Schubert Handbuch
Schubert Handbuch
Schubert Handbuch
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Schubert</strong><br />
<strong>Handbuch</strong>
SCHUBERT IN SEINER WELT<br />
von Walther Dürr<br />
1
2<br />
EINLEITUNG<br />
SCHUBERT –<br />
DAS »KIND DER GROSSSTADT«<br />
Die Kaiserstadt Wien um 1810: Das ist die<br />
größte unter den deutschsprachigen Städten mit<br />
etwa 250000 Einwohnern –die Vorstädte eingerechnet,<br />
die von der noch immer mit einer<br />
Mauer umgebenen Innenstadt nach allen Richtungen<br />
ausstrahlen. Der Glanz und die Tradition<br />
dieser Stadt sind auch nach der Auflösung<br />
des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation<br />
ungebrochen –selbst Besuchern aus der<br />
aufstrebenden Rivalin, dem der Einwohnerzahl<br />
nach nur wenig kleineren Berlin, gilt sie weiter<br />
als die heimliche Kapitale. Mit Begeisterung<br />
schildert Johann FriedrichReichardtinden Vertrauten<br />
Briefen von seiner zweiten Wien-Reise<br />
(1808-1809) die Stadt: Sie »ist gewiß für Jeden,<br />
der des frohen Lebensgenusses fähig ist, und<br />
besonders für denKünstler,vielleicht auchganz<br />
besonders für den Tonkünstler, der angenehmste,<br />
reichste und frohste Aufenthalt in Europa.<br />
Wien hat Alles, was eine große Residenzstadt<br />
bezeichnet, in einem ganz vorzüglich hohen<br />
Grade. Es hat einen großen, reichen, gebildeten,<br />
kunstliebenden, gastfreien und gesitteten,<br />
feinen Adel; es hat einen reichen, geselligen,<br />
gastfreienMittel- undBürgerstand, demeseben<br />
so wenig an gebildeten und wohlunterrichteten<br />
Männern und liebenswürdigen Familien fehlt;<br />
es hat ein wohlhabendes, gutmüthiges, lustiges<br />
Volk« (II, S. 138f.). Dem ein kargeres Leben<br />
gewöhntenPreußenimponiert derReichtum der<br />
Stadt (der inWahrheit infolge der napoleonischenKriegeundeinesdamitverbundenenWährungsverfalls<br />
bereits deutlich gelitten hatte); er<br />
ist beeindruckt von der Zahl der Fuhrwerke,<br />
der Durchsetzungskraft der Polizei, der es gelingt<br />
»die vollkommenste Ruhe und Ordnung in<br />
der Stadt und in den Vorstädten« zu halten<br />
(S. 140), den musterhaften »Kranken- und Heilungsanstalten«,derAusstattung<br />
derMärkteund<br />
der Geschäfte und –natürlich –dem reichen<br />
Theater- und Konzertleben:<br />
»In der Stadt und den Vorstädten spielen das<br />
ganze Jahr fünf Theater von der verschiedensten<br />
Art. Auf den beiden Hoftheatern [dem Burg- und<br />
dem Kärntnertortheater] in der Stadt selbst sieht<br />
man Alles von großen und komischen Opern, von<br />
Lust- und Trauerspielen, was Deutschland, und<br />
zum Theil auch Italien und Frankreich, Vorzüg-<br />
<strong>Schubert</strong> in seiner Welt<br />
lichstes hervorbringt; eben soindem großen vorstädtischen<br />
Theater an der Wien, wo noch die<br />
großen romantischen Zauberopern mit vorzüglicher<br />
Pracht gegeben werden […] Zwei kleinere<br />
Theater inder Leopoldstadt und Josephstadt geben<br />
Volksschauspiele von der lustigsten Art. Alle<br />
diese Theater geben an allen den Tagen, anwelchen<br />
kein Schauspiel Statt hat, große Konzerte<br />
und Musikaufführungen der wichtigsten alten und<br />
neuen Kirchen- und Konzert-Musiken. Außerdem<br />
werden den ganzen Winter hindurch häufig öffentlicheKonzertevon<br />
fremdenundeinheimischen<br />
Musikern gegeben[sogenannte»Privat-Konzerte«].<br />
FeineQuartetteundLiebhaberkonzertewerdenauf<br />
Abonnement den ganzen Winter hindurch gehalten«<br />
(S. 141f.).<br />
In dieser Stadt ist Franz <strong>Schubert</strong> aufgewachsen.<br />
Er gilt unter den großen deutschsprachigen<br />
Komponisten als das erste »Kind der<br />
Großstadt«. Dabei ist »Großstadt« in einem<br />
durchaus modernen Sinne verstanden: Der Begriff<br />
impliziert auf der einen Seite Naturferne,<br />
die sich auch ineiner Art »Sehnsucht nach der<br />
Natur« aussprechen kann, in einem Bedürfnis,<br />
Natur ingewisser Weise zu vermenschlichen,<br />
sie –wie ganz manifest in der Winterreise –als<br />
Abbild des Menschen, seiner Nöte, auch nur<br />
seiner Launen und Stimmungen zuverstehen.<br />
Auf der anderen Seite zielt der Begriff aber<br />
auch auf das Bewußtsein, als Individuum einer<br />
»Masse« zuzugehören, die nicht mehr »ständisch«<br />
gegliedert ist, d.h. einer Gesellschaft, in<br />
derdasIndividuum sichnicht durchGeburt und<br />
Herkommen, vielmehr jeweils neu durch Beruf<br />
undeigeneschöpferischeTätigkeit,durchseine<br />
wechselnden, nicht mehr festen sozialen Bindungendefiniert.<br />
»Ichbin ein Künstler,ich!Ich<br />
bin <strong>Schubert</strong>, Franz <strong>Schubert</strong>, den alle Welt<br />
kennt und nennt! Der Großes gemacht hat und<br />
Schönes, das ihr gar nicht begreift!« So soll<br />
<strong>Schubert</strong> sich nach einem Bericht seines Freundes<br />
Eduard von Bauernfeld anOrchestermitgliederderHofopergewandthaben(Erinn.<br />
197)<br />
–und wenn auch der beliebte Lustspieldichter<br />
die Begebenheit poetisch ausgeschmückt haben<br />
mag, so zeichnet er doch gerade dadurch das<br />
Bild, das er von seinem Freunde bewahrt hat.<br />
Und esentspricht ähnlichen Bemerkungen und<br />
Beobachtungen, die von anderer Seite überliefert<br />
sind: »Mich soll der Staat erhalten, ich bin<br />
zu nichts als zum Komponieren auf die Welt<br />
gekommen«, habe <strong>Schubert</strong> gesagt (Erinn. 62);
daß er komponiert, heißt das, liegt im allgemeinen<br />
Interesse.<br />
<strong>Schubert</strong> –das erste »Kind der Großstadt«:<br />
Das ist so zweifellos überspitzt formuliert –er<br />
wuchs jaaus derWienerVorstadtLichtental,in<br />
der er geboren wurde und aufgewachsen ist,<br />
erst hinein in die eigentliche »Großstadt« Wien.<br />
In seiner Jugendzeit war er zweifellos geprägt<br />
durch Familie und Herkommen, durch den Beruf<br />
des Vaters (und mancher seiner Brüder),<br />
den des Schulmeisters; da ist ständisches Bewußtsein<br />
noch durchaus zu spüren. Als der<br />
21jährige <strong>Schubert</strong> aber die Familie verläßt, in<br />
die Wiener Innenstadt zieht (und in der Folge<br />
eineLebens-undSchaffenskrisedurchlebt),treten<br />
verschiedene Freundeskreise andie Stelle<br />
von Familie und Schule (natürlich ohne daß<br />
dieses Bezugssystem seine Bedeutung gänzlich<br />
verlöre). Es sind Dichter und Maler vor allem,<br />
Studenten und junge Beamte amAnfang ihrer<br />
Karriere, in ihrem engsten Kreis eine Art frühe<br />
Wiener»Bohème«–wenn darunterGruppierungen<br />
verstanden werden, für die die konventionelle<br />
Gesellschaftsordnung keine Rolle spielt.<br />
EssindBürgersöhne, auchwenn sievon (niederem)<br />
Adel sind: Für den Wiener Hochadel hat<br />
sich <strong>Schubert</strong> (und darin unterscheidet er sich<br />
von Beethoven) kaum interessiert. Wohl aber<br />
wendet er sich, auch gedrängt von den Freunden,<br />
gezielt an die für das Wiener Musikleben<br />
entscheidenden Institutionen: Er glaubt ja, etwas<br />
zu sagen zu haben, was für die ganze<br />
Gesellschaft wichtig ist –und so sucht er frühzeitig<br />
nach Verlegern, nach Aufführungsmöglichkeiten<br />
inder Kirche, im Konzertsaal, im<br />
Theater. Und erhat Erfolg damit –nimmt man<br />
Familie –Schule –Ausbildung –Musikalische Vorbilder<br />
es imganzen und bedenkt auch die nur kurze<br />
SpanneseinesLebens.DasBildeinesprivatnur<br />
»für sichundseinesgleichen«,für dieSchublade<br />
komponierenden <strong>Schubert</strong> (Georgiades 1967,<br />
S. 132) ist geprägt von einem zwar verbreiteten,<br />
inzwischen aber doch wohl überholten Klischee.<br />
<strong>Schubert</strong> hat zwar meist unter innerem<br />
Zwang,ohnekonkretenAuftragkomponiert (obwohl<br />
Aufträge ihn motivierten: man denke an<br />
seine stolze Tagebuchnotiz vom 17. Juni 1816:<br />
»An diesem Tag componirte ich das erste Mahl<br />
für Geld. Nähmlich eine Cantate für die<br />
Nahmensfeyer des Hn. Professors Wattrot von<br />
Dräxler. Das Honorar ist 100 fl. W.[iener]<br />
W.[ährung]«, Dok. 45; es handelt sich umdie<br />
seinerzeit sehr geschätzte, inzwischenverschollene<br />
Kantate Prometheus, D451). Er war auch<br />
nur wenig geneigt,einerAußenwirkung zuliebe<br />
inhaltliche und ästhetische Kompromisse zu<br />
schließen –die Wirkung nach außen war ihm<br />
jedoch wichtig.<br />
Was all dies konkret bedeutet, soll im folgenden<br />
dargestellt werden. Wir behandeln dabei<br />
zunächst <strong>Schubert</strong>s Prägung durch Familie<br />
und soziale Institutionen (Kirche, Staat, Schule),<br />
dann seine musikalische Ausbildung (im<br />
Unterricht und durch die Nachahmung von musikalischenVorbildern),dieBeziehungenzuden<br />
Freunden, zu Strömungen inLiteratur, Malerei<br />
und Musik (wobei die Musik mit Bedacht an<br />
letzter Stelle genannt ist), schließlich sein Verhältnis<br />
zu den das Wiener Musikleben beherrschenden<br />
Einrichtungen, zu Kirche und Kirchenmusik,<br />
zu den konzertveranstaltenden Gesellschaften<br />
und Salons, zu den Theatern und<br />
Musikverlegern.<br />
FAMILIE –SCHULE –AUSBILDUNG –MUSIKALISCHE VORBILDER<br />
Zeittafel<br />
1783 Franz <strong>Schubert</strong> sen. zieht nach Wien, studiert zunächst mindestens 1Semester lang<br />
Philosophie ander Wiener Universität, wird 1784 Schulgehilfe<br />
17.1.1785 Franz <strong>Schubert</strong> sen. heiratet Elisabeth Vietz<br />
13.6.1786 Franz <strong>Schubert</strong> sen. wird Schullehrer auf dem Himmelpfortgrund (diese Wiener<br />
Vorstadtbildetezusammenmit Lichtental,Thury,AlthanundMichelbeuerngrunddie<br />
Pfarrgemeinde Lichtental, Pfarrkirchen »Zu den vierzehn Nothelfern«)<br />
31.1.1797 Franz <strong>Schubert</strong> jun. geboren<br />
Frühjahr 1801 Vater <strong>Schubert</strong> erwirbt das Haus Säulengasse 3imHimmelpfortgrund<br />
27.1.1802 Johann Rudolph Zumsteeg stirbt<br />
13.11.1805 Einmarsch französischer Truppen inWien, Besetzung bis 13.1.1806<br />
(Sept.-Dez. 1805: 3. Koalitionskrieg)<br />
3
4<br />
<strong>Schubert</strong> in seiner Welt<br />
6. 8. 1806 Franz II. legt die römisch-deutsche Kaiserkrone nieder<br />
10. 8. 1806 Michael Haydn stirbt<br />
Herbst 1806 Schüler inder Schule des Vaters<br />
1807 -1808 Musikunterricht bei dem Lichtentaler Regens chori Michael Holzer<br />
Oktober 1808 Wettbewerb zur Aufnahme als Hofsängerknabe in das Wiener Stadtkonvikt;<br />
Eintritt indas Konvikt, Aufnahme in das Akademische Gymnasium<br />
1808 -1813 Musikunterricht bei dem Hoforganisten Wenzel Ruzicka; Mitwirkung im<br />
Konviktsorchester<br />
13. 5. 1809 Einmarsch französischer Truppen inWien<br />
(April -Oktober 1809: Krieg gegen Frankreich)<br />
31. 5.1809 Joseph Haydn stirbt<br />
1. 5. 1810 Beendigung der ersten vollständig erhaltenen Komposition<br />
( Fantasie inF für Klavier zu4Händen, D1)<br />
30. 3.1811 Erstes vollständig erhaltenes Lied ( Hagars Klage, D5)<br />
28. 5.1812 <strong>Schubert</strong>s Mutter stirbt<br />
1812 -1816/17 Musikunterricht bei dem Hofkapellmeister Antonio Salieri<br />
Juli 1812 <strong>Schubert</strong>s Stimme mutiert; er scheidet aus der Hofkapelle aus, bleibt aber weiterhin<br />
im Konvikt und besucht das Akademische Gymnasium<br />
Januar 1813 <strong>Schubert</strong> hört Glucks Iphigenie auf Tauris mit Anna Milder und Michael Vogl<br />
in den Hauptrollen<br />
25. 4.1813 Vater <strong>Schubert</strong> heiratet Anna Kleyenböck<br />
10. 8.1813 Kriegserklärung Österreichs an Frankreich<br />
28. 10. 1813 Beendigung der 1.Sinfonie (D 82)<br />
November1813 <strong>Schubert</strong> verläßt das Stadtkonvikt. Beginn der Ausbildung als Lehrer an der<br />
»Normal-Hauptschule« inder Annagasse in Wien<br />
30. 3. 1814 Paris wird von den alliierten Truppen besetzt<br />
23. 5. 1814 Erstaufführung von Beethovens Fidelio (3. Fassung) mit Anna Milder und Michael<br />
Vogl<br />
19. 8.1814 Abschlußprüfung an der »Normal-Hauptschule«<br />
Herbst 1814 - Schulgehilfe ander Schule des Vaters (unterbrochen von Herbst 1816<br />
Sommer 1818 bis Sommer 1817)<br />
16. 10. 1814 Erstaufführung der Messe in F(D 105) zum 100jährigen Jubiläum der Pfarrkirche in<br />
Lichtental: erste öffentliche Aufführung eines Werkes von <strong>Schubert</strong><br />
5. 3. 1815 Napoleon kehrt nach Frankreich zurück<br />
18. 6.1815 Schlacht bei Waterloo<br />
April 1816 Erfolglose Bewerbung um die Musiklehrerstelle in Ljubljana<br />
Anfang 1818 Die Familie <strong>Schubert</strong> zieht in die Wiener Vorstadt Roßau<br />
November1818 <strong>Schubert</strong> verläßt das Elternhaus<br />
Februar - Carl Maria von Weber inWien; Begegnung mit <strong>Schubert</strong><br />
März 1822<br />
April -Juni 1822 Rossini inWien<br />
Herbst 1822 - <strong>Schubert</strong> wohnt vorübergehend wieder bei den Eltern in der Roßau,<br />
Frühjahr 1823 ebenso Oktober 1824 -Februar 1825<br />
28. 2.1823 Erste Erwähnung einer vermutlich syphilitischen Erkrankung<br />
Oktober(?) 1823 Aufenthalt im Allgemeinen Krankenhaus<br />
25. 10. 1823 Erstaufführung von Webers Euryanthe in Wien<br />
7. 5. 1825 Antonio Salieri stirbt<br />
23. 2. 1826 Vater <strong>Schubert</strong> erhält das Bürgerrecht der Stadt Wien<br />
26. 3. 1827 Beethoven stirbt<br />
1. 9. 1828 <strong>Schubert</strong> zieht als Untermieter zuseinem Bruder Ferdinand<br />
31. 10. 1828 Akute Erkrankung <strong>Schubert</strong>s (bettlägerig vom 14. 11. an)<br />
4. 11. 1828 Kontrapunktunterricht bei Simon Sechter<br />
19. 11. 1828 <strong>Schubert</strong> stirbt (in der Wohnung des Bruders Ferdinand)
Die Lehrerfamilie <strong>Schubert</strong><br />
<strong>Schubert</strong> wurde geborenals zwölftesvon insgesamt<br />
19 Kindern des Schullehrers Franz <strong>Schubert</strong>.<br />
Vierzehn Kinder stammen aus dessen erster<br />
Ehe mit Elisabeth Vietz (von denen aber<br />
nur fünf das Erwachsenenalter erreicht haben:<br />
Ignaz, Ferdinand, Karl, Franz und Theresia),<br />
fünf aus zweiter Ehe mit Anna Kleyenböck<br />
(erwachsen wurden: Maria, Josefa, Andreas<br />
und Anton; Dok. 4ff.). Die große Mortalität ist<br />
für die Zeit nicht ungewöhnlich –sie erklärt<br />
sich ineiner Lehrerfamilie vielleicht auch aus<br />
denimSchulbetrieb unvermeidlichengehäuften<br />
Infektionsmöglichkeiten. Der Vater war bereits<br />
in seiner Heimat (Neudorf in Mähren) SchulgehilfegewesenundverstandseinenBerufsicherlich<br />
als Aufstieg aus ländlichem Milieu; so<br />
erklärt sichwohl auchseineZuwanderungnach<br />
Wien (sein vergleichsweise wohlhabender Vater,<br />
der Großvater des Komponisten, hatte ihn<br />
in Brünn aufs Gymnasium geschickt und esihn<br />
auch abschließen lassen). Als Lehrer war Vater<br />
<strong>Schubert</strong> erfolgreich; seine immer zahlreicheren<br />
Schüler kamen auch aus entfernteren Vorstädten<br />
zuihm –und dasein Einkommen in<br />
erster Linie von dem Schulgeld abhing, das die<br />
bessergestellten Eltern für ihre Kinder zahlten,<br />
kam er mit der Zeit so auch zueinem gewissen<br />
Wohlstand. Er hatte zudem bedeutende Gönner<br />
in den Direktoren der Schulbehörde –zunächst<br />
den Bischof Josef Anton Gall und später dessen<br />
Nachfolger Josef Spendou.<br />
So ist es nicht verwunderlich, daß Vater<br />
<strong>Schubert</strong> von seinenSöhnenerwartete, siewürden<br />
ihm nacheifern –und nicht wenige entsprachen<br />
dieser Erwartung denn auch: Der älteste<br />
Sohn Ignaz wirkte zeit seines Lebens in der<br />
Schule des Vaters (die ernach dessen Tod 1830<br />
auch übernahm). Ferdinand, der zuFranz jun.<br />
ein besonders enges Verhältnis hatte und auch<br />
selbst komponierte, war zunächst ebenfalls<br />
Schulgehilfe des Vaters, dann –seit 1810 als<br />
Schulgehilfe, seit 1816 als »wirklicher Lehrer«<br />
–amk.k. Waisenhaus in derAlservorstadt(dem<br />
eine Hauptschule angegliedert war) und von<br />
Ende 1820 bis Anfang Januar 1824 Lehrer an<br />
der Vorstadtschule Altlerchenfeld sowie, das<br />
war mit der Stelle verbunden, Regens chori<br />
(Musikdirektor) derdortigenPfarrgemeinde;er<br />
wurde anschließend zum Lehrer und 1851 zum<br />
Direktor der Lehrerbildungsanstalt (»Normal-<br />
Familie–Schule<br />
Hauptschule«, untergebracht im ehemaligen<br />
Jesuitenkloster St. Anna) ernannt.<br />
Die engen Beziehungen zuden erwähnten<br />
Schul-Autoritätensindaufschlußreich,sucht man<br />
nach Indizien für das pädagogische Konzept,<br />
dem sich die Familie <strong>Schubert</strong> verpflichtet sah.<br />
Der spätere Linzer Bischof Joseph Anton Gall<br />
(1748-1807) hatte nach dem Regierungsantritt<br />
Josephs II. das Oberdirektoriat der zentralen<br />
Schulbehörde in Wien übernommen, die nach<br />
dem Inkrafttreten der »allgemeinen Schulordnung«<br />
von 1774 und den auf Anregung Maria<br />
Theresias eingeleiteten Reformen der Primarschulen(dersogenannten»DeutschenSchulen«)<br />
gegründet worden war und die bis dahin rein<br />
kirchliche Schulaufsicht ersetzte (hierzu Engelbrecht<br />
1984,S.105ff. und118ff.). InGallsZeit<br />
(und das war auch die Zeit, in der Vater <strong>Schubert</strong><br />
in Wien seinen Dienst antrat) wurden die<br />
wesentlichen, auch für die Söhne noch gültigen<br />
Reform-Bestimmungen inKraft gesetzt, insbesondere<br />
soweit dies die allgemeine Schulpflicht<br />
unddieGebührenordnung betraf. JosefSpendou<br />
wurde 1788 Galls Nachfolger inder Schulbehörde<br />
und blieb dies bis 1816; er fühlte sich<br />
Galls –von GedankenderAufklärung bestimmten–pädagogischenVorstellungenverpflichtet:<br />
Beiden ging es umdie »sokratische Methode«,<br />
um das Unterrichtsgespräch anstelle von Gedächtnisschulung<br />
durchAuswendiglernen. Spendou<br />
wandte sich überdies vehement gegen jede<br />
Art körperlicher Züchtigung im Unterricht.<br />
In Spendous Amtszeit allerdings wurde eine<br />
neue »Verfassung der deutschen Schulen« dekretiert<br />
(1804, kurz bevor der junge <strong>Schubert</strong><br />
schulpflichtig wurde), die der Kirche die pädagogisch-didaktische<br />
Aufsicht über das Schulwesen<br />
zurückgab, d.h. die unmittelbare Kontrolle<br />
über die Schulen selbst, soweit dies nicht<br />
Fragen der Verwaltung betraf (s. Engelbrecht<br />
1984, S.226ff.). Für die Familie <strong>Schubert</strong> bedeutete<br />
dies inneren Konflikt: Die neue Linie<br />
stand in deutlichem Widerspruch zuden Bedingungen,<br />
unter denen Vater <strong>Schubert</strong> einst seinen<br />
Dienst begonnen hatte. Er –und seine als<br />
Schulgehilfen wirkenden Söhne Ignaz und Ferdinand<br />
(Ignaz seit 1805 in der Schule des Vaters)<br />
–akzeptierten die Aufsicht der Kirche im<br />
religiösen Bereich; in ihrer pädagogischen Methodik<br />
aber hielten sie offenbar an den von Gall<br />
und Spendou entwickelten Prinzipien fest. Das<br />
wird deutlich inFerdinand <strong>Schubert</strong>s Autobio-<br />
5
6<br />
graphie: Er schildert darin, daß er –vermutlich<br />
auf Wunsch des Direktors des Waisenhauses,<br />
Franz Michael Vierthaler –die Einführung der<br />
»Bell-Lancasterschen« Lehrmethode erproben<br />
sollte, wonach ein Teil des Lehrstoffes nicht<br />
durch den Lehrer, sondern durch begabte Mitschüler<br />
vermittelt wurde –über speziell zusammengestellte,<br />
umfangreiche Tabellen, die die<br />
Lehrbücherersetzensollten. DerVersuchschlug<br />
fehl, denn es zeigte sich –soFerdinand –»daß<br />
diesein dengroßenArmen-SchulenFrankreichs<br />
undEnglandseingeführteundvon Vielen(!!)so<br />
sehr gerühmteLehrmethode derindenösterreichischen<br />
Volksschulen bestehenden sehr, gar<br />
sehr nachstehe; indem jene größtentheils nur<br />
mechanische Fertigkeit beabsichtigt, und die<br />
geistige Ausbildung der Kinder fast ganz aus<br />
demAugeläßt«(Autobiographie, Hilmar1978,<br />
S. 97).<br />
»Widerstreben« und »Pflichttreue«:<br />
<strong>Schubert</strong> als Lehrer<br />
Franz <strong>Schubert</strong> hatzweifelloszunächstdieSchuleseinesVaters<br />
besucht (bis 1808),dann,nachdem<br />
er das Gymnasium vorzeitig verlassen hatte,<br />
die »Normal-Hauptschule« St. Anna (Schuljahr<br />
1813/14). Er hat die Lehramtsprüfung abgelegt<br />
undschließlichmindestens bis Mitte1816,<br />
wahrscheinlich aber auch noch im Schuljahr<br />
1817/18 als Schulgehilfe ander Schule seines<br />
Vaters unterrichtet. Er hat sowohl für Spendou<br />
eineumfangreicheKantategeschrieben(D472,<br />
September 1816) als auch –auf Wunsch des<br />
Bruders Ferdinand–einekleinere»Gratulationskantate«für<br />
Vierthaler(D291,September1815)<br />
und damit seine Zugehörigkeit zu der Welt des<br />
Schulwesens dokumentiert. Den Unterrichtsverpflichtungen<br />
kam er, wie sein Freund Spaun<br />
bezeugt (Erinn. 110), »mit Widerstreben« nach<br />
(denn sie hielten ihn vom Komponieren ab),<br />
aber»mit PflichttreueundeinemEifer«,daßer,<br />
so berichtet die Schwester Therese, die Schüler<br />
–wenn sie nicht zu folgen vermochten –gar in<br />
»handgreiflicher Weise bestraft habe« (Kreißle,<br />
S.34).DieBemerkung istbezeichnendvor dem<br />
Hintergrunddesvon Spendou gefordertenZüchtigungsverbots.<br />
Daß <strong>Schubert</strong> sich für seine<br />
Schüler eingesetzt, insbesondere musikalische<br />
Begabungen gefördert hat, findet sich bestätigt<br />
in den Erinnerungen des aus dem Brahmsschen<br />
<strong>Schubert</strong> in seiner Welt<br />
Freundeskreis bekanntenJosefViktor Widmann<br />
(S. 22). So nimmt es nicht wunder, daß Vater<br />
<strong>Schubert</strong> seinenSohn Franz zu seinemNachfolger<br />
bestimmt hat (solange dieser überhaupt an<br />
der Schule tätig war) und nicht den Erstgeborenen<br />
Ignaz, der es dann 1830 tatsächlich geworden<br />
ist.<br />
DieAmbivalenz in Franz <strong>Schubert</strong>s Haltung<br />
zu dem ihm bestimmten Beruf zeigt sich noch<br />
1819,nachseinemendgültigenAuszug aus dem<br />
Elternhaus, als der Vater offenbar ein Gesuch<br />
an die Schulbehörde richtet, den Sohn »neuerdings<br />
als 6. Gehülfen an seiner Schule in Gnaden<br />
zubestätigen; zumal da er laut der jährlichen<br />
Schulberichte bereits 4Jahre als Schulgehülfe<br />
zur gänzlichen« [das Dokument bricht<br />
hierab, zu ergänzenist wahrscheinlich:Zufriedenheit<br />
der Behörde tätig gewesen ist] (Dok.<br />
81).<br />
Das nur unvollständig überlieferte und undatierte<br />
Gesuch (Deutsch vermutet, es sei –<br />
vielleicht nach einer heftigen Auseinandersetzung<br />
zwischen Vater und Sohn –nicht abgeschickt<br />
und zerrissen worden) ist nur dann auf<br />
1819 anzusetzen,wenn mandieZeit von Herbst<br />
1816 bis Herbst 1817, als <strong>Schubert</strong> vom Schuldienst<br />
beurlaubtwar,auf dieZeit seinerLehrtätigkeit<br />
(»4 Jahre«) anrechnet. Ob es wirklich zu<br />
einerAuseinandersetzung gekommenist,obder<br />
Verzicht darauf, das Gesuch abzusenden, nicht<br />
einfach nur Ausdruck der Resignation des Vaters<br />
gewesen ist, läßt sich nicht abschätzen.<br />
<strong>Schubert</strong> hat also offenbar ungern, jedoch<br />
mit Erfolg unterrichtet. Der negative Aspekt<br />
überwiegt dann aber ineiner kleinen Erzählung<br />
vom Juli1822,derderBruderFerdinandspäter<br />
den Titel Mein Traum beigefügt hat. Die mit<br />
Bleistift geschriebene (und das heißt für <strong>Schubert</strong><br />
im allgemeinen imEntwurfstadium erhaltene)<br />
Novelle ist sicherlich nicht, wie Deutsch<br />
meint (Dok. 159), »einfach ein literarischer Erguß<br />
der Phantasie eines Zeitgenossen der deutschen<br />
Romantik«, auch wenn literarische Bezüge<br />
–vor allem zuNovalis, genauer zudem in<br />
das Romanfragment Die Lehrlinge zuSais eingelegten<br />
Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen<br />
(s. Dürhammer, S.21f.) –unverkennbar<br />
sind. Es ist kaum denkbar, daß <strong>Schubert</strong> in<br />
seinem »Traum« (der vielleicht auf einen wirklichen<br />
Traum zurückgeht) fiktive Situationen<br />
beschreibt, die –absichtslos –seinen eigenen<br />
Erlebnissen und Erfahrungen so präzise ent-
sprechen, wie dies hier der Fall ist. Harry<br />
Goldschmidt ( 7 1980, S.209) hat den Sachverhalt<br />
wohl zutreffend als »lyrisch-dokumentarischen<br />
Niederschlag« beschrieben. Die Erzählung<br />
ist natürlichnicht streng chronologischauf<br />
<strong>Schubert</strong>s Leben zuübertragen, auch haben die<br />
»Traumbilder« (das»Lustgelage«undder»Lieblingsgarten«<br />
des Vaters) nicht notwendig präzise<br />
und logische Entsprechungen inder Realität<br />
(hierzu Dürr 1982, S.11f., und Karallus). Es<br />
scheint jedenfalls, daß <strong>Schubert</strong> die ErwartungendesVaters<br />
zunächstmit einem»Lustgelage«,<br />
dann mit dessen »Lieblingsgarten« vergleicht,<br />
in den ihn der Vater geführt habe:<br />
»Er fragte mich obermir gefiele. Doch war<br />
mir der Garten ganz widrig u.ich getraute mir<br />
nichts zusagen. Da fragte ermich zum zweytenmahl<br />
erglühend: ob mir der Garten gefiele? Ich<br />
verneinte eszitternd. Da schlug mich mein Vater<br />
u. ich entfloh. Und zum zweytenmahl wandte ich<br />
meine Schritte, u. mit einem Herzen voll unendlicherLiebe<br />
für die, welchesieverschmähten,wanderte<br />
ich abermals in ferne Gegend. Lieder sang<br />
ich nun lange lange Jahre. Wollte ich Liebe singen,<br />
ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich<br />
wieder Schmerz nur singen, ward ermir zur Liebe.SozertheiltemichdieLiebe<br />
undderSchmerz«<br />
(Dok. 159).<br />
Drei Aspekte scheinen mir bedeutsam in<br />
diesem Text: 1. Die Verweigerung des »Lieblingsgartens«<br />
durch den Sohn, 2. der darauf<br />
folgende Liebesentzug (man bedenke, abermals<br />
auf demHintergrundderForderungenSpendous,<br />
das »da schlug mich mein Vater«), 3. die Hinwendung<br />
zur Kunst, die –am Ende der Erzählung<br />
– dann auch zur Versöhnung zwischen<br />
Vater und Sohn führt.<br />
Auf ein vielfach diskutiertes Detail der<br />
Traumerzählung sei noch hingewiesen: Auf die<br />
ersteVerweigerung,diedes»Lustgelages«,lenkt<br />
der Sohn ein, als ihm »Kunde von meiner Mutter<br />
Tode« wird, denn er sieht seinen Vater »von<br />
Trauer erweicht«. Die endgültige Versöhnung<br />
dann geschieht am »Grabmahl einer frommen<br />
Jungfrau« (dem Bild der Mutter?), die »viele<br />
Jünglingeu. Greise«durch»himmlischeGedanken«<br />
inspiriert. Es scheint danach, als sei der<br />
entscheidende Grund für den Dissens zwischen<br />
Vater und Sohn der Tod der Mutter und die<br />
Wiederverheiratung desVaters (vgl. etwaFröhlich,<br />
S.97f.). Daß <strong>Schubert</strong> die Mutter lange<br />
betrauert hat, scheint nach diesem und ähnli-<br />
Familie–Schule<br />
chen Zeugnissen fraglos; daß er die Wiederheirat<br />
des Vaters mißbilligt habe, läßt sich aber<br />
stichhaltig nicht belegen, auch nicht, daß er der<br />
Stiefmutter Anna reserviert gegenübergestanden<br />
habe. Die Versöhnung mit dem Vater hat<br />
sicherlich auch die Stiefmutter mit eingeschlossen.<br />
Kirche und Religion<br />
Ob »Lustgelage« und »Lieblingsgarten« konkret<br />
den Schuldienst meinen oder allgemeiner die<br />
Lebenswelt des Vaters und der Familie, ist<br />
nicht leicht zu sagen. Beidesist eng miteinander<br />
verflochten, und beides hat unmittelbar mit<br />
Schulbehörde, Kirche und Religion zu tun (für<br />
denVatervermutlichuntrennbareBegriffe). Das<br />
wird in einem Brief deutlich, den Ignaz am 12.<br />
Oktober 1818 an den jüngeren Bruder nach<br />
Zseliz (damals in Ungarn, heute als Zeliezovce<br />
in der Slowakei) schrieb, als dieser die Familie<br />
bereits verlassen hatte und dort als Musiklehrer<br />
der Komtessen Marie und Karoline auf dem<br />
Schloß der Grafen Esterházy lebte. Schuldienst<br />
und Familienleben, die Autorität des Vaters<br />
und der »Bonzen« (der kirchlichen Funktionsträger),<br />
Religion und Religionsunterricht verschmelzen<br />
da ineinander:<br />
»DuglücklicherMensch!«,schreibtIgnaz,»wie<br />
sehr ist Dein Los zu beneiden! Du lebst in einer<br />
süßen,goldenenFreiheit […], indessenunsereiner<br />
als ein elendes Schullasttier allen Rohheiten einer<br />
wildenJugendpreisgegeben,einerScharvon Mißbräuchen<br />
ausgesetzt ist, und noch überdies einem<br />
undankbaren Publikum und dummköpfigen Bonzen<br />
inaller Untertänigkeit unterworfen sein muß.<br />
Du wirst Dich wundern, wenn ich Dir sage, daß<br />
es inunserm Hause schon so weit gekommen ist,<br />
daßmansichnicht einmalmehr zu lachengetraut,<br />
wenn ich vom Religionsunterricht eine abergläubisch<br />
lächerliche Schnurre erzähle […] Siehst Du,<br />
von allen diesen Dingen bist Du nun frei, bist<br />
erlöset, Du siehst und hörst von all diesen Unwesenundbesonders<br />
von unserenBonzennichts mehr«<br />
(Dok. 71). <strong>Schubert</strong> antwortet darauf am 29. Oktober:»DerunversöhnlicheHaßgegendasBonzengeschlecht<br />
macht Dir Ehre. Doch hast Du keinen<br />
Begriff von den hiesigen Pfaffen« (Dok. 75).<br />
<strong>Schubert</strong>s eigeneReservegegenüberderKirche<br />
als Institution zeigt bereits seine erste vollständig<br />
erhaltene Messe, die in F-Dur (D 105),<br />
7
8<br />
geschrieben anläßlich der Feiern zum 100jährigen<br />
Jubiläum des ersten Gottesdienstes inder<br />
Lichtentaler Kirche, der Heimatgemeinde des<br />
Komponisten im Herbst 1814. <strong>Schubert</strong> läßt<br />
dortimCredoeineneinzigenGlaubenssatz aus,<br />
das»Etunamsanctamcatholicametapostolicam<br />
Ecclesiam«. Der Satz fehlt auch inallen späteren<br />
Messen und –darüber herrscht heute Konsens<br />
in der <strong>Schubert</strong>-Forschung – zweifellos<br />
nicht nur versehentlich.<br />
Weniger eindeutig sind <strong>Schubert</strong>s Aussagen<br />
zur Religion. Da steht auf der einen Seite die<br />
vielzitierte Bemerkung aus einem Brief Ferdinand<br />
Walchers an den Komponisten vom 25.<br />
Januar 1827:<br />
Beispiel 1<br />
Cre do in u num De um!<br />
»Du nicht, das weiß ich wohl, aber das wirst du<br />
glauben, daß Tietze heute abend beim Vereine<br />
DeineNachthellesingenwird«(Dok. 403),eine<br />
Bemerkung, die gerade in ihrer Leichtigkeit<br />
darauf schließen läßt, daß ihr wohl eine längere<br />
Diskussion zwischen den Freunden vorausgegangenist.<br />
Dasteht auf deranderenSeite<strong>Schubert</strong>s<br />
Brief an die Eltern aus Steyr vom 25./28.<br />
Juli 1825, in dem es heißt:<br />
»Besonders machten meine neuen Lieder, aus<br />
Walter Scott’s Fräulein vom See [op. 52], sehr<br />
viel Glück. Auch wunderte man sich über meine<br />
Frömmigkeit, die ich ineiner Hymne andie heil.<br />
Jungfrauausgedrückt habe [gemeintist Ellens Gesang<br />
III, D839, »Ave Maria! Jungfrau mild«],<br />
und, wie esscheint, alle Gemüther ergreift und<br />
zur Andacht stimmt. Ich glaube, das kommt daher,<br />
weil ich mich zur Andacht nie forcire, und,<br />
außer wenn ich von ihr umwillkürlich übermannt<br />
werde, nie dergleichen Hymnen oder Gebete<br />
componire, dann aber ist sie auch gewöhnlich die<br />
rechte und wahre Andacht« (Dok. 299).<br />
Man wunderte sich dort inSteyr also über<br />
<strong>Schubert</strong>s überraschende Frömmigkeit (auf die<br />
er wohl auch seine Eltern nachdrücklich hinweisen<br />
will), aber eine »rechte und wahre Andacht«,<br />
die ihn unerwartet ergreift, ist ihm offenbar<br />
doch wichtig. Denkbar ist, daß <strong>Schubert</strong><br />
sich inder Zeit zwischen den beiden Zeugnissen<br />
allmählich von jeglicher Religiosität gelöst<br />
hat,denkbaraberauch,daßWalcherdemKom-<br />
<strong>Schubert</strong> in seiner Welt<br />
ponisten nicht Atheismus unterstellen, sondern<br />
nur auf den Mangel an Glauben an den Gott des<br />
Credos,d.h. auf sein »undogmatischesVerhältnis<br />
zur Kirche« anspielen wollte (Goldschmidt,<br />
S. 258).<br />
VeränderungeninseinerjeweiligenEinstellung<br />
zum Credo dokumentieren wahrscheinlich<br />
dieTextauslassungenindenMeßkompositionen.<br />
Inwieweit <strong>Schubert</strong>s Eingriffe in den Text des<br />
Meßformulars hier signifikant sind, ist seit den<br />
zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts immer<br />
wieder und ausführlich diskutiert worden (vgl.<br />
hierzu NGA I,1a, S. XIIff.): Man glaubt heute<br />
im allgemeinen, daß den Textänderungen (das<br />
sind vor allem Umstellungen imGloria) inder<br />
Regel eine ordnend-musikalische, den Textauslassungen<br />
(das betrifft ausschließlich das<br />
Credo) meist eine inhaltlich-theologische Absicht<br />
zugrunde liegt. Im Gloria ordnet <strong>Schubert</strong><br />
den Text so, daß ein von den Außensätzen<br />
abgehobener Mittelteil (»Domine Deus, Agnus<br />
Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis«<br />
ohne das vorangehende »Domine Deus, Rex<br />
coelestis«)möglichwird.ImCredomehrensich<br />
im Verlauf der Zeit die Anzeichen für innere<br />
Vorbehalte des Komponisten, die über die erwähnte<br />
Ablehnung des die Kirche betreffenden<br />
Glaubensartikels hinausgehen (und die nie konsequent<br />
sein können,wollte<strong>Schubert</strong> überhaupt<br />
Messenkomponieren).IndenMessenvon 1815/<br />
16 (B-Dur, D324, und C-Dur, D452) ist der<br />
Satz »genitum non factum, consubstantialem<br />
Patri« unvollständig (einmal ist die erste, einmal<br />
nur die zweite Hälfte vertont); seit der As-<br />
Dur-Messe (1819-1822, D678) fehlt er ganz,<br />
ebenso das»Patremomnipotentem«. Konsequent<br />
ausgelassen ist seit 1815 das »et exspecto<br />
resurrectionem«, in der C-Dur-Messe überdies<br />
das »ex Maria Virgine« (in der As-Dur-Messe<br />
nachträglich wieder eingefügt). Gleichviel, ob<br />
<strong>Schubert</strong> damitindenihm von frühesterJugend<br />
anvertrautenText eingegriffenhatoderobsich<br />
nur ein eheruntergründigerWiderwillebemerkbar<br />
macht: Bezeichnend ist, daß in seinen<br />
Meßvertonungen nur diese kritischen Aussagen<br />
zur Wesensgleichheit von Gottvater und Sohn,<br />
zur Jungfrauengeburt und zur Auferstehung<br />
Textunsicherheiten reflektieren.<br />
Weshalb aber, so fragt man sich, hat <strong>Schubert</strong><br />
denMeßtext dann überhaupt so oft vertont?<br />
Wir kehren damit zum Primarschulwesen und<br />
seiner Bedeutung für die intellektuell-psychi-
sche Prägung des jungen Komponisten zurück.<br />
DerSchulmeisterwardemGemeindelebennicht<br />
nur verbunden (zahlreiche Pfarrer waren, vor<br />
allem auf dem Lande, zugleich Lehrer), sondern<br />
auch verpflichtet: Der Titel eines Lehrbuchs<br />
wie das von Andreas Büschl Der katholische<br />
Schullehrer als Kirchensänger, Organist<br />
und Kirchendiener (Augsburg 1846) ist gewissermaßen<br />
Programm: Die Vorrede zu diesem<br />
(allerdings auf diebayerischeSchulordnung bezogenen)<br />
Buch beginnt bezeichnend: »Zwei<br />
wichtige Beziehungen erhält der Schullehrer in<br />
unserer Zeit durch den ihm, besonders auf dem<br />
Lande übertragenen Meßner= und Organisten=Dienst.<br />
Beide Aemter sind kirchlichen<br />
Ursprungs, und stellen den Schullehrer indas<br />
Heiligthum der Kirche«. So ist es auch nicht<br />
verwunderlich, daß Ferdinand <strong>Schubert</strong>, in Bewerbungen<br />
wie in seiner Autobiographie, seine<br />
Organistentätigkeit hervorhebt. Und daher ist<br />
auch Franz <strong>Schubert</strong>s Beziehung zu seiner Heimatgemeinde<br />
Lichtental und zu dem dortigen<br />
Organisten und Regenschori Michael Holzer<br />
(1772-1826) von Anfang an sehr eng: Wie alle<br />
seineBrüdererhielt erMusikunterricht beiihm,<br />
offenbarvon 1807 an,jedochumfassender,nicht<br />
nur im Violin- und Klavierspiel, sondern auch<br />
im Gesang und im Generalbaß. Bereits 1808<br />
war er erster Sopranist in der Lichtentaler Kirche.Eserscheint<br />
da fast wieselbstverständlich,<br />
daß für diese Gemeinde, ihren Chor und ihr<br />
Orchester auch die ersten Kompositionen bestimmt<br />
waren,für die<strong>Schubert</strong> sicheineöffentliche<br />
Aufführung erhoffte. Die dann auch tatsächlich<br />
produzierte, bereits erwähnte große<br />
Messe zum 100jährigen Jubiläum der Kirche<br />
hatte zudem ein großes Echo; sie wurde bereits<br />
zehn Tagespäterwiederholt –undzwarineiner<br />
Kirche der Innenstadt (der Augustinerkirche).<br />
SoschlossensichwahrscheinlichneueAufträge<br />
für Meßkompositionen an; im März 1815 entstand<br />
die Messe in G-Dur (D 167), im November<br />
desselben Jahres die in B-Dur (D 324) und<br />
im Juni/Juli 1816 die in C-Dur (D 452). Die<br />
erste öffentliche Aufführung eines weltlichen<br />
Werkes hingegen fand erst am 1.März 1818<br />
statt (eine der beiden Ouvertüren »im italienischen<br />
Stil«, D590 oder 591), kurz bevor <strong>Schubert</strong><br />
überhaupt aus dem Schuldienst ausschied.<br />
Die Komposition von Kirchenmusik bot <strong>Schubert</strong><br />
also zunächst am ehesten die Gewißheit,<br />
sich weiteren Kreisen bekannt zu machen.<br />
Familie–Schule<br />
Noch ein anderes aber verstärkte <strong>Schubert</strong>s<br />
Bezug zur Kirchenmusik: ImOktober 1808 trat<br />
er als Hofsängerknabe in das Wiener Stadtkonvikt<br />
ein. Damit war er Mitglied der Hofkapelle<br />
und ander Kirchenmusik des kaiserlichen<br />
Hofes beteiligt: »Die trefflich ausgeführtenKirchenmusikeninderk.k.Hofkapellemachten<br />
auf ihn den tiefsten Eindruck« (so der ältere<br />
Mitschüler Josef von Spaun, Erinn. 13). Dem<br />
Komponisten war von daher nicht nur das Repertoire<br />
vertraut, erwuchs auch indem Bewußtsein<br />
auf, daß neben Sinfonie und Oper die<br />
Messe zu jenen musikalischen Gattungen gehört,<br />
in denen er sich auszuweisen habe –und<br />
dieses Bewußtsein, das ihm die in kleineren<br />
DimensionenangelegteKirchenmusikinLichtental<br />
nicht vermitteln konnte, bestimmte seine<br />
Vorstellung vom Komponistenberuf bis an sein<br />
Lebensende. Noch als Nachschrift zu einem<br />
Angebot an B. Schott’s Söhne in Mainz vom<br />
21. Februar 1828 schreibt <strong>Schubert</strong>: »Dieß das<br />
Verzeichniß meinerfertigenCompositionenaußer<br />
3Opern, einer Messe und einer Symfonie.<br />
Diese letztern Comp. zeige ich nur darum an,<br />
damit Sie mit meinem Streben nach dem Höchsten<br />
inder Kunst bekannt sind« (Dok. 495).<br />
Die Musik im Wiener Stadtkonvikt<br />
Als Sängerknabe im Wiener Stadtkonvikt war<br />
<strong>Schubert</strong> zugleich Schüler des Akademischen<br />
Gymnasiums. Entgegen einer weit verbreiteten<br />
Überzeugung war er kein eigentlich schlechter<br />
Schüler: Bis zum April 1812 werden inden<br />
Zeugnissen seine »Studien« zusammenfassend<br />
als »gut« beurteilt,eswirddemKonviktsdirektor<br />
Lang von seiten des Hofmusikgrafen Ferdinand<br />
von Kuefstein auch immer wieder empfohlen,<br />
»dem Franz <strong>Schubert</strong> hingegen die besondere<br />
Zufriedenheit über seine in allen Rubriken ausgezeichneten<br />
Fortschritte zu bezeigen«, wobei<br />
allerdings auch jeweils seine »ausgezeichnete<br />
Verwendung inder Tonkunst« besonders hervorgehoben<br />
ist (Dok. 14, 16, 18). Nur einmal,<br />
im September 1813, drohte <strong>Schubert</strong> der Verlust<br />
seines Stiftungsplatzes aufgrund einer unzureichenden<br />
Note in Mathematik, wenn er seine<br />
Leistungen ineiner Wiederholungsprüfung<br />
nicht verbessere. Der Stiftungsplatz blieb ihm<br />
dann jedoch erhalten –<strong>Schubert</strong> selbst hat jedoch<br />
wohl bereits im Oktober auf die Weiter-<br />
9
10<br />
führung seiner Studien verzichtet; ob dies aus<br />
Resignation geschah oder gar im Zusammenhang<br />
mit einer Disziplinaraffäre, vielleicht auch<br />
weil Vater <strong>Schubert</strong> ihm angesichts des ungewissen<br />
Studienerfolges zur Rückkehr in das Elternhaus<br />
und andie väterliche Schule riet (Dok.<br />
32), ist unbekannt.<br />
Am28.September1810 verfügteGrafKuefstein<br />
ausdrücklich, essei »auf die musikalische<br />
BildungdesFranz <strong>Schubert</strong>,daerein so vorzügliches<br />
Talent zur Tonkunst besitzt, besondere<br />
Sorgfalt zu verwenden« (Dok. 15). Ihm wurde<br />
als Lehrer zunächst der »Klavier- und Schlagmeister«<br />
des Konvikts, der bereits bejahrte, aus<br />
Mährenstammende Hoforganist undHoftheaterbratschist<br />
Wenzel Ruzicka zugewiesen. Dieser<br />
erteilte ihm nicht nur Klavier- und wohl auch<br />
Bratschenunterricht (im Hausquartett der Familie<br />
<strong>Schubert</strong> hat Franz später die Bratsche gespielt),erunterwiesihn<br />
auchseit 1811 im Generalbaß<br />
und machte ihn mit dem Orchester vertraut.<br />
Ruzicka nämlich leitete das Konviktsorchester,<br />
in dem <strong>Schubert</strong> anfangs am zweiten<br />
Pult derzweitenViolinespielte, schonbaldaber<br />
»andererstenVioline«dirigierte(Hanslick1869,<br />
S. 142, den Bericht eines Mitschülers zitierend)<br />
und den Orchesterleiter vertrat. Über Umfang<br />
und Gegenstand von Ruzickas Unterricht weiß<br />
man nichts Bestimmtes. Die Tatsache, daß er<br />
bereits nach der zweiten Generalbaßstunde über<br />
<strong>Schubert</strong> gesagt habensoll,»demkann ichnichts<br />
lehren, der hats vom lieben Herrgott gelernt«<br />
(Spaun, Erinn. 109), ließ meist –vielleicht zu<br />
Unrecht –vermuten,derUnterricht seifür <strong>Schubert</strong>s<br />
Ausbildungbedeutungslosgewesen. JedenfallshatdieTeilnahmeandenOrchesterübungen<br />
<strong>Schubert</strong> nicht nur eine umfassende Repertoirekenntnis<br />
vermittelt (manspielteallabendlicheine<br />
Sinfonie und ein bis zwei Ouvertüren; zum<br />
Orchesterfundus gehörtennachJosefvon Spauns<br />
Bericht »über dreißig Sinfonien von Haydn und<br />
mehrere von Mozart und Beethoven«, Erinn.<br />
106); sie gab ihm auch Orchesterpraxis und eine<br />
gewisse Sicherheit in der Instrumentation –seine<br />
für die Zeit seit Ende 1811 erhaltenen<br />
Orchesterpartituren (Der Spiegelritter, D 11,<br />
Ouvertüre in D ,D12) legen davon Zeugnis ab;<br />
auch seine ersten beiden Sinfonien (in D ,D82,<br />
beendet zur Zeit von <strong>Schubert</strong>s Austritt aus dem<br />
Konvikt, und in B , D 125, gewidmet dem<br />
Konviktsdirektor Dr. Innocenz Lang)sindzweifellos<br />
noch für dieses Orchester geschrieben.<br />
<strong>Schubert</strong> in seiner Welt<br />
Zur musikalischen Ausbildung im Konvikt<br />
gehörteweiterhin die–von derKonviktsleitung<br />
nur »gernegeduldete«–Formation kleinerGruppen<br />
»zur Aufführung von Streich- und Singquartetten«<br />
(so der Mitschüler Anton Holzapfel,<br />
Erinn. 46), die vermutlich <strong>Schubert</strong>s Vorliebe<br />
für beide Gattungen mitbegründeten:<br />
Streichquartette schrieb er seit 1810, aus demselben<br />
Jahr haben sich auch (als eine Art Sing-<br />
Quartette) Kanon-Abschriften von Michael<br />
Haydn, Josef Otter und Mozart erhalten. Vor<br />
allem aber kam, wie ebenfalls Holzapfel berichtet,<br />
»der Gesang zum Klavier, besonders<br />
die Zumsteegschen Balladen und Lieder unter<br />
uns in Mode«; <strong>Schubert</strong> studierte diese Lieder<br />
mit besonderem Eifer; er versuchte, wie Josef<br />
von Spaun bezeugt,siezum Teil selbst neu,»in<br />
anderer Weise« zusetzen (s. Hagars Klage,<br />
D5). Und, so Spaun, dieser »Vorliebe in seiner<br />
Jugend verdanken wir wohl auch die Richtung,<br />
die <strong>Schubert</strong> [in der Liedkomposition]<br />
genommen« (Erinn. 108).<br />
Das Ideal der Sanglichkeit:<br />
Musikunterricht bei Antonio Salieri<br />
<strong>Schubert</strong> warfünfzehn Jahrealt,als manglaubte,<br />
der Unterricht bei Ruzicka sei dem Stand<br />
seiner Ausbildung nicht mehr angemessen. Er<br />
wurde nun, wohl im Sommer 1812, Schüler<br />
des Hofkapellmeisters Antonio Salieri, dem<br />
ohnehin dieOberaufsicht überdieKapellknaben<br />
zustand.Dieser»unentgeltlicheUnterricht fand<br />
anfangs nur zweimal die Woche statt, wurde<br />
abernach<strong>Schubert</strong>sAustritt aus demKonvikte<br />
von ihm emsigbenützt«(Holzapfel,Erinn. 46).<br />
<strong>Schubert</strong> besuchte ihn mindestens bis Dezember<br />
1816 (wie eine Kompositionsübung auf<br />
einenText von PietroMetastasio bezeugt: Vedi<br />
quanto adoro, D510). Der Unterricht begann<br />
mit sorgfältigen Studien im Kontrapunkt.<br />
Grundlage war vermutlich Johann Georg Albrechtsbergers<br />
Gründliche Anweisungzur Komposition<br />
(1790), im Hinblick auf die Kontrapunktlehre<br />
eine zeitgemäße Überarbeitung des<br />
Gradus ad Parnassum von Johann Joseph Fux<br />
(hierzu Mann, S.5f.). Zahlreiche Manuskripte,<br />
die Christa Landon 1969 im Archiv des<br />
Wiener Männergesang-Vereines entdeckt hat,<br />
belegen, daß <strong>Schubert</strong> in den fünf Gattungen<br />
desKontrapunkts wahrscheinlich119 Übungen
geschrieben hat, von denen allerdings nur 24<br />
erhalten sind (NGA VIII,2). Übungen inder<br />
Komposition von Fugen (1812-1813, vgl. die<br />
Fugen inF, G, Cund die beiden ind, D25C,<br />
24B,24A,24C,13) undKanons (1813,vorwiegend<br />
auf Texte von Schiller: D 54, 61, 69)<br />
schlossen sich an.<br />
Parallel zuden Kontrapunktübungen erhielt<br />
<strong>Schubert</strong> Unterricht im Vokalsatz,in derVertonung<br />
italienischer Arien, teils einstimmig gesetzt,<br />
teils mit hinzugefügtem Baß oder gar<br />
ausgearbeiteter Klavierbegleitung (1812-1813,<br />
aber auch noch 1817). Hier ging es Salieri, wie<br />
eigenhändige Korrekturen inden Übungen von<br />
1812 belegen,vor allemumdenkorrektenUmgang<br />
mit der italienischen Sprache, um Spezifika<br />
der Deklamation und Verslehre. <strong>Schubert</strong><br />
schrieb hierzu Vokalsätze in verschiedener Besetzung<br />
auf italienische Texte (1812:<br />
Quell’innocente figlio,D17, Entral’uomo allor<br />
che nasce, D33, Serbate oDei custodi, D35;<br />
1813: unter anderem Misero pargoletto, D42),<br />
später auch zahlreiche Männerterzette, vorwiegend<br />
auf Strophen aus Schillerschen Gedichten<br />
(1813, darunter etwa Dreifach ist der Schritt<br />
der Zeit, D43, 70; Thronend auf erhabnem<br />
Sitz, D62, und Majestätsche Sonnenrosse, D<br />
64). Salieri war es wichtig, die Kenntnisse zu<br />
vermitteln, die ihm für die Komposition italienischer<br />
Opern unerläßlich schienen: Das war<br />
einerseits diegründlicheBeherrschung deskompositorischen<br />
Handwerks, wie man dies umdie<br />
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verstand,<br />
andererseits die Rücksichtnahme auf die Erfordernisse<br />
der Singstimme und schließlich die<br />
musikdramaturgisch angemessene Behandlung<br />
eines Operntextes imSinne Glucks. Das eine<br />
und das andere lernte der Schüler vornehmlich<br />
durcheigeneÜbungen; letztereshingegendurch<br />
Partiturspiel: »Vorzüglich anfangs mußte <strong>Schubert</strong><br />
viele höchst langweilige alte italienische<br />
Partituren, erst später aber den ganzen Gluck<br />
durcharbeiten,aus welchemuns <strong>Schubert</strong> öfters<br />
etwas vortrug« (Holzapfel, Erinn. 46f.). Über<br />
Salieris immer am Ideal der Sanglichkeit orientierteUnterrichtsziele(eigenständigeInstrumentalmusik<br />
spielte dabei keine Rolle) erfahren wir<br />
manches von dem Grazer Komponisten Anselm<br />
Hüttenbrenner(1794-1868),derseit 1815 ebenfalls<br />
Salieris Schüler war und <strong>Schubert</strong>, mit<br />
dem er dann eng befreundet war, bei ihm kennenlernte.<br />
»Auf Quinten und Octaven wies er<br />
Ausbildung<br />
11<br />
gelassen warnend hin; aber eine aufsteigende<br />
kleine Septima war ihm ein Dorn im Auge;<br />
eben soalle von Sängern schwer zutreffenden<br />
Fortschreitungen und die sogenannten Querstände<br />
[…]. Am strengsten war er hinsichtlich<br />
der Modulation; er eiferte gewaltig gegen den<br />
in neuerer Zeit so üblich gewordenen grellen<br />
Wechsel der Tonarten« (Hüttenbrenner 1825,<br />
Sp. 796).<br />
Wasnun aberOperfür Salieri bedeuteteund<br />
wozu erseineSchülerdarin anhielt,spiegelt ein<br />
1813 geschriebener,seinerzeit aberManuskript<br />
gebliebener Versuch einer Ästhetik desdramatischen<br />
Tonsatzes desspäterenVizedirektors beider<br />
Wiener Hoftheater Ignaz von Mosel (1772-<br />
1844), der mit Salieri in Verbindung stand,<br />
enge Kontakte zu <strong>Schubert</strong> hatte und in Wien<br />
gleichsam als Wortführer der deutschen Oper<br />
galt.<br />
Wie Salieri sieht Mosel, der sich dabei ausdrücklich<br />
auf Gluck beruft, die auf »musikalische<br />
Behandlung« hin angelegte »dramatisch-lyrische<br />
Poesie« als Basis des Werkes, ander sich sowohl<br />
die »dramatische Musik« wie deren Vortrag zu<br />
orientierenhat(S.20),nicht umgekehrt von vornherein<br />
diePoesieals MittelderMusik. Von Salieri<br />
unterscheidet sich Mosel freilich inseiner energischen<br />
Verteidigung der –möglichst »durchkomponierten«–deutschsprachigenOper,diedenKomponistenzur<br />
Einfachheit zwingt:»Wenn daherunsereSprachedurchihregeringereBiegsamkeitdiesemMißbrauche[demBravourgesangderitalienischen<br />
Oper] glücklich ausgewichen ist: wenn ihr<br />
härterer Klang den denkenden Komponisten bestimmt,<br />
nicht mehr Noten anzuwenden, als Silben<br />
in dem Verse sind: wenn ihre Kraft ihn ebenfalls<br />
zur Energie erhebt: so dürfen wir uns vielmehr<br />
über die Natur unserer Sprache freuen« (S. 22).<br />
Hierin erscheint <strong>Schubert</strong> eher noch als Schüler<br />
Mosels denn als Salieris.<br />
Künstlerisches Grundprinzip von Salieris<br />
Unterricht war –wieder imAnschluß an Gluck<br />
–die unbedingte Verpflichtung des Komponisten<br />
auf die musikalische »Wahrheit«. KonzessionenandenPublikumsgeschmackwarenebenso<br />
unzulässig wie musikalische Experimente<br />
(etwaderInstrumentation),solangesolcheKonzessionen<br />
oder Experimente sich nicht aus dem<br />
Drama selbst ableiten lassen: »Einfachheit,<br />
Wahrheit und Natürlichkeit sind die GrundlagendesSchöneninallenKunstwerken«,schreibt<br />
Gluck inder Vorrede zu seiner Alceste .