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Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey Vienna Health and Social ...

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I. THEORIE, STICHPROBE, METHODEN Theoretisches Konzept<br />

1.1.2.4.6 Soziale Zugehörigkeit <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

über Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit<br />

Das, was sich der einzelne unter Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit vorstellt, ist durch das rationale Denken der<br />

Medizin mitgeprägt; diese Vorstellungen nehmen aber<br />

auch je nach sozialer Zugehörigkeit – der Zugehörigkeit<br />

zu einer Klasse, einem Geschlecht, einer Kultur<br />

oder einer Religion – unterschiedliche Formen an.<br />

Zur Beschreibung der Entstehung von derartigen Unterschieden<br />

greift man auf den soziologischen Begriff<br />

der Beziehung zum Körper <strong>und</strong> zur Ges<strong>und</strong>heit zurück.<br />

Er umfasst sämtliche Wahrnehmungen, Einstellungen<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen, durch die der Mensch zum<br />

Ausdruck bringt, was ihm sein Körper bedeutet <strong>und</strong><br />

wie er ihn einsetzt. Eine klassische Anwendung dieses<br />

Begriffs findet sich bei Boltanski (1968). Er unterscheidet<br />

zwischen reflexiven <strong>und</strong> instrumentalen Haltungen<br />

gegenüber dem Körper <strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heit.<br />

Eine reflexive Beziehung zur Ges<strong>und</strong>heit besteht dann,<br />

wenn der Mensch die Zeichen <strong>und</strong> Symptome seines<br />

Körpers stets aufmerksam verfolgt <strong>und</strong> in diesem Sinne<br />

einen ständigen Dialog mit seinem Körper führt. Er<br />

horcht auf, wenn der Körper eine Botschaft sendet <strong>und</strong><br />

entziffert die Hinweise auf eine etwaige Veränderung<br />

oder Störung. Mit der Möglichkeit einer Erkrankung<br />

wird gerechnet. Die Krankheit ist in den üblichen Umgang<br />

mit der Ges<strong>und</strong>heit integriert.<br />

Bei einer instrumentalen Beziehung wird dem Körper<br />

hingegen keine Beachtung geschenkt – es sei denn, er<br />

versagt seinen Dienst. Krankheit wird als Zwischenfall<br />

empf<strong>und</strong>en, der den Betroffenen an der Erfüllung seiner<br />

täglichen Aufgaben hindert. Ges<strong>und</strong>heit leitet sich<br />

aus dem Nichtvorh<strong>and</strong>ensein der Krankheit ab <strong>und</strong> bedarf<br />

keiner besonderen Aufmerksamkeit. D. h. nicht,<br />

dass der Mensch für seinen Körper nicht Sorge trägt.<br />

Er pflegt ihn jedoch, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten<br />

<strong>und</strong> nicht aus ges<strong>und</strong>heitsorientierten Erwägungen<br />

heraus.<br />

Die beiden Haltungen hängen gemäß BOLTANSKI unmittelbar<br />

mit der sozialen Schichtung zusammen: Die<br />

reflexive Haltung ist für mittlere <strong>und</strong> wohlhabende<br />

Klassen typisch; hier gilt der Körper als Träger des Erscheinungsbildes<br />

<strong>und</strong> der Geistesarbeit. Hingegen findet<br />

man die instrumentale Haltung in den unteren Be-<br />

52<br />

völkerungsschichten; sie lässt sich sehr direkt durch<br />

die materiellen Lebensbedingungen <strong>und</strong> insbesondere<br />

durch das Überwiegen von manuellen Tätigkeiten erklären.<br />

Die Haltungen gegenüber dem Körper sind lediglich<br />

der Ausdruck der Klassenzugehörigkeit des<br />

Einzelnen.<br />

Dieser Ansatz dient auch dazu, die unterschiedlichen<br />

Beziehungen, die Frauen <strong>und</strong> Männer ein <strong>und</strong> derselben<br />

sozialen Schicht zu ihrem Körper haben, zu verstehen.<br />

In den unteren Bevölkerungsschichten herrscht<br />

zwar eine instrumentale Beziehung zum Körper vor,<br />

doch tendieren gemäß BOLTANSKI die Frauen eher<br />

zur Entwicklung einer reflexiven Körperbeziehung. Die<br />

reflexive Einstellung zum Körper, die in höheren Bevölkerungsschichten<br />

vorkommt, ist bei Frauen ausgeprägter<br />

als bei Männern.<br />

Welches Verhältnis ein Mensch zu seinem Körper <strong>und</strong><br />

seiner Ges<strong>und</strong>heit hat, liefert jeweils Hinweise über<br />

dessen Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Kultur. Es<br />

prägt auch die Einstellung gegenüber dem Risiko sowie<br />

der Art <strong>und</strong> Weise, wie die <strong>Ges<strong>und</strong>heits</strong>versorgung<br />

in Anspruch genommen wird. Dieses Verhältnis<br />

ist ein Schlüssel zum Verständnis von Ungleichheiten<br />

im <strong>Ges<strong>und</strong>heits</strong>bereich (CARDIA-VONÈCHE & BAS-<br />

TARD, 1996).<br />

1.1.3 Ein umfassender <strong>Ges<strong>und</strong>heits</strong>begriff<br />

In den letzten beiden Jahrzehnten vollzog sich vor allem<br />

mit den Arbeiten ANTONOVSKYS (1979, 1987)<br />

ein Perspektivenwechsel hinsichtlich der Konzeptualisierung<br />

des Begriffes Ges<strong>und</strong>heit. Dem traditionellen<br />

Begriff der Pathogenese wurde die Salutogenese gegenübergestellt.<br />

Mit diesem Terminus wird danach gefragt,<br />

warum Menschen trotz Belastungen ges<strong>und</strong> bleiben<br />

bzw. wie Ges<strong>und</strong>heit wiederhergestellt wird. Dies impliziert<br />

auch eine Wende im ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlichen<br />

Denken, die Tendenz von einer krankheitsorientierten<br />

Belastungsforschung hin zu einer ressourcenorientierten<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heits</strong>forschung. Das statische Konzept<br />

eines negativen <strong>Ges<strong>und</strong>heits</strong>begriffes, d. h. Abwesenheit<br />

von Krankheit, ist aus dieser Sicht<br />

unzureichend.<br />

Ges<strong>und</strong>heit, <strong>und</strong> damit auch die Zuständigkeit für Ges<strong>und</strong>heit,<br />

wird aus dem medizinisch definierten Kontext<br />

herausgenommen <strong>und</strong> um die psychosoziale Dimension<br />

WIENER GESUNDHEITS- UND SOZIALSURVEY

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