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Vorklärungen

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Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass Sprache und Wahrnehmung der realen Welt<br />

nicht etwa „objektive“ Vorgänge sind, sondern selbst schon sozialstrukturell eingebunden.<br />

Begriffe sind Hilfsmittel der Verständigung, sie hängen mit Interessen<br />

zusammen und mit Positionen in Kontexten. Begriffe sind, wie man daran<br />

gut erkennen kann, Vereinbarungen. Sie sind nicht wahr oder falsch, sondern<br />

zweckmäßig oder unzweckmäßig – bezogen auf Zwecke, auf eine Fragestellung<br />

und ein Erkenntnisinteresse. Die sind vorab zu klären, bevor sich im konkreten<br />

Fall sagen lässt, was wir als Gesellschaft definieren wollen.<br />

Eindeutig definieren lässt sich nur die Weltgesellschaft – aber das hilft uns<br />

nicht viel weiter, weil diese Weltgesellschaft ja nicht gleichzeitig auch Handlungseinheit<br />

ist, weil sie nur sehr schwach ausgeprägte Institutionen hat. Für sie gilt,<br />

wenn auch in einem sehr weiten, einem in die Zukunft gerichteten, normativen<br />

Sinn, die Gemeinsamkeit von Kultur, Geschichte, Rechtssystem, Institutionen.<br />

Auch wenn die noch schwach ausgeprägt erscheinen mögen, ist doch „Die eine<br />

Welt“ 5 für uns alle zunehmend Wirklichkeit und Aufgabe zugleich. Ihre Institutionen<br />

sind als Staatensystem organisiert. Aber es gibt keine Teilgesellschaften<br />

(mehr), die sich in irgendeinem vernünftigen Sinn als autonom, souverän, unabhängig<br />

verstehen ließen. Die organizistische Analogie, die sich die Entwicklung<br />

der Weltgesellschaft wie das Entstehen eines Baumes aus einem Samenkorn<br />

vorstellt, ist irreführend. Zutreffender ist ein Bild, das die Weltgesellschaft als<br />

einen Rahmen sieht, der zunehmend dichter mit Fäden ausgewoben wird (Wallerstein).<br />

Alle anderen Einheiten, die als Gesellschaften angesprochen werden<br />

können, haben – zusammen mit der inneren Struktur – die äußere Abhängigkeit<br />

als Charakteristikum. Das muss sich in Sozialstrukturanalyse wieder finden<br />

lassen.<br />

Diese Einsicht hat Konsequenzen, die sich besonders klar erläutern lassen an<br />

der Entwicklung einer europäischen Gesellschaft: Vieles spricht dafür, Europa<br />

auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft zu sehen, auch wenn das noch lange dauern<br />

und über viele weitere Schritte führen mag. Das Wesen, der Kern dieser<br />

Gesellschaftswerdung besteht in der Ausbildung gemeinsamer europäischer<br />

Institutionen, die wir bereits in reichem Maße haben und die an jedem europäischen<br />

Gipfel weiter ausgebaut werden. Das Zusammenwachsen zu einer<br />

Gesellschaft geschieht über Institutionenbildung. Dieser so bedeutende Vorgang<br />

ist aber nur verständlich, ja nur erkennbar, wenn wir von der Vision einer<br />

europäischen Gesellschaft ausgehen, die es ja noch nicht gibt, die erst in Zukunft<br />

entstehen soll. Das aber heißt, dass die wirklich wesentlichen Fragen zum Verständnis<br />

dieser Gesellschaft aus der Zukunft bezogen werden. Denn es leuchtet<br />

unmittelbar ein, dass eine Untersuchung der europäischen Gesellschaft, die<br />

z.B. sich auf Daten der nationalen Statistiken der Mitgliedsstaaten stützt, eben<br />

dieses zentrale Element der Institutionenbildung gar nicht in den Blick bekommen<br />

kann, weil sie Europa begreift als additiv zusammengesetztes Produkt der<br />

Nationalstaaten, also aus einem Gesellschaftsmodell der Vergangenheit. Jede<br />

Einsicht, die aus solchen Analysen gewonnen werden könnte, bleibt dem natio-<br />

5 – Nolte, 1982<br />

26<br />

glob_prob.indb 26 22.02.2006 16:39:45 Uhr

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