundschaftsbeziehungen zu zeigen,<br />
zu hinterfragen, auszuloten, die Veränderungen<br />
zu erkennen, nachzuvollziehen<br />
und zu erklären.<br />
• Nicht nur die Beziehungen zu Gleichaltrigen,<br />
auch bei gemeinsamen Aktivitäten<br />
und Projekte mit den pädagogischen<br />
Fachkräften sind Beziehungsaspekte<br />
untrennbar verbunden. Diskussionen,<br />
manchmal Ärger und Kritik<br />
oder ein gemeinsames Nachdenken<br />
über die Welt, die in den Momenten intensiver<br />
Interaktion möglich sind, werden<br />
anhand der Portfolios rekonstruiert.<br />
Welche Bedeutung diese für<br />
Kinder haben, wird unter anderem<br />
daran deutlich, dass sie noch Monate<br />
später erinnert und detailliert beschrieben<br />
werden.<br />
• Auch die Beziehungen außerhalb der<br />
<strong>Kita</strong>, die familiäre Situation, der eigene<br />
kulturelle Hintergrund, Nachbarn und
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Freunde spielen in den Portfolios eine<br />
große Rolle. Ihre komplexen Lebenswelten,<br />
ihre vielen Interessen und Fähigkeiten<br />
(welche Sprachen sie sprechen,<br />
welches Weltwissen sie haben),<br />
aber auch ihre Entwicklungsaufgaben<br />
oder auch besonderen Belastungen<br />
(Tod, Trennungen, Ängste) finden in<br />
ihren Portfolios einen Platz, so dass<br />
sich die Kinder mit ihnen immer wieder<br />
auseinander setzen und sie werden<br />
auch in Gesprächen über die Portfolios<br />
thematisiert.<br />
Aus den Interviews mit den Kindern ist zu<br />
erkennen, dass die Portfolios für die Kinder<br />
eine große, sehr persönliche Bedeutung<br />
haben, die weit über ein Sammel-<br />
oder Erinnerungsalbum hinausgeht. Welche<br />
Teile des Portfolios dabei im Vordergrund<br />
stehen, ist individuell unterschiedlich.<br />
Manchmal sind es die eigenen Werke<br />
– Serien von Dinosauriern, Vulkanen,<br />
Schmetterlingen oder Prinzessinnen, in<br />
denen jedes einzelne Bild eine eigene Bedeutung<br />
und Entstehungsgeschichte hat,<br />
die erklärt werden kann. Manchmal ist es<br />
die Lerngeschichte, die besonders geliebt<br />
wird. Manchmal sind es Bilder aus der <strong>Kita</strong><br />
oder von zu Hause, die zuerst angeschaut<br />
werden. Immer jedoch, und dies ist tatsächlich<br />
das besondere an den Portfolios,<br />
geht es dabei auch um Beziehungen und<br />
die Auseinandersetzung mit Beziehungen.<br />
Fazit:<br />
Warum stelle ich den Aspekt der Interaktionen<br />
als zentrales Ergebnis der wissenschaftlichen<br />
Begleitung so in den Vordergrund?<br />
Erstens, weil wir selbst überrascht waren,<br />
welche Bedeutung der Aspekt der Interaktionen<br />
in allen Phasen des Projekts hatte.<br />
Wohlbefinden und Engagiertheit nehmen<br />
zu, die wertschätzende Beobachtung der<br />
Kinder führt offensichtlich zu Verhaltensänderungen<br />
bei Fachkräften und Kindern,<br />
die von allen Beteiligten positiv gesehen<br />
werden. Wichtig ist es, die sich daraus ergebenden<br />
Gelegenheiten zur Interaktion<br />
bewusst zu gestalten, um eine gedankliche<br />
Nähe zu den Kindern herzustellen.<br />
21<br />
Zweitens, und diesen Aspekt darf man<br />
auch nicht aus den Augen verlieren, bergen<br />
die Bildungs- und Lerngeschichten eine<br />
Gefahr, die paradoxerweise aus ihrer<br />
Attraktivität herrührt: Die Portfolios, die Fotos<br />
und Filme, die Lerngeschichten sind so<br />
begehrt und stoßen auf eine derart positive<br />
Resonanz bei allen Beteiligten, dass<br />
die Gefahr besteht, zu „produktlastig“ zu<br />
werden. Denn Lerngeschichten kann man<br />
durchaus auch aus Textbausteinen „in Serie“<br />
herstellen, Portfolios können zur Massenproduktion<br />
mit Schablonencharakter<br />
verführen, Filme und Fotos können Inflation<br />
bekommen – kurz: Es besteht die Gefahr,<br />
dass nicht mehr die Prozesse, sondern<br />
die Produkte (so schön sie sein können),<br />
in den Vordergrund rücken. Diese<br />
Gefahr verringert sich, wenn es gelingt, zu<br />
einer Kultur des Dialogs zu kommen.<br />
Denn Momente intensiver Interaktion stellen<br />
eine wertvolle Gelegenheit dar, eine<br />
gedankliche Nähe zu den Kindern herzustellen,<br />
gemeinsam über etwas nachzudenken<br />
und sich gegenseitig besser zu<br />
verstehen. Und sie führen zu der wertvollen<br />
Erfahrung, welche Bedeutung Sprache<br />
hat. Gerade die – nicht auf Sprachförderung<br />
ausgerichtete – Kommunikation im<br />
Alltag stellt einen ganz besonderen Wert<br />
von <strong>Kita</strong>s – im Vergleich zu Schulen oder<br />
häufig auch Familien dar.<br />
Einrichtungen, die den Wert einer dialogischen<br />
Kultur erkennen, verzeichnen einen<br />
geradezu pädagogischen Aufbruch und<br />
befreien sich von „alten Zöpfen“. Sie sorgen<br />
für Nachhaltigkeit, weil dieser Prozess<br />
nicht ohne weiteres umkehrbar ist. Einen<br />
wichtigen Beitrag stellen hierbei die Portfolios<br />
dar und dies ist aus meiner Sicht ein<br />
drittes zentrales Ergebnis unserer Analysen:<br />
Sie stellen eine Gelegenheit zu Beziehungsgestaltung<br />
dar – Beziehungen<br />
werden unmittelbar mit Bildungserfahrungen<br />
verknüpft. Insofern sind die Portfolios<br />
als Bildungs- und Beziehungsdokumentationen<br />
der Kinder sehr wertvoll. Auch<br />
wenn diese Prozesse mit Sicherheit noch<br />
nicht abgeschlossen sind, hat sich schon<br />
sehr viel bewegt.<br />
Als vierten und letzten Punkt meines Fazits<br />
möchte ich noch auf einen Aspekt<br />
hinweisen, der bei allen positiven Ergebnissen<br />
des Projekts nicht vergessen wer-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
den darf: Eines unserer zentralen Projektziele<br />
war, jedes Kind in seiner individuellen<br />
Entwicklung in den Blick zu nehmen.<br />
Vor dem Hintergrund unseres heutigen<br />
Fachtags „Mit Beobachtung im Dialog“ ist<br />
auch hier gemeint, dass es wichtig ist, mit<br />
jedem Kind in Dialog zu treten – unabhängig<br />
von seinem Alter, Temperament und<br />
sozialem Hintergrund. Die Evaluation<br />
zeigt, dass dies tatsächlich gelingen kann,<br />
auch mit sehr jungen Kindern, mit Kindern,<br />
die wenig deutsch sprechen oder mit behinderten<br />
Kindern. Wenn unser Projekt einen<br />
Betrag zu einer Kultur des Dialogs geleistet<br />
hat, lässt sich dies wohl mit dem<br />
einfachen Satz: „…und darüber sprechen<br />
wir dann immer!“ am besten kennzeichnen.<br />
Literatur<br />
Arnett, J. (1989). Caregivers in day-care centers:<br />
Does training matter? Journal of Applied<br />
Developmental Psychology, 10, 541-<br />
522.<br />
Carr, M. (2001). Assessment in Early Childhood<br />
Settings: learning stories. London:<br />
Paul Chapman.<br />
König, A. (2008): Interaktionsprozesse zwischen<br />
ErzieherInnen und Kindern. Eine Videostudie<br />
aus dem Kindergartenalltag.<br />
Wiesbaden: VS Verlag.<br />
Leu, H. R., Fläming, K., Frankenstein, Y.,<br />
Koch, S., Pack, I., Schneider, K. & Schweiger,<br />
M. (2007). Bildungs- und Lerngeschichten.<br />
Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten,<br />
dokumentieren und unterstützen.<br />
Weimar Berlin: verlag das netz.Siraj-<br />
Blatchford, I., Sylva, K., Muttock, S., Gilden,<br />
R. & Bell, D. (2002). Re-searching Effective<br />
Pedagogy in the Early Years. DfES Research<br />
Report 356.<br />
Siraj-Blatchford, I., Sylva, K., Muttock, S., Gilden,<br />
R. & Bell, D. (2002). Re-searching Effective<br />
Pedagogy in the Early Years. DfES<br />
Research Report 356.Strauss, A. L. & Corbin,<br />
J. (1996). Grounded Theory. Grundlagen<br />
Qualitativer Sozialforschung. Weinheim:<br />
Beltz.<br />
Sylva, K., Melhuish, E., Sammons, P., Siraj-<br />
Blatchford, I., Taggart, B. & Elliott, K.<br />
(2003). The Effective Provision of Pre-<br />
School Education (EPPE) pro-ject: Findings<br />
from the pre-school period. Zugriff am<br />
22.2.2008. Verfügbar unter:<br />
http://www.ioe.ac.uk/schools/ecpe/eppe/epp<br />
e/eppepdfs/RB%20summary%20findings%<br />
20from%20Preschool.pdf<br />
22<br />
Weltzien, D. & Viernickel, S. (2008): Einführung<br />
stärkenorientierter Beobachtungsverfahren<br />
in Kindertageseinrichtungen – Auswirkungen<br />
auf die Wahrnehmung kindlicher<br />
Interessen, Dialogbereitschaft und Partizipation.<br />
In: Forschung in der Frühpädagogik.<br />
Materialien zur Frühpädagogik, Band 1.<br />
Zentrum für Kinder- und Jugendforschung<br />
(ZfKJ) der Evangelischen Hochschule Freiburg.<br />
S. 203-234<br />
Weltzien, D. (2009): Dialoggestützte Interviews<br />
mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter<br />
unter Berücksichtigung ihrer<br />
Peerbeziehungen. Methode und empirische<br />
Ergebnisse. In: Forschung in der Frühpädagogik.<br />
Materialien zur Frühpädagogik, Band<br />
2. Zentrum für Kinder- und Jugendforschung<br />
(ZfKJ) der Evangelischen Hochschule Freiburg.<br />
S. 69-100<br />
Dr. Dörte Weltzien, Professorin für Pädagogik<br />
der frühen Kindheit an der Evangelischen<br />
Hochschule Freiburg, ist verantwortlich für die<br />
wissenschaftliche Begleitung des Projekts BeobAchtung<br />
und ErziehungsPartnerschaft. Sie<br />
ist Sozialwissenschaftlerin und war mehrere<br />
Jahre in der empirischen Sozialforschung und<br />
an der Hochschule Koblenz tätig.<br />
E-Mail: weltzien@eh-freiburg.de
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Themen der Gesprächsrunden<br />
Elke Schlösser<br />
„Zusammenarbeit mit Eltern –<br />
interkulturell!“<br />
In zwei anregenden und engagiert geführten<br />
Gesprächrunden nahmen wir den<br />
Sinnspruch von MARTIN BUBER zum Anlass,<br />
über unsere Ausgangshaltungen im<br />
Verhältnis zu Eltern zu sprechen:<br />
„Es ist eine Kunst,<br />
jemanden in seinen reifen Möglichkeiten<br />
wahrzunehmen,<br />
also nicht nur in dem, was er ist,<br />
sondern sogar in dem, was er sein und<br />
werden könnte.“<br />
Positiv wurde eingeschätzt, dass eine offene<br />
und akzeptierende Grundhaltung Türen<br />
öffnet, um den Kontakt zwischenmenschlich<br />
warm und angenehm zu gestalten.<br />
Wir diskutierten: In den letzten Jahren finden<br />
die Kooperationsmöglichkeiten von<br />
ErzieherInnen und Eltern immer mehr Beachtung.<br />
Gerade im elementarpädagogischen<br />
Bereich ist es immer selbstverständlicher,<br />
mit zugewanderten Eltern oder<br />
Familien mit Migrationshintergrund zusammenarbeiten.<br />
Diese Kooperation birgt<br />
allerdings für PädagogInnen auch Unsicherheiten<br />
und wirft Fragen auf.<br />
Zusammenarbeit mit Eltern, die im Wesentlichen<br />
durch eine andere Tradition,<br />
Religion oder Sprache geprägt sind, kann<br />
selbstverständlich gelingen – zum Wohle<br />
der Kinder, mit Blick auf die Unterstützung<br />
der Eltern und zur beruflichen Zufriedenheit<br />
der pädagogischen Fachkräfte. Dies<br />
gilt insbesondere dann, wenn sowohl Bedürfnisse<br />
als auch Kompetenzen auf beiden<br />
Seiten in den Blick genommen werden.<br />
Die fachpädagogischen Kompetenzen dazu<br />
werden deutlich im Zusammenhang mit<br />
• Aus- und Fortbildung,<br />
• alltagspraktischer Erfahrung,<br />
23<br />
• Auseinandersetzung mit Qualitätsmanagement<br />
und konzeptioneller Entwicklung.<br />
Dass diese Facetten dringend der interkulturellen<br />
Auslegung bedürfen, sollte mittlerweile<br />
Standard und somit selbstverständlich<br />
sein (siehe „Interkulturelle Konzeptentwicklung“,<br />
in Elke Schlösser: „Wir<br />
verstehen uns gut.“).<br />
Die elterlichen Kompetenzen erschließen<br />
sich nicht so offensichtlich und verlangen<br />
nach dem sensiblen Blick der PädagogInnen.<br />
Sie müssen die Bereitschaft mitbringen,<br />
die traditionellen, sprachlichen und<br />
religiösen Prägungen der Eltern mit Migrationshintergrund<br />
offen wahrzunehmen. Als<br />
pädagogischer Fachkraft sollte mir bewusst<br />
sein, dass ich persönlich Prägungen<br />
dieser Art in meiner eigenen kulturellen<br />
Lebenswelt ebenso erfahren habe. Unsere<br />
„kulturelle Brille“ hat eine gewisse „Tönung“,<br />
die wir nicht selbst wählten, die uns<br />
tiefer prägt, als wir selbst alltäglich merken.<br />
Wichtig ist zu realisieren, dass dies<br />
für Menschen anderer Herkunft ebenso ist.<br />
Teil der interkulturellen Annäherung sollte<br />
daher sein,<br />
• sich sowohl der eigenen, als auch der<br />
kulturellen Prägungen des Gegenübers<br />
bewusst zu sein,<br />
• mehr Informationen über die Bedeutung<br />
und Wirkungen dieser Prägungen<br />
zu erlangen,<br />
• Beeinflussungen durch andere „Tönungen“<br />
zuzulassen und<br />
• sich darüber bewusst zu werden, dass<br />
wir im Laufe unseres Lebens (durch<br />
Beziehungen, Informationen, Reisen,<br />
Literatur, Musik, Tanz, etc.) eine stetige<br />
Durchmischung unserer kulturellen<br />
„Tönung“ erleben.<br />
Gesprächsbereitschaft ist ein Schritt<br />
zum besseren Verständnis, um unverkrampft<br />
und kommunikationssicher diese<br />
geschilderten Phänomene anzusprechen.<br />
Es ist gleichzeitig Kompetenzbeweis im<br />
Rahmen der Zusammenarbeit mit Eltern<br />
mit Migrationshintergrund. Die andersartige<br />
Prägung und den Dialog darüber als<br />
reizvoll und wertvoll anzusehen, macht die<br />
Kompetenz der ErzieherInnen aus. Diese<br />
Haltung verführt zu gesteigerter Metakommunikation<br />
– einer Kommunikation al-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
so über das „was gerade geschieht“. Ein<br />
Beispiel: Ein türkischer Vater kommt zum<br />
Gespräch zur Kindergartenleiterin. Sie bittet<br />
ihn ins Büro und streckt ihm – dort angekommen<br />
– zur Begrüßung die Hand<br />
entgegen. Diese Hand bleibt schwebend<br />
in der Luft stehen und wird nicht zum Gruß<br />
ergriffen. Die Situation wird vielleicht als<br />
peinlich erlebt, verunsichernd, man ist hilflos<br />
und im besten Falle spürt man, dass<br />
eine „Klärung“ der Situation dienlich wäre.<br />
Wie könnte eine solche „Klärung“ interkulturell<br />
sensibel aussehen?<br />
Mit kommunikativer Kompetenz gelingt es,<br />
die evtl. peinliche Situation zu überbrücken,<br />
sowie den Kontakt aufzubauen bzw.<br />
die bestehende Beziehung zu vertiefen.<br />
Man stelle sich also vor: Die Kindergartenleiterin<br />
spricht die für sie unverständliche<br />
Situation an, sagt etwa „Haben Sie das<br />
bemerkt: Ich wollte Ihnen gerade die Hand<br />
geben, und Sie haben sie nicht genommen.<br />
Das war mir etwas komisch, weil ich<br />
als Kind gelernt habe, dass es höflich ist,<br />
jemandem zur Begrüßung die Hand zu<br />
reichen. Vielleicht haben Sie als Kind da<br />
etwas anderes gelernt, was Ihnen selbstverständlich<br />
ist?“<br />
In einem ähnlichen Fall antwortete ein türkischer<br />
Vater darauf, dass er bemerkt habe,<br />
dass die Gesprächspartnerin verheiratet<br />
sei und er gebe dann – eben weil er es<br />
so gelernt habe – aus Respekt keinen<br />
Handschlag. So wird eine Situation besprochen,<br />
ohne ein Verhalten als falsch<br />
oder richtig zu beurteilen und ohne festzuhalten,<br />
wer mit seiner Reaktion im Recht<br />
ist. Kommunikative Sicherheit drückt sich<br />
hier über ein mutiges Ansprechen einer<br />
unverstandenen Situation aus und bewirkt<br />
– besonders wenn Ich-Botschaften vermittelt<br />
werden – mit großer Wahrscheinlichkeit,<br />
dass man sich besser kennen lernt<br />
und ohne Rechtfertigungszwang annähert.<br />
Von hoher Bedeutung ist es, diesen wechselseitigen<br />
Prozess des Austauschs über<br />
kulturelle, traditionelle und religiöse Vorannahmen<br />
früh zu beginnen. Anmelde-<br />
und Aufnahmegespräch sind der Auftakt<br />
dazu. Es gilt, interessiert zu fragen, dabei<br />
aber eine reflektierte Haltung einzunehmen.<br />
Hilfreich ist die Regel: „Stelle nie eine<br />
Frage, wenn du nicht erklären kannst,<br />
was die Antwort dir nutzt.“ Gehen wir so<br />
24<br />
vor, erfahren wir nicht nur Erhellendes über<br />
die Person des Kindes und dessen Eltern,<br />
ihren Migrationsweg und ihre Erfahrungen,<br />
ihre Kompetenzen und ihre Bedürfnisse.<br />
Nein, wir erklären gleichzeitig,<br />
• was wir mit diesen Informationen tun,<br />
• wie sie auf uns wirken und was sie in<br />
uns bewegen und<br />
• wie wir die Erkenntnisse aus den Informationen<br />
in unserer Zusammenarbeit<br />
mit dem Kind wirksam werden lassen<br />
können.<br />
Eltern bewegt in der Regel sehr, wie genau<br />
man sich für ihr Kind und sie selbst<br />
als Familie interessiert und wie wichtig uns<br />
in der Elementarpädagogik die Unterstützung<br />
der Familie ist, sofern ihnen diese<br />
Anliegen eingehend erläutert werden, am<br />
besten zu Beginn des Kontakts und bei<br />
sprachlichen Hindernisse auch mit Dolmetscher.<br />
Mein Resümee: Positive Erfahrungen im<br />
geschilderten Sinne geben die Chance,<br />
dass die gelingende Integration im „Mikrokosmos<br />
Kindergarten“ auf die nächsten<br />
Bildungsinstitutionen übertragen werden<br />
und in der Folge sogar Auswirkungen auf<br />
die Ermutigung zur Integration im „Makrokosmos<br />
der Gesellschaft“ geben. Eine<br />
lohnenswerte Perspektive!<br />
Schlösser, E. (2007). Wir verstehen uns gut –<br />
Spielerisch Deutsch lernen. Münster: Ökotopia<br />
Schlösser, E. (2004). Zusammenarbeit mit Eltern<br />
– interkulturell. Informationen und Methoden<br />
zur Kooperation mit deutschen und<br />
zugewanderten Eltern in Kindergarten,<br />
Grundschule und Familienbildung. Münster:<br />
Ökotopia<br />
Elke Schlösser<br />
E-Mail: tekajaschloesser@t-online.de<br />
www.wir-verstehen-uns-gut.de
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Doris Reemen<br />
Dialog mit Eltern<br />
Zu Beginn der Dialogrunde gab es eine<br />
kurze Einführung in das Thema mithilfe eines<br />
Schaubildes. Danach wurden Erfahrungen<br />
aus den Projekteinrichtungen ausgetauscht<br />
und Fragen zu Themen der Erziehungspartnerschaft<br />
und dem Dialog mit<br />
Eltern bearbeitet.<br />
Eltern /<br />
Erz.berechtigte<br />
„Mit Eltern im Dialog“<br />
Kind<br />
DIALOG<br />
gemeinsam die Potenziale des<br />
Kindes entdecken und fördern<br />
Pädagogische<br />
Fachkräfte<br />
Eltern und Kind haben mit Eintritt in die <strong>Kita</strong><br />
bereits vielfältige Erfahrungen mit Erziehung<br />
und Bildung in der eigenen Familie<br />
und das Kind ist in den meisten Familien<br />
sicher an seine Eltern gebunden. Dies<br />
ist eine wesentliche Voraussetzung für die<br />
Lern- und Bildungsprozesse des Kindes.<br />
Fachkräfte sollten daher die Eltern als<br />
Ersterzieher akzeptieren und sie als Experten<br />
für ihr Kind und die Familie respektieren.<br />
Die Verbindungslinien zwischen Eltern und<br />
Kindertagesstätte werden über die Fokussierung<br />
auf das Kind hergestellt. Im Dialog<br />
und in der Kooperation mit Eltern ist das<br />
Kind mit seinen Entwicklungsschritten<br />
der zentrale Ausgangspunkt. Neben der<br />
eigenen Familie, die für das Kind immer<br />
Vorrang hat, entdeckt es in der Kindertagesstätte<br />
Lernmöglichkeiten in der Kindergruppe.<br />
In diesem Umfeld ist die Erzieherin<br />
die Expertin. So gesehen kommen im<br />
Dialog zwischen Eltern und pädagogischer<br />
Fachkraft zwei unterschiedliche „Experten“<br />
(L. Klein, H. Vogt) ins Gespräch. Die Aufgaben<br />
der beiden Expertenseiten unterscheiden<br />
sich allerdings grundlegend.<br />
25<br />
Nach Eintritt des Kindes in die <strong>Kita</strong> geht<br />
der pädagogische Auftrag der professionellen<br />
Fachkraft in zwei Richtungen.<br />
1. Aufgabe der Erzieherin: In der <strong>Kita</strong>-<br />
Arbeit hat der Beziehungsaufbau zum<br />
Kind die oberste Priorität, um dieses in<br />
seinem Lernen zu unterstützen. Damit<br />
wird deutlich, die professionelle Kraft ist<br />
die Expertin für das Spielen und Lernen in<br />
der Gruppe und Zweiterzieherin nach den<br />
Eltern.<br />
2. Aufgabe der Erzieherin: Die pädagogische<br />
Fachkraft ist wesentlich verantwortlich<br />
für die Gestaltung der Begegnung und<br />
Beziehung mit den Eltern / der Familie.<br />
Das Schaubild zur Triangulierung verdeutlicht,<br />
dass Familie und Kindertagesstätte<br />
gemeinsam die Verantwortung für die Erziehung<br />
und Bildung des Kindes tragen.<br />
Im Interesse des Kindes ist daher eine gute<br />
Kooperation anzustreben. Der Schlüssel<br />
für eine konstruktive Beziehungsgestaltung<br />
ist der Dialog. Der Dialog lebt aber<br />
nicht von seinem Anspruch, sondern von<br />
der konkreten Gestaltung. Der Austausch<br />
mit Eltern beinhaltet eine Kommunikation<br />
auf Augenhöhe sowie eine Gleichrangigkeit<br />
bzw. Gleichwertigkeit der Dialogpartner.<br />
Die Grundhaltung im Dialog ist offen,<br />
interessiert und freundlich.<br />
Die Fachkraft hat neben der Arbeit mit<br />
dem Kind also auch einen professionellen<br />
Auftrag für die Zusammenarbeit mit der<br />
Familie des Kindes. Den Kontakt mit Eltern<br />
fachlich fundiert und kompetent zu<br />
gestalten ist die große Herausforderung<br />
für ein <strong>Kita</strong>-Team.<br />
In der Gesprächsrunde wurde von einigen<br />
Praktikerinnen immer wieder betont, dass<br />
sich eine gute Kommunikation und eine<br />
gelingende Beziehungsarbeit mit den Eltern<br />
positiv auf die Entwicklung des Kindes<br />
auswirken. Die Bildungs- und Lerngeschichten<br />
bieten dabei optimale Voraussetzungen<br />
für stärkenorientierte Entwicklungsgespräche<br />
und Beteiligung der Eltern.<br />
Anwesende Eltern unterstützten diese<br />
Feststellung. Sie berichteten aus eigener<br />
Erfahrung, dass der Blick auf die individuellen<br />
Entwicklungsschritte, das Besprechen<br />
der Interessen und Themen des<br />
Kindes eine große Wertschätzung und<br />
Achtung für die familiäre Erziehungsarbeit
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
darstellt. Diese veränderte Form des Austauschs<br />
ermöglicht beiden Seiten, gemeinsam<br />
über die Förderung des Kindes<br />
nachzudenken und Ideen zu entwickeln.<br />
Während des Erfahrungsaustauschs in der<br />
Gesprächsrunde wurde ein weiterer Aspekt<br />
von den Fachkräften in den Blick genommen<br />
- die dialogische Haltung und die<br />
dazugehörige Kommunikationskompetenz.<br />
Die Mehrzahl der Erzieherinnen fühlt sich<br />
für die Aufgabe der Erziehungspartnerschaft<br />
nur unzureichend qualifiziert. Um<br />
den hohen Anforderungen als Fachfrau<br />
für die Initiierung und Gestaltung von Gesprächsanlässen<br />
mit Eltern gerecht zu<br />
werden, benötigen die Erzieherinnen fundiertes<br />
Fachwissen und praktische Erfahrungen.<br />
Derzeit ist nur über Fortbildungen<br />
und Weiterqualifizierungen die Entwicklung<br />
einer professionellen Gesprächsführung<br />
und dialogischen Haltung möglich.<br />
Das Selbststudium von Fachliteratur wirkt<br />
unterstützend. Letztlich braucht es aber<br />
das praktische Üben in Rollenspielen sowie<br />
die Reflexion der eigenen Haltung.<br />
Die Fachkräfte wünschen sich eine Weiterentwicklung<br />
der Ausbildungssituation<br />
hin zu einer wissenschaftlichen Qualifizierung.<br />
Ein weiterer Themenpunkt beim Dialog der<br />
Fachkräfte war der Auftrag der <strong>Kita</strong>s hin<br />
zur Familienorientierung. Diese Aufgabe<br />
setzt Zeit für Kommunikation mit den Eltern<br />
voraus. Fachkräfte benötigen ein anderes<br />
Zeitbudget aufgrund der veränderten<br />
Anforderungen. Die Entwicklung von<br />
mehr Bildungsqualität in den Einrichtungen<br />
braucht langfristig auch andere Rahmenbedingungen<br />
wie reduzierte Gruppengröße,<br />
höherer Personalschlüssel und<br />
Raumausstattung für Erwachsenenarbeit.<br />
Die wenigen teilnehmenden Elternvertreterinnen<br />
äußerten sich ausgesprochen positiv<br />
über die pädagogische Arbeit in den<br />
Kindertagesstätten. Eine Mutter lobte das<br />
hohe Engagement der Fachkräfte und deren<br />
Bereitschaft, sich mit neuen wissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen auseinanderzusetzen.<br />
Eltern wünschen sich mehr Informationen<br />
über das Wohlergehen ihres<br />
Kindes. Sie möchten Einblicke in die pädagogische<br />
Arbeit und einen regelmäßigen<br />
Austausch über die Lern- und Bil-<br />
26<br />
dungsprozesse ihres Kindes, vor allem<br />
auch aus Sicht der Familie.<br />
Rückblick: In beiden Gesprächsrunden<br />
gab es einen regen Austausch. Besonders<br />
wertvoll wurden die Beiträge der Elternvertreter<br />
angesehen. Einzelne Projekteinrichtungen<br />
konnten über erste positive Entwicklungen<br />
in der Erziehungspartnerschaft<br />
und dem Dialog mit Eltern berichten. Allerdings<br />
stehen viele <strong>Kita</strong>s noch am Anfang<br />
einer tatsächlichen Kooperation und<br />
leider gibt es kein „Rezept“, das eins zu<br />
eins umgesetzt werden kann. Beziehungsarbeit,<br />
ob mit Kindern, Eltern oder<br />
im Team ist und bleibt eine Herausforderung.<br />
Doris Reemen, Pädagogische Begleitung im<br />
Projekt BeobAchtung und ErziehungsPartnerschaft<br />
E-Mail: doris.reemen@freenet.de<br />
Dörte Weltzien<br />
Kinderinterviews<br />
Gelegenheiten, miteinander ins Gespräch<br />
zu kommen<br />
Gespräche mit Kindern gehören zur Alltagspraxis<br />
pädagogischer Fachkräfte.<br />
Aber haben sie wirklich den Charakter von<br />
Gesprächen oder ist es doch häufig eher<br />
eine „Einbahnstraßen-Kommunikation“ mit<br />
Hinweisen, Ratschlägen oder Anweisungen,<br />
die man den Kindern gibt? Sind Fragen,<br />
die den Kindern im Gruppengeschehen<br />
gestellt werden, offen genug, um zum<br />
Nachdenken anzuregen? Gelingt es, gedankliche<br />
Zugänge zu den Kindern, ihren<br />
Ideen, Fantasien und Meinungen herzustellen<br />
oder kommen wir über ein Staunen,<br />
Wundern oder auch Kopfschütteln<br />
oftmals nicht hinaus?<br />
Beobachtungen, wie sie im Rahmen der<br />
Bildungs- und Lerngeschichten durchgeführt<br />
werden, bieten eine Fülle von Gelegenheiten,<br />
um mit Kindern ins Gespräch<br />
zu kommen, weil sie unmittelbar an den<br />
Interessen und Themen der Kinder ansetzen.<br />
In der Portfolioarbeit können Erlebnisse<br />
der Kinder innerhalb und außerhalb<br />
der <strong>Kita</strong> im gemeinsamen Gespräch rekonstruiert<br />
werden und es können Erklä-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
rungen für Dinge gegeben werden, die<br />
andernfalls im Dunkeln bleiben würden.<br />
Kinder genießen die volle Aufmerksamkeit,<br />
die ihnen während aufmerksamen,<br />
wertschätzenden Gesprächen zuteil wird.<br />
Sie merken schnell, ob sie alles sagen<br />
dürfen, was sie denken und soviel Zeit dafür<br />
haben, wie sie brauchen. Sie sind aber<br />
auch sehr sensibel dafür, wenn es sich um<br />
Standardfragen oder schablonenhafte Gesprächsrituale<br />
und -kreise handelt, in denen<br />
niemand mehr zuhört.<br />
Methoden der Gesprächsführung mit<br />
Kindern<br />
Die Offenheit und die Ernsthaftigkeit der<br />
Kinder gehören zu den typischen Merkmalen<br />
in offenen Interviews, wenn es gelingt,<br />
eine Gesprächsatmosphäre herzustellen,<br />
in der sich die Kinder wohl fühlen. Durch<br />
eine zugewandte, fragende Haltung werden<br />
sie ermutigt, sich auf ein Gespräch<br />
einzulassen und über Dinge zu sprechen,<br />
die sie beschäftigen. Häufig geht es um<br />
Themen, mit denen sie sich unmittelbar<br />
zuvor auseinander gesetzt haben, allein<br />
oder mit anderen, in einer aktiven Handlung<br />
oder in Gedanken. Zuweilen sind es<br />
aber auch grundsätzliche Fragen des Lebens,<br />
der Welt oder sie setzen sich mit ihrer<br />
Familiensituation und Freundschaften<br />
auseinander. Die Kinder selbst bestimmen<br />
Inhalte, Dauer und Verlauf des Gesprächs,<br />
die Rolle der pädagogischen Fachkraft ist<br />
die einer Lernenden, Fragenden.<br />
Diese grundlegenden Merkmale kennzeichnen<br />
gelingende Gespräche mit Kindern,<br />
unabhängig davon, ob es sich um<br />
Ad-hoc-Gespräche, beispielsweise im<br />
Kontext von Beobachtungen oder um vorbereitete<br />
Gespräche im Rahmen von Kinderinterviews<br />
handelt.<br />
Dialoggestützte Interviews mit Kindern<br />
Eine besondere Form von Kinderinterviews<br />
stellen dialoggestützte Interviews<br />
mit Kindern unter Berücksichtigung ihrer<br />
Peerbeziehungen dar (vgl. Weltzien 2009).<br />
Hintergrund dieser im Rahmen verschiedener<br />
Praxisforschungsprojekte entwickelten<br />
Methode ist die Überlegung, dass es<br />
für Kinder einfacher ist, Zusammenhänge<br />
zu rekonstruieren, sich also an Erfahrungen<br />
zu erinnern und sie detailliert zu be-<br />
27<br />
schreiben, wenn sie dabei durch ein anderes<br />
Kind bei dem Gespräch unterstützt<br />
werden. Im Vergleich zu typischen Interviewsituationen<br />
mit einem Erwachsenen<br />
und einem Kind kommt es bei der gleichzeitigen<br />
Befragung von zwei Kindern häufiger<br />
auch zu Dialogen zwischen den Kindern.<br />
Die Kinder ergänzen sich in ihren<br />
Erzählungen, regen sich gegenseitig dazu<br />
an, ebenfalls Erlebtes zu erzählen, oder<br />
versuchen, gemeinsame Deutungen zu<br />
entwickeln. Durch die Dialoge, die sich<br />
während eines Interviews zwischen den<br />
Kindern ergeben, wird es für die Zuhörerin<br />
leichter, etwas von den Erzählungen der<br />
Kinder nachvollziehen zu können. Besonders<br />
„dicht“ werden die Beschreibungen,<br />
wenn die Kinder von gemeinsam Erlebtem<br />
erzählen und mit gegenseitiger Unterstützung<br />
versuchen, die Bedeutung ihrer<br />
Handlungen verständlich zu machen.<br />
Typischerweise sind Kinderinterviews von<br />
Erzählschleifen geprägt, die verschiedene<br />
Handlungs- und Zeitebenen miteinander<br />
verknüpfen und die es manchmal nicht<br />
leicht machen, den Gedankengängen der<br />
Kinder zu folgen. Durch ein gemeinsames<br />
Erzählen oder das Aufeinanderbeziehen<br />
der Kinder in ihren eigenen Erzählungen<br />
kommt es häufiger zu einem Kreuzen dieser<br />
Erzählschleifen. Damit wird es leichter,<br />
die Themen der Kinder nachvollziehen zu<br />
können, ohne dass viele Rückfragen erforderlich<br />
sind. Dialoggestützte Interviews<br />
mit Kindern unter Berücksichtigung ihrer<br />
Peerbeziehungen eignen sich besonders<br />
gut auch für Gespräche mit Kindern, die in<br />
Einzelgesprächen eher gehemmt oder irritiert<br />
sind. Durch die entspannte Atmosphäre<br />
und die Orientierung an dem anderen,<br />
lebhafteren Kind, wird es für sie leichter,<br />
sich an dem Gespräch zu beteiligen.<br />
Weltzien, D. (2009): Dialoggestützte Interviews<br />
mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter<br />
unter Berücksichtigung ihrer<br />
Peerbeziehungen. Methode und empirische<br />
Ergebnisse. In: Forschung in der Frühpädagogik.<br />
Materialien zur Frühpädagogik, Band<br />
2. Zentrum für Kinder- und Jugendforschung<br />
(ZfKJ) der Evangelischen Hochschule Freiburg.<br />
S. 69-100.<br />
Dörte Weltzien, Wissenschaftliche Begleitung<br />
des Projekts BeobAchtung und Erziehungs-<br />
Partnerschaft<br />
E-Mail: weltzien@eh-freiburg.de
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Kornelia Schneider<br />
Über Beobachtung im Dialog mit<br />
den Kleinsten<br />
1. Einstieg: Wie kommen Sie in Dialog<br />
durch Beobachten?<br />
Beobachten<br />
Sprechen<br />
Kind Erwachsene/r<br />
Beobachten<br />
Sprechen<br />
Wie wird daraus Dialog?<br />
2. Ergebnisse des Erfahrungsaustauschs<br />
Beobachtungen führen zu Fachwissen:<br />
• Junge Kinder haben keine Worte, aber<br />
trotzdem eine Sprache: Körpersprache<br />
ist ihre Muttersprache. Dazu gehören<br />
Mimik, Gestik, Haltung, Bewegung,<br />
Laute. Beispiel: Ein Kind, was zeigen<br />
will, dass ihm der Kontakt nicht gefällt,<br />
kann den Blick abwenden, den Kopf<br />
oder den Körper wegdrehen.<br />
• Bilder gehören zur Sprache der Kinder.<br />
• Wenn wir uns bei den ersten Wortäußerungen<br />
der Kinder darauf besinnen,<br />
dass Klang(farbe) und Melodie zunächst<br />
das Wichtigste sind, worauf<br />
Kinder bei Sprache reagieren, können<br />
wir vielleicht auch leichter entschlüsseln,<br />
was sie sagen wollen. Beispiel:<br />
„Da-di-ta“ – war der erste Versuch, den<br />
Namen der älteren Schwester Franziska<br />
auszusprechen.<br />
• Zweijährige erkennen sich auf jeden<br />
Fall auf Fotos, allerdings nicht unbedingt<br />
auf Videos. Als erstes sagen sie:<br />
„Das bin ich“ – „Da ist …“ (Das bezieht<br />
sich auf andere Kinder oder Erwachsene,<br />
die sie kennen.). Wenn sie dazu<br />
aufgefordert werden, fangen sie dann<br />
an zu erzählen, was sie gemacht haben,<br />
als das Foto aufgenommen wurde.<br />
Es gibt schon Einjährige, die sich<br />
auf Fotos erkennen.<br />
• Dass Zweijährige so gern Ordnung<br />
herstellen oder etwas ein- und ausräumen,<br />
nennen Entwicklungspsycho-<br />
28<br />
logen: Auseinandersetzung mit Schemata.<br />
Mit Schema ist gemeint: ein<br />
Muster, mit dem sich ein Kind gerade<br />
bevorzugt beschäftigt, entweder als<br />
Form oder als Handlung, z.B. Linie,<br />
Kreis, Viereck (herstellen oder suchen<br />
oder darstellen), Reihen bilden, sortieren,<br />
ein- und auswickeln. Wenn man<br />
darüber etwas weiß, nimmt man es<br />
leichter wahr. Es wird dann in Lerngeschichten<br />
auftauchen.<br />
Bedeutung von Austausch und Dialog:<br />
• Sichtweisen von anderen führen oft zu<br />
einem anderen Bild oder neuen Wahrnehmungen<br />
und Vorstellungen. Das<br />
macht den Austausch mit Kolleginnen<br />
und Eltern so bereichernd, aber genauso<br />
den Austausch mit Kindern.<br />
• Seit wir das Projekt machen, kommen<br />
wir öfter dazu, uns auszutauschen über<br />
unsere Beobachtungen, weil uns<br />
bewusster geworden ist, was Beobachtungen<br />
bringen.<br />
• Beobachtung und Dokumentation bedeuten<br />
– wie die Eingewöhnung – eine<br />
intensive individuelle Zuwendung.<br />
• In Einrichtungen, in denen die Kinder<br />
gewohnt sind, dass Erzieherinnen ihnen<br />
erzählen, was sie wahrgenommen<br />
haben, machen die älteren (Zwei- und<br />
Dreijährige) die Erzieherinnen häufig<br />
darauf aufmerksam, dass ein jüngeres<br />
Kind gerade etwas Neues gemacht<br />
hat.<br />
Was Dialog erleichtert:<br />
• Wenn ich empathisch bin, wenn ich eine<br />
gefühlsmäßige Nähe habe zu einem<br />
Kind, gehe ich auch leichter in Dialog,<br />
denn ich achte dann mehr darauf,<br />
wie es dem Kind geht und was es<br />
sagen will, was es mag und was nicht,<br />
wann es lächelt, wann es sein Gesicht<br />
verzieht.<br />
• Durch Körperkontakt und Körpernähe<br />
entsteht Dialog ganz organisch – wie<br />
bei Müttern. Über Sympathie und<br />
Freude am Kind entstehen Interaktionsspiele,<br />
die wie Dialoge ohne Worte<br />
sind. Man versucht „auf eine Wellenlänge“<br />
zu kommen, um Gemeinsamkeit<br />
herzustellen.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
• Zweijährige, die den Kontakt noch<br />
mehr einfordern als ältere Kinder, bringen<br />
uns dadurch auch leicht in Dialog.<br />
• Bei jüngeren Kindern, bei denen wir<br />
nicht erwarten, dass sie mit uns eine<br />
Unterhaltung mit Worten führen, ist es<br />
leichter als bei älteren, in Dialog zu<br />
kommen, gerade weil wir auf Körpersprache<br />
reagieren. Bei den älteren<br />
sind Gespräche oft davon geprägt,<br />
worauf wir hinaus wollen, d.h. dass wir<br />
sie (didaktisch) in eine bestimmte<br />
Richtung lenken wollen.<br />
• Gebraucht zu werden, öffnet mich für<br />
Dialog. Das funktioniert bei älteren Kindern<br />
nicht mehr so. Die suchen oft gar<br />
keinen Kontakt, sondern sind oft eher<br />
stolz, etwas allein zu können und mich<br />
nicht zu brauchen.<br />
• Man kommt auch durch gemeinsames<br />
Tun in Dialog, besonders mit den<br />
Jüngsten. Beispiel: eine Kiste mit Perlen<br />
ausräumen ohne Worte, aber mit<br />
Verständigung.<br />
• Erwachsene müssen in der Regel lernen,<br />
die nonverbale Sprache von<br />
Säuglingen, Kleinstkindern und Kindern,<br />
die eine andere Muttersprache<br />
haben, zu verstehen. Kinder verständigen<br />
sich spielend mit nonverbaler<br />
Sprache.<br />
• Kinder lesen auch aus der nonverbalen<br />
Sprache der Erwachsenen, was<br />
von ihnen erwartet wird. Deswegen ist<br />
es für Erwachsene, die mit den Jüngsten<br />
arbeiten, wichtig, sich bewusst zu<br />
machen, welche nonverbalen Botschaften<br />
sie mit ihrer Körpersprache<br />
senden.<br />
Was Beobachtung und Dokumentation<br />
erleichtert:<br />
• Häufig wollen die Kinder sich sofort<br />
anschauen, was wir fotografiert haben:<br />
„Zeig mal!“ Das hat auch bei den Kindern<br />
etwas verändert. Sie tragen z.B.<br />
irgendwann von sich aus Sorge dafür,<br />
dass sie fotografiert werden oder ein<br />
Werk von ihnen. Später wollen die Kinder<br />
auch selbst fotografieren und sagen<br />
dann: „Schreib mal dazu, …!“<br />
• Sich danach zu richten, was die Kinder<br />
selbst von sich zeigen oder darstellen<br />
wollen, führt schneller dahin, sich bei<br />
29<br />
der Dokumentation tatsächlich darauf<br />
zu konzentrieren, was dem Kind selbst<br />
wichtig ist. Ein untrügliches Zeichen<br />
dafür ist z.B., wenn sie sagen: „Guck<br />
mal, was ich mache!“ – „Guck mal,<br />
was ich kann!“ oder wenn sie auf etwas<br />
aufmerksam machen, was sie interessiert:<br />
„Da, da!“<br />
• Eigenes Engagement, Begeisterung<br />
und Leidenschaft sind gute Voraussetzungen,<br />
um festzuhalten, wie Kinder<br />
sich bilden. Ein viel versprechender<br />
Weg, dahin zu kommen, ist z.B. sich<br />
auf „magic moments“ (faszinierende<br />
Momente) zu konzentrieren, denn aufzuschreiben,<br />
was mich fasziniert hat<br />
beim Beobachten der Handlung eines<br />
Kindes, macht Spaß. Und es ist auch<br />
sehr spannend, die Beobachtungen<br />
von solchen „magic moments“, weiterzuerzählen.<br />
• Ausreichende Rahmenbedingungen<br />
sind notwendig. Die Rahmenbedingungen<br />
sind oft eine Grenze – „egal,<br />
wie begeistert du bist“.<br />
• Das Modell des „progressiven Filter“<br />
von Margaret Carr, trägt dazu bei,<br />
besser einordnen zu können, was Beobachtung<br />
und Dokumentation bringen.<br />
Noticing<br />
Wahrnehmen<br />
Recognising<br />
Erkennen<br />
Responding<br />
Antworten<br />
Documenting<br />
Dokumentieren<br />
Revisiting/<br />
Sharing<br />
Sich Austauschen mit<br />
Kindern<br />
Jeden Tag nehmen wir eine Unmenge<br />
wahr. Doch nur Einiges davon wird uns<br />
bewusst und führt zu Erkenntnissen. Den<br />
Kindern zurückzumelden, was wir von ihrem<br />
Lernen wahrgenommen haben (Revisiting),<br />
hat die größten Wirkungen.
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Es ist genau das, was als Tagungsüberschrift<br />
gewählt wurde: „… und darüber<br />
sprechen wir dann immer!“<br />
Kornelia Schneider<br />
E-Mail: kornelia.schneider@frueh-lernwerk.de<br />
Katrin Schaerer-Surbeck<br />
Stärkende Lerndialoge zur Bildungs-<br />
und Resilienzförderung – ein<br />
aktuelles Projekt aus der Schweiz<br />
Das soeben gestartete Projekt „Bildungs-<br />
und Resilienzförderung im Frühbereich“<br />
am Marie Meierhofer Institut für das Kind<br />
in Zürich wurde zu Beginn der Gesprächsrunde<br />
vorgestellt:<br />
Das Beobachtungsverfahren der „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten“ wird ab Juni<br />
2009 bis Juli 2010 in diesem Projekt auf<br />
Schweizer Kindertageseinrichtungen adaptiert<br />
und innerhalb von vier Teilstudien<br />
auf seine Wirksamkeit wissenschaftlich<br />
untersucht. Zur Zeit liegen für die Schweiz<br />
noch keine Erfahrungswerte und Ergebnisse<br />
in der Praxiserprobung der „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten“ vor.<br />
Das Projekt soll dazu beitragen:<br />
• Kinder in ihren Bildungs- und Entwicklungsprozessen<br />
besser zu verstehen<br />
und zu unterstützen,<br />
• den Diskurs über anschlussfähige<br />
Bildungskonzepte im Frühbereich in<br />
der Schweiz anzuregen und <strong>Kita</strong>s als<br />
Bildungsinstitutionen zu stärken,<br />
• die pädagogischen Fachkräfte als<br />
ExpertInnen für frühkindliche Bildung<br />
zu professionalisieren und die Qualität<br />
von <strong>Kita</strong>s in der Schweiz weiterzuentwickeln<br />
und<br />
• wichtige Erkenntnisse in Bezug auf<br />
die Wirksamkeit systematischer Bildungsbeobachtung<br />
und -<br />
dokumentation anhand der „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten“ zu gewinnen.<br />
Im Anschluss wurde in der Gesprächsrunde<br />
auf die verschiedenen Dialogkombinationen<br />
(z.B. Kind-Kind / Fachkraft-Kind /<br />
Fachkraft-Eltern / Fachkraft-Fachkraft etc.)<br />
30<br />
hingewiesen, von denen sich durch das<br />
Verfahren positive Veränderungen und Effekte<br />
erwarten lassen. Die Dialogkombinationen<br />
wurden in der Mitte des Gesprächkreises<br />
als Gedankenstütze für den folgenden<br />
Austausch dargestellt.<br />
Als Ausgangslage für die Gesprächrunden<br />
dienten die folgenden Fragen:<br />
• Wie sind die Erfahrungen der Teilnehmenden<br />
auf den einzelnen Dialogebenen?<br />
• Wie lassen sich ganz konkret die Dialoge<br />
ankurbeln?<br />
• Wo sind Knackpunkte bzw. Schwierigkeiten<br />
aufgetreten?<br />
• Finden die Dialoge tatsächlich ressourcenorientiert<br />
statt?<br />
Folgende Gedanken und Erfahrungen kamen<br />
in den Gesprächrunden zur Sprache:<br />
• Grundsätzlich lässt sich aus beiden<br />
Gesprächskreisen zusammenfassen,<br />
dass die Erfahrungen mit den „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten“ in der<br />
Praxis durchweg positiv ausfallen. Dabei<br />
wurden Erfahrungen in unterschiedlichen<br />
Kontexten und unter verschiedenen<br />
Rahmenbedingungen berücksichtigt<br />
(<strong>Kita</strong>, Hort, Sprachkurse<br />
für Migranten, sozialpädagogische Einrichtungen).<br />
Mehrmals wurde darauf<br />
hingewiesen, dass die Portfolios, die<br />
aus diesem Verfahren entstehen, den<br />
Dialog mit dem Kind, mit den Eltern,<br />
aber auch im Team anregen und bereichern.<br />
Auch gemeinsame Handlungen<br />
regen diese Dialoge an.<br />
• Insbesondere fremdsprachige und „bildungsferne“<br />
Familien reagieren sehr<br />
positiv auf das Verfahren. Es wurde<br />
jedoch auch festgestellt, dass die ressourcenorientierte<br />
Haltung, die dem<br />
Verfahren zu Grunde liegt, von den Eltern<br />
nicht immer übernommen wird. Es<br />
stellten sich die Fragen: Wie können<br />
wir diese Haltung auch den Eltern<br />
vermitteln? Wie könnten wir mit den Eltern<br />
eine gemeinsame Sprache entwickeln?<br />
Wie holen wir die Eltern ins<br />
gleiche Boot? Auch hier wurde darauf<br />
hingewiesen, dass sich dieses gemeinsame<br />
Verständnis durch gemein-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
sames Handeln, aber auch durch gemeinsames<br />
Betrachten von Fotos entwickeln<br />
könne.<br />
• Ein weiteres zentrales Thema war die<br />
Gestaltung der Übergänge in weiterführende<br />
Bildungsstufen und die Zusammenarbeit<br />
mit der Schule. Lässt<br />
sich diese ressourcenorientierte<br />
Grundhaltung auch auf die Schule übertragen?<br />
Hier wurde von einzelnen,<br />
positiven Erfahrungen berichtet. Eine<br />
Hortleitung hatte beispielsweise die Initiative<br />
ergriffen und Kontakt zur Schule<br />
hergestellt. Die daraus entstandene<br />
Zusammenarbeit hat sich für beide<br />
Seiten sehr gelohnt. Es wurde betont,<br />
dass die Projekterfahrung mit den „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten “viele Argumente<br />
liefere, von denen auch die<br />
Schule profitieren könne.<br />
• Wie lange lässt sich, so auch die weiterführende<br />
Frage, dieser Ansatz überhaupt<br />
im Bildungssystem weiterführen?<br />
Bedenken dazu wurden von einem<br />
Berufsschullehrer geäußert, der<br />
sich im selektiven Bildungssystem verpflichtet<br />
fühlt, auch die Schwächen von<br />
angehenden ErzieherInnen zu thematisieren.<br />
Nach wie vor steht das Bildungssystem<br />
in einem Spannungsverhältnis<br />
zwischen Förderung und Selektion.<br />
Demgegenüber wurde argumentiert,<br />
dass es bei den „Bildungs- und<br />
Lerngeschichten“ um eine pädagogische<br />
Grundhaltung gehe, die sich<br />
durch alle Bildungsstufen hindurch aufrechterhalten<br />
ließe.<br />
• Angesprochen auf die „Knackpunkte“<br />
äußerten die TeilnehmerInnen: Man<br />
muss sich von eingespielten Tagesabläufen<br />
und Routinehandlungen trennen,<br />
z.B.:<br />
Angebote durchführen,<br />
Teamsitzungsstrukturen,<br />
sich grundsätzlich zurücknehmen<br />
lernen,<br />
offene Raumgestaltung (hatte sich<br />
in einer Institution nicht bewährt).<br />
Aber das „Loslassen“ lohnt sich, denn<br />
durch die „Bildungs- und Lerngeschichten“<br />
nimmt die pädagogische Qualität zu.<br />
31<br />
• Eine teilnehmende Mutter äußerte im<br />
Gesprächskreis: „Ich habe die Fachkräfte<br />
in dieser Projektphase als sehr<br />
kompetent wahrgenommen.“<br />
• Eine Fachkraft äußerte sich über eine<br />
Mutter: „Sie geht nun gelassener und<br />
ruhiger mit ihrem Kind um.“<br />
Ich bedanke mich ganz herzlich für all die<br />
Erfahrungen und Gedanken, die in diesen<br />
Gesprächskreisen „mit-geteilt“ wurden! Mit<br />
vielen positiven Eindrücken und neuen<br />
Gedanken kehrte ich in die Schweiz zurück!<br />
Katrin Schaerer-Surbeck<br />
E-Mail: schaerer@mmizuerich.ch<br />
Anne Kebbe<br />
Lernen im Netzwerk der Fachkräfte<br />
Das Lernen der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen<br />
ist ohne den permanenten<br />
Dialog im Team, mit Kindern und Eltern<br />
undenkbar.<br />
In unserem Projekt musste gelernt werden,<br />
wie Lern- und Entwicklungsprozesse<br />
von Kindern anhand der Methode „Bildungs-<br />
und Lerngeschichten“ (DJI 2007)<br />
wahrgenommen, verstanden, dokumentiert<br />
und gefördert werden können. Anders,<br />
als dies oftmals in Ausbildung und<br />
Praxis vermittelt wurde, ging es in diesem<br />
Projekt und mit dieser Methode darum,<br />
Kinder vor allem auf ihre Stärken und<br />
Ressourcen hin zu betrachten, ihre Fähig-
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
keiten und Kompetenzen ernst zu nehmen,<br />
ihnen grundsätzlich mit Wertschätzung<br />
und Achtung zu begegnen. Auf die<br />
Haltung kommt es also an. Sie muss von<br />
Interesse, Freundlichkeit und Wohlwollen<br />
geprägt sein. Sie zu „erwerben“ ist jedoch<br />
mitunter mit einem langen Lernprozess<br />
verbunden. In diesem Lernprozess müssen<br />
die lernenden Erzieherinnen ihrerseits<br />
die Erfahrung machen, dass ihnen Wertschätzung<br />
und Achtung entgegengebracht<br />
wird, dass auch ihre Fähigkeiten und<br />
Kompetenzen berücksichtigt werden.<br />
Lernen ist zunächst immer ein individuelles<br />
Geschehen, in dem eine Erzieherin ihr<br />
Wissen und ihre Handlungsmöglichkeiten<br />
in Bezug auf eine konkrete Frage oder eine<br />
Schwierigkeit erweitert. Ob aus diesem<br />
individuellen Lernen dann auch eine bessere<br />
Qualität der <strong>Kita</strong> insgesamt entstehen<br />
kann, hängt von zwei Komponenten ab:<br />
• erstens von der Bereitschaft der einzelnen<br />
Fachkraft, das Gelernte mit anderen<br />
zu teilen;<br />
• zweitens von der Bereitschaft im<br />
Team, von dieser Kollegin lernen zu<br />
wollen.<br />
Wo diese Lernbereitschaft gegeben ist,<br />
kann auch von Kindern und Eltern gelernt<br />
werden: Schließlich bringen alle – auch<br />
die Allerkleinsten – Anregungen und Fragen<br />
ein, die den Lernkreislauf in Gang halten.<br />
Mit dem Projekttitel BeobAchtung und<br />
ErziehungsPartnerschaft ist dieses Zusammenwirken<br />
bereits programmatisch<br />
gefasst.<br />
Nun, zum Ende des Projektes, kommt es<br />
darauf an, die Haltung des „positiven<br />
Blicks“, das erworbene Methodenwissen<br />
und die neuen Kompetenzen der individuellen<br />
Wahrnehmung und Förderung der<br />
kindlichen Entwicklungsaufgaben und<br />
Lernwünsche in die Alltagsroutine der <strong>Kita</strong><br />
zu verankern. Auch das muss gelernt werden.<br />
Bis eine tatsächlich sinnvolle und machbare<br />
Organisation der Arbeitsabläufe gefunden<br />
ist, werden Fachkräfte sich selbst in<br />
Bezug auf die Lerndisposition „Standhalten<br />
in schwierigen Situationen“ weiterentwickeln<br />
(das könnte in einer entsprechenden<br />
Team-Lerngeschichte dokumentiert<br />
werden). Stärken- und Ressourcenorien-<br />
32<br />
tierung sind die Voraussetzung dafür, dass<br />
Vereinbarungen zum Zeit- und Aufgabenmanagement<br />
von allen akzeptiert und<br />
GERNE übernommen werden.<br />
Hier kann das stärkenorientierte Beobachten<br />
der Kinder und der andauernde Dialog<br />
mit den Eltern Orientierung geben und eine<br />
gute Kultur des Lernens im Team befruchten.<br />
Anne Kebbe, Pädagogische Begleitung im Projekt<br />
BeobAchtung und ErziehungsPartnerschaft<br />
E-Mail: kebbe@kebbe.eu
Newsletter <strong>Nr</strong>. 8<br />
Januar 2010<br />
Lesetipps und Links<br />
Kebbe, A. & Reemen, D. (2009). BeobAchtung<br />
und ErziehungsPartnerschaft. Fortbildungshandbuch.<br />
Ludwigshafen. (in Vorb.)<br />
Viernickel, S. (Hrsg.) (2009). Beobachtung<br />
und Erziehungspartnerschaft. Berlin: Cornelsen<br />
Scriptor. – siehe nebenstehende Abbildung<br />
Viernickel, S. & Völkel, P. (2005). Beobachten<br />
und Dokumentieren im pädagogischen Alltag.<br />
Freiburg, Basel, Wien: Herder.<br />
Weltzien, D. & Viernickel, S. (2008). Einführung<br />
stärkenorientierter Beobachtungsverfahren<br />
in Kindertageseinrichtungen. Auswirkungen<br />
auf die Wahrnehmung kindlicher<br />
Interessen, Dialogbereitschaft und Partizipation.<br />
In: K. Fröhlich-Gildhoff, I. Nentwig-<br />
Gesemann & R. Haderlein (Hrsg.), Forschung<br />
in der Frühpädagogik. Materialien zur Frühpädagogik<br />
(Band 1, S. 203-234). Freiburg: FEL.<br />
Weltzien, D. (2007). Mutmacher und Fallstricke.<br />
Erste Evaluationsergebnisse. In: Beobachtung<br />
& Erziehungspartnerschaft. Newsletter<br />
<strong>Nr</strong>. 5 (Sonderausgabe). Download unter:<br />
http://www.offensive-bildung.de/<br />
Weltzien, D. (2009). Dialoggestützte Interviews<br />
mit Kindern im Kindergarten- und<br />
Grundschulalter unter Berücksichtigung ihrer<br />
Peerbeziehungen. Methode und empirische<br />
Ergebnisse. In: K. Fröhlich-Gildhoff, I.<br />
Nentwig-Gesemann & R. Haderlein (Hrsg.),<br />
Forschung in der Frühpädagogik. Materialien<br />
zur Frühpädagogik (Band 2, S. 69-100). Freiburg:<br />
FEL.<br />
Weltzien, D. (2009). Wertvolle Dialogerlebnisse<br />
im Kontext ressourcenorientierter<br />
Beobachtungsverfahren. Empirische Analysen.<br />
In: N. Flindt & K. Panitz (Hrsg.), Frühkindliche<br />
Bildung. Entwicklung und Förderung<br />
von Kompetenzen (S. 91-97). Saarbrücken:<br />
SVH.<br />
Weltzien, D. & Ziesemer, S. (2009). Beobachtung<br />
und Erziehungspartnerschaft. Ergebnisse<br />
der wissenschaftlichen Begleitung.<br />
Abschlussdokumentation. (in Vorb.)<br />
33<br />
Das Buch zum Projekt BeobAchtung und ErziehungsPartnerschaft<br />
ist erhältlich im Cornelsen<br />
Scriptor-Verlag, ISBN 978-589-24572-7.<br />
Download des Abschlussberichts BeobAchtung<br />
und ErziehungsPartnerschaft sowie weiterer<br />
Informationen zum Projekt unter:<br />
http://www.offensive-bildung.de/<br />
Ansprechpartner<br />
Projektteam:<br />
Prof. Dr. Susanne Viernickel, viernickel@ash-berlin.eu<br />
Prof. Dr. Dörte Weltzien, weltzien@eh-freiburg.de<br />
Dipl. Päd. Anne Kebbe, kebbe@kebbe.eu<br />
Soz.päd. Doris Reemen, doris.reemen@freenet.de<br />
Soz.päd. Alida Zaanen, alida.zaanen@diakonie-pfalz.de<br />
Projektträger:<br />
Prot. Kirchenbezirk Ludwigshafen<br />
http://www.ekilu.de<br />
Ansprechpartner:<br />
Alida Zaanen, alida.zaanen@diakonie-pfalz.de<br />
Jürgen Leuz, juergen.leuz@evkirchepfalz.de