Siegfried Prokop • Die Berliner Mauer
Siegfried Prokop • Die Berliner Mauer
Siegfried Prokop • Die Berliner Mauer
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<strong>Siegfried</strong> <strong>Prokop</strong> <strong>•</strong> <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>
<strong>Siegfried</strong> <strong>Prokop</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong><br />
(1961-1989)<br />
Fakten, Hintergründe, Probleme<br />
kai homilius verlag – ComPaCT
BISHER ERSCHIENENE TITEL DER REIHE COMPACT:<br />
Detlef Joseph<br />
Vom angeblichen antisemitismus der ddr<br />
COMPACT Nr. 1, ISBN 978-3-89706-401-0, 7,50€<br />
Gregor Schirmer<br />
Lissabon am ende?<br />
Kritik der eU-Verträge<br />
COMPACT Nr. 2, ISBN 978-3-89706-402-7, 7,50€<br />
Erich Buchholz<br />
ÜberwachUngsstaat<br />
die bundesrepublik und der „Krieg gegen den terror“<br />
COMPACT Nr. 3, ISBN 978-3-89706-403-4, 7,50€<br />
© Kai Homilius Verlag, Berlin 2009<br />
Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung<br />
des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk<br />
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COMPACT – Nr. 4<br />
Kai Homilius Verlag<br />
www.kai-homilius-verlag.de<br />
e-mail: home@kai-homilius-verlag.de<br />
Autor: <strong>Siegfried</strong> <strong>Prokop</strong><br />
Druck: Printed in E.U.<br />
ISBN: 978-3-89706-404-1
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorbemerkung ..............................................................................7<br />
Wie kam es zur <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>? ....................................................9<br />
Berlin als Sitz des Alliierten Kontrollrates ................................9<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>ahnung 1948 ........................................................11<br />
DDR-Bürger im Westen zunächst unerwünscht ....................12<br />
<strong>Die</strong> Sogwirkung des Wirtschaftswunders ...............................14<br />
<strong>Die</strong> Defensiv-Position der DDR ............................................15<br />
„Operation Chinese Wall“ .....................................................19<br />
Das Berlin-Ultimatum ...........................................................20<br />
Der Mansfield-Plan ...............................................................22<br />
Zuspitzung der Lage in der DDR ..........................................25<br />
Kündigung des Handelsabkommens ......................................26<br />
Separatfrieden mit der DDR? ................................................28<br />
Kurs auf die Luftsperre ..........................................................30<br />
Kennedy zwingt Moskau zum Kurswechsel ............................32<br />
Weichenstellung <strong>Mauer</strong>bau....................................................37<br />
<strong>Die</strong> „Operation Grenzsicherung“ ...........................................41<br />
<strong>Die</strong> Reaktion des Westens ......................................................45<br />
Zwischen <strong>Mauer</strong>bau und <strong>Mauer</strong>fall .............................................51<br />
Vom Stacheldraht zur <strong>Mauer</strong> .................................................51<br />
<strong>Die</strong> „moderne Grenze“ ..........................................................57<br />
Das Passierscheinabkommen ..................................................61<br />
Rudi Dutschkes „Freie Stadt“-Konzept ..................................64<br />
Das Vierseitige Abkommen ...................................................66<br />
Der Bericht zur Lage der Nation 1981 ...................................69<br />
Das 25. <strong>Mauer</strong>-Jubiläum und die<br />
deutsch-deutschen Beziehungen .............................................74<br />
Einsatz der <strong>Mauer</strong> gegen Asylbewerber? .................................76<br />
Das Asylantenproblem ...........................................................80<br />
Folgenschwere Unterlassung der DDR-Regierung .................86<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>öffnung .................................................................87<br />
Zeittafel .......................................................................................91<br />
Literatur (Auswahl) .....................................................................99
Vorbemerkung<br />
Zwei große Jubiläen stehen unmittelbar bevor:<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
2009 der 20. Jahrestag der <strong>Mauer</strong>öffnung und<br />
2011 der 50. Jahrestag des 13. August 1961.<br />
Beide Jubiläen werden in Ost und West mit unterschiedlichen<br />
Emotionen und Wertungen begangen werden. Noch ist der<br />
Blick auf die Geschichte bei Weitem nicht von Sachlichkeit,<br />
Augenmaß und Differenzierungsvermögen geprägt.<br />
<strong>Die</strong> Geschichte der <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong> ist identisch mit einer<br />
bestimmten Periode des Ost-West-Konflikts. Es ist dies die<br />
Zeit, da die Verlängerung des „Eisernen Vorhangs“ entlang<br />
der Währungsgrenze mitten durch Berlin erfolgte, um das<br />
Umschlagen des Kalten Krieges in einen heißen zu vermeiden.<br />
An dem Vorgang hatten beide Seiten ihren Anteil. Im Kalten<br />
Krieg hingegen machte jede Seite die jeweils andere Seite allein<br />
für alles Ungemach verantwortlich. Heute ist es üblich geworden,<br />
in nicht zu übertreffender Einseitigkeit und unhistorisch<br />
allein die DDR für die <strong>Mauer</strong> verantwortlich zu machen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> erlegte vor allem den <strong>Berliner</strong>n in Ost und West<br />
und den Brandenburgern erhebliche Opfer und Entbehrungen<br />
auf. Da darf nichts klein geredet oder verniedlicht werden.<br />
Vergessen werden darf dabei auch nicht, dass ein heißer Krieg<br />
die Existenz des deutschen Volkes ausgelöscht hätte.<br />
In der Zeit der Existenz der <strong>Mauer</strong> entstanden auf beiden<br />
Seiten Geschichtsmythen, die in unterschiedlichem Maße noch<br />
in der Gegenwart eine Rolle spielen. In der DDR wurde vom<br />
„antifaschistischen Schutzwall“ gesprochen und im Westen von<br />
der „innerdeutschen Grenze“. Beide Bilder waren unzutreffend,<br />
denn weder schützte die <strong>Mauer</strong> vor dem Faschismus, noch war<br />
die Grenze zwischen Westberlin und der DDR „innerdeutsch“<br />
wie die Grenze zwischen Sachsen und Thüringen oder Bayern<br />
und Baden-Württemberg. Falsch ist auch die häufig zu verneh-
mende Behauptung, dass die <strong>Mauer</strong> Berlin gespalten habe. Sie<br />
entstand 1961, da war aber die Stadt schon über ein Jahrzehnt<br />
gespalten.<br />
Mit Blick auf die bevorstehenden Jubiläen soll in diesem<br />
Heft an einige Fakten und Zusammenhänge erinnert werden,<br />
die vom heutigen Zeitgeist gern ausgeblendet werden. Gerade<br />
im Hinblick auf die innere deutsche Einheit, die wegen der<br />
fortgesetzten Pflege von Mentalitäten aus der Zeit des Kalten<br />
Krieges nicht so recht vorankommt, scheint das Bemühen um<br />
eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, wie sie wirklich<br />
verlaufen ist, sinnvoll.
Wie kam es zur <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>?<br />
� Berlin als Sitz des Alliierten Kontrollrates<br />
Im Londoner Protokoll der European Advisory Commission<br />
(EAC, Europäische Beratende Kommission) einigten sich<br />
die UdSSR, die USA und das Vereinigte Königreich von<br />
Großbritannien und Nordirland am 12. September 1944 über<br />
die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von<br />
Groß-Berlin. <strong>Die</strong> UdSSR sollte die östliche Zone übernehmen,<br />
die USA und Großbritannien die Westzonen. Über die<br />
Westzonen fiel noch keine konkrete Entscheidung, weil beide<br />
Westalliierte das Ruhrgebiet beanspruchten. Eine Interalliierte<br />
Behörde sollte die Verwaltung der deutschen Hauptstadt übernehmen.<br />
Erst am 14. November erzielten die drei Mächte<br />
Einigkeit über den sowjetischen Sektor und den amerikanischen<br />
bzw. britischen Sektor. An diesem Tag wurde auch das<br />
Kontrollverfahren in Deutschland geregelt. Zeitlich ging es<br />
um die „Anfangsperiode der Besatzung Deutschlands, die unmittelbar<br />
auf die Kapitulation folgt.“ Gemäß Artikel 1 sollten<br />
die Oberbefehlshaber der drei Besatzungsstreitkräfte der drei<br />
Mächte die „oberste Gewalt“ in Deutschland ausüben, und<br />
zwar jede in ihrer eigenen Zone „sowie gemeinsam in allen<br />
Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten.“ Ein<br />
Alliierter Kontrollrat mit Sitz in Berlin sollte das gemeinsame<br />
Vorgehen in allen Zonen sichern, und für die gemeinsame<br />
Leitung der Verwaltung des Gebietes von Groß-Berlin sollte<br />
eine „Interalliierte Behörde“ (russisch: Kommendatura) errichtet<br />
werden. Der sowjetische Vorschlag vom Februar 1944,<br />
die Besatzungstruppen in einer 10-15 Kilometer breiten Zone<br />
rund um Berlin zu stationieren, wurde als unpraktikabel abgelehnt.<br />
Dafür aber sicherten die USA und Großbritannien der<br />
UdSSR zu, dass die Viermächteverwaltung von Berlin nicht
die oberste Gewalt der Sowjetunion über ihre Zone beinträchtigen<br />
werde.<br />
10<br />
<strong>Die</strong> Alliierte Kommandatur der Stadt Berlin 1945 bis 1948<br />
(Quelle: Gerhard Keiderling: Berlin 1945-1986. Berlin 1987, S. 134)<br />
Am 1. Mai 1945 trat Frankreich dem Abkommen über den<br />
Kontrollmechanismus und am 26. Juli 1945 dem Abkommen<br />
über die Besatzungszonen bei. <strong>Die</strong> Bildung einer Französischen<br />
Zone und eines vierten <strong>Berliner</strong> Sektors erfolgte auf dem anglo-amerikanischen<br />
Besatzungsgebiet, da die UdSSR zu keiner<br />
territorialen Kompensation bereit war. Beschlüsse in der<br />
Interalliierten Kommandantur wurden einstimmig gefasst. Bei<br />
Nichterreichen der Einstimmigkeit erfolgte die Weitergabe an<br />
den Alliierten Kontrollrat. Alle Beschlüsse, Übereinkommen<br />
und Maßnahmen zusammengenommen wurden später als<br />
Viermächtestatus bezeichnet.<br />
Anfangs funktionierte der Mechanismus ganz gut. Wäre<br />
es in der kurzen Zeit von zwei Jahren zum Abschluss eines<br />
Friedensvertrages und zum Abzug der Besatzungstruppen gekommen,<br />
wären die Regelungen ab dem Londoner Protokoll<br />
durchaus auch ausreichend gewesen. Da es aber 1947/48 zum
Kalten Krieg und etwas später zur Bildung zweier deutscher<br />
Staaten kam, machten sich Unschärfen der Vereinbarungen<br />
immer mehr nachteilig bemerkbar. Jede der beiden Seiten im<br />
Ost-West-Konflikt interpretierte mitunter ihre Auslegung in<br />
das Konvolut von Beschlüssen hinein. Im weiteren Verlauf des<br />
Kalten Krieges steigerte sich diese Problematik dramatisch. Bei<br />
der zweiten Berlin-Krise Ende der fünfziger/Anfang der sechziger<br />
Jahre erreichten die Spannungen zwischen Ost und West<br />
einen weiteren Höhepunkt.<br />
� <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>ahnung 1948<br />
Dass Berlin durch eine <strong>Mauer</strong> getrennt werden könnte, haben<br />
weitsichtige Persönlichkeiten schon während der ersten<br />
Berlin-Krise erkannt. Nachdem separate Währungsreform und<br />
Blockade 1948 die Kriegsallianz der Großen Vier zerbrochen<br />
hatten, war die Vollendung der Teilung Berlins, Deutschlands<br />
und Europas nicht mehr aufzuhalten. <strong>Die</strong> Schriftstellerin Ruth<br />
Andreas-Friedrich schrieb im September 1948 in ihr Tagebuch:<br />
„Ab heute haben wir nicht nur zwei Stadtpolizeibehörden,<br />
sondern auch zwei Stadtparlamente. Möglich, dass wir schon<br />
ab morgen zwei Stadtregierungen und eine chinesische <strong>Mauer</strong><br />
mit Wehrgang und Wachttürmen längs der Sektorengrenzen<br />
haben. Vielleicht braucht man dann ein Auslandsvisum, um<br />
von Charlottenburg nach den Linden zu fahren.“<br />
Frau Andreas-Friedrich hat damit geradezu genial spätere<br />
Entwicklungen vorausgeahnt. Allerdings konnte zu dieser Zeit<br />
noch niemand voraussagen, welche der beiden Seiten als erste<br />
zur Tat schreiten werde. Zunächst einmal, sicher unter dem<br />
Eindruck der Bedrohung der <strong>Berliner</strong> Westsektoren während<br />
der Blockade, hatte 1950 der amerikanische Militärgouverneur<br />
Lucius D. Clay eine Grafik veröffentlicht, die deutlich die<br />
Konturen einer Schutzmauer um Westberlin zeigte.<br />
11
(Graphik: Lucius D. Clay: Entscheidung in Deutschland. Frankfurt a. M.<br />
1950, Innendeckel)<br />
12<br />
� DDR-Bürger im Westen zunächst unerwünscht<br />
Ostdeutsche Flüchtlinge waren im Westen 1949/50 keineswegs<br />
willkommen, denn Flüchtlinge kosteten den Staat und die<br />
Kommunen Geld. Bis Mitte 1949 waren in Westdeutschland<br />
etwa 2,5 Millionen Vertriebene in die Wirtschaft eingegliedert<br />
worden. Für Eingliederungshilfen, Renten für Körpergeschädigte<br />
und Arbeitslosenfürsorge waren seit Kriegsende 6 Milliarden<br />
DM ausgegeben worden. Der Anteil der Flüchtlinge<br />
unter den Arbeitslosen war nach wie vor sehr hoch.<br />
Eine besondere Zuspitzung der Flüchtlingsfrage ergab<br />
sich im Juli 1949 im Lager Uelzen (Niedersachsen). Der niedersächsische<br />
Flüchtlingsminister Pastor Heinrich Albertz<br />
(SPD) sah sich gezwungen, das Lager zu schließen und die<br />
Flüchtlingsminister der britischen und amerikanischen Zone
nach Uelzen einzuladen. Gemeinsam legten sie fest, dass nur<br />
ein Teil der Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone<br />
nach einem festen Schlüssel auf westdeutsche Länder aufgeteilt<br />
wird. <strong>Die</strong> anderen sollten in das Herkunftsgebiet zurückgewiesen<br />
werden. In der Folgezeit wurde der Entwurf<br />
einer Rechtsverordnung auf der Grundlage der „Uelzener<br />
Beschlüsse“ im Bundesrat vorgelegt. <strong>Die</strong>sem Entwurf vom 21.<br />
November 1949 zufolge sollten nur die 5 bis 6 Prozent „echten<br />
politischen Flüchtlinge“ in der Bundesrepublik Aufnahme finden,<br />
jedoch maximal bis zu 15 Prozent aller Flüchtlinge, denen<br />
das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen einen zwingenden<br />
Grund für den Übertritt zuerkannte. Der Bundesminister des<br />
Innern, Dr. Gustav Heinemann (CDU), schlug eine stufenweise<br />
Rückführung der Abgewiesenen vor:<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
Zunächst sollten Warnungen vor unbegründetem Grenzübertritt<br />
durch Presse und Rundfunk erfolgen.<br />
Anschließend sei die Rückführung der im Lager Berlin<br />
Abgewiesenen durchzuführen. In den Lagern Uelzen<br />
und Giessen werde gleichzeitig mit der Rückführung<br />
der kriminellen Elemente begonnen. Anschließend erfolge<br />
eine stufenweise Ausdehnung der polizeilichen<br />
Rückführung auf weitere Gruppen, bis der „gesetzmäßige<br />
Zustand“ erreicht ist.<br />
Auf Seiten der konservativen Parteien wurde in dem Flüchtlingsstrom<br />
eine Machenschaft Jossif W. Stalins gesehen, dem<br />
an einem Kollaps Westdeutschlands durch Überbevölkerung<br />
gelegen sei. <strong>Die</strong> Sozialdemokraten als Oppositionspartei besannen<br />
sich allmählich darauf, einer rigiden Abschiebepolitik<br />
entgegenzutreten. Ernst Reuter, Regierender Bürgermeister<br />
von Berlin-West, widersprach im Bundesrat dem vorgelegten<br />
Verordnungsentwurf. Im Osten dürfe nicht der Eindruck erweckt<br />
werden, „als ob wir eine <strong>Mauer</strong> zwischen dem Osten<br />
und dem Westen aufrichten wollten“.<br />
13
<strong>Die</strong> SPD brachte sodann im Bundestag den Entwurf für<br />
ein Notaufnahmegesetz (mit Ausnahme von Kriminellen ohne<br />
Rückführungsklausel) ein, gegen das jedoch der Bundesrat<br />
sein Veto einlegte. Ein Vermittlungsausschuss zwischen<br />
Bundestag und Bundesrat legte daraufhin am 21. Juni 1950<br />
eine Neufassung vor. Während nach der vom Bundestag gewählten<br />
Fassung Personen, die wegen drohender Gefahr für<br />
Leib und Leben, für die persönliche Freiheit oder aus anderen<br />
zwingenden Gründen die DDR verlassen mussten, die<br />
Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden durfte, musste sie jetzt<br />
bei Erfüllung dieser Bedingungen erteilt werden.<br />
14<br />
� <strong>Die</strong> Sogwirkung des Wirtschaftswunders<br />
Mit dem Einsetzen des ökonomischen Aufschwungs („Wirtschaftswunder“)<br />
in der ersten Hälfte der 50er Jahre änderte<br />
sich die Lage grundsätzlich. Flüchtlinge aus der DDR waren<br />
für die Bundesrepublik keine Last mehr. Ihre Bedeutung als<br />
Wirtschaftsfaktor für die Bundesrepublik lag auf der Hand.<br />
Entgegen den sowjetischen Wunschvorstellungen, wonach der<br />
Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg zur Entfaltung der Produktivkräfte<br />
nicht mehr fähig sei, begann in den entwickelten kapitalistischen<br />
Ländern das „golden age“ (Eric Hobsbawn) mit<br />
einer wahren Explosion der Produktivkräfte. Angesichts der<br />
Herausforderung durch den Sozialismus profitierte von dieser<br />
Entwicklung die überwiegende Mehrheit der Bürger. In der<br />
Bundesrepublik verdreifachte sich das Realeinkommen der<br />
Arbeiter in der kurzen Zeit der Ära Adenauer. <strong>Die</strong> Sogwirkung,<br />
die von diesem Aufschwung des Lebensstandards in der<br />
Bundesrepublik auf Bürger der DDR ausging, war enorm. <strong>Die</strong><br />
Zahl der Flüchtlinge nahm zu.
Abwanderung von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik 1949-1961<br />
Jahr Personen<br />
Davon Jugendliche<br />
unter 25 Jahren in %<br />
1 4 12 .245 -<br />
1 50 1 . -<br />
1 51 165.54 -<br />
1 52 1 2.3 3 -<br />
1 53 331.3 0 4 ,<br />
1 54 1 4.1 4 ,1<br />
1 55 252. 0 4 ,1<br />
1 56 2 .1 4 ,0<br />
1 5 261.622 52,2<br />
1 5 204.0 2 4 ,2<br />
1 5 143. 1 4 ,3<br />
1 60 1 .1 4 ,<br />
1 61 20 .026 4 ,2<br />
� <strong>Die</strong> Defensiv-Position der DDR<br />
<strong>Die</strong> DDR, die unter den Folgen der Teilung des Landes ungleich<br />
stärker litt als die Bundesrepublik, verfügte über kaum<br />
nennenswerte Bodenschätze, war vielfach stärker durch Reparationsleistungen<br />
belastet worden und verlor nun auch noch Jahr<br />
für Jahr einen erheblichen Teil ihres „Humankapitals“. Ab der<br />
zweiten Hälfte der 50er Jahre wurde die „Republikflucht“ immer<br />
mehr zu einer wirtschaftlichen Existenzbedrohung. In dieser<br />
Zeit war die DDR immer weniger in der Lage, die Lücken<br />
durch Mobilisierung innerer Reserven zu schließen, z. B. durch<br />
die Einbeziehung von Frauen in die Berufstätigkeit bzw. die<br />
Fortsetzung der Arbeit durch Rentner. Das Arbeitskräftedefizit<br />
15
der DDR wurde auch gemindert durch die West-Ost-Wanderung,<br />
die sich aus Rückwanderern und Erstzugezogenen aus<br />
der Bundesrepublik zusammensetzte. Es handelte sich aber<br />
jährlich nur um einige Zehntausende, während es in umgekehrter<br />
Richtung ein- bis dreihunderttausend Menschen waren.<br />
Zwischen den Ab- und Zuwanderern bestand ein Qualifizierungsunterschied.<br />
In jeder Beziehung blieb es für die<br />
DDR netto bei einem erheblichen Wanderungsverlust. Für die<br />
Bundesrepublik war die Abwanderung eher von Vorteil, da es<br />
sich bei den Abwandernden oft um Menschen mit unsicherem<br />
Arbeitsplatz oder um Arbeitslose handelte, was die Sozialkassen<br />
entlastete. Unter Berücksichtigung all dieser Tatsachen und<br />
Umstände kam der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner<br />
Abelshauser zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik im<br />
Durchschnitt von 12 Jahren jährlich ein Humankapital von<br />
etwa 2,5 Mrd. DM erhielt. Das war ein Betrag, der die Hilfe<br />
aus dem Marshallplan bei Weitem übertraf.<br />
<strong>Die</strong>ser Ost-West-Transfer von Humankapital bereitete der<br />
SED-Führung nicht wenig Kopfzerbrechen. Schon 1952, so<br />
berichtete Julij A. Kwizinskij, 1961 Dolmetscher des sowjetischen<br />
Botschafters in Ostberlin, Michail Perwuchin, in seinen<br />
Erinnerungen, habe die DDR-Führung mit Stalin über<br />
die Grenzschließung gegenüber Westberlin gesprochen. Vorerst<br />
konnte Moskau auf seine Vereinigungsvorschläge verweisen.<br />
Doch mag politischen Vordenkern in Ostberlin und Moskau in<br />
dieser Zeit bewusst geworden sein, dass eine Grenzschließung<br />
durch Berlin bei noch im Bau befindlichem Außenring um<br />
Berlin und ohne eigenen Hochseehafen der DDR, 95 Prozent<br />
des Umschlags der Hochseefracht der DDR erfolgte über den<br />
Hamburger Hafen, gar nicht ernsthaft gedacht werden konnte.<br />
Der Rostocker Überseehafen<br />
1957 entschied die SED, dass der Rostocker Hafen zum Überseehafen<br />
ausgebaut wird. Der erste Bauabschnitt des Übersee-<br />
16
hafens wurde am 30. April 1960 in Betrieb genommen. Der<br />
neue Hafen in Rostock-Petersdorf konnte von Schiffen mit<br />
einem Tiefgang von 28,6 feet angelaufen werden. Als erstes<br />
Schiff löschte an diesem Tag der 10 000-Tonner MS-„Schwerin“<br />
seine Fracht.<br />
Als im Juni 1953 die DDR durch die Arbeiterrevolte in ihre<br />
erste lebensbedrohliche Krise geriet, blieben die Sperren im<br />
Bereich der U-Bahn, die Verhaue am Potsdamer Platz und die<br />
Kontrollen an den Sektorengrenzen noch von marginaler Bedeutung.<br />
Nachdem sich Walter Ulbricht 1956/57 gegen die nationalkommunistische<br />
intellektuelle Opposition (Wolfgang Harich),<br />
die Oppositionellen im SED-Politbüro (Karl Schirdewan)<br />
und in der NVA-Führung (Vincenz Müller) durchgesetzt<br />
hatte, wurde der Startschuss für den Bau des Rostocker<br />
Hochseehafens gegeben und mit Hochdruck am Ausbau des<br />
<strong>Berliner</strong> Außenrings gearbeitet.<br />
Der <strong>Berliner</strong> Außenring<br />
Um Westberlin auf Schienen umfahren zu können, entstanden<br />
1948/50 Umfahrungsstrecken, die jedoch nicht besonders<br />
leistungsfähig waren. Deshalb baute die DDR in den Jahren<br />
1950 bis 1957 den <strong>Berliner</strong> Außenring, um den für das gesamte<br />
Eisenbahnnetz der DDR lebenswichtigen Knoten Berlin<br />
zu entflechten und ihn gegenüber Westberlin immun zu machen.<br />
Der Eisenbahnverkehr im Knoten Berlin war danach<br />
nicht mehr zwingend auf die Betriebsanlagen in Westberlin<br />
angewiesen. Das Vorhandensein des <strong>Berliner</strong> Außenrings war<br />
1961 eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass innerhalb<br />
kürzester Zeit ein von Westberlin unabhängiger Verkehr organisiert<br />
werden konnte. Um die nach 1961 wesentlich erhöhten<br />
Transportleistungen im Güter- und Reiseverkehr übernehmen<br />
zu können, wurde der Ring in kurzer Zeit zweigleisig<br />
1
ausgebaut. Er wurde damit zur „Drehscheibe“ einer flüssigen<br />
Betriebsführung der Bahn.<br />
1<br />
Der <strong>Berliner</strong> Außenring<br />
(Quelle: DDR-Verkehr, 9/1976, S. 62)<br />
Ulbrichts Sieg über die Opposition im Jahre 1956 war verbunden<br />
mit einer Unterdrückung jeglichen Ansatzes zu einem demokratischen<br />
Sozialismus in der DDR. Sein Kurs war ausgerichtet<br />
auf einen autoritären Sozialismus, der sich (bis 1960) am<br />
chinesischen und sowjetischen Modell orientierte, was einem<br />
Rückfall hinter die politische Demokratie der bürgerlichen<br />
Gesellschaft gleichkam. Das Volkseigentum verharrte auf der
Stufe des Staatseigentums, was bedeutete, dass es zu keiner<br />
realen Vergesellschaftung der Produktionsmittel kam und die<br />
Entfremdung weiter wirkte. <strong>Die</strong> 1958 proklamierte sozialistische<br />
Demokratie („Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“) hatte<br />
keine rechte Entfaltungschance. Eine sich verselbständigende<br />
Bürokratie bediente sich der Zentralisierung und des bürokratischen<br />
Zentralismus. Der autoritäre Sozialismus verfügte gegenüber<br />
seinen Bürgern nur über eine geringe Bindekraft. In<br />
den Westen gingen auch viele Bürger der DDR, die sich an sozialistischen<br />
Idealen orientierten. 1956 erklärte der Künstler René<br />
Graetz vor Funktionären des ZK der SED im Zusammenhang<br />
mit dem Phänomen, dass eine große Zahl links eingestellter<br />
Kunststudenten der DDR in den Westen ging: „Zwei Drittel<br />
der Schüler im Westen kommen vom Osten. Das ist eine<br />
Katastrophe. Das ist ein Ergebnis unserer Politik. Unsere Schüler<br />
wissen überhaupt nichts über moderne Kunst. Sie haben hierüber<br />
nur gelernt: Das ist Unterstützung des Imperialismus, das<br />
ist reaktionär usw. – <strong>Die</strong> Zeit von 1900 bis heute ist für diese<br />
ganze Generation ein vollkommen unbekanntes Blatt. Lenin<br />
sagte einmal: Man muss von allen lernen.“<br />
Solche Meinungsäußerungen, die den Anstoß zu Veränderungen<br />
hätten geben können, wurden als „Unklarheiten“ abgetan.<br />
Wie sollte es aber bei dem herrschenden Dogmatismus<br />
des SED-Apparates zu einer „spontanen Identifikation jedes<br />
einzelnen Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen“<br />
kommen?<br />
� „Operation Chinese Wall“<br />
1958 erhielt der amerikanische Geheimdienst Kenntnis von<br />
einem Plan der DDR-Führung, der mit dem Code „Operation<br />
Chinese Wall“ versehen wurde. Der britische Historiker Norman<br />
Gelb berichtete in seinem Buch „The Berlin Wall“, dass<br />
1
der Plan von einem Ostberliner Offiziellen bei seiner Flucht in<br />
den Westen mitgebracht worden sei. Der Plan sehe drei Schritte<br />
für eine Grenzschließung mitten durch Berlin vor:<br />
1. <strong>Die</strong> Errichtung eines Stacheldrahtzauns.<br />
2. <strong>Die</strong> Ersetzung des Stacheldrahts durch eine <strong>Mauer</strong> aus<br />
Zementplatten.<br />
3. <strong>Die</strong> Verschanzung mit Palisaden.<br />
Der Westberliner Bürgermeister Willy Brandt und Politiker in<br />
Washington bestritten die Wahrscheinlichkeit eines solchen<br />
Plans. Tatsächlich aber gab es damals nicht nur diesen Plan. Ein<br />
anderer Plan sah die vollständige Kontrolle der Verbindungswege<br />
Westberlins (einschließlich des Luftverkehrs) vor, um die<br />
unkontrollierten Abwanderungen von DDR-Bürgern unterbinden<br />
zu können. Welcher Plan letztlich zum Zuge kommen<br />
würde, das musste sich im Ost-West-Schlagabtausch der folgenden<br />
Jahre erst noch entscheiden.<br />
20<br />
� Das Berlin-Ultimatum<br />
Am 27. November 1958 richtete die UdSSR eine Note an<br />
Frankreich, Großbritannien und die USA, in der sie vorschlug,<br />
alle Besatzungstruppen aus Berlin abzuziehen, eventuell unter<br />
Aufsicht der Vereinten Nationen, und den französischen, den britischen<br />
und den amerikanischen Sektor Berlins einstweilen zu<br />
einer „entmilitarisierten, freien Stadt“ zu machen. <strong>Die</strong> UdSSR<br />
räumte für die Lösung der Berlin-Frage einen Zeitraum von<br />
sechs Monaten ein, weshalb die Note im Westen als Ultimatum<br />
aufgefasst wurde. Sollte es in dem genannten Zeitraum zu keiner<br />
Verhandlungslösung kommen, würde die UdSSR gemeinsam<br />
mit der DDR die geplanten Maßnahmen verwirklichen:<br />
„In diesem Zusammenhang gilt, dass die DDR wie jeder andere<br />
unabhängige Staat selbst alle Fragen, die ihr Territorium
angehen, behandeln soll, dass sie also die Souveränität über ihr<br />
Land, ihren See- und Luftraum ausübt.“ <strong>Die</strong> UdSSR warf den<br />
Westmächten „Wühlarbeit gegen die DDR“ vor. Sie erklärte<br />
ihre Bereitschaft, sich jederzeit an der Vorbereitung eines<br />
Friedensvertrages mit Deutschland zu beteiligen. Das Fehlen<br />
eines Friedensvertrages rechtfertige keineswegs, in irgendeinem<br />
Teile Deutschlands das Besatzungsregime aufrechtzuerhalten.<br />
Gleichzeitig richtete die UdSSR Noten an die Regierungen der<br />
Bundesrepublik und der DDR, in denen sie ihre Vorstellungen<br />
für eine Lösung der Berlin-Frage darlegte.<br />
Freie Stadt Westberlin<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
unabhängige Stadtregierung<br />
keine Eingliederung in die DDR<br />
Garantie der Unabhängigkeit durch UNO und die vier<br />
Mächte<br />
ungehinderte Kontakte Westberlins mit der Außenwelt<br />
Das sowjetische Berlin-Ultimatum stieß im Westen vielfach<br />
auf Ablehnung. US-Außenminister John Foster Dulles, der<br />
eine „Politik am Rande Krieges“ bevorzugte, gab am 28. Januar<br />
1959 vor dem Auswärtigen Komitee des Repräsentantenhauses<br />
eine Erklärung ab. Auf die Frage, ob sich die Vereinigten<br />
Staaten bezüglich aller Schritte, die in der Berlin-Frage zu<br />
unternehmen wären, im vollständigen Einvernehmen mit ihren<br />
Alliierten befänden, antwortete Dulles: „Hinsichtlich des<br />
Grundsatzes, fest in Berlin zu bleiben und falls erforderlich,<br />
eher einen Krieg zu riskieren als aus Berlin verdrängt zu werden,<br />
besteht vollständiges Einvernehmen.“ Es gab aber auch<br />
Kräfte, die über eine Verhandlungslösung ernsthaft nachdachten.<br />
Am 12. Februar 1959 legte der Stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />
des Außenpolitischen Ausschusses des Senats,<br />
Senator Mike Mansfield, einen Deutschland-Plan vor, der eine<br />
Kompromisslösung vorsah.<br />
21
22<br />
� Der Mansfield-Plan<br />
Mansfield schlug folgende Etappen einer neuen Deutschlandpolitik<br />
vor:<br />
1. West- und Ostberliner Beamte sollten über eine gemeinsame<br />
Verwaltung Berlins und seiner öffentlichen <strong>Die</strong>nste<br />
verhandeln. UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld<br />
könne dabei eine Vermittlerrolle spielen.<br />
2. Falls es zu einer gemeinsamen Verwaltung komme,<br />
müssten die sowjetischen und die alliierten Truppen aus<br />
Berlin zurückgezogen und durch eine aus Streitkräften<br />
neutraler Staaten zusammengesetzte UNO-Polizeitruppe<br />
ersetzt werden.<br />
3. <strong>Die</strong> USA sollten einen Abzug der sowjetischen Truppen<br />
aus Berlin nicht zu verhindern versuchen. <strong>Die</strong> westlichen<br />
Truppen könnten aber in Berlin bleiben.<br />
4. <strong>Die</strong> Streitkräfte, die in Berlin die Freiheit repräsentieren,<br />
sollten jedoch so schnell wie möglich „eingedeutscht“<br />
werden. Es sei an der Zeit, ernsthaft über die Ersetzung<br />
der alliierten Soldaten durch deutsche Milizkräfte nachzudenken,<br />
die von NATO-Garantien gestützt würden.<br />
5. Nächste Etappe sollten Verhandlungen zwischen der<br />
Bundesrepublik und der „Sowjetzonenregierung“ über<br />
die Gesamtaspekte der Wiedervereinigung einschließlich<br />
der Harmonisierung der politischen, wirtschaftlichen<br />
und militärischen Systeme beider Zonen sein.<br />
6. Der ostdeutschen Bevölkerung müsse garantiert werden,<br />
dass sie sich „frei von Furcht und Druck“ politisch betätigen<br />
dürfe.<br />
7. <strong>Die</strong> Sowjetunion und die Westmächte müssten ein von<br />
beiden Teilen Deutschlands ausgehandeltes Abkommen<br />
über die Wiedervereinigung vertraglich anerkennen.<br />
8. <strong>Die</strong> Westmächte und die Sowjetunion hätten zu garantieren,<br />
dass das wiedervereinigte Deutschland weder
einem militärischen Druck seiner Nachbarn ausgesetzt<br />
würde noch gegen diese einen militärischen Druck ausüben<br />
könne.<br />
9. Das Auseinanderrücken der mit Kernwaffen ausgerüsteten<br />
Streitkräfte in Mitteleuropa sei anzustreben.<br />
Mansfield hielt eine friedliche Lösung der deutschen Frage nur<br />
dann für möglich, wenn beide deutsche Regierungen miteinander<br />
verhandelten. Solche Gespräche stellten keine Anerkennung<br />
des DDR-Regimes dar. Das zeigten die Gespräche zwischen<br />
den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China und die<br />
bereits geführten Wirtschaftsverhandlungen und technischen<br />
Kontakte zwischen Vertretern der beiden deutschen Staaten.<br />
<strong>Die</strong> Einzelheiten für den Weg zur Wiedervereinigung sollten<br />
die Deutschen der beiden Staaten am besten selbst erörtern, da<br />
sie wahrscheinlich besser als irgendjemand anderes beurteilen<br />
könnten, was ihnen passe und was zwischen ihnen möglich sei.<br />
Der Beitrag der vier Mächte wäre es, für eine bestimmte Zeit die<br />
Sicherheit des wiedervereinigten Deutschland zu garantieren.<br />
Der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow<br />
nahm am 17. Februar 1959 in Tula zum Mansfield-Plan<br />
Stellung: „Wir sind der Auffassung, dass die Vorschläge Mansfields<br />
Aufmerksamkeit verdienen. Mit Menschen, die einen<br />
solchen nüchternen Standpunkt beziehen, könnte man sich<br />
verständigen. Indessen fallen die Befürworter der Fortsetzung<br />
des Kalten Krieges über Mansfield her und beschuldigen ihn,<br />
der Sowjetunion Zugeständnisse zu machen. Uns macht da<br />
niemand irgendein Zugeständnis. Mansfield urteilt einfach<br />
und vernünftig.“<br />
Der britische Premierminister Harold Macmillan besuchte<br />
vom 21. Februar bis 3. März 1959 die Sowjetunion. Moskau<br />
und London schlugen vor, durch baldige Verhandlungen zwischen<br />
den interessierten Regierungen eine Grundlage für die<br />
Regelung der Differenzen zu schaffen. Macmillan bekundete<br />
seine Bereitschaft, der DDR hinsichtlich Westberlins ein<br />
23
Mitspracherecht einzuräumen, was ihm in der Bundesrepublik<br />
den Vorwurf einbrachte, er betreibe eine Appeasementpolitik.<br />
Bereits Ende Januar 1959 war zwischen der Außenhandelskammer<br />
der DDR und dem Britischen Industrieverband in<br />
London ein Außenhandelsabkommen vereinbart worden, das<br />
eine erhebliche Ausweitung der gegenseitigen Bezüge vorsah.<br />
<strong>Die</strong> Westmächte, die bisher wenig Verhandlungsbereitschaft<br />
gezeigt hatten, kamen nach der sowjetischen Berlin-Note vom<br />
November 1958 nicht mehr an Verhandlungen vorbei, konnten<br />
sie doch auf diese Weise eine Verschiebung der Frist des<br />
Ultimatums erreichen. Vom 11. Mai bis 20. Juni und vom<br />
13. Juli bis 5. August 1959 kam es in Genf zu einem Treffen<br />
der Außenminister der vier Großmächte, an dem auch die<br />
DDR (Außenminister Lothar Bolz) und die Bundesrepublik<br />
(Botschafter Wilhelm Grewe anstelle von Außenminister<br />
Heinrich von Brentano) teilnahmen. <strong>Die</strong> Konferenz blieb hinsichtlich<br />
des Abschlusses eines deutschen Friedensvertrages und<br />
der Regelung der Berlin-Krise erfolglos. Der vom Westen präsentierte<br />
„Herter-Plan“, der letztlich die Beseitigung der DDR<br />
vorsah, wurde von der UdSSR und der DDR zurückgewiesen.<br />
<strong>Die</strong> Teilnahme der DDR und der Bundesrepublik mit einem<br />
für beide Staaten völlig gleichen Status bedeutete die De-facto-Anerkennung<br />
der DDR durch die Westmächte. Nikita<br />
Chruschtschow wurde zu einem Staatsbesuch in die USA eingeladen,<br />
was mit einer weiteren Verschiebung des ursprünglich<br />
im Berlin-Ultimatum gesetzten Termins verbunden war. Der<br />
sowjetische Staatschef nutzte seinen Staatsbesuch vom 15. bis<br />
29. September dazu, vor der XIV. Vollversammlung der UNO<br />
ein umfassendes Programm zur allgemeinen und vollständigen<br />
Abrüstung zu propagieren. Im Nationalen Presse-Club warb<br />
er für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland<br />
und schlug die Beendigung des Kalten Krieges vor. Obwohl<br />
im Gespräch mit Präsident Dwight D. Eisenhower keines der<br />
anstehenden Probleme einer Lösung zugeführt werden konnte,<br />
kam es kurzfristig zu einer Entspannung im Verhältnis der bei-<br />
24
den Supermächte („Geist von Camp David“). Es konnte allerdings<br />
Einvernehmen in einem winzigen Punkt erreicht werden.<br />
Eisenhower erklärte Chruschtschow, dass er die Lage in Berlin<br />
als „anomale Situation“ betrachte. Das für Mitte Mai 1960<br />
ins Auge gefasste Gipfeltreffen der Großmächte ließ Nikita<br />
Chruschtschow überraschend wegen des U-2-Zwischenfalls<br />
am 1. Mai 1960 platzen, wobei die Hoffnung darauf, dass<br />
sich nach den für November 1960 angesetzten Wahlen in<br />
den USA einiges ändern würde, sicher eine Rolle gespielt hat.<br />
Chruschtschow spielte auf Zeit, während sich in der DDR die<br />
Situation dramatisch zuspitzte.<br />
� Zuspitzung der Lage in der DDR<br />
Gerade auch hausgemachte Fehler der von Walter Ulbricht geführten<br />
SED trugen zur Zuspitzung der Lage in der DDR bei:<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
Das irreale Überholmanöver des V. Parteitages der SED<br />
gegenüber der Bundesrepublik, dass 1961 zum Überholen<br />
im Pro-Kopf-Konsum und 1965 zum Überholen in der<br />
Arbeitsproduktivität führen sollte (Siebenjahrplan 1959).<br />
<strong>Die</strong> überstürzte Einführung der zehnjährigen Polytechnischen<br />
Oberschulbildung, die durch den verspäteten<br />
Berufsstart von etwa 80 Prozent zweier Altersjahrgänge<br />
die akute Arbeitskräftesituation weiter zuspitzte.<br />
<strong>Die</strong> Kampagne des „sozialistischen Frühlings“ 1960,<br />
die zu dem hohen Preis des Rückgangs der agrarischen<br />
Bruttoproduktion den Zusammenschluss der<br />
Einzelbauern in Agrargenossenschaften im Vergleich<br />
zum Siebenjahrplan (1965) vorfristig abschloss.<br />
<strong>Die</strong> in zweistelliger Milliardenhöhe getätigte Fehlinvestition<br />
in die Flugzeugindustrie, die ein kleines Land wie die<br />
DDR nicht ohne Weiteres verkraften konnte. Wären die<br />
25
26<br />
Mittel für die Flugzeugindustrie in die Rationalisierung<br />
der Industrieproduktion gesteckt worden, hätte ein bedeutender<br />
Produktivitätszuwachs erreicht werden können.<br />
Im Übergang vom zweiten zum dritten Quartal 1960 geriet<br />
die DDR-Wirtschaft aus dem Rhythmus. Disproportionen<br />
zwischen Durchschnittslöhnen und Arbeitsproduktivität sowie<br />
zwischen der Kaufkraft und dem Warenangebot machten<br />
sich im Alltagsleben der Bürger zunehmend negativ bemerkbar.<br />
Im September 1960 kam es zu neuen Zuspitzungen in<br />
der Berlin-Frage. Vertriebenenverbände der Bundesrepublik<br />
führten vom 1. bis 4. September in Westberlin einen „Tag<br />
der Heimat“ durch. Der Innenminister der DDR verfügte<br />
zur Abwehr des „Revanchistentreffens“ ein Einreiseverbot für<br />
Bundesbürger. <strong>Die</strong> Einreise in die DDR und nach Ostberlin<br />
wurde nur den Bundesbürgern gestattet, die im Besitz einer<br />
Einreisegenehmigung gemäß der Anordnung vom 3.<br />
September 1956 waren. Am 8. November 1960 unterwarf die<br />
DDR die Einreise von Bundesbürgern nach Ostberlin generell<br />
einer Genehmigungspflicht. Am 23. September 1960 wurde<br />
der amerikanische Botschafter in der Bundesrepublik, Walter<br />
C. Dowling, von Volkspolizisten am Brandenburger Tor angehalten<br />
und aufgefordert, nach Westberlin zurückzukehren.<br />
Erst nachdem sich Dowling als Botschafter ausgewiesen hatte,<br />
wurde ihm der Weg nach Ostberlin freigegeben.<br />
� Kündigung des Handelsabkommens<br />
Bei einem Essen mit Geschäftsleuten am 28. September 1960<br />
in New York wurde Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard<br />
gefragt, ob die Bundesrepublik den Interzonenhandel „aus<br />
Gewinnsucht“ aufrechterhalte. Am 30. September beschloss
das Bundeskabinett in Bonn unter massivem Druck Washingtons<br />
die Aufkündigung des Handels mit der DDR. Der<br />
Beschluss lautete: „Das Bundeskabinett hat am 30. September<br />
auf einer Sondersitzung, an der auch die Vorsitzenden der<br />
Bundestagsfraktionen und der Regierende Bürgermeister von<br />
Berlin, Willy Brandt, teilnahmen, beschlossen, das Interzonenhandelsabkommen<br />
aus dem Jahre 1951 nach Paragraphen<br />
16 des Abkommens zum 31. Dezember 1960 zu kündigen.<br />
<strong>Die</strong> Kündigung wird vorsorglich ausgesprochen. <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />
ist bereit, in neue Verhandlungen einzutreten.“<br />
<strong>Die</strong>se Kündigung destabilisierte die wirtschaftliche Situation<br />
der DDR weiter. In einer zwischen der DDR und den<br />
RGW-Ländern abgestimmten Aktion „Störfreimachung“<br />
kam es zu aufwendigen Maßnahmen zur Abwendung eines<br />
Kollapses der DDR-Ökonomie. <strong>Die</strong> Krise eskalierte, was auch<br />
die erneut anwachsende Flüchtlingswelle belegte.<br />
50000<br />
45000<br />
40000<br />
35000<br />
30000<br />
25000<br />
20000<br />
15000<br />
16697<br />
13576<br />
19803 19198<br />
17791<br />
16094<br />
10000<br />
5000<br />
0<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
30415<br />
Juli<br />
47433<br />
August<br />
14821<br />
September<br />
5366<br />
3412<br />
November<br />
Oktober<br />
Entwicklung der Fluchten aus der DDR im Jahre 1961<br />
(Quelle: Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann: 13.8.1961: <strong>Mauer</strong>bau,<br />
Bremen 2001, S. 38)<br />
2420<br />
Dezember<br />
2
Nikita Chruschtschows Hoffnung auf einen Regierungswechsel<br />
in den USA war nicht aus der Luft gegriffen. Der neue Präsident<br />
der USA hieß John F. Kennedy. Obwohl er erklärte, dass sich<br />
an der Berlinpolitik im Vergleich zur Vorgängerregierung<br />
nichts ändern werde, garantierte er als erster US-Präsident nur<br />
noch „die Freiheit der Bevölkerung Westberlins“. Er bestand<br />
aber darauf, dass die Truppen der Westmächte in Westberlin<br />
stationiert bleiben.<br />
Am 28./29. März 1961 fand in Moskau die turnusgemäße<br />
Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer<br />
Vertrages statt. Walter Ulbricht, der den Vorsitz innehatte,<br />
sprach sich für den Abschluss eines separaten Friedensvertrages<br />
mit der DDR aus, der es ermöglichen würde, „auch den<br />
Herd der Kriegspropaganda gegen die sozialistischen Länder<br />
in Westberlin“ zu beseitigen. Ulbricht drängte darauf, den<br />
„Besatzungsstatus für Westberlin“ aufzuheben. Noch sprach<br />
sich Ulbricht gegen schroffe Veränderungen aus, plädierte aber<br />
für verstärkte Grenzkontrollen. Konkrete Maßnahmen, wie<br />
die Massenflucht gestoppt werden sollte, standen noch nicht<br />
zur Diskussion. Das Kommuniqué der Tagung forderte den<br />
Abschluss eines Friedensvertrages und die Entschärfung des<br />
„Gefahrenherdes Westberlin“.<br />
2<br />
� Separatfrieden mit der DDR?<br />
<strong>Die</strong> NATO-Ratstagung vom 8.-10. Mai 1961 in Oslo wies im<br />
Kommuniqué die Androhung eines separaten Friedensvertrages<br />
zurück und bekräftigte die Entschlossenheit, „die Freiheit<br />
Westberlins und seiner Bevölkerung zu wahren“. <strong>Die</strong>se auf den<br />
ersten Blick unauffällige Formulierung wirkte laut Wilhelm G.<br />
Grewe wie eine „Hiobsbotschaft“, da nun die von Kennedy<br />
und Dean Rusk eingeführte terminologische Neuerung,<br />
„Westberlin“ statt „Berlin“ zu sagen, Eingang in ein NATO-
Kommuniqué gefunden hatte. Für den erfahrenen Diplomaten<br />
Grewe war das gleichbedeutend damit, dass zwar die Rechte<br />
der Westmächte geschützt wurden, jedoch die Freizügigkeit der<br />
West-<strong>Berliner</strong> in Gesamtberlin zur Disposition stand. Einem<br />
Bericht von Heinrich Albertz zufolge lief Egon Bahr mit dem<br />
Text des Kommuniqués zum Regierenden Bürgermeister Willy<br />
Brandt und sagte: „Das ist fast wie eine Einladung für die<br />
Sowjets, mit dem Ostsektor zu machen, was sie wollen.“ Egon<br />
Bahr bestätigte diese Darstellung in seinen Memoiren ausdrücklich:<br />
„Aufgeschreckt wurde ich erst durch das Kommuniqué<br />
der NATO-Ratssitzung in Oslo am 10. Mai. Da wurden drei<br />
Eckpunkte garantiert, nämlich Zugang, Anwesenheit der<br />
Westmächte und Lebensfähigkeit der Westsektoren. Von Vier-<br />
Mächte-Status war nicht mehr die Rede. Wirklich erregt stürmte<br />
ich zum Chef und legte die Meldung der Nachrichtenagentur<br />
auf den Tisch: ‚Das ist schrecklich, im Grunde eine Einladung<br />
an die Sowjets, dass sie mit ihrem Sektor machen können, was<br />
sie wollen.’ Unmittelbar vorher (muss eigentlich „nachher“<br />
heißen – d. Vf.) hatten Kennedy und Chruschtschow in Wien<br />
einander Maß genommen und einen Monat später erklärte der<br />
neue Präsident die Entschlossenheit der USA, Westberlin zu<br />
verteidigen. Das beruhigte die West-<strong>Berliner</strong>, die Menschen<br />
östlich des Brandenburger Tores nicht.“<br />
Das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten<br />
John F. Kennedy und dem sowjetischen Ministerpräsidenten<br />
Nikita S. Chruschtschow am 3. und 4. Juni 1961 in Wien<br />
führte nicht zur Beilegung der akuten Spannungen in der<br />
Berlin-Frage. <strong>Die</strong> Wiener Begegnung wurde gelegentlich als<br />
„Weichenstellung zum <strong>Mauer</strong>bau“ überbewertet. Das würde<br />
den Blick für die eigentliche Dramatik des Geschehens im<br />
„heißen Sommer“ 1961 verstellen.<br />
Chruschtschow hatte Kennedy am 4. Juni 1961 nach<br />
Abschluss der Gespräche mit einem Memorandum überrascht,<br />
das die Berlin-Krise nach Wien erneut anheizte. Das<br />
Memorandum, das wieder mit einer Sechsmonatefrist als<br />
2
Ultimatum aufgemacht war, drohte den Abschluss eines separaten<br />
Friedensvertrages mit der DDR an, in dessen Ergebnis<br />
die Besatzungsrechte in Berlin erlöschen sollten: „Insbesondere<br />
werden die Fragen der Benutzung der Verbindungswege auf dem<br />
Lande, zu Wasser und in der Luft, die über das Territorium der<br />
DDR führen, nicht anders zu lösen sein als auf der Grundlage<br />
entsprechender Übereinkommen mit der DDR.“<br />
30<br />
� Kurs auf die Luftsperre<br />
Am gleichen Tage erklärte Walter Ulbricht in einem Interview:<br />
„Schon seit Jahren wird der Verkehr zwischen Westberlin und<br />
anderen Ländern, einschließlich Westdeutschland, zumindest<br />
zu 95 v. H. von den Behörden der DDR kontrolliert. An die<br />
Kontrolle auch der restlichen 5 v. H. wird sich die Welt gewöhnen.<br />
Daran zweifele ich nicht.“<br />
Auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961<br />
hatte Walter Ulbricht auf eine Anfrage von Annemarie Doherr<br />
von der „Frankfurter Rundschau“ zutreffend erklärt, dass er<br />
nicht die Absicht habe, eine <strong>Mauer</strong> zu errichten. Auf die Frage<br />
des „Spiegel“, ob die Kontrolle über die Luftsicherheit auch die<br />
Kontrolle der Passagiere einschließe, erklärte Ulbricht: „Ob die<br />
Menschen zu Lande, zu Wasser oder in der Luft in die DDR<br />
kommen, sie unterliegen unserer Kontrolle... Wir machen es<br />
genauso, wie man es in London macht. Damit ist die Sache in<br />
Ordnung.“<br />
Am 28. Juni 1961 veröffentlichte das Post- und Verkehrsministeriums<br />
eine Anordnung für ausländische Flugzeuge, die<br />
das Datum des 15. Mai trug. <strong>Die</strong>se Anordnung bestimmte,<br />
dass alle Flugzeuge, die in die DDR einfliegen oder aus ihr<br />
ausfliegen, ab 1. August 1961 die Radiosicherungsbehörden<br />
der DDR zu informieren haben und beim Fluge innerhalb<br />
der DDR ihre Radioeinrichtung nur für Angelegenheiten
der Flugsicherung und Flugregelung auf den von den DDR-<br />
Behörden festgelegten Frequenzen benützen dürfen.<br />
Es besteht kein Zweifel, im Juni 1961 ging es Ulbricht<br />
noch nicht um den <strong>Mauer</strong>bau. Luftkontrolle war angesagt; es<br />
ging um die letzten fünf Prozent der noch nicht kontrollierten<br />
Verbindungen Westberlins. Es war bestimmt kein Zufall,<br />
dass in dieser Zeit Jugendbrigaden in einer sich „Zentrales<br />
Jugendobjekt der FDJ“ nennenden Hauruck-Aktion den<br />
Flughafen in Berlin-Schönefeld ausbauten.<br />
Düsenflughafen Berlin-Schönefeld<br />
Am 7. März 1959 nahm die Ostberliner FDJ-Organisation<br />
gemeinsam mit Baumeistern, Technikern und Ingenieuren die<br />
Arbeit am „Jugendobjekt Düsenflughafen Berlin-Schönefeld“<br />
auf. Der Ausbau zu einem der modernsten Großflughäfen<br />
Europas sollte gemäß offizieller Verlautbarungen den Anschluss<br />
der DDR an das internationale Verkehrsnetz für den Strahlluftverkehr<br />
gewährleisten. Der bisherige Kontrollbahnhof Schönefeld<br />
sollte als öffentlicher Umsteigebahnhof eingerichtet und an<br />
das elektrisch betriebene S-Bahn-Netz angeschlossen werden.<br />
Im Juli 1961 wurde die erste Start- und Landebahn in Betrieb<br />
genommen und sogleich mit dem Bau einer zweiten begonnen.<br />
<strong>Die</strong> Landebahn bestand aus einer 3 600 Meter langen und 60<br />
Meter breiten Piste. <strong>Die</strong>se Piste entsprach den internationalen<br />
Anforderungen der Flughafenklasse A I (d. h. Tragfähigkeit für<br />
Maschinen bis 45 Tonnen Einzelachslast). Da die Realisierung<br />
des geplanten komplexen Abfertigungszentrums, das Luft-,<br />
Eisenbahn- und Straßenzubringerverkehr vereinigen sollte,<br />
längere Zeit benötigt hätte, erfolgte eine Konzentration auf die<br />
Fertigstellung einer Passagierabfertigung.<br />
Kennedys heftiger Widerspruch gegen Chruschtschows Überrumpelungsversuch<br />
in Wien hatte Moskau ganz offensichtlich<br />
noch nicht zu einem Umsteuern veranlasst. Der separate<br />
31
Friedensvertrag mit der DDR, einschließlich der vor allem<br />
angestrebten Luftkontrolle bzw. „Luftsperre“, blieb auf der<br />
Tagesordnung der östlichen Deutschland- und Berlinpolitik,<br />
während die Planungen der Militärs sich schon auf verschiedene<br />
Varianten einstellten, darunter auch auf die Abriegelung<br />
zu Lande.<br />
32<br />
� Kennedy zwingt Chruschtschow zum Kurswechsel<br />
Der populäre Präsident Kennedy geriet ein knappes halbes Jahr<br />
nach Beginn seiner Regentschaft in eine schwierige Lage. Das<br />
Treffen in Wien wurde ihm als „Desaster“ angelastet. An seinen<br />
Führungsqualitäten wurde gezweifelt. <strong>Die</strong> „Falken“ kritisierten<br />
die Niederlage der amerikanischen Kuba-Politik (vor allem<br />
die Erfolglosigkeit des vom Vorgänger Eisenhower ererbten<br />
„Schweinebucht“-Abenteuers im April 1961), die mangelnden<br />
Erfolge der USA in Südostasien und die Unsicherheiten<br />
in Südkorea. Im Lande selbst warfen die Rassenunruhen<br />
in Alabama ihre Schatten auf Kennedys Bemühungen,<br />
Sympathien bei den afro-asiatischen Völkern zu erwerben. Zur<br />
negativen Bilanz Kennedys zählte, dass der enormen internationalen<br />
Ausstrahlung des Weltraumfluges Jurij Gagarins durch<br />
Alan B. Shepards kurzen Flug nur teilweise entegegengewirkt<br />
werden konnte. Das Regime Charles de Gaulles im verbündeten<br />
Frankreich wurde durch den Aufstand der französischen<br />
Generale in Algerien in seiner Stabilität erschüttert. Auch<br />
nach dem Zusammenbruch des Offiziersaufstandes waren die<br />
Zweifel nicht verschwunden.<br />
In diese Zeit der Irritationen und Wirrnisse fiel die Kritik<br />
Mike Mansfields, Führer der demokratischen Mehrheit im<br />
Senat, dass sich die USA in Berlin festklammerten. Er schlug<br />
am 14. Juni 1961 in Anknüpfung an seinen Berlin-Plan vor,<br />
ganz Berlin in eine entmilitarisierte „Freie Stadt“ unter dem
Schutz und der Aufsicht der Vereinten Nationen umzuwandeln.<br />
Warschauer Vertrag und NATO sollten gemeinsam den<br />
Interimstatus der „Freien Stadt“ bis zur Herstellung der deutschen<br />
Einheit garantieren.<br />
John F. Kennedy bemühte sich, seine Berlinpolitik auf eine<br />
feste Basis zu stellen und seinen Kritikern im Lande offensiv<br />
zu begegnen. Am 27. Juni 1961 berief er den früheren Stadtkommandanten<br />
General Maxwell Taylor zu seinem Militärbeauftragten.<br />
Er wies ihn an, die amerikanische Planung für den<br />
Fall einer ernsthaften Krise in Berlin zu überprüfen. Auf seiner<br />
Pressekonferenz am 28. Juni 1961 lehnte es der Präsident ab,<br />
sich zu konkreten Maßnahmen in Verbindung mit der Berlin-<br />
Frage zu äußern, solange ihm nicht der Bericht der „task force“<br />
unter dem Vorsitz Dean Achesons sowie weitere Vorschläge vorlägen.<br />
Im Nationalen Sicherheitsrat würden am folgenden Tage<br />
Maßnahmen beraten: „Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen,<br />
dass wir hier über Angelegenheiten von äußerstem Ernst<br />
sprechen“, erklärte Kennedy. Am 30. Juni 1961 war Kennedys<br />
Direktive fertig, die den Außen-, den Verteidigungs- und den<br />
Finanzminister aufforderte, bis zur Beratung des Nationalen<br />
Sicherheitsrates am 13. Juli 1961 Entscheidungsgrundlagen auszuarbeiten.<br />
In die Ernstfallplanung zur <strong>Berliner</strong> Krise (contingency<br />
planning), die bisher in den Händen der drei Westmächte<br />
lag, wurde ab Juli auch die deutsche Bundesregierung einbezogen.<br />
Am 14. Juli 1961 weilte Verteidigungsminister Franz-Josef<br />
Strauß auf Einladung Robert S. McNamaras zur Beratung des<br />
strategischen Konzepts der neuen Administration, vor allem der<br />
militärischen Aktionen zur Sicherung des freien Zugangs nach<br />
Berlin, in Washington. Strauß stimmte dem Konzept der „flexible<br />
response“ zu. <strong>Die</strong> Durchbruchpläne des Hardliners Dean<br />
Acheson fanden keine Berücksichtigung. Der frühere Radford-<br />
Plan, der sich ausschließlich auf Nuklearwaffen gestützt hatte,<br />
war schon vorher bei Strauß auf Vorbehalte gestoßen. Der<br />
Grundgedanke der Strategie bestand darin, die Schwelle für die<br />
Auslösung des „Garantiefalles“ hoch zu legen und für die ande-<br />
33
e Seite so riskant wie nur möglich zu machen. Nach Wilhelm<br />
Grewe, Botschafter der Bundesrepublik in Washington, bildeten<br />
die „militärischen Garantien zur Erhaltung der ‚Freiheit’ und<br />
‚Unabhängigkeit’ Berlins eine Art ‚Maginotlinie’“. Das schließlich<br />
beschlossene Szenario wird bis heute unter Verschluss gehalten.<br />
34<br />
„Live Oak“ (Lebende Eiche)<br />
(Quelle: Friedrich Jeschonnek/<strong>Die</strong>ter Riedel/William Durie: Alliierte in<br />
Berlin. Berlin 2002, S. 215)
Für die Eventualfall- und Verteidigungsplanungen bestand von<br />
1959 bis 1990 die Organisation „Live Oak“ (LO). Sie bestand<br />
aus dem Commander Live Oak (CLO), einem „Alternate<br />
Commander“ (ACLO) und dem Stab Live Oak.<br />
Anfangs setzte sich der Stab aus 40 Angehörigen der amerikanischen,<br />
britischen und französischen Streitkräfte zusammen,<br />
später wuchs er auf 100 Mann an. 1961 wurde dem Stab<br />
ein Verbindungskommando der Bundesrepublik zugeordnet.<br />
<strong>Die</strong> Aufgabe des LO bestand in Friedenszeiten darin<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
vorausschauende militärische Krisenpläne und Maßnahmen<br />
vorzubereiten,<br />
ergänzende militärische Pläne für den Fall einer „Berlin-<br />
Blockade“ auszuarbeiten und im Falle der Krise den aktuellen<br />
Erfordernissen anzupassen sowie<br />
in Zusammenarbeit mit der Bonner Botschafter Gruppe<br />
(„Bonn-Group“)besondere Lufttransportpläne für die<br />
Versorgung Berlins zu erarbeiten.<br />
Franz-Josef Strauß ließ in seinen „Erinnerungen“ trotz noch<br />
geltender Geheimhaltung wissen, dass im Falle einer Luftsperre<br />
zum Zwecke des Erzwingens der Zugänge zu Berlin der Abwurf<br />
einer Atombombe auf einen russischen Truppenübungsplatz in<br />
der DDR vorgesehen war. Strauß schrieb: „Der amerikanische<br />
Gedanke eines Atombombenabwurfs auf einen sowjetischen<br />
Truppenübungsplatz hätte, wäre verwirklicht worden, den Tod<br />
von Tausenden sowjetischer Soldaten bedeutet. Das wäre der<br />
Dritte Weltkrieg gewesen. <strong>Die</strong> Amerikaner wagten einen solchen<br />
Gedanken, weil sie genau wussten, dass die Sowjets damals<br />
noch nicht über präzise treffende und zuverlässig funktionierende<br />
Interkontinentalraketen verfügten, auch nicht über<br />
einsatzgenaue Mittelstreckenraketen.“<br />
In die Zeit der Ausformung dieses riskanten Konzepts fielen<br />
Gespräche über einen Kompromiss zwischen dem ame-<br />
35
ikanischen Präsidentenberater Arthur Schlesinger und dem<br />
sowjetischen Botschaftsrat Georgij Kornijenko am 5. Juli in<br />
Washington. Der Gedankenaustausch endete mit dem sowjetischen<br />
Appell, die USA möchten doch ihre eigenen Garantien<br />
für Westberlin formulieren. Präsident Kennedy ließ Moskau<br />
nicht lange warten. In Erklärungen am 19. und 25. Juli 1961<br />
verkündete er sein Berlin-Programm, das „den Westen aus<br />
der fatalen Lage (befreite), auf Verwaltungsschikanen und<br />
Verkehrsbehinderungen nur mit der Drohung des thermonuklearen<br />
Krieges antworten zu können.“ (Wilhelm Grewe)<br />
Kennedy charakterisierte die Schwächen der sowjetischen<br />
Berlinpolitik und demonstrierte die Entschlossenheit der USA,<br />
die Verteidigungsanstrengungen erheblich zu steigern, wozu er<br />
beeindruckende Zahlen nannte. Kennedy erklärte sodann, dass<br />
die USA nicht daran dächten, sich von der Verpflichtung gegenüber<br />
der Menschheit, eine friedliche Lösung zu suchen, zurückzutreten.<br />
Er charakterisierte Art und Grenzen der amerikanischen<br />
Verhandlungsbereitschaft. Der Präsident erkannte die<br />
begründete Besorgnis der Sowjetunion bezüglich ihrer Sicherheit<br />
in Mittel- und Osteuropa nach einer Reihe räuberischer<br />
Invasionen ausdrücklich an. Erst in diesem Zusammenhang<br />
machten die „three essentials“ Kennedys überhaupt Sinn, die<br />
Kennedy in gar keinem Fall infrage gestellt sehen wollte:<br />
36<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>Die</strong> Anwesenheit der drei Westmächte in Berlin,<br />
ihr ungestörtes Zugangsrecht,<br />
die Sicherheit und Freiheit der West-<strong>Berliner</strong>.<br />
Das war das Angebot für eine Kompromisslösung. Dabei<br />
ist zu berücksichtigen, dass Kennedy sich hier auf westliche<br />
Minimalforderungen beschränkte und andere „essentials“, die<br />
im Notenaustausch des Jahres 1961 und in Wien noch eine<br />
Rolle gespielt hatten, nicht mehr nannte.<br />
Nicht erwähnt wurden:<br />
<strong>•</strong><br />
die Gewährleistung der bestehenden Bande zwischen<br />
Berlin und der Bundesrepublik,
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
die Freiheit des Zivilverkehrs für Personen und Güter<br />
von und nach Berlin sowie<br />
die Freiheit des <strong>Berliner</strong> Binnenverkehrs über die<br />
Sektorengrenzen hinweg.<br />
Aufmerksamkeit verdienen auch folgende Sätze Kennedys:<br />
„Heute verläuft die gefährdete Grenze der Freiheit quer durch<br />
das geteilte Berlin. Wir wollen, dass sie eine Friedensgrenze<br />
bleibt.“ <strong>Die</strong>se Passage wurde in Moskau mit besonderer<br />
Aufmerksamkeit gelesen.<br />
William Fulbright, Sprecher des außenpolitischen Senatsausschusses,<br />
wurde am 30. Juli 1961 in einem Fernsehinterview<br />
noch deutlicher: „Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen<br />
nicht ihre Grenzen schließen, denn ich glaube, dass sie ein<br />
Recht haben, sie zu schließen.“<br />
� Weichenstellung <strong>Mauer</strong>bau<br />
Kennedys Härte und die zugleich bekundete Kompromissbereitschaft<br />
brachten Ende Juli 1961 die scheinbar versteinerten<br />
Politikkonzepte Moskaus in Bewegung. Der zeitliche<br />
Handlungsrahmen hatte sich für den Osten angesichts der steigenden<br />
Flüchtlingszahlen und der zunehmenden wirtschaftlichen<br />
Instabilität der DDR ohnehin eingeengt, sodass für neue<br />
Gipfelberatungen keine Zeit mehr blieb. Julij A. Kwizinskij<br />
beschrieb in seinen Erinnerungen diesen Vorgang detailliert.<br />
Demnach hatte Ulbricht dem sowjetischen Botschafter den<br />
ganzen Ernst der Lage Ende Juni/Anfang Juli 1961 geschildert<br />
und auf ein schnelles Handeln gedrängt. <strong>Die</strong> nicht genau datierte<br />
Antwort aus Moskau lautete nach Kwizinskij: „<strong>Die</strong>ser<br />
(Chruschtschow - d. Vf.) gab seine Einwilligung, die Grenze zu<br />
Westberlin zu schließen und mit der praktischen Vorbereitung<br />
dieser Maßnahme unter größter Geheimhaltung zu beginnen.<br />
3
<strong>Die</strong> Aktion sollte rasch und für den Westen unerwartet durchgeführt<br />
werden.“ Ulbricht habe Chruschtschow seinen Dank<br />
übermittelt und zugleich erklärt, dass die Grenze zu Westberlin<br />
in ihrer ganzen Länge nur mit Stacheldraht rasch abgeriegelt<br />
werden könne.<br />
Das war praktisch die Weichenstellung in Richtung <strong>Mauer</strong>bau.<br />
<strong>Die</strong> Datierung dieser Entscheidung war zunächst nur<br />
ungenau auf den Zeitraum von Ende Juli bis Anfang August<br />
vorzunehmen. Eine Eingrenzung für diese Weichenstellung<br />
ließ sich durch einen Politbürobeschluss und seine Korrektur<br />
objektivieren. Am 18. Juli 1961 hatte das Politbüro einen<br />
Maßnahmenplan für die Vorbereitung des 90. Geburtstages von<br />
Karl Liebknecht am 13. August 1961 beschlossen. Das Papier<br />
sah am 14. August eine Kundgebung auf dem Potsdamer Platz<br />
vor. In der Außerordentlichen Beratung des Politbüros vom 7.<br />
August 1961 wurde dieser Beschluss aufgehoben. Daraus lässt<br />
sich ableiten, dass am 18. Juli noch keine Entscheidungen für<br />
die Grenzschließung am 13. August vorhanden gewesen sein<br />
können. <strong>Die</strong>se existierten aber ganz gewiss am 7. August.<br />
Rolf Steininger datiert die Entscheidung für den <strong>Mauer</strong>bau<br />
auf den 31. Juli. Nach Ulbrichts Eintreffen in Moskau habe<br />
Chruschtschow an diesem Tag sein Einverständnis zur Sperrung<br />
der Grenze unter bestimmten Bedingungen mitgeteilt. Ein<br />
Friedensvertrag werde jedoch „jetzt“ nicht unterzeichnet werden.<br />
Beziehen wir die erwähnte Mitteilung von Kwizinskij in die<br />
Betrachtung ein, der sich erinnert hatte, dass schon Perwuchin<br />
Ulbricht in Berlin über Chruschtschows Entscheidung zur<br />
Abriegelung informiert hatte, können wir annehmen, dass die eigentliche<br />
Entscheidung wenige Tage vor dem 31. Juli in Moskau<br />
gefallen war. Aus dem Verlauf der Gespräche Chruschtschows<br />
mit dem Direktor der USA-Abrüstungskommission, John J.<br />
McCloy, lässt sich die Vermutung ableiten, dass die Entscheidung<br />
am 27. Juli 1961 fiel. Darüber, dass Chruschtschow diese<br />
Entscheidung fällte, besteht kein Zweifel mehr. Er, der die<br />
<strong>Mauer</strong> für eine hässliche Sache hielt und der die Gefühle des<br />
3
deutschen Volkes verstand, hatte dazu gegenüber Botschafter<br />
Hans Kroll geäußert: „Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen,<br />
dass ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu<br />
gegeben hat. Ulbricht hat mich zwar seit längerer Zeit und in<br />
den letzten Monaten immer heftiger gedrängt, aber ich möchte<br />
mich nicht hinter seinem Rücken verstecken. Er ist viel zu schmal.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> wird, wie ich schon gesagt habe, eines Tages<br />
wieder verschwinden, aber erst dann, wenn die Gründe für ihre<br />
Errichtung fortgefallen sind.“<br />
Vom 3. bis 5. August 1961 fand in Moskau eine Beratung der<br />
Ersten Sekretäre der Kommunistischen und Arbeiterparteien<br />
statt, die sich mit der Vorbereitung eines Friedensvertrages und<br />
der Regelung der Westberlinfrage befasste. Jan Sejna, einer<br />
der Konferenzteilnehmer, der Parteisekretär im Verteidigungsministerium<br />
der ČSSR, hat nach seiner Flucht im Westen über<br />
Details dieser Beratung berichtet. Seiner Schilderung zufolge<br />
soll Ulbricht noch einmal die Kontrolle der Luftkorridore, die<br />
Luftsperre, gefordert haben. <strong>Die</strong>se Forderung wurde aber zurückgewiesen.<br />
Chruschtschow habe auf einer weniger radikalen<br />
Lösung zur Unterbindung des Flüchtlingsstromes bestanden.<br />
Sejna berichtete: „Ulbricht sagte schließlich: ‚Danke, Genosse<br />
Chruschtschow, ohne Ihre Hilfe können wir dieses schreckliche<br />
Problem nicht lösen.’“ Chruschtschow habe daraufhin<br />
noch einmal eindringlich Ulbricht in die Schranken gewiesen:<br />
„Ja, ich bin einverstanden – aber keinen Millimeter weiter!“<br />
Am 7. August traf der gefeierte Held des Zweiten Weltkriegs,<br />
der „Eroberer von Prag und Dresden“, von 1956 bis 1960 Oberkommandierender<br />
der Vereinten Streitkräfte der Staaten des<br />
Warschauer Vertrages, Iwan S. Konew, in Ostberlin ein. Im<br />
Auftrage von Chruschtschow übernahm er den Oberbefehl<br />
über die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen. Am<br />
selben Tage stellte Chruschtschow in einer Rundfunkrede<br />
zur Deutschland- und Berlin-Frage die Verstärkung der<br />
Sowjetarmee an den Westgrenzen und die Einberufung von<br />
Reservisten in Aussicht. Ihm ging es aber nicht mehr um das<br />
3
Durchpeitschen eines separaten Friedensvertrages oder das<br />
Erzwingen einer „Freien Stadt“, obwohl er auch darüber scheinbar<br />
in der alten und gewohnten Weise sprach. Das eigentliche<br />
Signal, das er in dieser Rede dem Westen gab, lautete, dass ein<br />
separater Friedensvertrag mit der DDR, das war neu, keine legitimen<br />
Rechte der Westmächte antasten werde: „Es ist von keinem<br />
Verbot des Zugangs nach Westberlin, von keiner Blockade<br />
Westberlins die Rede.“<br />
<strong>Die</strong>se Botschaft wurde im Westen verstanden. Am 10. August<br />
erfolgte in Zossen bei Berlin die Information der westlichen<br />
Militärgouverneure durch Marschall Konew. Ein westlicher<br />
Teilnehmer fragte nach den erhöhten militärischen Aktivitäten<br />
in der DDR. Konew antwortete: „Meine Herren, Sie können<br />
beruhigt sein, was immer in nächster Zukunft geschehen mag,<br />
Ihre Rechte werden unberührt bleiben. Nichts wird sich gegen<br />
Westberlin richten.“ <strong>Die</strong> Details der vorgesehenen Maßnahmen<br />
blieben indes bis zum 13. August streng geheim.<br />
In zahlreichen Betrieben der DDR bildeten sich „Komitees<br />
gegen Menschenhandel“, berichtet das „Neue Deutschland“,<br />
Zentralorgan der SED. <strong>Die</strong> 53 000 Grenzgänger wurden aufgefordert,<br />
sich registrieren zu lassen und sich Arbeitsplätze in<br />
der DDR zu suchen.<br />
<strong>Die</strong> Grenzgänger<br />
Der Begriff der Grenzgänger entstand unmittelbar nach der<br />
Währungsreform im Jahre 1948. <strong>Die</strong> in Westberlin arbeitenden<br />
Grenzgänger erhielten nur einen Teil ihres Lohnes in DM-<br />
West, der restliche Lohn wurde in DM-Ost ausgezahlt. Der<br />
Westberliner Arbeitgeber musste den dem Ost-Geldanteil entsprechenden<br />
Betrag in DM-West an die Lohnausgleichskasse<br />
abführen. Aus dieser Kasse wurde der Umtausch eines Teils des<br />
in Ostberlin empfangenen Lohnes der in Ostberlin arbeitenden<br />
Grenzgänger in Westgeld finanziert. Mit dem Rückgang der<br />
Arbeitslosigkeit im Westen ging die Zahl der anfangs 100 000<br />
40
im Osten arbeitenden Westberliner auf 13 000 Anfang August<br />
1961 zurück, während die Zahl der in Westberlin arbeitenden<br />
Ostberliner und DDR-Bewohner trotz offener Arbeitsstellen<br />
im Osten ständig anstieg. Im Sommer 1961 entfesselten die<br />
Instanzen der DDR ein Kesseltreiben gegen die Grenzgänger.<br />
Sie wurden vom Kauf hochwertiger Industriegüter ausgeschlossen<br />
und mussten ab 1. August 1961 die Miete und alle<br />
öffentlichen Ausgaben in DM-West bezahlen.<br />
� <strong>Die</strong> „Operation Grenzsicherung“<br />
Am 9. August beschloss das Politbüro der SED in einer geheimen<br />
Sitzung auf dem Landsitz Walter Ulbrichts am Döllnsee<br />
(Schorfheide) detaillierte Maßnahmen zur „Operation Grenzsicherung“.<br />
In der Nacht zum 10. August riegelten Einheiten<br />
der Staatssicherheit den Gebäudekomplex des MfS in der<br />
<strong>Berliner</strong> Normannenstrasse hermetisch ab. Der eigentliche<br />
Einsatzstab für die Operation bezog im Polizeipräsidium in der<br />
Nähe des Alexanderplatzes Quartier.<br />
Einsatzstab „Operation Grenzsicherung“<br />
Leitung:<br />
Erich Honecker, Mitglied des SED-Politbüros<br />
Mitglieder:<br />
<strong>•</strong> die Mitglieder des SED-Politbüros Willi Stoph (Vorsitzender<br />
des Ministerrates) und Paul Verner,<br />
<strong>•</strong><br />
die Mitglieder des ZK der SED Heinz Hoffmann (Verteidigungsminister),<br />
Erich Mielke (Staatssicherheitsminister),<br />
Karl Maron (Innenminister) und Erwin Kramer (Minister für<br />
Verkehrswesen), sowie Willi Seifert (Stellv. Innenminister),<br />
Fritz Eikemeier (Präsident der Volkspolizei Berlin) und<br />
Horst Ende (Leiter des Stabes des Innenministeriums)<br />
41
Vom Einsatzstab wurden Funk- und Telefonverbindungen<br />
zu allen Büros der Staatssicherheit und zu den Kasernen der<br />
Nationalen Volksarmee in allen Teilen der DDR geschaltet.<br />
Eine abhörsichere Direktleitung verband den Einsatzstab mit<br />
dem Hauptquartier des Chefs der Sowjettruppen, Marschall<br />
Konew. An alle Kommandeure der NVA, der Grenztruppen<br />
und der Betriebskampfgruppen erging Befehl, sich einsatzbereit<br />
zu halten.<br />
Zur gleichen Zeit badeten viele Westberliner bei herrlichem<br />
Sommerwetter im Wannsee. Politiker und Militärs im Westen<br />
bereiteten sich auf ein ruhiges Wochenende vor, denn die<br />
Geheimdienste hatten gemeldet: „Für das kommende Wochenende<br />
sind in Berlin keine besonderen Vorkommnisse zu erwarten.“<br />
Ernst Lemmer, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen<br />
hielt eine der üblichen Reden an die „Brüder und Schwestern“,<br />
in denen er versicherte, dass „der freie Zugang von Ost- nach<br />
Westberlin erhalten bleibt“.<br />
Am 11. August 1961 tagte die Volkskammer der DDR, die in<br />
der damals üblichen Weise feststellte, dass der Frieden in Gefahr<br />
sei. Sie beauftragte den Ministerrat der DDR, Maßnahmen<br />
zur Sicherung des Friedens vorzubreiten und durchzuführen.<br />
Am folgenden Tag beschloss der Ministerrat der DDR, die<br />
offene Grenze zwischen dem „sozialistischen und kapitalistischen<br />
Europa“ unter zuverlässige Kontrolle zu nehmen. Am<br />
12. August gegen 16 Uhr unterzeichnete Walter Ulbricht, der<br />
Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, die<br />
vom Einsatzstab vorbereiteten Befehle. Zu dieser Zeit standen<br />
die Motorisierten Schützenverbände der Nationalen Volksarmee<br />
bereits in den Bereitstellungsräumen.<br />
An diesem Tag hatte Ulbricht in seinem Landsitz am<br />
Döllnsee das Politbüro und die führenden Politiker der<br />
Blockparteien zu Gast. Das langjährige Mitglied des SED-<br />
Politbüros, Alfred Neumann, berichtete darüber: „Wir waren<br />
am Vorabend der Abriegelung zum Döllnsee eingeladen. Das<br />
42
war am Sonnabend. <strong>Die</strong> Vertreter der Blockparteien waren auch<br />
da. Nachmittags gab es Kaffee bei Ulbrichts und Abendbrot gab<br />
es da auch. Das Interessante war, dass keiner wusste, warum<br />
wir zusammenkamen. Der Volkskammerpräsident Johannes<br />
<strong>Die</strong>ckmann, wir hatten gerade Kaffee getrunken, kam zu<br />
mir: ‚Sagen Sie einmal Neumann, warum sind wir heute am<br />
Döllnsee?’ Es war nichts bekannt. Götting 1 , Gerlach 2 , alle waren<br />
sie da. Ich antwortete: ‚Ich habe keine Ahnung.’ Es war<br />
ja nicht meine Sache, die Leute zu informieren. Dann ging<br />
es weiter mit Plätscher, Plätscher, Witze erzählen und Musik<br />
hören. Zu einer bestimmten Zeit sagte Ulbricht: ‚Aufgrund<br />
der Volkskammerbeschlüsse werden heute nacht zuverlässige<br />
Sicherungen an der Grenze vorgenommen.’ Es war vor 12<br />
Uhr. <strong>Die</strong> genaue Zeit, weiß ich nicht mehr. Honecker war<br />
nicht dabei. Er war beim Stab.“<br />
In seiner Autobiographie schilderte Honecker den Ablauf<br />
der Aktion mit sichtlichem Wohlgefallen: „Am späten Abend,<br />
eine Stunde vor Beginn der Operation, trat der von mir geleitete<br />
Stab im <strong>Berliner</strong> Polizeipräsidium zusammen ... Um 0.00<br />
Uhr wurde Alarm gegeben und die Aktion ausgelöst. Damit begann<br />
eine Operation, die an dem nun anbrechenden Tag, einem<br />
Sonntag, die Welt aufhorchen ließ.“ Honecker sprach später<br />
gern darüber, dass die von ihm geleitete Operation „glänzend<br />
organisiert“ gewesen sei. Jedoch wissen wir seit Langem, dass das<br />
nur im Großen und Ganzen stimmte. Der Historiker Hartmut<br />
Mehls fand in einem <strong>Berliner</strong> Archiv heraus, dass der um 1.40<br />
Uhr ausgelöste Kampfgruppenalarm gar nicht so „glänzende“<br />
Resultate hatte. Der Bericht der Bezirkseinsatzleitung Berlin<br />
vom 18. September stellte fest: „Bis 12.00 Uhr (etwa 10 Stunden<br />
nach Alarmauslösung) befanden sich durchschnittlich 40 bis<br />
45 Prozent der Kämpfer bewaffnet im Konzentrierungsraum.<br />
Infolge verzögert gegebener Stärkemeldungen der Einheiten in<br />
den ersten 12 Stunden des Einsatzes und einiger Mängel im<br />
1 Gerald Götting, Parteivorsitzender der CDU.<br />
2 Manfred Gerlach, Parteivorsitzender der LDPD.<br />
43
Meldesystem war ein realer Überblick über die vorhandenen<br />
Kräfte nicht überall vorhanden.“ Der Parteiapparat der SED<br />
hatte die Zügel straffer in der Hand. In den Bezirksleitungen<br />
Berlin, Frankfurt (Oder) und Potsdam waren bereits am 12.<br />
August um 20 Uhr die Sonderdienste auf 20 Mitarbeiter unter<br />
der Leitung eines Sekretärs verstärkt worden. Um 2.30 Uhr<br />
erfolgte die Einweisung der leitenden Funktionäre der CDU,<br />
DBD, LDPD und der NDPD sowie der Massenorganisationen.<br />
<strong>Die</strong> Mitarbeiter der Apparate der SED, des FDGB und der FDJ<br />
wurden um 2.45 Uhr alarmiert. <strong>Die</strong>se formierten sofort den<br />
Propagandaapparat; Agitations- und Informationsgruppen entstanden.<br />
<strong>Die</strong> SED-Kreisleitungen hatten alle zwei Stunden zu<br />
berichten.<br />
Bewaffnete Kräfte errichteten noch in der Nacht an der<br />
Grenze zu Westberlin überwiegend aus Stacheldrahtverhauen<br />
bestehende Grenzsperren, die in den folgenden Tagen rasch<br />
verstärkt wurden. Damit wurde der bis dahin weitgehend freie<br />
Verkehr zwischen beiden Teilen der Stadt unterbrochen. Auch<br />
der bis dahin durchgehende S- und U-Bahn-Verkehr kam zum<br />
Erliegen. Er war nur noch innerhalb der jeweiligen Stadthälfte<br />
möglich. An einigen Stellen wurden Übergangsstellen eingerichtet,<br />
an denen Bürger, Fahrzeuge und Güter nach Kontrolle<br />
durch die Grenzpolizei und den Zoll passieren konnten.<br />
Parallel zur Operation in Berlin verstärkten bewaffnete Kräfte<br />
die Grenzanlagen zwischen den beiden deutschen Staaten.<br />
<strong>Die</strong> Operation in Berlin konzentrierte aus „heiterem<br />
Himmel“ eine militärische Übermacht um Westberlin:<br />
44<br />
1. Staffel:<br />
Bereitschaften der Volkspolizei und Kampfgruppen<br />
2. Staffel:<br />
NVA und Staatssicherheit<br />
3. Staffel:<br />
Sowjetische Streitkräfte, die nur bei Eingreifen westalliierter<br />
Truppen aktiv werden sollten.
Berlin nach dem 13. August 1961<br />
(Quelle: Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann: 13.8.1961: <strong>Mauer</strong>bau.<br />
Bremen 2001, S. 113)<br />
� <strong>Die</strong> Reaktion des Westens<br />
In Westberlin war in dieser Nacht Polizeioberkommissar Hermann<br />
Beck „Polizeikommissar vom <strong>Die</strong>nst“ im Polizeipräsidium<br />
am Tempelhofer Damm. Er hatte sich um halb zwei in<br />
der Nacht ausgezogen, weil um diese Zeit in der Stadt gewöhnlich<br />
Ruhe einzog. Gerade war er eingeschlafen, als das Telefon<br />
ihn wach klingelte. Aus Spandau kam die Meldung, dass der S-<br />
Bahnzug aus Staaken in Richtung Spandau „auf sowjetzonales<br />
Gebiet“ zurückgeführt wurde. <strong>Die</strong> Fahrgäste mussten den Zug<br />
verlassen. Ihr Fahrgeld erhielten sie zurück. Das Telefon klingelte<br />
unentwegt. Beck, der kaum zum Anziehen kam, machte<br />
sich seine Gedanken, während er im Wachbuch Position<br />
45
für Position die Einstellung des S-Bahnverkehrs in Richtung<br />
Westberlin notierte. Er erinnerte sich an Mobilisierungspläne<br />
für den Fall einer Besetzung Westberlins durch östliche<br />
Organe. Bald kamen neue Meldungen über Panzerspäh- und<br />
Militärlastwagen in großer Zahl, die jedoch auf Ostberliner<br />
Gebiet verharrten. Beck überlegte, was er tun sollte. Der<br />
Alarmplan zur Verteidigung Westberlins war in einem dicken<br />
Kuvert im Panzerschrank. <strong>Die</strong>ser ging von einem Angriff auf<br />
Westberlin aus. <strong>Die</strong> Truppen in Ostberlin drangen jedoch<br />
nicht auf Westberliner Territorium vor. Beck löste deshalb nur<br />
den internen Alarm für die 13 000 Mann starke Westberliner<br />
Polizei aus. Der Auftrag an die Polizei lautete, die „Zonen“-<br />
und „Sektorengrenze“ verstärkt zu sichern. Schwerpunkte waren<br />
das Brandenburger Tor und der Potsdamer Platz.<br />
Im Sender RIAS 3 lief die beliebte Nachtsendung „Mit Musik<br />
und guter Laune“. Gegen 3.25 Uhr erhielt der Nachtredakteur<br />
eine Eilmeldung der Nachrichtenagentur „United Press<br />
International“ (UPI). Er unterbrach den Schlager „Bimm,<br />
Bamm, Bummerang“ und verlas die Nachricht: „Starke<br />
Verbände der kommunistischen Volkspolizei haben in der Nacht<br />
zum Sonntag die Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin<br />
abgeriegelt.“ Um 3.53 Uhr folgte die Meldung der „Deutschen<br />
Presseagentur“ (dpa): „Vopo spannt Stacheldraht.“<br />
In Washington landeten die Meldungen aus Berlin zuerst<br />
auf dem Tisch der zuständigen „Berlin Task Force“, die<br />
im Außenministerium einquartiert war. Der Stellvertretende<br />
Außenminister und Chef des Berlin-Stabes, Foy Kohler, hatte<br />
<strong>Die</strong>nst. Er sah keinen Anlass zu großer Aktivität. Rückblickend<br />
erklärte er: „Wir waren einerseits zwar sehr überrascht von den<br />
Ereignissen, denn unsere Nachrichtendienste wie der CIA<br />
hatten nichts Derartiges erwartet, aber andererseits spielte<br />
sich ja alles im sowjetischen Sektor ab. <strong>Die</strong> Grenze zu den<br />
Westsektoren wurde um keinen Zentimeter überschritten,<br />
3 Abkürzung für „Radio in the American Sector“<br />
46
und unsere Interessen waren damit nicht berührt. Unsere drei<br />
Essentials für Berlin – das Anwesenheitsrecht alliierter Truppen,<br />
die Zufahrt von und nach Westberlin und die Lebensfähigkeit<br />
der Stadt – waren keineswegs betroffen.“<br />
In der Senatskanzlei bemühte sich ihr Chef <strong>Die</strong>trich<br />
Spangenberg, den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt<br />
zu erreichen, der gerade auf Wahlkampftour mit dem<br />
Nachtzug von Nürnberg nach Kiel reiste. In Hannover verließ<br />
Brandt den Zug, um mit dem Flugzeug nach Berlin zu<br />
fliegen. Er begab sich zum Potsdamer Platz und sah zu, wie<br />
Männer in den blauen Arbeitsuniformen der Kampfgruppen<br />
mit Pressluftbohrern das Pflaster aufrissen, Stacheldraht ausrollten<br />
und Betonpfähle einrammten. „Hört mal! Was soll<br />
das?“, rief Brandt etwas hilflos hinüber. Er bekam keine<br />
Antwort. Zurück in der Senatskanzlei begab sich Brandt in<br />
sein Arbeitszimmer. Verschiedene Gedanken schossen ihm<br />
durch den Kopf: „Musste man den brutalen Akt der Verletzung<br />
des geltenden Rechts hinnehmen? Musste man dulden, was<br />
unseren Landsleuten, was den Bürgern Ostberlins und der<br />
‚Zone’ angetan wurde? Würden die Alliierten die Hände in<br />
den Schoß legen und geschehen lassen, was hier begonnen<br />
wurde.“ Dann begab sich Brandt in das Haus der ehemaligen<br />
Viermächte-Kommandantur in Berlin-Dahlem, wo gerade<br />
die Generäle der westlichen Alliierten berieten. <strong>Die</strong>se ließen<br />
Brandt dreißig Minuten warten. In hoher Erregung drängte<br />
Brandt die Generäle dazu, Flagge zu zeigen und Patrouillen an<br />
die Sektorengrenze zu schicken. Brandts Aufforderung wurde<br />
zurückgewiesen. <strong>Die</strong> Generäle hatten strikte Weisungen ihrer<br />
Regierungen für den Krisenfall, nichts zu unternehmen, solange<br />
nicht die Westsektoren angegriffen werden. Sie forderten<br />
Brandt auf, Westberliner Polizei an die Grenze zu schicken, um<br />
Zusammenstöße zwischen Westberliner Demonstranten und<br />
den DDR-Kampfgruppen zu verhindern. Brandt verließ das<br />
Haus mit den Worten: „Wenn das alles ist, was die westlichen<br />
Kommandanten unternehmen wollen, dann lacht der ganze<br />
4
Osten von Pankow bis nach Wladiwostock.“ Erst 36 Stunden<br />
später lieferten die drei westlichen Stadtkommandanten bei<br />
ihrem sowjetischen Kollegen einen offiziellen Protest ab, der<br />
allerdings nicht gerade scharf war.<br />
Der Minister für Gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer<br />
rief in der Nacht von Berlin aus den Kanzlerstaatssekretär<br />
Hans Globke, einen wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittenen<br />
Mann, in Bonn an. Beide diskutieren darüber, ob es<br />
angemessen sei, den 85 Jahre alten Kanzler Konrad Adenauer<br />
aus dem Schlaf zu wecken. Globke entschied sich um 4.30<br />
Uhr für einen Anruf in Bad Honnef. <strong>Die</strong> Witwe Schlief,<br />
Haushälterin des Kanzlers, meldete sich. Es bedurfte einiger<br />
Überredungskunst Globkes, bevor sie bereit war, den „Alten<br />
aus Rhöndorf“ zu wecken. Adenauer bestellte zum Morgen des<br />
13. August Globke und Heinrich Krone, den Vorsitzenden der<br />
CDU-Bundestagsfraktion, zu sich. Sie beschlossen, dass die<br />
Regierung angesichts der Vorgänge in Berlin „Ruhe bewahren“<br />
sollte. Einem Rundfunkreporter des RIAS sagte der Kanzler<br />
ins Mikrofon, dass die Alliierten Gegenmaßnahmen treffen<br />
werden, auf die alle Deutschen vertrauen sollen.<br />
Wie aber reagierten die Regierungschefs der Alliierten?<br />
Charles de Gaulle, Frankreichs Staatspräsident, verbrachte sein<br />
Wochenende auf dem Lande. Der britische Premier Harold<br />
Macmillan weilte zur Moorhuhnjagd in Schottland. Keines der<br />
beiden Staatsoberhäupter dachte daran, wegen der „Operation<br />
Grenzsicherung“ auf Ostberliner und DDR-Gebiet den<br />
Wochenendurlaub abzubrechen. Nachdem US-Außenminister<br />
Dean Rusk John F. Kennedy über die Absperrung unterrichtet<br />
hatte, notierte Kenneth O‘Donnel, Chef des Terminkalenders<br />
des amerikanischen Präsidenten, dessen Worte: „Wenn die<br />
Russen die Absicht gehabt hätten, uns anzugreifen und uns<br />
die Verbindungswege zu sperren, würden sie keine Stacheldrahtbarrikaden<br />
errichten.“ Weiter soll er gelassen geäußert<br />
haben: „Das ist die Lösung“. Danach begab sich Kennedy an<br />
Bord seiner Ferienjacht „Marlin“.<br />
4
Im Unterschied zu den ersten, sehr emotional gehaltenen<br />
Stellungnahmen in der Medienöffentlichkeit des Westens reagierten<br />
John F. Kennedy und andere westliche Regierungschefs<br />
betont zurückhaltend. <strong>Die</strong> Äußerungen Kennedys zeigen,<br />
dass die Politiker im Verantwortungsbereich der NATO die<br />
Gefahren eines militärischen Konflikts mit atomaren Waffen<br />
erkannt hatten. Sie wollten ebenso wie die UdSSR wegen<br />
Berlin nicht in einen Krieg verwickelt werden.<br />
<strong>Die</strong> Reaktion des Westens wurde mitgeprägt vom Überraschungsaspekt<br />
des 13. August. Auf alles war man vorbereitet,<br />
nur nicht auf das, was tatsächlich eintrat. In seinen Planungen<br />
war der Westen davon ausgegangen, dass zur Unterbindung<br />
des eskalierenden Flüchtlingsstroms mit einer Neuauflage der<br />
Blockade oder mit einer Abriegelung Ostberlins von der DDR<br />
zu rechnen sei. Nun war aber der Sperriegel mitten durch die<br />
Stadt entlang der Linie gelegt worden, die schon seit 1948 den<br />
Geltungsbereich der zwei deutschen Währungen markierte.<br />
4
50<br />
DDR-Karikatur<br />
Quelle: Kurt Thieme, Da schlug‘s 13. (Berlin), o. J.
Zwischen <strong>Mauer</strong>bau und <strong>Mauer</strong>fall<br />
� Vom Stacheldrahtverhau zur <strong>Mauer</strong><br />
Nach dem 13. August 1961 war in den Auseinandersetzungen<br />
auf deutschem Boden eine neue Situation entstanden, die die<br />
deutschen Staaten dazu zwang, eine Neuorientierung ihrer<br />
Politik vorzunehmen. Walter Ulbricht konnte gelassen reagieren,<br />
war doch das Ausbluten der DDR erst einmal gestoppt<br />
worden. Chruschtschow hatte nur bedingt das erreicht, was<br />
ihm 1958 vorgeschwebt hatte. Nach wie vor befanden sich<br />
die westlichen Schutzmächte in Berlin. Kennedy war über das<br />
Ergebnis der Berlin-Krise erleichtert. Das Ende des Exodus in<br />
den Westen wertete er als Anzeichen dafür, dass es keine Berlin<br />
-Krise mehr geben würde.<br />
Konrad Adenauers deutschlandpolitische Konzeption hatte<br />
den größten Schlag erhalten. Es wurde offensichtlich, dass mit<br />
einem schnellen Anschluss der DDR jetzt nicht zu rechnen<br />
war. Adenauers Politik stand in deutlichem Kontrast zur realistischen<br />
Politik von Präsident Kennedy. Das zeigte sich auch<br />
bei den Wahlen am 17. September 1961, wo die CDU ihre<br />
absolute Mehrheit verlor, während Willy Brandt für die SPD<br />
6 Prozent der Wählerstimmen hinzugewann. Adenauer hatte<br />
Chruschtschow der Wahlkampfhilfe für Willy Brandt bezichtigt.<br />
Beim Wahlkampf sprach er vor 4 000 Zuhörern. Mit seiner<br />
Bemerkung „Brandt alias Frahm“ spielte er darauf an, dass<br />
Brandt unehelich als Kind einer Lübecker Verkäuferin geboren<br />
worden war. Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, den eine<br />
Reihe von Wählern nicht durchgehen lassen wollte. Adenauer<br />
ließ sich auch Zeit, nach Berlin zu fahren. Er, der eingefleischte<br />
Rheinländer, mochte den „Kartoffelacker jenseits der Elbe“<br />
nicht besonders. Im Fernsehen hatte er die <strong>Berliner</strong> am 14.<br />
August vor Nervosität gewarnt: „Zu einer Panik besteht wegen<br />
51
der Situation in Berlin kein Anlass. Der Ernst der Situation ist<br />
natürlich, aber es besteht kein Anlass zur Panik.“<br />
<strong>Die</strong> emotional aufgeheizte Westberliner Öffentlichkeit war<br />
höchst unzufrieden mit dem Verhalten des Kanzlers. Auch<br />
die „Bild-Zeitung“ gab sich ungehalten. Sie erschien am 16.<br />
August mit der Schlagzeile: „Der Osten handelt – der Westen<br />
tut NICHTS! – Präsident Kennedy schweigt... Macmillan geht<br />
auf die Jagd... Und Adenauer schimpft auf Willy Brandt“.<br />
Am 16. August empfing der Kanzler den sowjetischen<br />
Botschafter Andrej A. Smirnow. <strong>Die</strong> Erklärung, die das Kanzleramt<br />
danach herausgab, klang in den Ohren der Westberliner<br />
seltsam. Darin hieß es, dass der Kanzler darauf hingewiesen<br />
habe, „dass die Bundesregierung keine Schritte unternimmt,<br />
welche die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der<br />
UdSSR erschweren und die internationale Lage verschlechtern“.<br />
Obwohl Adenauer hier Augenmaß bewies, wurde ihm<br />
das in Westberlin als „Kuschen“ vor der mächtigen Sowjetunion<br />
angelastet.<br />
Ganz anders trumpfte hingegen der 48 Jahre junge Willy<br />
Brandt am gleichen Tag bei einer Kundgebung vor dem<br />
Schöneberger Rathaus auf. <strong>Die</strong> Russen hätten „den Kettenhund<br />
Ulbricht von der Leine gelassen“. Das kam an. Zugleich hatte<br />
Brandt einen scharf gehaltenen Brief an Kennedy geschickt,<br />
in dem er vom „Risiko letzter Entschlossenheit“ sprach<br />
und die Gefahr eines tiefen Vertrauensbruchs zwischen den<br />
Westberlinern und den Schutzmächten beschwor. Kennedy reagierte<br />
im Kreise seiner Berater zunächst sichtlich verärgert. Er<br />
sagte: „Was bildet sich dieser Bursche in Berlin eigentlich ein,<br />
mir in diesem Ton zu schreiben? – Ich lasse mir von diesem<br />
Nörgler nicht vorschreiben, was die USA zu tun oder zu lassen<br />
haben.“ Ein Journalist erhielt von Kennedys Pressesprecher<br />
Pierre Salinger die Antwort: „Der Präsident hat bisher noch<br />
nicht entschieden, ob der Brief beantwortet wird, und wenn<br />
ja, wann...“<br />
52
Doch in den folgenden Tagen erreichten Kennedy immer<br />
mehr Nachrichten, die es ihm geraten erscheinen ließen, auf<br />
Brandts Brief positiv zu reagieren. Kennedy war gegen Brandts<br />
Vorschlag, das Berlin-Problem vor die UNO zu bringen. Aber<br />
Brandts Vorschlag, die US-Garnison symbolisch um 1 500<br />
Mann zu verstärken, gefiel Kennedy. Schließlich kristallisierte<br />
sich der Plan heraus, den Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson<br />
und den Blockade-Helden und Viersternegeneral Lucius D.<br />
Clay nach Berlin zu schicken. Ganz im Sinne der geplanten<br />
Machtdemonstration sollten die 1 500 Mann mit 300 Jeeps<br />
und Kraftwagen über die Autobahn nach Berlin fahren.<br />
Mit dem Auftrag, die „Moral der <strong>Berliner</strong> wieder aufzurichten“,<br />
flog Vizepräsident Johnson am 19. August nach Berlin.<br />
In Köln-Wahn wurde ein Zwischenaufenthalt eingelegt, weil<br />
Johnson Kanzler Adenauer einen Kurzbesuch abstatten wollte.<br />
Dabei kam es zu einer Verstimmung, weil Adenauers<br />
Hoffnung, er könne gemeinsam mit dem amerikanischen<br />
Vizepräsidenten nach Berlin fliegen, nicht stattgegeben wurde.<br />
Kennedy wünschte keine Einmischung in den deutschen<br />
Wahlkampf. In Westberlin wurde Johnson stürmisch empfangen.<br />
Ein Korrespondent der „New York Times“ fand, dass die<br />
Freudenstimmung in Berlin nur zu vergleichen sei mit dem Jubel<br />
bei der Befreiung von Paris im Jahre 1944. Der Wagen wurde<br />
auf dem Weg vom Flughafen Tempelhof zum Schöneberger<br />
Rathaus immer wieder gestoppt. <strong>Die</strong> Menschen des Spaliers<br />
riefen: „Bravo, Johnson! Bravo, Clay! Bravo, Willy!“ Blumen<br />
wurden in den Wagen geworfen. Ein dorniger Rosenstrauß landete<br />
im Gesicht von General Lucius D. Clay. Am Stacheldraht<br />
war ein Fototermin mit Dutzenden von Reportern vorbereitet<br />
worden, doch Johnson ließ die Fahrtrichtung ändern. Am<br />
Potsdamer Platz stand bereits eine 1,25 m hohe <strong>Mauer</strong>. Aber<br />
Jonsohn erklärte, dass es nicht seine Aufgabe sei, „die <strong>Mauer</strong><br />
umzuwerfen“.<br />
Der Konvoi zur Verstärkung der US-Garnison hatte am<br />
20. August 1961 gegen 6 Uhr den Autobahn-Kontrollpunkt<br />
53
Helmstedt erreicht. Sowjetische Kontrolleure registrierten<br />
gewohnheitsgemäß jeden einzelnen Soldaten. Das dauerte einige<br />
Zeit. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Registrierung stimmten jedoch<br />
nicht mit den Transportlisten überein. Der 1 500. Mann fehlte.<br />
Oberst Glover Jones, der Kommandeur der Einheit, ließ<br />
alle Soldaten antreten und tippte jedem Soldaten auf die Brust<br />
und ließ ihn die fortlaufende Zahl rufen. Am Ende fehlte der<br />
1 500. Mann immer noch. Erst nachdem Militärpolizisten<br />
die Fahrzeuge durchsucht hatten, konnte das Rätsel gelöst<br />
werden. Der fehlende GI schlief hinter einer schrankgroßen<br />
Munitionskiste. <strong>Die</strong> Kolonne konnte dann ungehindert die<br />
Autobahn passieren. Gegen Mittag kam sie in Westberlin an.<br />
Am 21. September begannen in New York Erkundungsgespräche<br />
der Außenminister der beiden Supermächte, Dean<br />
Rusk und Andrej Gromyko. Adenauer, der zu keinem politischen<br />
Neuansatz mehr fand, reagierte misstrauisch und intensivierte<br />
seine Kontakte mit Charles de Gaulle. <strong>Die</strong>se westdeutschfranzösische<br />
Annäherung gipfelte schließlich im Januar 1963<br />
im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Über seinen<br />
Besuch im Dezember 1961 in Paris schrieb Adenauer in seinen<br />
Erinnerungen: „Ich beschwor de Gaulle eindringlich, sich nicht<br />
nur beobachtend gegenüber den schwebenden Fragen, insbesondere<br />
der Berlin-Frage, zu verhalten. Meine Befürchtung<br />
sei, dass bei einem Ausbleiben von Verhandlungen die Lage<br />
im nächsten Jahr nur noch schlechter sein werde. <strong>Die</strong> Russen<br />
seien militärisch und taktisch im Vorteil, und Kennedy habe<br />
gesagt, dass das amerikanische Volk sich erst an den Gedanken<br />
eines möglichen großen Krieges gewöhnen müsse.“<br />
Über sein Treffen mit de Gaulle im Februar 1962 in Baden<br />
-Baden schrieb Adenauer: „Wenn ich das Fazit aus den ersten<br />
zwölf Monaten der neuen amerikanischen Administration<br />
zöge, dann müsste ich feststellen, dass der Erfolg zweifellos<br />
auf Seiten des Kommunismus liege. Um ganz korrekt zu sein,<br />
müsste ich jedoch hinzufügen, dass mir die amerikanische außenpolitische<br />
Tendenz schon seit dem Ausscheiden von John<br />
54
Foster Dulles nicht mehr gefallen habe, denn nach dem Tode<br />
von Dulles habe bereits das Weichwerden begonnen.“ <strong>Die</strong>se<br />
Position blieb Kennedy nicht verborgen. Pierre Salinger berichtete<br />
in seinem Buch „With Kennedy“, dass Kennedy jeden<br />
Gedanken, die Grenzbefestigungen der DDR in Berlin einzureißen,<br />
mit dem Hinweis abgelehnt habe. Das Ulbricht-Regime<br />
habe das Recht, die Grenzen zu schließen. Niemand dürfe deshalb<br />
einen Krieg beginnen, habe der Präsident gesagt.<br />
Der Westen vertrat also zu den Maßnahmen vom 13. August<br />
unterschiedliche Auffassungen. So blieb der Spielraum für eine<br />
Verhandlungslösung im Interesse der Ost-West- und West-Ost-<br />
Bürgerkontakte ungenutzt, solange die Grenzbefestigung „nur“<br />
aus Stacheldrahtverhauen bestand. Da die Meinungsbildung<br />
im Westen keinen Konsens fand, musste Präsident Kennedy<br />
auf dem Felde der Diplomatie auf Zeitgewinn aus sein.<br />
Deshalb erklärte er bilaterale Verhandlungen, die Gewähr<br />
für einen späteren Erfolg schüfen, zur Vorbedingung für eine<br />
Gipfelkonferenz. Damit rückte eine Verhandlungslösung nolens<br />
volens in die Ferne.<br />
Ende Oktober kam es am „Checkpoint Charlie“, dem<br />
Grenzübergang für Diplomaten in der Friedrichstraße, zu einer<br />
brenzligen Situation, weil sich ein höherer US-Beamter weigerte,<br />
den Volkspolizisten seinen Pass vorzuweisen. Er durfte nicht<br />
passieren. Am 25. und 26. Oktober ließ Clay General-Patton-<br />
Panzer in der Friedrichstraße auffahren. Am 27. Oktober erschienen<br />
für 16 Stunden sowjetische Panzer. Es passierte glücklicherweise<br />
nichts, weil beide Supermächte ihr Terrain vorher<br />
bis auf den letzten Quadratmeter abgesteckt hatten.<br />
Im Herbst 1961 trat an die Stelle von Stacheldrahtverhauen<br />
nach und nach eine <strong>Mauer</strong> aus Betonfertigteilen, die immer<br />
stabiler wurde, je mehr „<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> muss weg!“-Aktionen vom<br />
Westen aus in Gang gesetzt wurden. <strong>Die</strong> Grenze durch Berlin<br />
sollte „blutende Grenze“ sein, weshalb Grenzbefestigungen<br />
eine Zeit lang von Kommandos gesprengt wurden, die von<br />
Westberliner Boden aus agierten. Sicher unbeabsichtigt und<br />
55
unfreiwillig bauten die Kalten Krieger im Westen auf diese<br />
Weise mit an der <strong>Mauer</strong>.<br />
<strong>Die</strong> Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“, die<br />
die DDR-Propaganda lange Zeit verwandte (im Lehrplan<br />
Geschichte für die Erweiterte Oberschule 1988 existierte der<br />
Begriff nicht mehr), suggerierte die falsche Vorstellung, dass in<br />
Westberlin Faschismus herrsche. „Erfinder“ des Mythos vom<br />
„antifaschistischen Schutzwall“ war Horst Sindermann, der<br />
im Auftrage des SED-Politbüros im Herbst 1961 eine ideologische<br />
Begründung für den <strong>Mauer</strong>bau zu erarbeiten hatte.<br />
Zur Rechtfertigung erklärte Sindermann im Mai 1990 dem<br />
„Spiegel“: „Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische<br />
Ordnung, die es in der DDR gab,<br />
erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch<br />
für richtig.“<br />
<strong>Die</strong> Abriegelung brachte für viele Bürger Berlins und in den<br />
angrenzenden Bezirken enorme persönliche Härten und Probleme<br />
mit sich. <strong>Die</strong> Reaktionen in der DDR waren außerordentlich<br />
vielfältig. Manche Bürger hofften auf das Versprechen<br />
der SED-Propaganda, dass es sich um vorläufige Maßnahmen<br />
bis zum Abschluss des Friedensvertrages noch im Jahre 1961<br />
handele. Andere Bürger fühlten sich erleichtert, weil nun die<br />
DDR nicht weiter ausbluten konnte. Sie gingen davon aus,<br />
dass bei hohen Wachstumsraten die DDR die Bundesrepublik<br />
vielleicht doch noch in der Arbeitsproduktivität überholen<br />
könnte. Eine dritte Gruppe wurde „mauerkrank“. Sie wuchs<br />
von Jahr zu Jahr.<br />
Zwar durften nach einem Gespräch zwischen dem Bischof<br />
Moritz Mitzenheim und Walter Ulbricht auf der Wartburg ab<br />
1964 Rentner in den Westen reisen und in der zweiten Hälfte<br />
der 80er Jahre fuhren auch immer mehr Bürger unterhalb des<br />
Rentenalters „in dringenden Familienangelegenheiten“, aber zu<br />
einem Reisegesetz, das allen Bürgern Reisefreiheit im Rahmen<br />
der ökonomischen Möglichkeiten der DDR garantierte, kam<br />
es bis 1989 nicht.<br />
56
(Quelle: Horst Pötzsch: Deutsche Geschichte im Spiegel der Karikatur. München<br />
und Landsberg am Lech 1997, S. 115)<br />
� <strong>Die</strong> „moderne Grenze“<br />
Am 23. Juni 1963 beschloss der DDR die Errichtung eines<br />
Grenzgebietes zwischen der DDR und Westberlin, was die<br />
Schaffung eines 10 m breiten Kontrollstreifens und im Bezirk<br />
Potsdam sowie innerhalb Berlins eines 500 m bzw. 100 m breiten<br />
Schutzstreifens bedeutete.<br />
Im Oktober 1964 begann der Ausbau des Sperrsystems<br />
zur „modernen Grenze“. <strong>Die</strong>ses Bauprogramm dauerte bis<br />
Ende 1970. Es entstand jene <strong>Mauer</strong>-Architektur, die 1989/90<br />
die „<strong>Mauer</strong>spechte“ kennenlernten; die 165,7 Kilometer<br />
Sperranlagen, die aus 3,50 bis 4,20 Meter hohen Betonplatten<br />
5
mit aufmontiertem Rohr oder aber aus Metallgitterzaun bestanden.<br />
Nach 1970 wurden weitere Verstärkungen vorgenommen,<br />
sodass aus der ursprünglichen Grenzlinie immer<br />
mehr ein „Grenzgebiet“ wurde: Kontrollstreifen, Kfz-Graben,<br />
Panzersperren, Beleuchtungsanlagen, Grenzpostenlinie, Kolonnenweg,<br />
Kontakt-Signalzaun, Hinterlandzaun, Beobachtungstürme,<br />
Bunker und Hundelaufanlagen zählten zu dem ausgeklügelten<br />
System, das im Verlauf etwa eines Jahrzehnts entstand.<br />
5<br />
<strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>: Grenzsicherungsanlagen im Stadtgebiet<br />
(Quelle: Peter Feist: <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>. Berlin 1961-1989.<br />
Berlin 2003, S. 14/15)<br />
Schon am 18. August 1961 hatte das „Studio am Stacheldraht“,<br />
eine Art zivile Lautsprecher-Kompanie des Westberliner Senats,<br />
die Arbeit aufgenommen. Ostberlin wurde lautstark beschallt.<br />
Bald setzte auch die NVA ihre Lautsprecher in Richtung<br />
Westberlin ein. Auf beiden Seiten erhöhte sich die Phonzahl.
Der „Phonkrieg“ endete Anfang 1962, weil Westberlin zu dieser<br />
Zeit bereits „durchschallt“ werden konnte.<br />
Es gab nach dem 13. August auch Krawalle, Steinwürfe<br />
und andere Zwischenfälle wie z. B. die nicht ungefährlichen<br />
Schleusungsaktionen.<br />
Beim Zumauern der Häuser in der Bernauer Straße wurden<br />
etwa 2 000 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben.<br />
Mehreren Dutzend Bewohnern gelang die Flucht. Für<br />
vier Bürger endete der Sprung auf Westberliner Territorium<br />
mit dem Tod. Umsiedlungsaktionen fanden auch in anderen<br />
Stadtteilen statt. <strong>Die</strong> Grundlage für Zwangsumsiedlungen aus<br />
dem Grenzgebiet zu Westberlin und aus dem 5-km-Grenzgebiet<br />
zur Bundesrepublik bildeten ein Beschluss des Präsidiums<br />
des Ministerrates vom 12. August 1961 und eine gleichlautende<br />
Direktive des ZK der SED über die weitere Erhöhung<br />
der Sicherheit an der Staatsgrenze West. Demzufolge waren<br />
Bürger, „die durch ihre Vergangenheit, ihre Entwicklung<br />
und ihre persönliche Haltung für Agenten und Provokateure<br />
Ansatzpunkte bieten“ umzusiedeln. Außerhalb des unmittelbaren<br />
Grenzgebiets waren neue Wohnung und Arbeit nachzuweisen<br />
. Über die Auswahl der Bürger, die in die Zwangsaktion<br />
einbezogen werden sollten, entschieden „Kaderkommissionen“,<br />
denen jeweils ein Mitarbeiter des Volkspolizeikreisamtes, des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit, der SED-Kreisleitung und<br />
der 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises angehörten.<br />
Betriebe, Institutionen und staatliche Organe wurden<br />
beauftragt, regelmäßig „Kaderanalysen“ zu erarbeiten und<br />
der zuständigen Kommission zu übergeben. <strong>Die</strong>se Aktion lief<br />
unter dem Codewort „Trabant“. Mit der „Verordnung über<br />
Aufenthaltsbeschränkung“ vom 24. August 1961 erfolgte eine<br />
Verschärfung der Umsiedlungsaktion, die ab 3. Oktober unter<br />
dem Namen „Kornblume“ stattfand. Räumkommandos<br />
mit Lastkraftwagen erzeugten in den Grenzregionen eine<br />
Atmosphäre von Angst und Schrecken.<br />
5
Einschüchternd wirkte auch die FDJ-Aktion „Ochsenkopf“,<br />
bei der auf westliche Fernsehstationen ausgerichtete Antennen<br />
rechtswidrig von jugendlichen Trupps zerstört wurden. <strong>Die</strong>ses<br />
Vorgehen löste viel Unwillen in der Bevölkerung aus, weshalb<br />
die SED-Führung sie bald abbrechen ließ. Einige Hardliner<br />
der SED hatten sich mit der Annahme verkalkuliert, dass es<br />
möglich sei, die <strong>Mauer</strong> auch im Äther zu errichten.<br />
<strong>Die</strong> Situation an den Grenzanlagen in Berlin drohte mehrfach,<br />
explosive Formen anzunehmen. Es gab politische Kräfte,<br />
die keine Ruhe einkehren lassen wollten. Ihr Konzept der „offenen<br />
Wunde“ und der „blutenden Grenze“ führte vor allem in<br />
den ersten Monaten nach der Abriegelung zur Konfrontation<br />
und Verschärfung der Situation, ohne an der Gesamtlage auch<br />
nur das Geringste ändern zu können.<br />
Im Mai und Juni 1962 wurden Grenzer der DDR von<br />
Westberlin aus erschossen. Der Fluchthelfer Rudolf Müller, der<br />
am 18. Juni 1962 den Grenzpolizisten Reinhold Paul Huhn<br />
erschoss, antwortete auf die Frage eines Journalisten, wie oft<br />
er habe abdrücken müssen, bis Huhn am Boden lag: „Einmal.<br />
Der Mann fiel sofort um.“<br />
Im Januar 1962 senkte sich plötzlich der S-Bahnsteig<br />
Wollankstraße in der Mitte. Entdeckt wurde nahe dem<br />
Gleis der Fernbahn ein nach Westberlin führender Stollen<br />
von 1,50 Meter Höhe und 1,20 Meter Breite. „Fluchthelfer“<br />
und Schleusungsgruppen hatten Hochkonjunktur. Ende Mai<br />
erfolgten auf die Grenzanlagen am Reichstagsufer, an der<br />
Gleimstraße, an der Eberswalder und der Schwedter Straße<br />
Sprengstoffanschläge. Als am 17. August 1962 Peter Fechter<br />
auf der <strong>Mauer</strong>krone von Schüssen der DDR-Grenzer getroffen<br />
wurde, fiel er auf Ostberliner Gelände zurück. Hunderte Ost-<br />
und Westberliner hörten 55 Minuten lang seine Hilfeschreie.<br />
Er verblutete. <strong>Die</strong> Grenzsoldaten hatten Schüsse aus dem<br />
Westen befürchtet und deshalb nicht geholfen. <strong>Die</strong> Mutter<br />
Peter Fechters, die das Sterben des Sohnes aus der Nähe mit<br />
ansehen musste, sagte darüber später: „An dem Tag, als mein<br />
60
Sohn sinnlos sein Leben lassen musste, wusste ich, dass diese<br />
<strong>Mauer</strong> und diese Grenze nicht bestehen können.“<br />
Insgesamt fanden 125 Menschen an der <strong>Mauer</strong> den Tod. In<br />
81 Fällen steht die Klärung noch aus. Das letzte Opfer war ein<br />
vierzehnjähriger „<strong>Mauer</strong>specht“, der von einer umstürzenden<br />
Platte erschlagen wurde. An der Grenze zwischen der DDR<br />
und der Bundesrepublik waren 111 Todesopfer zu beklagen.<br />
Bei Fluchtversuchen über die Ostsee verloren 140 Menschen<br />
das Leben. <strong>Die</strong> Zahl der Verletzten liegt weit höher.<br />
� Das Passierscheinabkommen<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> wurde allmählich zu einem unverrückbaren Bestandteil<br />
der deutschen Frage. <strong>Die</strong> „<strong>Mauer</strong> muss weg!“-Slogans waren<br />
immer nur ein Bestandteil der Propaganda gewesen. Bei<br />
Verhandlungen mit Moskau hat nie ein westlicher Staatsmann<br />
die Sowjetunion zum Abbau der <strong>Mauer</strong> aufgefordert.<br />
Vor allem Konrad Adenauer fand zu keinem politischen<br />
Neuansatz. Seine Starrheit entwickelte sich für die dynamische<br />
Politik Kennedys zu einer Belastung. Als Anfang 1963 die<br />
US-Regierung über eine Berlin-Interimslösung nachdachte<br />
und die bilateralen Berlin-Gespräche mit Moskau fortsetzte,<br />
schoss Bonn sofort Sperrfeuer. Staatssekretär Hans-Günther<br />
von Hase erklärte am 12. Januar, dass die Bundesregierung einer<br />
Ersetzung der Rechte der alliierten Mächte in Berlin durch<br />
die UNO nicht zustimmen werde, da dadurch die Position des<br />
Westens in Berlin beeinträchtigt würde.<br />
Ebenso starr verhielt sich Bonn in der Frage des Abschlusses<br />
eines Teststoppabkommens. Es war zunächst dagegen. Als es dies<br />
nicht mehr verhindern konnte, versuchte Bonn vergeblich, das<br />
Teststoppabkommen mit einer Erklärung zur deutschen Frage<br />
zu verknüpfen. Am 17. Juni 1963 wurde der bisherige Tag der<br />
Deutschen Einheit (aus Anlass des Aufstandes von 1953) von<br />
61
Bundespräsident Heinrich Lübke zum Nationalen Gedenktag<br />
des deutschen Volkes proklamiert. <strong>Die</strong> Bundesregierung forderte<br />
in einem Aufruf die Wiederherstellung der deutschen<br />
Einheit. Den „Brüdern und Schwestern“ im Osten wurde<br />
zugerufen: „Bewahrt Vertrauen, Geduld und Zuversicht! Ihr<br />
steht nicht allein!“<br />
Der amerikanische Präsident hatte am 10. Juni 1963 seine<br />
„Strategie des Friedens“ entwickelt. Kennedy hatte längst mit<br />
dem Denken in bloßen Schlagworten aufgehört. Ihm ging es<br />
im globalem Maßstab um Berührungspunkte und Verbindungsmöglichkeiten.<br />
Er war für den Teststopp, die Beendigung des<br />
Kalten Krieges im Äther und die Einrichtung eines „heißen<br />
Drahtes“ zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, damit<br />
in gefährlichen Konfliktsituationen wie der Karibik-Krise<br />
1962 das Schlimmste verhindert werden konnte. Als er am<br />
26. Juni 1963 Westberlin besuchte, schlug ihm eine Woge<br />
der Sympathie entgegen. Er sprach vor dem VI. Ordentlichen<br />
Gewerkschaftskongress der IG Bau, Steine, Erden und vor<br />
Studenten der Freien Universität Berlin. Den Studenten erklärte<br />
Kennedy, dass die Wiedervereinigung weder rasch kommen<br />
noch leicht sein werde. Wichtig aber sei, die Verbindung zum<br />
Osten zu halten, weshalb die Großmächte zusammenarbeiten<br />
müssten. Kennedy besuchte den Checkpoint Charlie und die<br />
<strong>Mauer</strong>. Seine Rede auf dem Rudolf-Wilde-Platz schloss er mit<br />
dem Satz, der später legendär wurde: „Alle freien Menschen,<br />
wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt, und als<br />
freier Mensch spreche ich deshalb voll Stolz die Worte: ‚Ich bin<br />
ein <strong>Berliner</strong>.’“<br />
Kennedys politischer Neuansatz fiel vor allem bei Politikern<br />
der SPD auf einen fruchtbaren Boden. Am 15. Juli 1963 hielt<br />
Egon Bahr, Leiter des Presse- und Informationsamtes von<br />
Westberlin, vor der Evangelischen Akademie in Tutzing eine<br />
aufschlussreiche Rede. Bahr polemisierte gegen die Politik<br />
des Alles oder Nichts. <strong>Die</strong> bisherige Politik des Drucks und<br />
Gegendrucks habe nur zu einer Erstarrung des Status quo<br />
62
geführt. Er warb dafür, im Vertrauen darauf, dass die westliche<br />
Welt die in friedlichem Sinne bessere sei, die bisherigen<br />
Befreiungsvorstellungen zurückzustellen. Bahr sagte: „Wir<br />
haben gesagt, dass die <strong>Mauer</strong> ein Zeichen der Schwäche ist.<br />
Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und<br />
des Selbsterhaltungstriebs des kommunistischen Regimes. <strong>Die</strong><br />
Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten<br />
Sorgen dem Regime graduell zu nehmen, dass auch<br />
die Auflockerung der Grenzen und der <strong>Mauer</strong> praktikabel wird,<br />
weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf<br />
die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“<br />
Bahrs Konzept „Wandel durch Annäherung“ hatte es anfangs<br />
auch in der SPD schwer. Zu stark waren Denkklischees<br />
des Kalten Krieges in den Köpfen vieler Zeitgenossen verankert.<br />
Bahr fand aber die Unterstützung durch Willy Brandt,<br />
der im Februar 1964 Parteivorsitzender der SPD wurde. Auch<br />
im konservativen Lager kam es zu Auseinandersetzungen über<br />
die weitere Politik gegenüber dem Osten. Nach dem Rücktritt<br />
Adenauers, der das endgültige Ende der Ära Adenauer besiegelte,<br />
übernahm Mitte Oktober 1963 Ludwig Erhard die Regierung.<br />
Der neue Kanzler hatte zwar in seiner Regierungserklärung eine<br />
„Politik der Mitte und der Verständigung“ versprochen, war jedoch<br />
nicht die starke Politiker-Persönlichkeit, die einer neuen<br />
Politik zum Durchbruch hätte verhelfen können. Bestenfalls<br />
ein kleiner Schritt war denkbar. Für Berlin zeigte sich schließlich<br />
ein Lichtblick mit dem Passierscheinabkommen vom 17.<br />
Dezember 1963 zwischen dem Westberliner Senat und der<br />
DDR-Regierung, das – unterhalb der Anerkennungsschwelle<br />
abgeschlossen – Hunderttausenden Westberlinern erlaubte,<br />
über die Feiertage ihre Verwandten, Freunde und Bekannten<br />
zu besuchen. Das Abkommen bewies, dass humanitäre<br />
Regelungen möglich waren.<br />
<strong>Die</strong> DDR-Regierung gab auf ihre Weise zu verstehen,<br />
dass sie ohne völkerrechtliche Anerkennung zu weitgehenden<br />
Maßnahmen nicht bereit war. Sie verfügte am 2. Dezember<br />
63
1964 einen Zwangsumtausch in Höhe von fünf DM für westliche<br />
Besucher der DDR und Ostberlins. Bis 1966 wurde das<br />
Passierscheinabkommen mehrfach erneuert. Dann wurde die<br />
Frage der diplomatischen Anerkennung ohne Wenn und Aber<br />
gestellt.<br />
64<br />
� Rudi Dutschkes „Freie Stadt“-Konzept<br />
Nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2.<br />
Juni 1967 am Rande einer Demonstration gegen den Schahbesuch<br />
in Westberlin entfaltete sich eine Bewegung der außerparlamentarischen<br />
Opposition gegen die geplanten Notstandsgesetze.<br />
Der aus Luckenwalde stammende (Alfred Willi) Rudi<br />
Dutschke wurde charismatischer Führer der studentischen<br />
Opposition an den Westberliner Universitäten. Er entwickelte<br />
1967 das Modell der „Freien Stadt Westberlin“, das wegen<br />
seines utopischen Charakters lange Zeit unbekannt bleib. Erst<br />
Bernd Rabehl, Dutschkes Mitstreiter in den Jahren 1967/68,<br />
erinnerte 2002 in seiner Dutschke-Biographie wieder daran.<br />
Rudi Dutschke (1940-1979)<br />
(Zeichnung von Iris Kathrin-Fischer)
Dutschke stellte seinen Plan Ende Juni 1967 auf einem Treffen<br />
verschiedener Fraktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes<br />
und des Republikanischen Clubs in der Gewerkschaftsschule<br />
der IG-Metall am Pichelsee vor. Während<br />
Chruschtschow und Ulbricht mit ihrem „Freie Stadt“-Plan das<br />
Ziel verfolgt hatten, Westberlin von der Bundesrepublik zu trennen<br />
und ihm die Funktion zu nehmen, „Schaufenster der freien<br />
Welt“ zu sein, verfolgte Dutschke ein anderes Ziel. Er wollte<br />
Westberlin zu einer Freihandels- und Freiheitszone machen,<br />
die außerhalb der Wirtschafts- und Verfassungskompetenz von<br />
DDR und Bundesrepublik lag. Rabehl schreibt: „In der westlichen<br />
Teilstadt sollten die östlichen ‚Kombinate’ und die westlichen<br />
‚Großkonzerne’ gemischte Produktionsstätten errichten,<br />
um für den riesigen Ostmarkt Produkte des Massenkonsums<br />
zu produzieren und um die technologischen Erneuerungen<br />
in Produktion und Planung auszuprobieren. Nach Dutschke<br />
hatten DDR und UdSSR Interesse an einer technologischen<br />
Erneuerung der Planwirtschaft und an den westlichen Waren<br />
von Massenkonsum. <strong>Die</strong> US-Firmen und das westdeutsche<br />
Kapital waren nach seiner Überzeugung an einem intensiven<br />
Osthandel und zugleich an technologischen Investitionen im<br />
Osten interessiert, falls gegenseitiges Vertrauen hergestellt werden<br />
und falls die neuen Technologien nicht der Rüstung dienen<br />
konnten.“<br />
Im Unterschied zu Hongkong sollte die Westberliner<br />
Freihandelszone auf Ost- und Westeuropa gleichermaßen<br />
Einfluss nehmen. Dutschke hielt es für möglich, dass neben<br />
der parlamentarischen Demokratie in den Großbetrieben,<br />
Verwaltungen, Schulen und Universitäten eine Rätedemokratie<br />
eingerichtet werden konnte, die die Arbeiter, Angestellten,<br />
Schüler und Studenten befähigte, auf Entscheidungen dieser<br />
Institutionen Einfluss zu nehmen. Durch eine Rätedemokratie<br />
sollte der Einfluss der Funktionäre der Verbände und der<br />
Parteipolitiker zurückgedrängt werden. <strong>Die</strong> Demokratisierung<br />
der Teilstadt Westberlin sollte auf den Osten ausstrahlen und<br />
65
auch dort Veränderungen bewirken. Dutschke hatte keinen<br />
Zweifel, dass Westberlin als „Freie Stadt“ Initialzünder in zwei<br />
Richtungen werden könnte:<br />
<strong>•</strong> in die der Rückkehr der realsozialistischen Staaten zum<br />
sozialistischen Ursprung sowie<br />
<strong>•</strong> in die der Redemokratisierung der erstarrten Parteidemokratien<br />
im Westen.<br />
Dutschke konnte an seinem idealistischen Konzept nicht<br />
weiterarbeiten. Am 11. April 1968 feuerte der Neonazi Josef<br />
Bachmann mehrere Schüsse auf ihn ab. Im Dezember 1979<br />
starb er an den Spätfolgen der dabei erlittenen Verletzungen.<br />
66<br />
� Das Vierseitige Abkommen<br />
Anfang der 70er Jahre zeichnete sich ab, dass die DDR weltweit<br />
völkerrechtlich anerkannt werden würde. Das machte<br />
auch die Regelung der Beziehungen zu Westberlin und zur<br />
Bundesrepublik erforderlich. In diesem Zusammenhang bedurften<br />
die in der Berlin-Frage angestauten Probleme einer<br />
Neuregelung auf der Basis austarierter Kompromisse zwischen<br />
den vier Mächten. <strong>Die</strong>se paraphierten nach langwierigen<br />
Verhandlungen am 3. September 1971 das sogenannte<br />
Vierseitige Abkommen.<br />
Das Vierseitige Abkommen beinhaltete zunächst einen<br />
allgemeinen Abschnitt, der sich auf ganz Berlin bezog, dann<br />
einen zweiten Abschnitt, der die Westsektoren betraf, sowie<br />
weitere Anlagen, die<br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
den Transitverkehr,<br />
die Verbindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik,<br />
eine Besuchervereinbarung,<br />
die Postvereinbarung,
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
den Territorialaustausch,<br />
die Auslandvertretungen von Berlin sowie<br />
die Errichtungen eines sowjetischen Konsulats in Westberlin<br />
betrafen.<br />
<strong>Die</strong>se verschiedenen Vereinbarungen wurden von den vier<br />
Mächten bis Dezember 1971 fertiggestellt.<br />
Das Vierseitige Abkommen mit all seinen Unterabkommen<br />
trat am 3. Juni 1972 in Kraft, die vier Außenminister unterzeichneten<br />
dabei ein abschließendes Protokoll.<br />
Zur gleichen Zeit ratifizierte die Bundesrepublik Verträge<br />
mit der Sowjetunion und Polen. Offiziell gab es keine<br />
Verbindung zwischen diesen Verträgen, aber es war klar, dass<br />
die Ostverträge ohne ein befriedigendes Berlin-Abkommen den<br />
Bundestag nicht passieren würden. Dem Berlin-Abkommen<br />
kam so eine Schlüsselstellung in der sich abzeichnenden Phase<br />
der politischen Entspannung zu. Das Abkommen erwies sich<br />
als gelungener Wurf, denn einerseits war das Berlin-Abkommen<br />
eine Deklaration, die die Spannungen um Berlin abbaute, andererseits<br />
war es eine Vereinbarung über Probleme, die aus der<br />
insularen Situation Westberlins herrührten. Es brachte beträchtliche<br />
praktische Verbesserungen und mehr Beruhigung<br />
für die Stadt. Das Abkommen bedeutete keine vollständige<br />
Lösung des Berlin-Problems. In geopolitischer Hinsicht blieb<br />
Westberlin so etwas wie eine Insel. Es war kein vollständiger<br />
Bestandteil der Bundesrepublik, es blieb eine besetzte Stadt<br />
und war abhängig von erheblicher finanzieller Unterstützung.<br />
<strong>Die</strong> Verhandlungen veranschaulichten das Ausmaß an unterschiedlichen<br />
Standpunkten zwischen den vier Mächten.<br />
Deshalb finden sich nicht wenige vage Formulierungen im<br />
Dokument, die die differenten Standpunkte überwölbten. Es<br />
enthielt noch genügend Potential für neue Konflikte. Dazu<br />
äußerte Egon Bahr in seinen Memoiren: „Als politisch gefährlich<br />
empfanden wir, dass keine Einigung mehr zustande kam,<br />
wie das englische ‚ties’ und das russische ‚swasi’ zu übersetzen<br />
6
sei. Beide Vokabeln bedeuten ‚Bindungen’ wie ‚Verbindungen’.<br />
Der Unterschied zwischen Verbindungen, die Männlein und<br />
Weiblein pflegen, und einer Bindung, vom Standesbeamten<br />
beglaubigt, braucht nicht erläutert zu werden. War die Berolina<br />
nun gebunden oder nur lieb und teuer? In der Praxis stellte sich<br />
heraus, dass dieser potentielle Konflikt kein neues Gewitter ankündigte,<br />
sondern das Wetterleuchten eines abziehenden war.“<br />
Und in der Tat – eine dritte Berlin-Krise brach nie aus!<br />
Es konnte auch keine genaue Einigung über die Bezeichnung<br />
Westberlins – in Englisch „relevant area“ – gefunden<br />
werden. Genauer war die Bezeichnung nicht, weil die Verhandlungspartner<br />
sich auf eine genauere Fixierung nicht einigen<br />
konnten.<br />
<strong>Die</strong> Sowjetunion sprach nach Abschluss über ein „Westberlin-Abkommen“<br />
– aus ihrer Sicht stand Ostberlin nicht zur<br />
Diskussion, weil dies ein Teil der souveränen DDR war. <strong>Die</strong><br />
Westmächte andererseits bestanden auf ihrem Standpunkt,<br />
dass ganz Berlin eine Viermächte-Stadt blieb. <strong>Die</strong>ser westliche<br />
Standpunkt gründete sich auf alle Berlin-Regelungen seit<br />
dem Zweiten Weltkrieg. <strong>Die</strong>s spiegelte sich auch in den beiden<br />
Abschnitten des Abkommens wider: Der erste war auf ganz<br />
Berlin bezogen, der zweite nur auf die Westsektoren Berlins.<br />
Das Abkommen bestimmte, dass die Verbindungen zwischen<br />
Westberlin und der Bundesrepublik bestehen bleiben<br />
und weiterentwickelt werden. Andererseits wurde betont, dass<br />
Westberlin kein Teil der Bundesrepublik ist und nicht von<br />
der Bundesrepublik regiert werden darf. <strong>Die</strong> UdSSR gab ihre<br />
Zustimmung, dass die Bundesrepublik Westberliner Bürger international<br />
vertritt. Damit wurde Übereinstimmung über die<br />
Verbindungen hergestellt, wie sie zwischen der Bundesrepublik<br />
und Westberlin bereits entstanden waren. <strong>Die</strong> Präsenz der<br />
Bundesrepublik wurde nur in einigen Bereichen begrenzt:<br />
6<br />
<strong>•</strong><br />
Der Bundespräsident durfte nicht in Westberlin gewählt<br />
werden.
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
<strong>•</strong><br />
Bundesrat und Bundestag durften nicht mehr (wie 1959<br />
und 1965 geschehen) in Westberlin im Plenum tagen.<br />
Andererseits wurden den Bundestagsparteien Veranstaltungen<br />
in Westberlin gestattet, allerdings nicht zusammen<br />
zur gleichen Zeit!<br />
Auch Bundestagsfraktionen durften in Westberlin tagen,<br />
wenn sie sich mit Berlin betreffenden Fragen beschäftigten.<br />
In allen Transitfragen von und nach Westberlin war die Bundesrepublik<br />
der Verhandlungspartner der DDR, nicht der Senat<br />
von Westberlin. Bei Postfragen, Telekommunikation, Besucherverkehr<br />
und Territorialaustausch verhandelten der Senat, die<br />
DDR, die Bundesrepublik und die betreffenden Ministerien<br />
miteinander. <strong>Die</strong> hier skizzierten Kompromisse ermöglichten<br />
es der DDR und der Bundesrepublik, ihre Beziehungen auf die<br />
Basis eines Grundlagenvertrages zu stellen.<br />
Der Grundlagenvertrag, der von Dezember 1971 bis<br />
Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik und der<br />
DDR verhandelt wurde, bestimmte, dass gutnachbarliche Beziehungen<br />
zwischen beiden Staaten angestrebt werden, die beide<br />
souverän sind und deren territoriale Integrität beide Seiten<br />
achten wollten. <strong>Die</strong> Unterzeichnung des Grundlagenvertrages<br />
am 21. Dezember 1972 führte zur Einrichtung Ständiger<br />
Vertretungen in Bonn und Ostberlin. Es begann eine fruchtbare<br />
Phase deutsch-deutscher Beziehungen.<br />
� Der Bericht zur Lage der Nation 1981<br />
Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte am 9. April 1981<br />
im Bericht zur Lage der Nation, der weltpolitische Horizont<br />
habe sich Ende der 70er Jahre verdunkelt, „vor allem, weil<br />
die Sowjetunion wichtige Prinzipien des internationalen<br />
6
Zusammenlebens außer acht gelassen“ habe. Ihre fortlaufende<br />
Hochrüstung auf dem Felde der eurostrategischen Waffen habe<br />
gegen das Prinzip des militärischen Gleichgewichts verstoßen.<br />
Der Einmarsch und der Krieg in Afghanistan verletzten das<br />
Völkerrecht. <strong>Die</strong> Schaffung neuer militärischer und politischer<br />
Abhängigkeiten in Afrika und anderswo verstoße gegen das<br />
Prinzip der Unabhängigkeit und Blockfreiheit der Länder der<br />
Dritten Welt. Und jeder wisse: Ein etwaiger Versuch, in die<br />
Auseinandersetzungen um die innere Erneuerung in Polen mit<br />
Gewalt einzugreifen, könnte die Welt verändern und damit<br />
auch manche Positionsbeschreibungen ungültig machen, die<br />
heute vorgenommen würden. Das friedliche Gelingen in Polen<br />
liege im Interesse aller Völker in Europa. Jedes Anheizen der<br />
Situation von außen, ob aus dem Osten oder aus dem Westen,<br />
sei gefährlich. Soziale Reformen ohne gefährliche internationale<br />
Verwerfungen zu ermöglichen – auch das gehöre zur<br />
Friedenssicherung. Nur wenn ein Klima der Zusammenarbeit<br />
in Europa erhalten bleibe, könnte der Westen den Polen auch<br />
weiterhin bei der Überwindung ihrer sehr großen wirtschaftlichen<br />
Schwierigkeiten die Hilfe leisten, die sie brauchen. In<br />
der heutigen Lage müsse zunächst erhalten werden, was die<br />
Deutschlandpolitik erreicht hat, nämlich das Vertrauen der<br />
Partner im Westen, aber auch das Vertrauen der Sowjetunion<br />
und der Nachbarn in Osteuropa darauf, dass jedenfalls von der<br />
Entwicklung in Deutschland keine zusätzlichen Spannungen<br />
ausgehen. Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan habe<br />
die Bundesregierung keinen Zweifel daran gelassen, „dass nach<br />
unserer Überzeugung der Dialog mit der Sowjetunion gerade in<br />
Krisenzeiten nicht abreißen darf“. Hierüber sei er auch am 30.<br />
März in längeren telefonischen Gesprächen erneut mit den beiden<br />
Präsidenten Ronald Reagan und Valery Giscard d‘Estaing<br />
einig gewesen. <strong>Die</strong> Gespräche von Bundesaußenminister<br />
Hans-<strong>Die</strong>trich Genscher in Moskau fügten sich in dieses<br />
Konzept ein. „Sie haben wichtige Klarstellungen sowjetischer<br />
Positionen im Rüstungskontrollbereich und zur Fortsetzung<br />
0
des KSZE-Prozesses einschließlich der von allen Seiten ins Auge<br />
gefassten Konferenz über Abrüstung in Europa erbracht. <strong>Die</strong><br />
Sowjetregierung hat ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über<br />
Mittelstreckenwaffen ohne Vorbedingungen bestätigt.“ <strong>Die</strong><br />
Bundesregierung sei davon überzeugt, dass sie ihren Beitrag<br />
zur Fortführung des notwendigen Dialogs nicht nur leisten<br />
könne, sondern dass sie ihn auch leisten muss, nicht zuletzt im<br />
Interesse des deutschen Volkes. Je intensiver die Beziehungen<br />
zwischen West und Ost seien, je besser die Beziehungen zwischen<br />
den USA und der Sowjetunion, desto besser sei das für<br />
die Deutschen.<br />
<strong>Die</strong> Strukturkrise der Weltwirtschaft und die Folgen der<br />
2. Ölpreisexplosion hätten Westeuropa und Osteuropa hart<br />
getroffen. „Wir in der Bundesrepublik haben Mühe, die seit<br />
1978 eingetretene abermalige Verdoppelung unserer jährlichen<br />
Ölrechnungen auf 60 Mrd. DM zu verkraften. Unter dem<br />
Druck von außen werden auch bei uns Bruttosozialprodukt<br />
und Volkseinkommen in diesem Jahr real etwas zurückgehen.<br />
Das gilt für Industrieunternehmen, das gilt für Banken, das<br />
gilt für die Landwirtschaft und es trifft auch die Arbeitnehmer.<br />
<strong>Die</strong> Sorge um Arbeitsplätze hat zugenommen. „Gegenwärtig<br />
seien allgemeine Konjunkturprogramme zur Stimulierung der<br />
Nachfrage kein brauchbares Rezept. <strong>Die</strong>s gelte übrigens für<br />
Osteuropa genauso, wie es die Europäische Gemeinschaft gemeinsam<br />
festgestellt hat. Für die Bundesrepublik komme es vor<br />
allem darauf an, das Leistungsbilanzdefizit zu verringern, es abzubauen.<br />
„Auf Hochdeutsch: Wir können nicht auf die Dauer<br />
höhere Rechnungen an das Ausland bezahlen, als wir selber an<br />
Zahlungen aus dem Ausland erhalten. <strong>Die</strong>s bedeutet vor allem,<br />
unsere Einfuhr an Öl weiterhin zu drosseln. Es bedeutet ebenso<br />
allgemeine Einsparung von Energie, und es bedeutet ebenso,<br />
die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte am Weltmarkt<br />
nochmals zu verbessern, um mehr verkaufen zu können.“<br />
In der Bundesrepublik und ähnlich in der DDR gebe es manchen,<br />
der sich Sorgen um seine wirtschaftliche Zukunft macht.<br />
1
Angst um den Frieden, Angst um Sicherheit insgesamt kommen<br />
hinzu, und dies keineswegs nur unter jüngeren Menschen.<br />
Gewiss könne niemand ihnen Sicherheit gegen alle Fährnisse<br />
des Lebens bieten. Es gebe Gott sei Dank kein automatisiertes<br />
oder unfallfrei durchprogrammiertes Leben, denn das wäre<br />
ganz schrecklich und ganz unmenschlich. Gewiss soll auch keiner<br />
die Probleme anderer, zumal ihre Sorgen und Ängste, kleiner<br />
schreiben, als sie sind. Aber es bleibe auch richtig, dass die<br />
allermeisten Menschen auf der ganzen Welt ihren Platz gern<br />
mit einem Deutschen tauschen würden. Auch sollte keiner<br />
übersehen, dass im letzten Jahr die Beschäftigung im Lande mit<br />
25,8 Millionen Menschen den absolut höchsten Stand in der<br />
Geschichte der Bundesrepublik erreicht habe. Jeder, der sich um<br />
den Frieden und um die Sicherheit Sorgen mache, der dürfe wissen:<br />
das Bündnis, die Partnerschaft mit den Verbündeten, mit<br />
den Vereinigten Staaten, gebe der Bundesrepublik Sicherheit.<br />
Er dürfe wissen, der Friede sei nicht akut bedroht, und er brauche<br />
keinem Angstmacher anheimzufallen, weder den friedenspolitischen<br />
Angstmachern noch den wirtschaftspolitischen<br />
Angstmachern. Es müssten aber zwei Dinge hinzugefügt<br />
und verstanden werden: Der Beginn der achtziger Jahre stelle<br />
an die Gesellschaft Anforderungen von größerer Bedeutung<br />
und von anderer Bedeutung, anderer Qualität als der Beginn<br />
der 70er Jahre. <strong>Die</strong> Bürger sollten sich aus dem einseitigen<br />
Anspruchsdenken befreien, das die Wachstumsgesellschaft zunächst<br />
mit sich gebracht habe. Manche Minoritäten würden<br />
bisweilen ziemlich brutal von der Solidarität ausgeschlossen.<br />
Sicherlich mangele es bisweilen auch an der Solidarität gegenüber<br />
der Jugend und auch gegenüber künftigen Menschen, die<br />
erst noch geboren werden sollen, wenn die Heutigen die natürliche<br />
Umwelt bisweilen unbedacht zerstören lassen.<br />
Schmidt über die DDR<br />
An Solidarität mangele es bisweilen auch gegenüber Bürgern<br />
der DDR, wenn zum Beispiel Bundesbürger, weil es ihnen bes-<br />
2
ser geht, jenen herablassend auf die Schulter klopfen. „Unsere<br />
Landsleute drüben haben an Hitler und haben am II. Weltkrieg<br />
ganz gewiss nicht mehr Schuld als die Bundesbürger, aber sie<br />
tragen viel schwerer an den Folgen dieser Ereignisse.“ Zum<br />
Verhältnis zur DDR sagte Schmidt: „Vor Jahr und Tag hat<br />
der Gedanke an Annäherung zwischen Ostberlin und Bonn,<br />
zwischen den beiden deutschen Staaten, häufig den Argwohn<br />
Dritter ausgelöst: <strong>Die</strong> deutsche Frage schien den Status Europas<br />
zu beunruhigen; sie schien den Frieden Europas zu gefährden.<br />
Heute ist das eher umgekehrt: Unruhe und Angst in der Welt<br />
und in Europa gefährden das inzwischen erreichte Maß an<br />
deutsch-deutscher Zusammenarbeit. <strong>Die</strong> von der Regierung<br />
der DDR unter diesen Weltumständen im letzten Herbst verfügte<br />
Erhöhung und Ausweitung der Mindestumtauschsätze<br />
im Reiseverkehr ist dafür ein Beispiel. Sie hat den Beziehungen<br />
zwischen den beiden deutschen Staaten einen erheblichen<br />
Rückschlag versetzt. Der Reiseverkehr in die DDR, der sich bis<br />
zum Oktober normal entwickelt hatte, ist danach drastisch zurückgegangen,<br />
besonders in Berlin. <strong>Die</strong> Bundesregierung erwartet,<br />
dass die Führung der DDR diesen Eingriff in den Bestand<br />
an menschlichen Kontakten korrigiert. <strong>Die</strong>s ist wieder einmal<br />
ein Rückschlag; es ist kein Ende, kein Scheitern unserer Politik<br />
der Minderung von Spannungen und des Interessenausgleichs.<br />
Wir haben uns auch früher durch Rückschläge nicht aus<br />
dem Gleis werfen lassen, und wir werden auch zukünftig<br />
Abgrenzung nicht unsererseits mit eigener Abgrenzung beantworten.<br />
Wir bieten vielmehr auch für die Zukunft den Ausbau<br />
der Zusammenarbeit und der Beziehungen mit der DDR an.“<br />
Schmidt hatte über die Kontaktschiene <strong>Die</strong>trich Spangenberg/Hermann<br />
von Berg schon in der zweiten Hälfte der<br />
70er Jahre eine Kooperation auf Drittmärkten in Milliarden-<br />
Größenordnung angeboten, wozu auch entsprechende Kredite<br />
ins Auge gefasst wurden. Ähnlich wie die Volksrepublik China,<br />
die unter Deng Xiao Ping einen Kurswechsel zu einer sozialistischen<br />
Marktwirtschaft vollzog, hätte die DDR einen<br />
3
Paradigmenwechsel vollziehen können. Aber Erich Honecker<br />
bevorzugte eher „kleine Schritte“:<br />
<strong>•</strong><br />
Den Autobahnbau nach Hamburg und die Gestattungsproduktion<br />
in der DDR. Honecker und seine Mitstreiter<br />
im SED-Politbüro verfügten nicht über das Format,<br />
einen Paradigmenwechsel zu vollziehen.<br />
<strong>Die</strong> Verschiebung des für August 1980 vorbereiteten Treffens<br />
von Bundeskanzler Schmidt mit SED-Chef Erich<br />
Honecker hatte ihren Grund in erregenden außerdeutschen<br />
Entwicklungen. Der Entschluss zur Verschiebung dieses<br />
Besuchs war Schmidt umso schwerer gefallen, als das ursprünglich<br />
schon für die ersten Monate des Jahres 1980 verabredete<br />
Treffen wegen der Zunahme der Spannungen zwischen West<br />
und Ost nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan auf<br />
Wunsch von Honecker schon einmal hatte verschoben werden<br />
müssen. Schmidt hielt daran fest, dass das Gespräch über den<br />
Gesamtkomplex der Beziehungen zwischen beiden Staaten<br />
und über aktuelle internationale Fragen zu einem für beide<br />
Seiten besser geeigneten Zeitpunkt durchgeführt wird.<br />
4<br />
� Das 25. <strong>Mauer</strong>-Jubiläum und die deutsch-deutschen<br />
Beziehungen<br />
Zum 25. Jahrestag des Baus der <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong> fand am 13.<br />
August 1986 im <strong>Berliner</strong> Reichstag eine zentrale Gedenkstunde<br />
statt. In Ansprachen gedachten Bundeskanzler Helmut Kohl,<br />
der Regierende Bürgermeister Berlins, Eberhard <strong>Die</strong>pgen, und<br />
der SPD-Vorsitzende Brandt der politischen und menschlichen<br />
Auswirkungen des <strong>Mauer</strong>baus. Bundeskanzler Kohl nannte<br />
die geteilte Stadt „ein Symbol für den Freiheitswillen aller<br />
Deutschen“. Ziel der Politik müsse es sein, den Frieden zu wah-
en. Er forderte aber auch „Freiheit und Selbstbestimmungsrecht<br />
für alle Deutschen“. Daher werde sich die Bundesrepublik<br />
nicht mit der Existenz der <strong>Mauer</strong> abfinden. Kohl wiederholte<br />
die bereits in seinem Bericht zur Lage der Nation erhobenen<br />
Forderungen: „Erstens: Wir fordern Humanität und<br />
Frieden an der Grenze mitten durch Deutschland. <strong>Mauer</strong> und<br />
Stacheldraht und Schießbefehl müssen weg. Zweitens: Wir fordern<br />
Freizügigkeit in Deutschland. Reisefreiheit für Menschen,<br />
der ungehinderte Fluss von Informationen und Meinungen,<br />
das sollte auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland<br />
endlich alltägliche Praxis werden. Drittens: Wir fordern die<br />
Einhaltung der Menschenrechte und die Gewährung der<br />
Grundrechte für unsere Landsleute in der DDR. Sie haben ein<br />
selbstverständliches Recht, nach ihrem Gewissen zu handeln,<br />
ihre Meinung frei zu äußern und wegen ihres Glaubens nicht<br />
diskriminiert zu werden.“ Da die DDR heute weltweit als Staat<br />
anerkannt und innerlich gefestigt sei, verfüge sie heute auch<br />
„über mehr eigenen Spielraum, um die Folgen der Teilung für<br />
die Menschen in Deutschland zu mildern“. Kohl kritisierte die<br />
DDR, dass sie den Tag des <strong>Mauer</strong>baus mit „Pomp und militärischem<br />
Gepränge“ feiere. Dazu gehöre viel Zynismus. Er<br />
erinnerte an die 74 Menschen, die seit 1961 ihr Leben verloren<br />
bei dem Versuch, die <strong>Mauer</strong> zu überwinden.<br />
Der SPD-Vorsitzende Brandt, der 1961 Regierender<br />
Bürgermeister von Berlin war, setzte sich für eine Fortsetzung<br />
der Entspannungspolitik ein. Er wies darauf hin, dass der<br />
August 1961 „nicht nur einen Einschnitt, sondern einen gewissen<br />
Wendepunkt“ bedeutet habe. „Was deutschlandpolitisch<br />
als das allein Mögliche angepriesen worden war, mit moralischem<br />
Alleinvertretungsanspruch obendrein, hatte sich als<br />
untauglich erwiesen; es hat nicht zu mehr Einheit, sondern zu<br />
weiterer Teilung – zur <strong>Mauer</strong> also – geführt.“ <strong>Die</strong> Konsequenz,<br />
die er selbst daraus gezogen habe, habe ihren Ausdruck in seiner<br />
Ostpolitik als Kanzler gefunden. Er sagte weiter: „Eine<br />
Alternative zu der nach dem 13. August entwickelten Maxime<br />
5
gibt es im übrigen auch heute nicht. Trotz der <strong>Mauer</strong> leben<br />
heißt: die Auswirkungen der Trennung für das Leben der<br />
Menschen auf beiden Seiten erleichtern helfen, so gut es geht;<br />
und Westberlin in enger Bindung an den Bund so weiterentwickeln<br />
und mit immer neuem Leben erfüllen, dass sich die<br />
vitale Zukunft unserer Stadt nicht in Zweifel ziehen lässt.“ Es<br />
gebe weder eine lokale noch eine nationale Perspektive, um<br />
die <strong>Mauer</strong> zu überwinden, sondern nur eine europäische.<br />
Der Regierende Bürgermeister Eberhard <strong>Die</strong>pgen bezeichnete<br />
die <strong>Mauer</strong> als „Symbol einer permanenten Lebenslüge des<br />
DDR-Sozialismus: Sie ist Ausdruck permanenten Misstrauens<br />
gegenüber der eigenen Bevölkerung“. Er warnte aber vor einer<br />
Destabilisierung der DDR: „Für Mitteleuropa erwies sich<br />
die zunehmende politische Stabilität des DDR-Regimes als<br />
Voraussetzung für einen deutsch-deutschen Interessenausgleich,<br />
für menschliche Erleichterungen, für eine, wenn auch nur millimeterweise,<br />
Überwindung der <strong>Mauer</strong>. Wir können daher<br />
kein Interesse daran haben, die DDR zu destabilisieren.“ Er<br />
sei davon überzeugt, dass die <strong>Mauer</strong> vor der Geschichte keinen<br />
Bestand haben werde. Das entbinde heutige Generationen<br />
nicht von der Verantwortung: Sie müsse „produktiv mit der<br />
<strong>Mauer</strong> umgehen“. <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> könne aber durchlässiger werden,<br />
z. B. durch eine Verbesserung der Reisemöglichkeiten.<br />
6<br />
� Einsatz der <strong>Mauer</strong> gegen Asylbewerber?<br />
Vertreter der Grünen und der Alternativen Liste bezeichneten<br />
die <strong>Mauer</strong> als „unmenschlich“ und als „Ausdruck einer<br />
gescheiterten Politik beider deutscher Staaten“. Der<br />
Bundestagsabgeordnete der <strong>Berliner</strong> Alternativen Liste (AL),<br />
Christian Stroebele, forderte, dass die „Grenze noch durchlässiger“<br />
werden müsse, sowohl für Deutschland als auch für<br />
Asylsuchende. Er bezeichnete die Reden der Politiker, die sich
am Jahrestag des <strong>Mauer</strong>baus über die <strong>Mauer</strong> empörten, gleichzeitig<br />
aber die Grenze benutzen wollten, um die steigende<br />
Zahl von Asylbewerbern einzudämmen, als „heuchlerisch“.<br />
„Menschenrechte sind nicht teilbar“, meinte Stroebele. In einer<br />
Erklärung der Grünen in Bonn forderten sie, die <strong>Mauer</strong> müsse<br />
überflüssig werden. Gleichzeitig warnten sie aber vor „nationaler<br />
Vaterlandsduselei“. <strong>Die</strong> Fraktionssprecherin Hannegret<br />
Hönes erklärte, dass, wenn die Forderung nach einem Abbau<br />
der <strong>Mauer</strong> kein „frommer Wunsch“ bleiben sollte, entsprechende<br />
politische Voraussetzungen geschaffen werden müssten.<br />
Es solle das „Faktum der Zweistaatlichkeit zum Ausgangspunkt<br />
bundesdeutscher Politik gemacht werden“. <strong>Die</strong> Grünen plädierten<br />
daher für eine umfassende Anerkennung der DDR.<br />
Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker sprach<br />
am 13. August 1986 vor „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“<br />
und mehreren Tausend zumeist von ihren Betrieben dorthin<br />
delegierten Menschen: „Heute vor 25 Jahren hat die Arbeiter-<br />
und Bauern-Macht auf deutschem Boden in Übereinstimmung<br />
mit ihren Verbündeten im Warschauer Pakt die Grenzen der<br />
Deutschen Demokratischen Republik gegenüber Berlin (West)<br />
und der BRD, die bis dahin offen waren, unter Kontrolle genommen.<br />
Das hat unserem Volk, hat den Völkern Europas, den<br />
Frieden gerettet. Mit dieser historischen Tat wurde die Freiheit<br />
unseres Volkes bewahrt und der Grundstein für das weitere<br />
Erblühen unseres sozialistischen Staates gelegt.“ Honecker<br />
schilderte die Ereignisse, die zum <strong>Mauer</strong>bau führten, aus der<br />
DDR-Sicht: „In den Jahren 1960/61 hatte sich die internationale<br />
Lage zugespitzt. Der Imperialismus folgte seiner illusionären<br />
Doktrin vom Zurückrollen des Sozialismus. Mit NATO-<br />
Manövern wurde die Aggression gegen die DDR geprobt, die<br />
gewaltsame Änderung des Status quo in Europa angestrebt.<br />
Westliche Politiker hatten Westberlin zur ‚Frontstadt’, zum<br />
‚Pfahl im Fleische der DDR’, deklariert. Sie verstiegen sich sogar<br />
dazu, die Stadt als ‚billigste Atombombe’ zu bezeichnen.<br />
In riesigem Umfang wurde Währungsspekulation betrieben,
große materielle Werte wurden verschoben, gut ausgebildete<br />
Fachkräfte abgeworben, um die Wirtschaft der DDR zu destabilisieren.<br />
Alledem haben wir am 13. August einen Riegel<br />
vorgelegt.“ Honecker führte das nach 1961 geschaffene System<br />
von Verträgen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa<br />
ursächlich auf den <strong>Mauer</strong>bau zurück: „Unsere Maßnahmen<br />
vom 13. August dienten dem Frieden. Sie ebneten ... den<br />
Weg von der Konfrontation zur Entspannung. Sie dienten der<br />
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sie dienten dem<br />
Frieden.“ Er sprach sich für einen Ausbau und eine Festigung<br />
dieses Vertragssystems aus. <strong>Die</strong> DDR werde „immer unter denen<br />
zu finden sein, die im Interesse der Völker verantwortungsbewusst<br />
nach Wegen der Friedensbewahrung, des Abbaus der<br />
Konfrontation suchen“. <strong>Die</strong> DDR bleibe bei ihrem Standpunkt,<br />
dass „es besser sei, zehnmal, ja hundertmal, miteinander zu verhandeln,<br />
als auch nur einmal auf einander zu schießen“. Es sei<br />
im Übrigen heute nicht zuletzt auch dank des Wirkens der DDR<br />
zu einer allgemein anerkannten Erfahrung geworden, dass die<br />
Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen<br />
Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa in ihren<br />
gegenwärtigen Grenzen eine grundlegende Bedingung für den<br />
Frieden sind. Er vertrat die Auffassung, dass sich seit 1961 „der<br />
Sozialismus in der DDR in zuverlässig geschützten Grenzen für<br />
jeden sichtbar zum Wohle des Volkes entfaltet“ habe. Als Beleg<br />
führte er unter anderem an, dass zwischen 1961 und 1985<br />
das Nationaleinkommen von jährlich 77,9 Mrd. Mark auf<br />
234,8 Mrd. Mark und das Pro-Kopf-Realeinkommen von 357<br />
Mark im Monatsdurchschnitt auf 970 Mark gestiegen seien.<br />
Zusammen mit Honecker nahmen zahlreiche andere Politiker<br />
der DDR-Führung den Kampfgruppen-„Vorbeimarsch“ ab,<br />
den die Westmächte am 14. August in einer gemeinsamen<br />
Erklärung als „eindeutige Verletzung“ des entmilitarisierten<br />
Status von Berlin bezeichneten.<br />
Das sowjetische Außenministerium wandte sich bereits<br />
am 12. August in Erklärungen an die Botschaften der drei
Westmächte in Moskau. Darin hieß es: „In Zusammenhang<br />
mit dem Jahrestag der Schutzmaßnahmen an der Grenze zu<br />
Berlin (West) am 13. August 1961 wurde in dieser Stadt mit<br />
Unterstützung oder direkter Beteiligung von Behörden der<br />
BRD und Berlins (West) eine Reihe von Aktionen durchgeführt<br />
und geplant, deren Ziel es allem Anschein nach ist, Feindschaft<br />
zur UdSSR und zur DDR vorsätzlich zu schüren und schließlich<br />
die ganze Lage um Berlin (West) zu verschärfen. In einer<br />
Atmosphäre der Psychose, die von gewissen Massenmedien<br />
und durch offizielle Persönlichkeiten, darunter auch einzelne<br />
Vertreter der drei Westmächte, geschürt wird, wurden bereits<br />
mehrere gefährliche Provokationen und Terrorakte an der Grenze<br />
von Berlin (West) zur DDR verübt. In der Stadt ist ferner die<br />
Durchführung weiterer Veranstaltungen, darunter im Gebäude<br />
des ehemaligen Reichstags und unter Mitwirkung offizieller<br />
Persönlichkeiten der BRD, geplant. An der Vorbereitung und<br />
Durchführung einzelner Aktionen sind offen revanchistische<br />
Organisationen unmittelbar beteiligt. Es liegt klar auf der Hand,<br />
dass die in Berlin (West) aufgezogene feindselige Kampagne<br />
die Atmosphäre in der Stadt und um sie vergiftet und nicht<br />
mit den Interessen zur Erhaltung einer ruhigen und normalen<br />
Atmosphäre zu vereinbaren ist. Bekanntlich sollen die USA,<br />
Großbritannien und Frankreich entsprechend dem Vierseitigen<br />
Abkommen vom 3. September 1971 dazu beitragen, dass im<br />
Geltungsbereich des Abkommens Komplikationen verhindert<br />
und Spannungen vermieden werden. <strong>Die</strong> amerikanische Seite<br />
muss sich aller Konsequenzen bewusst sein, die die Versuche<br />
bestimmter Kreise haben können, wider Geist und Buchstaben<br />
des Vierseitigen Abkommens zu handeln. <strong>Die</strong> sowjetische Seite<br />
erwartet, dass die Behörden der USA für Maßnahmen sorgen<br />
werden, um die genannten provokatorischen und gegen den<br />
Frieden gerichteten Aktionen in Berlin (West) zu unterbinden.“<br />
<strong>Die</strong> Sowjetunion legte in Bonn Protest ein. Sowjetbotschafter<br />
Julij A. Kwizinskij trug im Kanzleramt eine Erklärung vor, in<br />
der die Sowjetunion gegen die Veranstaltungen zum Jahrestag
des <strong>Mauer</strong>baus in Westberlin sowie die Teilnahme von<br />
Mitgliedern der Bundesregierung protestiert. Bundeskanzler<br />
Kohl wurde nicht namentlich erwähnt. In der Erklärung war<br />
von „Provokationen“ und von „Umtrieben in Berlin“ die Rede.<br />
Der Botschafter warnte vor „ernsten Konsequenzen“.<br />
0<br />
� Das Asylantenproblem<br />
Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann legte am 23. Juli<br />
1986 vor dem Bundeskabinett einen ausführlichen „Bericht<br />
zur Asylproblematik“ vor. Darin heißt es: „Der Zustrom von<br />
Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland hat besorgniserregende<br />
Ausmaße angenommen. Er ist zu einem dringenden<br />
und zugleich brisanten Problem der Politik dieser Tage<br />
geworden.“ <strong>Die</strong>s gelte insbesondere für die Vielzahl der über<br />
den Ostberliner Flughafen Schönefeld in die Bundesrepublik<br />
einreisenden Asylsuchenden, da die DDR diesen Personen<br />
Transitvisa ausstellt, ohne dass sie eine Einreisegenehmigung in<br />
die Bundesrepublik vorweisen können. Zimmermann erläuterte,<br />
dass von 1980 bis 1983 ein Rückgang der Zahl der Asylsuchenden<br />
von 108 000 auf 20 000 Personen zu verzeichnen gewesen sei;<br />
dagegen seien seit 1984 die Zugangszahlen einschneidend angestiegen:<br />
„1984 stiegen die Asylbewerber um 79 Prozent gegenüber<br />
dem Vorjahr auf 35 000. 1985 haben wir wiederum<br />
eine Steigerung um 109 Prozent auf 74 000 zu verzeichnen. Im<br />
ersten Halbjahr dieses Jahres liegen die Zugangszahlen erneut<br />
um 45 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres:<br />
Es kamen 42 000 Asylsuchende. Am Jahresende dürften wir<br />
eine Zahl von 100 000 erreichen.“ Mit diesen Zugangszahlen<br />
liege die Bundesrepublik seit Jahren an der Spitze der westeuropäischen<br />
Staaten. <strong>Die</strong>ses gelte nicht nur für die Asylsuchenden,<br />
sondern auch für die sich im Land befindenden Flüchtlinge mit<br />
oder ohne Flüchtlingsstatus. Bund, Länder und Gemeinden
hätten 1984 für diese Flüchtlinge schätzungsweise rund 2 Mrd.<br />
DM aufgebracht. Zimmermann wies auf folgende Probleme hin:<br />
„Neben den Schwierigkeiten, die die Aufnahme, Versorgung<br />
und Unterbringung der über die DDR einreisenden Ausländer<br />
bereitet und die sich zur Zeit nur durch Notmaßnahmen wie<br />
Benutzung von Turnhallen, Bau-Containern und dergleichen<br />
bewerkstelligen lassen, stellen sich zunehmend auch<br />
Sicherheitsprobleme. Bei ghanaischen Staatsangehörigen etwa<br />
ist die Kriminalität rund achtmal so hoch wie die allgemeine<br />
Ausländerkriminalität. Weibliche ghanaische Staatsangehörige<br />
gehen häufig der Prostitution nach. Zunehmend wird bei<br />
Ausländern, die über die DDR eingereist sind, Rauschgift gefunden.<br />
Deutlich an der Spitze der Tatverdächtigen-Statistik<br />
liegen hierbei Libanesen, Palästinenser, Türken und Pakistani.<br />
Große Besorgnis bereitet auch das in seiner Gefährlichkeit<br />
überhaupt nicht abschätzbare Terrorismuspotential, das sich<br />
möglicherweise unter den Reisenden aus Indien, aber auch aus<br />
dem arabischen Raum, hier vor allem unter den Libanesen und<br />
Palästinensern, befindet.“<br />
Um des Ansturms der Asylsuchenden Herr zu werden, habe<br />
die Koalitionsfraktion folgende Neuregelungen vorgesehen:<br />
„Durch die Erweiterung des Arbeitsverbots auf fünf Jahre wird<br />
deutlich gemacht, dass das Betreiben eines Asylverfahrens kein<br />
geeigneter Weg ist, in absehbarer Zeit zu einer aus wirtschaftlichen<br />
Gründen angestrebten Erwerbstätigkeit zu gelangen.<br />
Für viele Asylbewerber ist offenbar die derzeitige Befristung<br />
auf zwei Jahre immer noch Anreiz genug zur Einreise und<br />
Asylantragstellung aus wirtschaftlichen Gründen. Ich erhoffe<br />
mir von der neuen Regelung einen bremsenden Einfluss auf<br />
die Attraktivität unseres Landes für Wirtschaftsflüchtlinge.“<br />
Außerdem sollten die Möglichkeiten der Grenzbehörden erweitert<br />
werden, Ausländer zurückzuweisen, die trotz eines<br />
verfolgungsfreien Aufenthaltes in Drittstaaten aus wirtschaftlichen<br />
oder sonstigen privaten Gründen in die Bundesrepublik<br />
kommen wollten.<br />
1
„Unerlaubte“ Einreise der Asylanten über die DDR<br />
Zimmermann äußerte sich dann zur vermehrten Einreise der<br />
Asylsuchenden über die DDR: „<strong>Die</strong> unerlaubte Einreise über<br />
die DDR hat ein Ausmaß angenommen, das nicht mehr akzeptabel<br />
ist.“ Von ca. 6 000 Personen in den Jahren 1982 und 1983<br />
sei die Zahl 1984 auf 15 000 angestiegen. Im Jahr 1985 habe sie<br />
mit 44 852 Personen ihren vorläufigen Höchststand erreicht,<br />
der bei Anhalten der gegenwärtigen Tendenz in diesem Jahr<br />
jedoch noch übertroffen würde. Allein in den ersten Monaten<br />
dieses Jahres seien 22 789 Ausländer ohne Sichtvermerk auf<br />
dem Weg über die DDR in die Bundesrepublik eingereist.<br />
15 000 von 42 000 Asylbewerbern hätten ihren Asylantrag in<br />
Berlin gestellt. Nach den Erkenntnissen der <strong>Berliner</strong> Behörden<br />
sowie der Grenzpolizeibehörden reisten die Asylbewerber ausnahmslos<br />
auf dem Luftweg über den Ostberliner Flughafen<br />
Schönefeld ein. Sie benutzten zu etwa 60 bis 70 Prozent die<br />
sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot; die restlichen 30 bis 40<br />
Prozent verteilten sich auf die Fluggesellschaften Interflug,<br />
Syrian Arab Airlines, Balkan Airlines und Turkish Airlines. Von<br />
Schönefeld aus könnten die Asylsuchenden, zuerst mit DDR-<br />
Bussen bis zum Bahnhof Friedrichstraße, dann mit der U-<br />
oder S-Bahn, ungehindert in den Westen reisen, sie würden,<br />
da sie keine Grenze im völkerrechtlichen Sinne überschritten<br />
hätten, nicht kontrolliert. Bisher seien alle Bemühungen der<br />
Bundesregierung, die DDR zu veranlassen, entsprechend den<br />
internationalen Gepflogenheiten den Transit nur bei Vorliegen<br />
einer entsprechenden Einreisegenehmigung für den Zielstaat<br />
zu gestatten, ohne Erfolg geblieben.<br />
Berlins Bundessenator Rupert Scholz sagte nach einer Senatssitzung<br />
vom 22. Juli 1986, die Bundesregierung müsse intensive<br />
Gespräche mit der DDR führen, um den Asylantenstrom<br />
einzudämmen. <strong>Die</strong> Stadt könne weitere Asylbewerber kaum<br />
noch verkraften und habe Schwierigkeiten, die Asylsuchenden<br />
2
angemessen unterzubringen. In Turnhallen und in Zelten<br />
auf Sportplätzen seien bereits Notquartiere geschaffen worden.<br />
Nach dem für das gesamte Bundesgebiet geltenden Verteilungsschlüssel<br />
müsse Berlin nur 2,7 Prozent der Asylbewerber<br />
aufnehmen. Derzeit kämen aber über Ostberlin mehr als<br />
60 Prozent der Asylbewerber in Westberlin an. <strong>Die</strong> Verteilung<br />
der Asylanten auf die einzelnen Bundesländer dauert etwa<br />
vier bis sechs Wochen, das Anerkennungsverfahren mindestens<br />
ein Jahr und die Überprüfung durch den gerichtlichen<br />
Instanzenweg nochmals zwei bis vier Jahre. Der <strong>Berliner</strong><br />
Senat fordert als erste Konsequenz eine Beschleunigung des<br />
Anerkennungsverfahrens und eine schnellere Verteilung auf<br />
das Bundesgebiet. Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Jochen<br />
Vogel meinte, die Bundesregierung müsse gegenüber der DDR<br />
auf hoher Ebene deutlich machen, dass die gegenwärtige Praxis<br />
das deutsch-deutsche Einvernehmen belaste. Der DDR ginge<br />
es nicht um humanitäre Hilfe. Sonst würde sie die Betroffenen<br />
selbst im Land behalten. Es gehe ihr vielmehr offenbar darum,<br />
„uns mit Hilfe unserer eigenen Grundsätze ad absurdum<br />
zu führen“. <strong>Die</strong> Westmächte sollten überlegen, ob sie „ohne<br />
jede Präjudizierung des völkerrechtlichen Charakters der<br />
Sektorengrenze in Berlin Kontrollen praktizieren sollten, die<br />
diesen Missbrauch verhindern“. <strong>Die</strong> DDR würde „rasch nachdenklich<br />
werden“, wenn einmal 200 bis 300 der Asylbewerber<br />
innerhalb von ein bis zwei Tagen in Ostberlin blieben und dort<br />
dann das gleiche Problem entstünde, das sich jetzt im Westen<br />
ergebe. Solche Kontrollen auf Anordnung der Alliierten habe<br />
es ja schon in anderen Fällen gegeben. Für Kontrollen an der<br />
Sektorengrenze von West- nach Ostberlin sprachen sich auch<br />
einige CSU-Politiker aus. Gegner dieser Regelung wiesen darauf<br />
hin, dass nach ihrer Ansicht die DDR dann ihr Ziel erreicht<br />
hätte, dass in diesem Falle aus der durch den Vier-Mächte-<br />
Status festgelegten Demarkationslinie zwischen beiden Teilen<br />
der Stadt eine „Staatsgrenze“ werden würde.<br />
3
Das DDR-Außenministerium ließ wiederholt durch einen<br />
Sprecher erklären, die DDR habe mit dem Zustrom von<br />
Asylanten nichts zu tun. <strong>Die</strong>s sei „ein Problem, das Berlin<br />
(West) lösen muss, und zwar diejenigen, die dort aus bekannten<br />
Gründen zu bestimmen haben“. Damit wurde offenkundig<br />
auf die westlichen Alliierten angespielt. Bundeskanzler<br />
Kohl zeigte sich in einem Interview am 27. Juli deutlich verärgert<br />
über die Art und Weise, wie die DDR das Asylproblem<br />
behandelte. Er nannte es einen rasch abzustellenden „unerträglichen<br />
Zustand“, dass Wirtschaftsasylanten über Ostberlin<br />
in den Westteil der Stadt kämen. <strong>Die</strong> DDR, die dies zulasse,<br />
müsse sich „alles andere als freundliche Akte“ vorhalten lassen.<br />
Der Kanzler äußerte sich zurückhaltend auf die Frage, ob es an<br />
den Sektorenübergängen in Berlin zu einer Kontrolle durch die<br />
Alliierten kommen solle. Es gelte sehr genau zu prüfen, „welche<br />
Konsequenzen das hat“, betonte Kohl. Der Vorsitzende<br />
der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Theo Waigel, warf<br />
der DDR und der Sowjetunion vor, sie wollten mit dem<br />
Asylantenstrom Druck ausüben, „um den Status von Berlin zu<br />
verändern“. Waigel regte als Druckmittel gegen die DDR an,<br />
die zwischen der Bundesrepublik und der DDR bestehenden<br />
Verträge infrage zu stellen.<br />
Am 29. Juli meldete die amtliche Ostberliner Nachrichtenagentur<br />
ADN unter der Überschrift „Querschläge gegen gute<br />
Nachbarschaft“, Politiker in der Bundesrepublik hätten in der<br />
Asylfrage „eine groß angelegte und zügellose Kampagne gegen<br />
die DDR entfacht, um von Problemen abzulenken, deren<br />
Lösung einzig und allein ihre Angelegenheit ist“. Sie gäben<br />
der Konfrontation Vorrang vor der Entwicklung normaler<br />
Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. „Es<br />
fällt schwer, dabei an Zufälle oder persönliche Irritationen von<br />
Politikern zu glauben“, hieß es weiter. <strong>Die</strong> DDR gestatte entsprechend<br />
dem Völkerrecht (Konvention von Barcelona vom<br />
20. April 1921) den Transit durch ihr Hoheitsgebiet. Es werde<br />
niemandem gelingen, die DDR von diesen Grundsätzen ab-<br />
4
zubringen, die auch im Transitabkommen von 1971 enthalten<br />
seien. ADN erinnerte daran, dass die DDR seit dem 1. Februar<br />
1986 auf Bitten der Bundesregierung Bürgern aus bestimmten<br />
Ländern nur dann ein Transitvisum ausstelle, wenn sie ein<br />
Einreisevisum für die Bundesrepublik besäßen. Anders sehe<br />
es mit Westberlin aus, das unter Besatzungsrecht stehe, kein<br />
Bestandteil der Bundesrepublik sei und von ihr nicht regiert<br />
werden dürfe. ADN betonte, dass „die Frage der in Westberlin<br />
um Asyl nachsuchenden Personen nicht in die Zuständigkeit<br />
der DDR fällt“. <strong>Die</strong> Einreise in die Stadt sei ausschließlich<br />
Sache der Alliierten. Im übrigen „dürfte es auch den Politikern<br />
in der BRD hinreichend bekannt sein“, dass die meisten<br />
Asylbewerber nicht über die DDR in die Bundesrepublik einreisten.<br />
Offenbar mit Blick auf die Sanktionsforderungen aus<br />
Kreisen der Union meinte ADN, jeder Versuch, die DDR zu erpressen,<br />
sei von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Wer sich<br />
dennoch daran beteilige, solle nicht vergessen, „dass sich Hetze<br />
und Provokationen mit guter Nachbarschaft nicht vereinbaren<br />
lassen“. Eine sachliche Atmosphäre in den Beziehungen liege<br />
nicht nur im Interesse der DDR. Es sei zu hoffen, „dass dies in<br />
den verantwortlichen Kreisen verstanden wird“.<br />
Auf Weisung Erich Honeckers ließ die DDR ab 1. Oktober<br />
1986 nur noch Personen im Transit nach Westberlin reisen, die<br />
über ein Anschlussvisum anderer Staaten (d. h. natürlich vor<br />
allem der Bundesrepublik) verfügten. Wolfgang Schäuble hatte<br />
zuvor bei seinen Verhandlungen ein Junktim zwischen der Transitfrage<br />
und der Swing-Regelung im deutsch-deutschen Handel<br />
konstruiert. <strong>Die</strong> SPD hatte gleichzeitig den Wahlkampf ins<br />
Spiel gebracht. Sie wollte im Falle eines Wahlsiegs von Johannes<br />
Rau die DDR-Staatsbürgerschaft „respektieren“, hatte Willy<br />
Brandt in einem Gespräch Erich Honecker versichert, wenn die<br />
DDR eine gefällige Transitlösung fände. Bundeskanzler Kohl<br />
bedankte sich in einem Brief für das Entgegenkommen der<br />
DDR. DDR-Deutschlandpolitiker Karl Seidel kommentierte<br />
den Vorgang rückblickend: „Trotz des ‚Lobes’ von Kohl blieb<br />
5
die Tatsache bestehen, dass die DDR einen Preis an moralischer<br />
Glaubwürdigkeit zu zahlen hatte, was bei allen Beteiligten ein<br />
ungutes Gefühl zurückließ.“ Festzuhalten bleibt aber, ab 1.<br />
Oktober 1986 nahmen Westberlin und die Bundesrepublik im<br />
Einvernehmen mit der DDR-Regierung den Schutz der <strong>Mauer</strong><br />
gegen unerwünschte Asylbewerber in Anspruch.<br />
6<br />
� Folgenschwere Unterlassung der DDR-Regierung<br />
Verschiedentlich wurde der Vorschlag unterbreitet, die Bundesrepublik<br />
möge der DDR einen Reparationsausgleich anbieten,<br />
um durch die ökonomische Stärkung der DDR die <strong>Mauer</strong><br />
überflüssig zu machen. Zuerst lancierte diesen Vorschlag der<br />
Kieler Ökonom Fritz Baade unterstützt von 25 Bundestagsabgeordneten<br />
der SPD 1962 über den Ostberliner Wirtschaftshistoriker<br />
Jürgen Kuczynski an Walter Ulbricht. Im Gegensatz<br />
zur Regierung in Bonn bekundete Ulbricht, wie zahlreiche seiner<br />
Reden in den 60er Jahren belegen, Interesse für den Vorschlag.<br />
Zuletzt wandte sich Ende 1989 der Bremer Historiker<br />
Arno Peters mit dem Appell für einen Reparationsausgleich an<br />
beide deutsche Regierungen. Ministerpräsident Hans Modrow<br />
zeigte Interesse, Helmut Kohl winkte ab.<br />
Erwähnung verdient die „Operation <strong>Mauer</strong>durchlöcherung“<br />
des Schriftstellers Robert Neumann. Mit Hilfe seines<br />
Tonbandgerätes brachte Neumann von 1961 bis 1964 einen<br />
Dialog zwischen Marburger und Ostberliner Studenten und<br />
Wissenschaftlern auf den Weg. Das Ziel bestand darin, Klischees<br />
auf beiden Seiten abzubauen.<br />
Nachdem 1973 beide deutsche Staaten Mitglied der UNO<br />
geworden waren und 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki<br />
unterzeichnet worden war, stand die Regierung der DDR in<br />
der Pflicht, Regelungen auf den Weg zu bringen (Reisegesetz),<br />
die ihren Bürgern das Reisen auch in Länder der ihnen seit
August 1961 verschlossenen westlichen Welt ermöglichten.<br />
DDR-Vermittler Jürgen Nitz legte 1994 Dokumente vor, die<br />
zeigten, dass solche Projekte wie „Länderspiel“ und „Zürcher<br />
Modell“ von Unterhändlern von Ost und West erörtert wurden.<br />
Nitz zufolge erwog 1986 die Bundesregierung, mit der<br />
Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und der Schließung<br />
der Erfassungsstelle in Salzgitter die „totale Freigabe“ der<br />
Reisemöglichkeiten zu erkaufen. Aus unterschiedlichen Gründen<br />
kam keines dieser Projekte zum Zuge. <strong>Die</strong> Schuld hierfür<br />
muss auf beiden Seiten gesucht werden.<br />
Generell sei aber die folgenschwere Unterlassung der DDR-<br />
Regierung festgehalten, kein Reisegesetz auf den Weg zu bringen.<br />
So bekam die <strong>Mauer</strong> immer mehr eine nach innen gerichtete<br />
Repressivfunktion. Dem wachsenden inneren Druck<br />
konnte die <strong>Mauer</strong> auf die Dauer nicht widerstehen.<br />
� <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>öffnung<br />
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre traten in mehreren<br />
Ländern des Ostblocks Krisenerscheinungen zutage. <strong>Die</strong><br />
Nationaleinkommen stagnierten. Es kam zu Spannungen, die<br />
sich in sozialen und nationalen Konflikten entluden. Michael<br />
Gorbatschow, Parteichef der Sowjetunion, entschloss sich<br />
1987 zu einer Reformpolitik (Glasnost, Perestroika), die jedoch<br />
den weiteren Bestand der UdSSR als Supermacht nicht<br />
mehr zu sichern vermochte. Schon im zweiten Halbjahr<br />
1988 brach die sowjetische Volkswirtschaft zusammen, was<br />
Moskau vollends von westlichen Krediten abhängig machte<br />
und den Niedergang der sozialistischen Staaten in Ost- und<br />
Mitteleuropa beschleunigte. In der DDR mehrten sich die<br />
Krisenerscheinungen angesichts der Reformverweigerung<br />
durch Parteichef Erich Honecker. In Ungarn und Polen hatten<br />
der „Runde Tisch“ bzw. der „Dreieckstisch“ im ersten Halbjahr
1989 den Systemwechsel vom autoritären Sozialismus zur parlamentarischen<br />
Demokratie eingeleitet.<br />
Unter diesen Bedingungen war es dem Ostblock nicht<br />
mehr möglich, den „Eisernen Vorhang“ aufrechtzuerhalten.<br />
Am 10. September gab Ungarn bekannt, seine Grenze zu Österreich<br />
ab 11. September 00.00 Uhr zu öffnen. Danach erklärte<br />
Österreich, dass DDR-Bürger aus Ungarn ohne Visum einreisen<br />
dürften. Zu dieser Zeit warteten schon 6 600 DDR-Urlauber<br />
in Zeltlagern und Privatunterkünften nahe der Grenze auf<br />
die Ausreise nach Österreich. <strong>Die</strong> Sowjetunion bedauerte die<br />
Entscheidung der ungarischen und österreichischen Regierung,<br />
ließ jedoch wissen: „Aber das betrifft uns nicht direkt.“ Am 18.<br />
Oktober wurde Erich Honecker auf einer überraschend einberufenen<br />
Sondersitzung des SED-Zentralkomitees gestürzt.<br />
Zum Nachfolger avancierte Egon Krenz, der zunächst an den<br />
alten Prämissen der SED-Politik festhielt und dann auf die<br />
schon gescheiterte Reform-Politik Gorbatschows einzuschwenken<br />
versuchte. Nach Montagsdemonstrationen in Leipzig und<br />
Massenprotesten in Berlin sowie vielen anderen Städten stürmten<br />
am späten Abend des 9. November Tausende Ostberliner<br />
die Grenzübergangsstellen an der <strong>Mauer</strong>. Auslöser war ein<br />
Versprecher von Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer<br />
Pressekonferenz kurz vor 19 Uhr, die vom DDR-Fernsehen übertragen<br />
wurde. Schon um 19.05 Uhr meldete Associated Press:<br />
„<strong>Die</strong> DDR öffnet nach Angaben von SED-Politbüromitglied<br />
Günter Schabowski ihre Grenzen.“ <strong>Die</strong> Befehlshaber an den<br />
<strong>Berliner</strong> Grenzübergangsstellen waren von „oben“ nicht instruiert<br />
worden. Gegen 22.30 Uhr entschieden sie in eigener<br />
Verantwortung: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!“<br />
Auf Westberliner Seite wurden die Ostberliner begeistert<br />
begrüßt. Es floss viel Sekt. Es regnete Konfetti. Das am meisten<br />
gebrauchte Wort hieß: „Wahnsinn!“<br />
Der erste Politiker, der nach dem <strong>Mauer</strong>fall in Berlin die<br />
Gunst der Stunde richtig erkannte, war Bundeskanzler Helmut<br />
Kohl. Ohne Abstimmung mit seinen Bündnispartnern legte er
am 28. November ein Zehnpunkte-Programm vor, das auf die<br />
Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands zielte.<br />
Mit Demonstrationen verlieh eine Mehrheit der DDR-Bürger<br />
ihrem Wunsch nach Herstellung der Einheit Ausdruck. Neuen<br />
Sozialismus-Experimenten wurde eine Absage erteilt.<br />
Der am 12. September 1990 unterzeichnete 2-plus-4-Vertrag<br />
regelte die äußeren Fragen der deutschen Wiedervereinigung.<br />
Der von der Volkskammer und dem Bundestag verabschiedete<br />
Einigungsvertrag ebnete den Weg zum Beitritt der DDR zur<br />
Bundesrepublik am 3. Oktober 1990. Nach Ratifizierung des<br />
2-plus-4-Vertrages durch die jeweiligen Parlamente erlangte<br />
Deutschland am 15. März 1991 die volle Souveränität.<br />
<strong>Die</strong> deutsche Einheit wurde in allzu großer Hast hergestellt.<br />
<strong>Die</strong> Transformation der Wirtschaft der Ex-DDR in<br />
die Marktwirtschaft der Bundesrepublik verlief nicht so erfolgreich,<br />
wie sich das Millionen Ostdeutsche erhofft hatten.<br />
Kanzler Kohls Vision von den „blühenden Landschaften“<br />
blieb eine Illusion. <strong>Die</strong> Niederlage der DDR bewirkte in der<br />
Bundesrepublik eine Störung im Verhältnis von Kapital und<br />
Arbeit. Im wiedervereinigten Deutschland entstand so eine Art<br />
umgekehrte <strong>Mauer</strong> bzw. ein schwer überbrückbarer Canyon:<br />
Es klafft eine für Millionen Deutsche in Ost und West immer<br />
spürbarere Gerechtigkeitslücke zwischen unten und oben.
Während das Volk verarmte, wurden die Reichen immer<br />
reicher.<br />
0<br />
(Quelle: junge Welt, 17.04.2008, S. 11)<br />
Massenarbeitslosigkeit, Ungleichbehandlung und die drohende<br />
neue Armut führten im Sommer 2004 zum erneuten<br />
Aufflammen von Montagsdemonstrationen, in deren Ergebnis<br />
die linke Partei WASG mit Schwerpunkt im Westen entstand<br />
und die vor allem im Osten verankerte PDS neuen Auftrieb<br />
erhielt. 2007 vereinigten sich die WASG und die PDS zur<br />
Partei „<strong>Die</strong> Linke“, die sich im Verlaufe des Jahres 2008 erfolgreich<br />
im Parteiensystem der Bundesrepublik zu etablieren<br />
vermochte. Im gleichen Jahr entdeckte die SPD das Thema<br />
Gerechtigkeit neu und forderte nun auch die von ihr bis dahin<br />
abgelehnten Mindestlöhne. Selbst die CDU rückte von<br />
rechts in die Mitte. Es kam zum Erstaunen nicht weniger<br />
Zeitgenossen einiges in Bewegung in Deutschland.
Zeittafel<br />
12. September 1944<br />
Im Londoner Protokoll einigen sich die Drei Mächte über die<br />
Besatzungszonen und die Verwaltung von Groß-Berlin. Ein<br />
Alliierter Kontrollrat mit Sitz in Berlin soll das gemeinsame<br />
Vorgehen in allen Zonen sichern.<br />
1948<br />
Politische und wirtschaftliche Teilung Berlins. Blockade<br />
(24.6.1948-12.5.1949) und Luftbrücke (8.7.1948-30.9.1949)<br />
markieren Höhepunkte im Kalten Krieg.<br />
4. August 1950<br />
Eine „<strong>Berliner</strong> Verfassung“, die Westberlin den Charakter eines<br />
Stadtstaates wie Hamburg und Bremen verleiht, wird vom<br />
Stadtparlament einstimmig verabschiedet.<br />
27. November 1958<br />
<strong>Die</strong> UdSSR erklärt in einem Memorandum an die Westmächte<br />
und die Regierungen der beiden deutschen Staaten, dass sie<br />
die Vereinbarung der European Advisory Commission (EAC,<br />
Europäische Beratende Kommission) vom 12. September<br />
1944 und die sich daran knüpfenden Einzelabkommen<br />
über die Rechte der Westalliierten in Berlin, die für die ersten<br />
Nachkriegsjahre getroffen worden waren, als nicht<br />
mehr in Kraft befindlich betrachte. Für Verhandlungen zur<br />
Neubestimmung des Berlin-Status als „entmilitarisierte Freie<br />
Stadt“ setzt die Sowjetunion eine Frist von sechs Monaten.<br />
(Berlin-Ultimatum)<br />
3. und 4. Juni 1961<br />
Das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten<br />
John F. Kennedy und dem sowjetischen Ministerpräsidenten<br />
1
Nikita S. Chruschtschow führt nicht zur Beilegung der akuten<br />
Spannungen in der Berlin-Frage. Chruschtschow überreicht<br />
ein Memorandum, das anregt, die Fragen der deutschen<br />
Wiedervereinigung in die Kompetenz der beiden deutschen<br />
Staaten zu übergeben.<br />
5. Juli 1961<br />
Der amerikanische Diplomat Arthur Schlesinger und der<br />
sowjetische Botschaftsrat Georgi Kornijenko sprechen in<br />
Washington über die sowjetischen „Garantien“ für Westberlin.<br />
Angesichts des großen amerikanischen Misstrauens fordert<br />
Kornijenko, die amerikanische Seite möge ihre eigenen<br />
Garantien formulieren.<br />
19. und 25. Juli 1961<br />
Präsident Kennedy verkündet die „three essentials“ für eine<br />
Konfliktregulierung in Berlin: 1. <strong>Die</strong> Freiheit der Bevölkerung<br />
von Westberlin, ihr eigenes politisches System zu wählen 2.<br />
<strong>Die</strong> Anwesenheit westlicher Truppen, solange sie von der<br />
Bevölkerung gewünscht und benötigt werden 3. Den ungehinderten<br />
Zugang zur Stadt vom Westen auf der Autobahn sowie<br />
auf den Luft- und Wasserwegen.<br />
3. bis 5. August 1961<br />
Beratung der Ersten Sekretäre der ZK der Kommunistischen und<br />
Arbeiterparteien der Staaten des Warschauer Vertrags in Moskau<br />
über die Vorbereitung eines deutschen Friedensvertrages. <strong>Die</strong><br />
Beratung billigt die von der DDR und der UdSSR vorgesehenen<br />
„Maßnahmen zur Sicherung des Friedens.“<br />
4. August 1961<br />
Der Magistrat von Ostberlin beschließt, dass ab sofort alle<br />
West-Grenzgänger ihre Miete oder Pacht, die Gebühren für<br />
Strom, Gas und Wasser in DM-West zu zahlen haben.
13. August 1961<br />
Nach Alarm um Mitternacht Errichtung von Stacheldrahtbarrieren<br />
zwischen dem sowjetischen Sektor und dem Bezirk<br />
Potsdam sowie den Westsektoren von Berlin. Verstärkung<br />
der Grenzbefestigungsanlagen zwischen der DDR und der<br />
Bundesrepublik. Unterbrechung des S- und U-Bahnverkehrs.<br />
Einrichtung von Grenzübergangsstellen, die allerdings von der<br />
Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht benutzt werden können.<br />
14. August 1961<br />
Der Grenzübergang am Brandenburger Tor wird geschlossen.<br />
15. August 1961<br />
An der Ostseite der Ackerstrasse werden Betonteile, 1,25 Meter<br />
mal 1,25 Meter groß und 20 Zentimeter dick, nebeneinander<br />
gesetzt und mit Mörtel verschmiert. Der Abstand zur eigentlichen<br />
Grenze beträgt fünf Meter.<br />
16. August 1961<br />
<strong>Die</strong> Westalliierten protestieren in offiziellen Noten an die<br />
UdSSR gegen die Verletzung des Viermächte-Status.<br />
19. August 1961<br />
US-Vizepräsident Lyndon B. Johnson wird begeistert von den<br />
Westberlinern empfangen.<br />
22. August 1961<br />
Bei einem Fluchtversuch stirbt Ida Sickmann. Sie ist das erste<br />
Opfer.<br />
26. August 1961<br />
Alle Grenzübergänge werden für Westberliner geschlossen.<br />
3
27. Oktober 1961<br />
Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Panzer am<br />
Grenzübergang „Checkpoint Charlie“<br />
Oktober 1961<br />
In Salzgitter wird auf Beschluss der Justizminister der Länder<br />
der Bundesrepublik ein Zentrum geschaffen, dass „die in<br />
Ost-Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone begangenen<br />
Gewaltakte“ dokumentiert. Bis zum <strong>Mauer</strong>fall konnte<br />
Salzgitter in 192 Fällen Mord belegen, in siebenhundert Fällen<br />
Verletzungen.<br />
18. Juni 1962<br />
Der Grenzsoldat Reinhold Huhn wird von einem Fluchthelfer<br />
erschossen.<br />
26. Juni 1963<br />
US-Präsident John F. Kennedy besucht Westberlin und erklärt:<br />
„Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger<br />
dieser Stadt, und als freier Mensch spreche ich deshalb voll<br />
Stolz die Worte: ‚Ich bin ein <strong>Berliner</strong>.’“<br />
17. Dezember 1963<br />
Das erste Passierscheinabkommen gestattet Westberlinern<br />
bis 5. Januar 1964 den Besuch Ostberlins. Bis 1966 folgen<br />
drei weitere Passierscheinvereinbarungen, dann scheitern die<br />
Verhandlungen.<br />
1966<br />
Aufstellung der ersten Beobachtungstürme<br />
31. Januar 1971<br />
Begrenzte Wiederaufnahme der Telefonverbindung zwischen<br />
beiden Teilen Berlins<br />
4
3. September 1971<br />
Paraphierung des Vierseitigen Abkommens. Es schafft Voraussetzungen<br />
für die Verbesserung der Beziehungen zwischen<br />
den beiden deutschen Staaten (Grundlagenvertrag, 21.<br />
Dezember 1972). In der nachfolgenden Zeit verbessern sich<br />
die Besuchsmöglichkeiten für die Westberliner.<br />
1971<br />
Installierung des „Grenzzauns“ aus engem Stacheldraht<br />
1974<br />
Es werden die „Hinterlandmauer“ und der hintere „Grenzsignalzaun<br />
74“ errichtet.<br />
1976<br />
Errichtung der ersten Teile der „Grenzmauer 75“<br />
1997<br />
Getrennte Feierlichkeiten in beiden Stadtteilen aus Anlass des<br />
750. Jahrestages der Gründung Berlins<br />
12. Juni 1987<br />
US-Präsident Ronald Reagan fordert auf einer Kundgebung<br />
am Brandenburger Tor KPdSU-Generalsekretär Michail<br />
Gorbatschow auf, das Tor zu öffnen. („Open this gate!“)<br />
19. Januar 1989<br />
Erich Honecker erklärt, dass die <strong>Mauer</strong> noch in 50 oder 100<br />
Jahren bestehen werde, wenn nicht die Bedingungen geändert<br />
würden, die zu ihrer Errichtung geführt haben.<br />
5. Februar 1989<br />
Chris Gueffroy wird bei einem Fluchtversuch erschossen.<br />
5
11. September 1989<br />
Ungarn genehmigt DDR-Bürgern die Ausreise nach Österreich<br />
ohne gültige Reisedokumente. Damit wird die <strong>Mauer</strong> in Berlin<br />
immer fragwürdiger.<br />
16. Oktober 1989<br />
In Leipzig demonstrieren 120 000 Leipziger unter der Losung<br />
„Wir sind das Volk!“ für demokratische Reformen in der<br />
DDR.<br />
18. Oktober 1989<br />
Generalsekretär Erich Honecker wird von allen Funktion entbunden.<br />
An seine Stelle tritt Egon Krenz, der am folgenden Tag<br />
im Gespräch Landesbischof Werner Leich Dialogbereitschaft<br />
signalisiert.<br />
4. November 1989<br />
500 000 Ostberliner demonstrieren auf dem Alexanderplatz<br />
gegen die SED-Herrschaft.<br />
7. November 1989<br />
Der Rechtsausschuss der DDR-Volkskammer verwirft den<br />
Entwurf für ein Reisegesetz, weil dieser den allgemeinen<br />
Erwartungen widerspricht.<br />
9. November 1989<br />
<strong>Mauer</strong>öffnung, Jubelfeiern in beiden Teilen Berlins:<br />
„Wahnsinn!“<br />
22. Dezember 1989<br />
Öffnung des Brandenburger Tores<br />
30. Juni 1990<br />
Einstellung der Grenzkontrollen<br />
6
30. August 1990<br />
Am Schichauweg im Bezirk Lichtenrade wird ein vierzehnjähriger<br />
„<strong>Mauer</strong>specht“ von einem herunterfallenden Betonsegment<br />
erschlagen.<br />
13. November 1991<br />
Am Rudower Wäldchen wird das letzte Stück der <strong>Mauer</strong> demontiert.<br />
1992 bis 2004<br />
Prozesse gegen SED-Politbüromitglieder, Mitglieder des<br />
Nationalen Verteidigungsrates der DDR und Grenzsoldaten<br />
im Zusammenhang mit ihrer Verantwortung für die Opfer an<br />
der <strong>Mauer</strong>.
Literatur (Auswahl)<br />
Cate, Curtis: Riß durch Berlin. Der 13. August 1961. Aus dem<br />
Englischen von Walter Hasenclever, Hamburg 1980.<br />
Eisenfeld, Bernd/Engelmann, Roger: 13.8.1961: <strong>Mauer</strong>bau.<br />
Fluchtbewegung und Machtsicherung. Mit einem Vorwort<br />
von Marianne Birthler, Bremen 2001.<br />
Feist, Peter: <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>. Berlin 1961-1989, Berlin<br />
2003.<br />
Flemming, Thomas: <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>. Grenze durch eine<br />
Stadt, Berlin 1999.<br />
Frotscher, Kurt/Krug, Wolfgang (Hrsg.): <strong>Die</strong> Grenzschließung<br />
1961. Im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes, Schkeuditz<br />
2001.<br />
Gelb, Normann: The Berlin Wall, London 1986.<br />
Hertle, Hans-Hermann: Chronik des <strong>Mauer</strong>falls. <strong>Die</strong> dramatischen<br />
Ereignisse um den 9. November 1989. Berlin 1996.<br />
Hübsch, Reinhard/Balzer, Friedrich-Martin (Hg.): Operation<br />
<strong>Mauer</strong>durchlöcherung, Robert Neumann und der deutschdeutsche<br />
Dialog, Bonn 1994.<br />
Jeschonnek, Friedrich/Riedel, <strong>Die</strong>ter/Durie, William: Alliierte<br />
in Berlin 1945-1994. Ein Handbuch zur Geschichte der militärischen<br />
Präsenz der Westmächte, Berlin 2002.<br />
Mehls, Hartmut (Hrsg.): Im Schatten der <strong>Mauer</strong>. Dokumente<br />
12. August bis 29. September 1961, Berlin 1990.<br />
Nakath, Detlef: Deutsch-deutsche Grundlagen. Zur Geschichte<br />
der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen<br />
der DDR und der Bundesrepublik in den Jahren von 1969 bis<br />
1982, Schkeuditz 2002.
Nitz, Jürgen: Länderspiel. Ein Insider-Report, Berlin 1994.<br />
Otto, Wilfriede: Spannungsfeld 13. August 1961. hefte zur<br />
ddr-geschichte, Nr. 71, Berlin 2001.<br />
Petschull, Jürgen: <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>. Vom Anfang und vom Ende<br />
eines deutschen Bauwerks. Hamburg 1989.<br />
<strong>Prokop</strong>, <strong>Siegfried</strong> (Hrsg.): Der versäumte Paradigmenwechsel.<br />
„Spiegel-Manifest“ und „Erster Deutscher im All“ – die<br />
DDR im Jahr 1978. Schriften der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />
Brandenburg. Band 2, Schkeuditz 2008.<br />
<strong>Prokop</strong>, <strong>Siegfried</strong>: Unternehmen „Chinese Wall“. <strong>Die</strong> DDR<br />
im Zwielicht der <strong>Mauer</strong>, 2., überarbeitete Auflage, Frankfurt/<br />
M. 1993.<br />
Rabehl, Bernd: Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten<br />
Deutschland, Dresden 2002.<br />
Rühle, Jürgen/Holzweißig, Gunter: 13. August 1961. <strong>Die</strong><br />
<strong>Mauer</strong> in Berlin, Köln 1988.<br />
Seidel, Karl: Berlin-Bonner Balance. 20 Jahre deutsch-deutsche<br />
Beziehungen. Erinnerungen und Erkenntnisse eines<br />
Beteiligten, Berlin 2002.<br />
Steiniger, Rolf: Der <strong>Mauer</strong>bau. <strong>Die</strong> Westmächte und Adenauer<br />
in der Berlinkrise 1958-1963, München 2001.<br />
Thoss, Hendrik: Gesichert in den Untergang. <strong>Die</strong> Geschichte<br />
der DDR-Westgrenze, Berlin 2004.<br />
Wetzlaugk, Udo: <strong>Berliner</strong> Blockade und Luftbrücke 1948/49,<br />
Berlin 1998.<br />
100
Weitere Titel zum Thema:<br />
Klaus Behling<br />
Berlin im Kalten Krieg<br />
Schauplätze und ereignisse<br />
Berlin – von 1945 bis 1990 Stationierungsort der vier Alliierten, Hochburg<br />
der Geheimdienste und Front des Kalten Krieges. Mit dem Bau der <strong>Mauer</strong><br />
1961 wird Berlin zum Probefeld für die Politik des Kalten Krieges.<br />
Der Autor führt hin zu den damaligen Schauplätzen und Ereignissen und<br />
bringt sie dem Leser anschaulich näher.<br />
„Glienicker Brücke: 25. März 1985, gegen 17 Uhr.<br />
Der Sowjet-Posten auf der Ost-Seite der Brücke blickt versteinert geradeaus,<br />
als sich ein schwarzer Mercedes und ein Krankenwagen dem<br />
nur für Alliierte und Diplomaten zugelassenen Grenzübergang nähern.<br />
Dann stoppt der kleine Konvoi ein paar Zentimeter hinter der Grenzlinie.<br />
Ein amerikanischer Offizier steigt in das Fahrzeug und breitet ein<br />
Sternenbanner über den darin befindlichen Zinksarg. Major Arthur D.<br />
Nicholson ist vom Einsatz hinter den feindlichen Linien zurück. Er hat<br />
ihn nicht überlebt.”<br />
-Auszug-<br />
ISBN 978-3-89706-901-5<br />
300 S., Softcover, € 14,80<br />
Format: 13,5 x 21<br />
Reiseziele einer Region 5
Joachim Mitdank<br />
Berlin zwiSchen oSt und weSt<br />
erinnerung eines diplomaten<br />
Als 1944/45 beschlossen wurde, Berlin zum Sitz der Zentral-<br />
Kontrollkommission der Siegermächte zu machen, waren Churchill,<br />
Roosevelt und Stalin von dem Gedanken beseelt, von hier aus das<br />
besetzte Deutschland zentral zu verwalten und zu kontrollieren. Von<br />
Deutschland sollte nie wieder Krieg ausgehen.<br />
Als in der Nachkriegszeit die Entwicklung Deutschlands in der Gründung<br />
zweier verschiedener Staaten mündete, war nunmehr auch Berlin<br />
geteilt. Fortan wurde dieser Ort zum Symbol. Hier, im Herzen Europas,<br />
wurden jene Auseinandersetzungen ausgefochten, die die Welt an den<br />
Rand eines dritten Weltkrieges führten.<br />
Mit den von J.F. Kennedy im Juni 1961 formulierten Three Essentials<br />
konnte man annehmen, dass eine adäquate Lösung der Berlinfrage die<br />
Tolerierung durch die USA finden würde: Am 13. August 1961 wurde die<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong> gebaut.<br />
Eine allmähliche Normalisierung, vorsichtige Annäherung beider<br />
deutscher Staaten war erst in der Folgezeit zu beobachten. Dafür<br />
musste vor allen Dingen auf der diplomatischen Ebene hart gearbeitet<br />
werden. Das Viermächteabkommen und weitere Regelungen folgten.<br />
<strong>Die</strong> Besucherströme wuchsen, bis die DDR im Herbst 1989 förmlich<br />
implodierte. <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> fiel, doch so manche Probleme sind bis heute<br />
geblieben. Joachim Mitdank war als Diplomat hinter den Kulissen<br />
jahrzehntelang sozusagen hautnah vor allen Dingen mit der Berlinfrage<br />
beschäftigt. Er verhandelte mit dem Senat, suchte Lösungen. Später<br />
vertrat er die DDR als Botschafter in verschiedenen Ländern, zuletzt in<br />
London.<br />
Ein bewegtes Leben. Seine Erinnerungen liegen nunmehr vor.<br />
ISBN 3-89706-880-X,<br />
350 S., Hardcover, € 24,80<br />
Edition Zeitgeschichte Band 14