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Siegfried Prokop • Die Berliner Mauer

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<strong>Siegfried</strong> <strong>Prokop</strong> <strong>•</strong> <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>


<strong>Siegfried</strong> <strong>Prokop</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong><br />

(1961-1989)<br />

Fakten, Hintergründe, Probleme<br />

kai homilius verlag – ComPaCT


BISHER ERSCHIENENE TITEL DER REIHE COMPACT:<br />

Detlef Joseph<br />

Vom angeblichen antisemitismus der ddr<br />

COMPACT Nr. 1, ISBN 978-3-89706-401-0, 7,50€<br />

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COMPACT Nr. 3, ISBN 978-3-89706-403-4, 7,50€<br />

© Kai Homilius Verlag, Berlin 2009<br />

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung<br />

des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk<br />

oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie,<br />

Mikrokopie) zu vervielfältigen oder in Datenbanken<br />

aufzunehmen.<br />

COMPACT – Nr. 4<br />

Kai Homilius Verlag<br />

www.kai-homilius-verlag.de<br />

e-mail: home@kai-homilius-verlag.de<br />

Autor: <strong>Siegfried</strong> <strong>Prokop</strong><br />

Druck: Printed in E.U.<br />

ISBN: 978-3-89706-404-1


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorbemerkung ..............................................................................7<br />

Wie kam es zur <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>? ....................................................9<br />

Berlin als Sitz des Alliierten Kontrollrates ................................9<br />

<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>ahnung 1948 ........................................................11<br />

DDR-Bürger im Westen zunächst unerwünscht ....................12<br />

<strong>Die</strong> Sogwirkung des Wirtschaftswunders ...............................14<br />

<strong>Die</strong> Defensiv-Position der DDR ............................................15<br />

„Operation Chinese Wall“ .....................................................19<br />

Das Berlin-Ultimatum ...........................................................20<br />

Der Mansfield-Plan ...............................................................22<br />

Zuspitzung der Lage in der DDR ..........................................25<br />

Kündigung des Handelsabkommens ......................................26<br />

Separatfrieden mit der DDR? ................................................28<br />

Kurs auf die Luftsperre ..........................................................30<br />

Kennedy zwingt Moskau zum Kurswechsel ............................32<br />

Weichenstellung <strong>Mauer</strong>bau....................................................37<br />

<strong>Die</strong> „Operation Grenzsicherung“ ...........................................41<br />

<strong>Die</strong> Reaktion des Westens ......................................................45<br />

Zwischen <strong>Mauer</strong>bau und <strong>Mauer</strong>fall .............................................51<br />

Vom Stacheldraht zur <strong>Mauer</strong> .................................................51<br />

<strong>Die</strong> „moderne Grenze“ ..........................................................57<br />

Das Passierscheinabkommen ..................................................61<br />

Rudi Dutschkes „Freie Stadt“-Konzept ..................................64<br />

Das Vierseitige Abkommen ...................................................66<br />

Der Bericht zur Lage der Nation 1981 ...................................69<br />

Das 25. <strong>Mauer</strong>-Jubiläum und die<br />

deutsch-deutschen Beziehungen .............................................74<br />

Einsatz der <strong>Mauer</strong> gegen Asylbewerber? .................................76<br />

Das Asylantenproblem ...........................................................80<br />

Folgenschwere Unterlassung der DDR-Regierung .................86<br />

<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>öffnung .................................................................87<br />

Zeittafel .......................................................................................91<br />

Literatur (Auswahl) .....................................................................99


Vorbemerkung<br />

Zwei große Jubiläen stehen unmittelbar bevor:<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

2009 der 20. Jahrestag der <strong>Mauer</strong>öffnung und<br />

2011 der 50. Jahrestag des 13. August 1961.<br />

Beide Jubiläen werden in Ost und West mit unterschiedlichen<br />

Emotionen und Wertungen begangen werden. Noch ist der<br />

Blick auf die Geschichte bei Weitem nicht von Sachlichkeit,<br />

Augenmaß und Differenzierungsvermögen geprägt.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte der <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong> ist identisch mit einer<br />

bestimmten Periode des Ost-West-Konflikts. Es ist dies die<br />

Zeit, da die Verlängerung des „Eisernen Vorhangs“ entlang<br />

der Währungsgrenze mitten durch Berlin erfolgte, um das<br />

Umschlagen des Kalten Krieges in einen heißen zu vermeiden.<br />

An dem Vorgang hatten beide Seiten ihren Anteil. Im Kalten<br />

Krieg hingegen machte jede Seite die jeweils andere Seite allein<br />

für alles Ungemach verantwortlich. Heute ist es üblich geworden,<br />

in nicht zu übertreffender Einseitigkeit und unhistorisch<br />

allein die DDR für die <strong>Mauer</strong> verantwortlich zu machen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> erlegte vor allem den <strong>Berliner</strong>n in Ost und West<br />

und den Brandenburgern erhebliche Opfer und Entbehrungen<br />

auf. Da darf nichts klein geredet oder verniedlicht werden.<br />

Vergessen werden darf dabei auch nicht, dass ein heißer Krieg<br />

die Existenz des deutschen Volkes ausgelöscht hätte.<br />

In der Zeit der Existenz der <strong>Mauer</strong> entstanden auf beiden<br />

Seiten Geschichtsmythen, die in unterschiedlichem Maße noch<br />

in der Gegenwart eine Rolle spielen. In der DDR wurde vom<br />

„antifaschistischen Schutzwall“ gesprochen und im Westen von<br />

der „innerdeutschen Grenze“. Beide Bilder waren unzutreffend,<br />

denn weder schützte die <strong>Mauer</strong> vor dem Faschismus, noch war<br />

die Grenze zwischen Westberlin und der DDR „innerdeutsch“<br />

wie die Grenze zwischen Sachsen und Thüringen oder Bayern<br />

und Baden-Württemberg. Falsch ist auch die häufig zu verneh-


mende Behauptung, dass die <strong>Mauer</strong> Berlin gespalten habe. Sie<br />

entstand 1961, da war aber die Stadt schon über ein Jahrzehnt<br />

gespalten.<br />

Mit Blick auf die bevorstehenden Jubiläen soll in diesem<br />

Heft an einige Fakten und Zusammenhänge erinnert werden,<br />

die vom heutigen Zeitgeist gern ausgeblendet werden. Gerade<br />

im Hinblick auf die innere deutsche Einheit, die wegen der<br />

fortgesetzten Pflege von Mentalitäten aus der Zeit des Kalten<br />

Krieges nicht so recht vorankommt, scheint das Bemühen um<br />

eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, wie sie wirklich<br />

verlaufen ist, sinnvoll.


Wie kam es zur <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>?<br />

� Berlin als Sitz des Alliierten Kontrollrates<br />

Im Londoner Protokoll der European Advisory Commission<br />

(EAC, Europäische Beratende Kommission) einigten sich<br />

die UdSSR, die USA und das Vereinigte Königreich von<br />

Großbritannien und Nordirland am 12. September 1944 über<br />

die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von<br />

Groß-Berlin. <strong>Die</strong> UdSSR sollte die östliche Zone übernehmen,<br />

die USA und Großbritannien die Westzonen. Über die<br />

Westzonen fiel noch keine konkrete Entscheidung, weil beide<br />

Westalliierte das Ruhrgebiet beanspruchten. Eine Interalliierte<br />

Behörde sollte die Verwaltung der deutschen Hauptstadt übernehmen.<br />

Erst am 14. November erzielten die drei Mächte<br />

Einigkeit über den sowjetischen Sektor und den amerikanischen<br />

bzw. britischen Sektor. An diesem Tag wurde auch das<br />

Kontrollverfahren in Deutschland geregelt. Zeitlich ging es<br />

um die „Anfangsperiode der Besatzung Deutschlands, die unmittelbar<br />

auf die Kapitulation folgt.“ Gemäß Artikel 1 sollten<br />

die Oberbefehlshaber der drei Besatzungsstreitkräfte der drei<br />

Mächte die „oberste Gewalt“ in Deutschland ausüben, und<br />

zwar jede in ihrer eigenen Zone „sowie gemeinsam in allen<br />

Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten.“ Ein<br />

Alliierter Kontrollrat mit Sitz in Berlin sollte das gemeinsame<br />

Vorgehen in allen Zonen sichern, und für die gemeinsame<br />

Leitung der Verwaltung des Gebietes von Groß-Berlin sollte<br />

eine „Interalliierte Behörde“ (russisch: Kommendatura) errichtet<br />

werden. Der sowjetische Vorschlag vom Februar 1944,<br />

die Besatzungstruppen in einer 10-15 Kilometer breiten Zone<br />

rund um Berlin zu stationieren, wurde als unpraktikabel abgelehnt.<br />

Dafür aber sicherten die USA und Großbritannien der<br />

UdSSR zu, dass die Viermächteverwaltung von Berlin nicht


die oberste Gewalt der Sowjetunion über ihre Zone beinträchtigen<br />

werde.<br />

10<br />

<strong>Die</strong> Alliierte Kommandatur der Stadt Berlin 1945 bis 1948<br />

(Quelle: Gerhard Keiderling: Berlin 1945-1986. Berlin 1987, S. 134)<br />

Am 1. Mai 1945 trat Frankreich dem Abkommen über den<br />

Kontrollmechanismus und am 26. Juli 1945 dem Abkommen<br />

über die Besatzungszonen bei. <strong>Die</strong> Bildung einer Französischen<br />

Zone und eines vierten <strong>Berliner</strong> Sektors erfolgte auf dem anglo-amerikanischen<br />

Besatzungsgebiet, da die UdSSR zu keiner<br />

territorialen Kompensation bereit war. Beschlüsse in der<br />

Interalliierten Kommandantur wurden einstimmig gefasst. Bei<br />

Nichterreichen der Einstimmigkeit erfolgte die Weitergabe an<br />

den Alliierten Kontrollrat. Alle Beschlüsse, Übereinkommen<br />

und Maßnahmen zusammengenommen wurden später als<br />

Viermächtestatus bezeichnet.<br />

Anfangs funktionierte der Mechanismus ganz gut. Wäre<br />

es in der kurzen Zeit von zwei Jahren zum Abschluss eines<br />

Friedensvertrages und zum Abzug der Besatzungstruppen gekommen,<br />

wären die Regelungen ab dem Londoner Protokoll<br />

durchaus auch ausreichend gewesen. Da es aber 1947/48 zum


Kalten Krieg und etwas später zur Bildung zweier deutscher<br />

Staaten kam, machten sich Unschärfen der Vereinbarungen<br />

immer mehr nachteilig bemerkbar. Jede der beiden Seiten im<br />

Ost-West-Konflikt interpretierte mitunter ihre Auslegung in<br />

das Konvolut von Beschlüssen hinein. Im weiteren Verlauf des<br />

Kalten Krieges steigerte sich diese Problematik dramatisch. Bei<br />

der zweiten Berlin-Krise Ende der fünfziger/Anfang der sechziger<br />

Jahre erreichten die Spannungen zwischen Ost und West<br />

einen weiteren Höhepunkt.<br />

� <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>ahnung 1948<br />

Dass Berlin durch eine <strong>Mauer</strong> getrennt werden könnte, haben<br />

weitsichtige Persönlichkeiten schon während der ersten<br />

Berlin-Krise erkannt. Nachdem separate Währungsreform und<br />

Blockade 1948 die Kriegsallianz der Großen Vier zerbrochen<br />

hatten, war die Vollendung der Teilung Berlins, Deutschlands<br />

und Europas nicht mehr aufzuhalten. <strong>Die</strong> Schriftstellerin Ruth<br />

Andreas-Friedrich schrieb im September 1948 in ihr Tagebuch:<br />

„Ab heute haben wir nicht nur zwei Stadtpolizeibehörden,<br />

sondern auch zwei Stadtparlamente. Möglich, dass wir schon<br />

ab morgen zwei Stadtregierungen und eine chinesische <strong>Mauer</strong><br />

mit Wehrgang und Wachttürmen längs der Sektorengrenzen<br />

haben. Vielleicht braucht man dann ein Auslandsvisum, um<br />

von Charlottenburg nach den Linden zu fahren.“<br />

Frau Andreas-Friedrich hat damit geradezu genial spätere<br />

Entwicklungen vorausgeahnt. Allerdings konnte zu dieser Zeit<br />

noch niemand voraussagen, welche der beiden Seiten als erste<br />

zur Tat schreiten werde. Zunächst einmal, sicher unter dem<br />

Eindruck der Bedrohung der <strong>Berliner</strong> Westsektoren während<br />

der Blockade, hatte 1950 der amerikanische Militärgouverneur<br />

Lucius D. Clay eine Grafik veröffentlicht, die deutlich die<br />

Konturen einer Schutzmauer um Westberlin zeigte.<br />

11


(Graphik: Lucius D. Clay: Entscheidung in Deutschland. Frankfurt a. M.<br />

1950, Innendeckel)<br />

12<br />

� DDR-Bürger im Westen zunächst unerwünscht<br />

Ostdeutsche Flüchtlinge waren im Westen 1949/50 keineswegs<br />

willkommen, denn Flüchtlinge kosteten den Staat und die<br />

Kommunen Geld. Bis Mitte 1949 waren in Westdeutschland<br />

etwa 2,5 Millionen Vertriebene in die Wirtschaft eingegliedert<br />

worden. Für Eingliederungshilfen, Renten für Körpergeschädigte<br />

und Arbeitslosenfürsorge waren seit Kriegsende 6 Milliarden<br />

DM ausgegeben worden. Der Anteil der Flüchtlinge<br />

unter den Arbeitslosen war nach wie vor sehr hoch.<br />

Eine besondere Zuspitzung der Flüchtlingsfrage ergab<br />

sich im Juli 1949 im Lager Uelzen (Niedersachsen). Der niedersächsische<br />

Flüchtlingsminister Pastor Heinrich Albertz<br />

(SPD) sah sich gezwungen, das Lager zu schließen und die<br />

Flüchtlingsminister der britischen und amerikanischen Zone


nach Uelzen einzuladen. Gemeinsam legten sie fest, dass nur<br />

ein Teil der Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone<br />

nach einem festen Schlüssel auf westdeutsche Länder aufgeteilt<br />

wird. <strong>Die</strong> anderen sollten in das Herkunftsgebiet zurückgewiesen<br />

werden. In der Folgezeit wurde der Entwurf<br />

einer Rechtsverordnung auf der Grundlage der „Uelzener<br />

Beschlüsse“ im Bundesrat vorgelegt. <strong>Die</strong>sem Entwurf vom 21.<br />

November 1949 zufolge sollten nur die 5 bis 6 Prozent „echten<br />

politischen Flüchtlinge“ in der Bundesrepublik Aufnahme finden,<br />

jedoch maximal bis zu 15 Prozent aller Flüchtlinge, denen<br />

das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen einen zwingenden<br />

Grund für den Übertritt zuerkannte. Der Bundesminister des<br />

Innern, Dr. Gustav Heinemann (CDU), schlug eine stufenweise<br />

Rückführung der Abgewiesenen vor:<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

Zunächst sollten Warnungen vor unbegründetem Grenzübertritt<br />

durch Presse und Rundfunk erfolgen.<br />

Anschließend sei die Rückführung der im Lager Berlin<br />

Abgewiesenen durchzuführen. In den Lagern Uelzen<br />

und Giessen werde gleichzeitig mit der Rückführung<br />

der kriminellen Elemente begonnen. Anschließend erfolge<br />

eine stufenweise Ausdehnung der polizeilichen<br />

Rückführung auf weitere Gruppen, bis der „gesetzmäßige<br />

Zustand“ erreicht ist.<br />

Auf Seiten der konservativen Parteien wurde in dem Flüchtlingsstrom<br />

eine Machenschaft Jossif W. Stalins gesehen, dem<br />

an einem Kollaps Westdeutschlands durch Überbevölkerung<br />

gelegen sei. <strong>Die</strong> Sozialdemokraten als Oppositionspartei besannen<br />

sich allmählich darauf, einer rigiden Abschiebepolitik<br />

entgegenzutreten. Ernst Reuter, Regierender Bürgermeister<br />

von Berlin-West, widersprach im Bundesrat dem vorgelegten<br />

Verordnungsentwurf. Im Osten dürfe nicht der Eindruck erweckt<br />

werden, „als ob wir eine <strong>Mauer</strong> zwischen dem Osten<br />

und dem Westen aufrichten wollten“.<br />

13


<strong>Die</strong> SPD brachte sodann im Bundestag den Entwurf für<br />

ein Notaufnahmegesetz (mit Ausnahme von Kriminellen ohne<br />

Rückführungsklausel) ein, gegen das jedoch der Bundesrat<br />

sein Veto einlegte. Ein Vermittlungsausschuss zwischen<br />

Bundestag und Bundesrat legte daraufhin am 21. Juni 1950<br />

eine Neufassung vor. Während nach der vom Bundestag gewählten<br />

Fassung Personen, die wegen drohender Gefahr für<br />

Leib und Leben, für die persönliche Freiheit oder aus anderen<br />

zwingenden Gründen die DDR verlassen mussten, die<br />

Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden durfte, musste sie jetzt<br />

bei Erfüllung dieser Bedingungen erteilt werden.<br />

14<br />

� <strong>Die</strong> Sogwirkung des Wirtschaftswunders<br />

Mit dem Einsetzen des ökonomischen Aufschwungs („Wirtschaftswunder“)<br />

in der ersten Hälfte der 50er Jahre änderte<br />

sich die Lage grundsätzlich. Flüchtlinge aus der DDR waren<br />

für die Bundesrepublik keine Last mehr. Ihre Bedeutung als<br />

Wirtschaftsfaktor für die Bundesrepublik lag auf der Hand.<br />

Entgegen den sowjetischen Wunschvorstellungen, wonach der<br />

Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg zur Entfaltung der Produktivkräfte<br />

nicht mehr fähig sei, begann in den entwickelten kapitalistischen<br />

Ländern das „golden age“ (Eric Hobsbawn) mit<br />

einer wahren Explosion der Produktivkräfte. Angesichts der<br />

Herausforderung durch den Sozialismus profitierte von dieser<br />

Entwicklung die überwiegende Mehrheit der Bürger. In der<br />

Bundesrepublik verdreifachte sich das Realeinkommen der<br />

Arbeiter in der kurzen Zeit der Ära Adenauer. <strong>Die</strong> Sogwirkung,<br />

die von diesem Aufschwung des Lebensstandards in der<br />

Bundesrepublik auf Bürger der DDR ausging, war enorm. <strong>Die</strong><br />

Zahl der Flüchtlinge nahm zu.


Abwanderung von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik 1949-1961<br />

Jahr Personen<br />

Davon Jugendliche<br />

unter 25 Jahren in %<br />

1 4 12 .245 -<br />

1 50 1 . -<br />

1 51 165.54 -<br />

1 52 1 2.3 3 -<br />

1 53 331.3 0 4 ,<br />

1 54 1 4.1 4 ,1<br />

1 55 252. 0 4 ,1<br />

1 56 2 .1 4 ,0<br />

1 5 261.622 52,2<br />

1 5 204.0 2 4 ,2<br />

1 5 143. 1 4 ,3<br />

1 60 1 .1 4 ,<br />

1 61 20 .026 4 ,2<br />

� <strong>Die</strong> Defensiv-Position der DDR<br />

<strong>Die</strong> DDR, die unter den Folgen der Teilung des Landes ungleich<br />

stärker litt als die Bundesrepublik, verfügte über kaum<br />

nennenswerte Bodenschätze, war vielfach stärker durch Reparationsleistungen<br />

belastet worden und verlor nun auch noch Jahr<br />

für Jahr einen erheblichen Teil ihres „Humankapitals“. Ab der<br />

zweiten Hälfte der 50er Jahre wurde die „Republikflucht“ immer<br />

mehr zu einer wirtschaftlichen Existenzbedrohung. In dieser<br />

Zeit war die DDR immer weniger in der Lage, die Lücken<br />

durch Mobilisierung innerer Reserven zu schließen, z. B. durch<br />

die Einbeziehung von Frauen in die Berufstätigkeit bzw. die<br />

Fortsetzung der Arbeit durch Rentner. Das Arbeitskräftedefizit<br />

15


der DDR wurde auch gemindert durch die West-Ost-Wanderung,<br />

die sich aus Rückwanderern und Erstzugezogenen aus<br />

der Bundesrepublik zusammensetzte. Es handelte sich aber<br />

jährlich nur um einige Zehntausende, während es in umgekehrter<br />

Richtung ein- bis dreihunderttausend Menschen waren.<br />

Zwischen den Ab- und Zuwanderern bestand ein Qualifizierungsunterschied.<br />

In jeder Beziehung blieb es für die<br />

DDR netto bei einem erheblichen Wanderungsverlust. Für die<br />

Bundesrepublik war die Abwanderung eher von Vorteil, da es<br />

sich bei den Abwandernden oft um Menschen mit unsicherem<br />

Arbeitsplatz oder um Arbeitslose handelte, was die Sozialkassen<br />

entlastete. Unter Berücksichtigung all dieser Tatsachen und<br />

Umstände kam der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner<br />

Abelshauser zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik im<br />

Durchschnitt von 12 Jahren jährlich ein Humankapital von<br />

etwa 2,5 Mrd. DM erhielt. Das war ein Betrag, der die Hilfe<br />

aus dem Marshallplan bei Weitem übertraf.<br />

<strong>Die</strong>ser Ost-West-Transfer von Humankapital bereitete der<br />

SED-Führung nicht wenig Kopfzerbrechen. Schon 1952, so<br />

berichtete Julij A. Kwizinskij, 1961 Dolmetscher des sowjetischen<br />

Botschafters in Ostberlin, Michail Perwuchin, in seinen<br />

Erinnerungen, habe die DDR-Führung mit Stalin über<br />

die Grenzschließung gegenüber Westberlin gesprochen. Vorerst<br />

konnte Moskau auf seine Vereinigungsvorschläge verweisen.<br />

Doch mag politischen Vordenkern in Ostberlin und Moskau in<br />

dieser Zeit bewusst geworden sein, dass eine Grenzschließung<br />

durch Berlin bei noch im Bau befindlichem Außenring um<br />

Berlin und ohne eigenen Hochseehafen der DDR, 95 Prozent<br />

des Umschlags der Hochseefracht der DDR erfolgte über den<br />

Hamburger Hafen, gar nicht ernsthaft gedacht werden konnte.<br />

Der Rostocker Überseehafen<br />

1957 entschied die SED, dass der Rostocker Hafen zum Überseehafen<br />

ausgebaut wird. Der erste Bauabschnitt des Übersee-<br />

16


hafens wurde am 30. April 1960 in Betrieb genommen. Der<br />

neue Hafen in Rostock-Petersdorf konnte von Schiffen mit<br />

einem Tiefgang von 28,6 feet angelaufen werden. Als erstes<br />

Schiff löschte an diesem Tag der 10 000-Tonner MS-„Schwerin“<br />

seine Fracht.<br />

Als im Juni 1953 die DDR durch die Arbeiterrevolte in ihre<br />

erste lebensbedrohliche Krise geriet, blieben die Sperren im<br />

Bereich der U-Bahn, die Verhaue am Potsdamer Platz und die<br />

Kontrollen an den Sektorengrenzen noch von marginaler Bedeutung.<br />

Nachdem sich Walter Ulbricht 1956/57 gegen die nationalkommunistische<br />

intellektuelle Opposition (Wolfgang Harich),<br />

die Oppositionellen im SED-Politbüro (Karl Schirdewan)<br />

und in der NVA-Führung (Vincenz Müller) durchgesetzt<br />

hatte, wurde der Startschuss für den Bau des Rostocker<br />

Hochseehafens gegeben und mit Hochdruck am Ausbau des<br />

<strong>Berliner</strong> Außenrings gearbeitet.<br />

Der <strong>Berliner</strong> Außenring<br />

Um Westberlin auf Schienen umfahren zu können, entstanden<br />

1948/50 Umfahrungsstrecken, die jedoch nicht besonders<br />

leistungsfähig waren. Deshalb baute die DDR in den Jahren<br />

1950 bis 1957 den <strong>Berliner</strong> Außenring, um den für das gesamte<br />

Eisenbahnnetz der DDR lebenswichtigen Knoten Berlin<br />

zu entflechten und ihn gegenüber Westberlin immun zu machen.<br />

Der Eisenbahnverkehr im Knoten Berlin war danach<br />

nicht mehr zwingend auf die Betriebsanlagen in Westberlin<br />

angewiesen. Das Vorhandensein des <strong>Berliner</strong> Außenrings war<br />

1961 eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass innerhalb<br />

kürzester Zeit ein von Westberlin unabhängiger Verkehr organisiert<br />

werden konnte. Um die nach 1961 wesentlich erhöhten<br />

Transportleistungen im Güter- und Reiseverkehr übernehmen<br />

zu können, wurde der Ring in kurzer Zeit zweigleisig<br />

1


ausgebaut. Er wurde damit zur „Drehscheibe“ einer flüssigen<br />

Betriebsführung der Bahn.<br />

1<br />

Der <strong>Berliner</strong> Außenring<br />

(Quelle: DDR-Verkehr, 9/1976, S. 62)<br />

Ulbrichts Sieg über die Opposition im Jahre 1956 war verbunden<br />

mit einer Unterdrückung jeglichen Ansatzes zu einem demokratischen<br />

Sozialismus in der DDR. Sein Kurs war ausgerichtet<br />

auf einen autoritären Sozialismus, der sich (bis 1960) am<br />

chinesischen und sowjetischen Modell orientierte, was einem<br />

Rückfall hinter die politische Demokratie der bürgerlichen<br />

Gesellschaft gleichkam. Das Volkseigentum verharrte auf der


Stufe des Staatseigentums, was bedeutete, dass es zu keiner<br />

realen Vergesellschaftung der Produktionsmittel kam und die<br />

Entfremdung weiter wirkte. <strong>Die</strong> 1958 proklamierte sozialistische<br />

Demokratie („Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“) hatte<br />

keine rechte Entfaltungschance. Eine sich verselbständigende<br />

Bürokratie bediente sich der Zentralisierung und des bürokratischen<br />

Zentralismus. Der autoritäre Sozialismus verfügte gegenüber<br />

seinen Bürgern nur über eine geringe Bindekraft. In<br />

den Westen gingen auch viele Bürger der DDR, die sich an sozialistischen<br />

Idealen orientierten. 1956 erklärte der Künstler René<br />

Graetz vor Funktionären des ZK der SED im Zusammenhang<br />

mit dem Phänomen, dass eine große Zahl links eingestellter<br />

Kunststudenten der DDR in den Westen ging: „Zwei Drittel<br />

der Schüler im Westen kommen vom Osten. Das ist eine<br />

Katastrophe. Das ist ein Ergebnis unserer Politik. Unsere Schüler<br />

wissen überhaupt nichts über moderne Kunst. Sie haben hierüber<br />

nur gelernt: Das ist Unterstützung des Imperialismus, das<br />

ist reaktionär usw. – <strong>Die</strong> Zeit von 1900 bis heute ist für diese<br />

ganze Generation ein vollkommen unbekanntes Blatt. Lenin<br />

sagte einmal: Man muss von allen lernen.“<br />

Solche Meinungsäußerungen, die den Anstoß zu Veränderungen<br />

hätten geben können, wurden als „Unklarheiten“ abgetan.<br />

Wie sollte es aber bei dem herrschenden Dogmatismus<br />

des SED-Apparates zu einer „spontanen Identifikation jedes<br />

einzelnen Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen“<br />

kommen?<br />

� „Operation Chinese Wall“<br />

1958 erhielt der amerikanische Geheimdienst Kenntnis von<br />

einem Plan der DDR-Führung, der mit dem Code „Operation<br />

Chinese Wall“ versehen wurde. Der britische Historiker Norman<br />

Gelb berichtete in seinem Buch „The Berlin Wall“, dass<br />

1


der Plan von einem Ostberliner Offiziellen bei seiner Flucht in<br />

den Westen mitgebracht worden sei. Der Plan sehe drei Schritte<br />

für eine Grenzschließung mitten durch Berlin vor:<br />

1. <strong>Die</strong> Errichtung eines Stacheldrahtzauns.<br />

2. <strong>Die</strong> Ersetzung des Stacheldrahts durch eine <strong>Mauer</strong> aus<br />

Zementplatten.<br />

3. <strong>Die</strong> Verschanzung mit Palisaden.<br />

Der Westberliner Bürgermeister Willy Brandt und Politiker in<br />

Washington bestritten die Wahrscheinlichkeit eines solchen<br />

Plans. Tatsächlich aber gab es damals nicht nur diesen Plan. Ein<br />

anderer Plan sah die vollständige Kontrolle der Verbindungswege<br />

Westberlins (einschließlich des Luftverkehrs) vor, um die<br />

unkontrollierten Abwanderungen von DDR-Bürgern unterbinden<br />

zu können. Welcher Plan letztlich zum Zuge kommen<br />

würde, das musste sich im Ost-West-Schlagabtausch der folgenden<br />

Jahre erst noch entscheiden.<br />

20<br />

� Das Berlin-Ultimatum<br />

Am 27. November 1958 richtete die UdSSR eine Note an<br />

Frankreich, Großbritannien und die USA, in der sie vorschlug,<br />

alle Besatzungstruppen aus Berlin abzuziehen, eventuell unter<br />

Aufsicht der Vereinten Nationen, und den französischen, den britischen<br />

und den amerikanischen Sektor Berlins einstweilen zu<br />

einer „entmilitarisierten, freien Stadt“ zu machen. <strong>Die</strong> UdSSR<br />

räumte für die Lösung der Berlin-Frage einen Zeitraum von<br />

sechs Monaten ein, weshalb die Note im Westen als Ultimatum<br />

aufgefasst wurde. Sollte es in dem genannten Zeitraum zu keiner<br />

Verhandlungslösung kommen, würde die UdSSR gemeinsam<br />

mit der DDR die geplanten Maßnahmen verwirklichen:<br />

„In diesem Zusammenhang gilt, dass die DDR wie jeder andere<br />

unabhängige Staat selbst alle Fragen, die ihr Territorium


angehen, behandeln soll, dass sie also die Souveränität über ihr<br />

Land, ihren See- und Luftraum ausübt.“ <strong>Die</strong> UdSSR warf den<br />

Westmächten „Wühlarbeit gegen die DDR“ vor. Sie erklärte<br />

ihre Bereitschaft, sich jederzeit an der Vorbereitung eines<br />

Friedensvertrages mit Deutschland zu beteiligen. Das Fehlen<br />

eines Friedensvertrages rechtfertige keineswegs, in irgendeinem<br />

Teile Deutschlands das Besatzungsregime aufrechtzuerhalten.<br />

Gleichzeitig richtete die UdSSR Noten an die Regierungen der<br />

Bundesrepublik und der DDR, in denen sie ihre Vorstellungen<br />

für eine Lösung der Berlin-Frage darlegte.<br />

Freie Stadt Westberlin<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

unabhängige Stadtregierung<br />

keine Eingliederung in die DDR<br />

Garantie der Unabhängigkeit durch UNO und die vier<br />

Mächte<br />

ungehinderte Kontakte Westberlins mit der Außenwelt<br />

Das sowjetische Berlin-Ultimatum stieß im Westen vielfach<br />

auf Ablehnung. US-Außenminister John Foster Dulles, der<br />

eine „Politik am Rande Krieges“ bevorzugte, gab am 28. Januar<br />

1959 vor dem Auswärtigen Komitee des Repräsentantenhauses<br />

eine Erklärung ab. Auf die Frage, ob sich die Vereinigten<br />

Staaten bezüglich aller Schritte, die in der Berlin-Frage zu<br />

unternehmen wären, im vollständigen Einvernehmen mit ihren<br />

Alliierten befänden, antwortete Dulles: „Hinsichtlich des<br />

Grundsatzes, fest in Berlin zu bleiben und falls erforderlich,<br />

eher einen Krieg zu riskieren als aus Berlin verdrängt zu werden,<br />

besteht vollständiges Einvernehmen.“ Es gab aber auch<br />

Kräfte, die über eine Verhandlungslösung ernsthaft nachdachten.<br />

Am 12. Februar 1959 legte der Stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />

des Außenpolitischen Ausschusses des Senats,<br />

Senator Mike Mansfield, einen Deutschland-Plan vor, der eine<br />

Kompromisslösung vorsah.<br />

21


22<br />

� Der Mansfield-Plan<br />

Mansfield schlug folgende Etappen einer neuen Deutschlandpolitik<br />

vor:<br />

1. West- und Ostberliner Beamte sollten über eine gemeinsame<br />

Verwaltung Berlins und seiner öffentlichen <strong>Die</strong>nste<br />

verhandeln. UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld<br />

könne dabei eine Vermittlerrolle spielen.<br />

2. Falls es zu einer gemeinsamen Verwaltung komme,<br />

müssten die sowjetischen und die alliierten Truppen aus<br />

Berlin zurückgezogen und durch eine aus Streitkräften<br />

neutraler Staaten zusammengesetzte UNO-Polizeitruppe<br />

ersetzt werden.<br />

3. <strong>Die</strong> USA sollten einen Abzug der sowjetischen Truppen<br />

aus Berlin nicht zu verhindern versuchen. <strong>Die</strong> westlichen<br />

Truppen könnten aber in Berlin bleiben.<br />

4. <strong>Die</strong> Streitkräfte, die in Berlin die Freiheit repräsentieren,<br />

sollten jedoch so schnell wie möglich „eingedeutscht“<br />

werden. Es sei an der Zeit, ernsthaft über die Ersetzung<br />

der alliierten Soldaten durch deutsche Milizkräfte nachzudenken,<br />

die von NATO-Garantien gestützt würden.<br />

5. Nächste Etappe sollten Verhandlungen zwischen der<br />

Bundesrepublik und der „Sowjetzonenregierung“ über<br />

die Gesamtaspekte der Wiedervereinigung einschließlich<br />

der Harmonisierung der politischen, wirtschaftlichen<br />

und militärischen Systeme beider Zonen sein.<br />

6. Der ostdeutschen Bevölkerung müsse garantiert werden,<br />

dass sie sich „frei von Furcht und Druck“ politisch betätigen<br />

dürfe.<br />

7. <strong>Die</strong> Sowjetunion und die Westmächte müssten ein von<br />

beiden Teilen Deutschlands ausgehandeltes Abkommen<br />

über die Wiedervereinigung vertraglich anerkennen.<br />

8. <strong>Die</strong> Westmächte und die Sowjetunion hätten zu garantieren,<br />

dass das wiedervereinigte Deutschland weder


einem militärischen Druck seiner Nachbarn ausgesetzt<br />

würde noch gegen diese einen militärischen Druck ausüben<br />

könne.<br />

9. Das Auseinanderrücken der mit Kernwaffen ausgerüsteten<br />

Streitkräfte in Mitteleuropa sei anzustreben.<br />

Mansfield hielt eine friedliche Lösung der deutschen Frage nur<br />

dann für möglich, wenn beide deutsche Regierungen miteinander<br />

verhandelten. Solche Gespräche stellten keine Anerkennung<br />

des DDR-Regimes dar. Das zeigten die Gespräche zwischen<br />

den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China und die<br />

bereits geführten Wirtschaftsverhandlungen und technischen<br />

Kontakte zwischen Vertretern der beiden deutschen Staaten.<br />

<strong>Die</strong> Einzelheiten für den Weg zur Wiedervereinigung sollten<br />

die Deutschen der beiden Staaten am besten selbst erörtern, da<br />

sie wahrscheinlich besser als irgendjemand anderes beurteilen<br />

könnten, was ihnen passe und was zwischen ihnen möglich sei.<br />

Der Beitrag der vier Mächte wäre es, für eine bestimmte Zeit die<br />

Sicherheit des wiedervereinigten Deutschland zu garantieren.<br />

Der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow<br />

nahm am 17. Februar 1959 in Tula zum Mansfield-Plan<br />

Stellung: „Wir sind der Auffassung, dass die Vorschläge Mansfields<br />

Aufmerksamkeit verdienen. Mit Menschen, die einen<br />

solchen nüchternen Standpunkt beziehen, könnte man sich<br />

verständigen. Indessen fallen die Befürworter der Fortsetzung<br />

des Kalten Krieges über Mansfield her und beschuldigen ihn,<br />

der Sowjetunion Zugeständnisse zu machen. Uns macht da<br />

niemand irgendein Zugeständnis. Mansfield urteilt einfach<br />

und vernünftig.“<br />

Der britische Premierminister Harold Macmillan besuchte<br />

vom 21. Februar bis 3. März 1959 die Sowjetunion. Moskau<br />

und London schlugen vor, durch baldige Verhandlungen zwischen<br />

den interessierten Regierungen eine Grundlage für die<br />

Regelung der Differenzen zu schaffen. Macmillan bekundete<br />

seine Bereitschaft, der DDR hinsichtlich Westberlins ein<br />

23


Mitspracherecht einzuräumen, was ihm in der Bundesrepublik<br />

den Vorwurf einbrachte, er betreibe eine Appeasementpolitik.<br />

Bereits Ende Januar 1959 war zwischen der Außenhandelskammer<br />

der DDR und dem Britischen Industrieverband in<br />

London ein Außenhandelsabkommen vereinbart worden, das<br />

eine erhebliche Ausweitung der gegenseitigen Bezüge vorsah.<br />

<strong>Die</strong> Westmächte, die bisher wenig Verhandlungsbereitschaft<br />

gezeigt hatten, kamen nach der sowjetischen Berlin-Note vom<br />

November 1958 nicht mehr an Verhandlungen vorbei, konnten<br />

sie doch auf diese Weise eine Verschiebung der Frist des<br />

Ultimatums erreichen. Vom 11. Mai bis 20. Juni und vom<br />

13. Juli bis 5. August 1959 kam es in Genf zu einem Treffen<br />

der Außenminister der vier Großmächte, an dem auch die<br />

DDR (Außenminister Lothar Bolz) und die Bundesrepublik<br />

(Botschafter Wilhelm Grewe anstelle von Außenminister<br />

Heinrich von Brentano) teilnahmen. <strong>Die</strong> Konferenz blieb hinsichtlich<br />

des Abschlusses eines deutschen Friedensvertrages und<br />

der Regelung der Berlin-Krise erfolglos. Der vom Westen präsentierte<br />

„Herter-Plan“, der letztlich die Beseitigung der DDR<br />

vorsah, wurde von der UdSSR und der DDR zurückgewiesen.<br />

<strong>Die</strong> Teilnahme der DDR und der Bundesrepublik mit einem<br />

für beide Staaten völlig gleichen Status bedeutete die De-facto-Anerkennung<br />

der DDR durch die Westmächte. Nikita<br />

Chruschtschow wurde zu einem Staatsbesuch in die USA eingeladen,<br />

was mit einer weiteren Verschiebung des ursprünglich<br />

im Berlin-Ultimatum gesetzten Termins verbunden war. Der<br />

sowjetische Staatschef nutzte seinen Staatsbesuch vom 15. bis<br />

29. September dazu, vor der XIV. Vollversammlung der UNO<br />

ein umfassendes Programm zur allgemeinen und vollständigen<br />

Abrüstung zu propagieren. Im Nationalen Presse-Club warb<br />

er für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland<br />

und schlug die Beendigung des Kalten Krieges vor. Obwohl<br />

im Gespräch mit Präsident Dwight D. Eisenhower keines der<br />

anstehenden Probleme einer Lösung zugeführt werden konnte,<br />

kam es kurzfristig zu einer Entspannung im Verhältnis der bei-<br />

24


den Supermächte („Geist von Camp David“). Es konnte allerdings<br />

Einvernehmen in einem winzigen Punkt erreicht werden.<br />

Eisenhower erklärte Chruschtschow, dass er die Lage in Berlin<br />

als „anomale Situation“ betrachte. Das für Mitte Mai 1960<br />

ins Auge gefasste Gipfeltreffen der Großmächte ließ Nikita<br />

Chruschtschow überraschend wegen des U-2-Zwischenfalls<br />

am 1. Mai 1960 platzen, wobei die Hoffnung darauf, dass<br />

sich nach den für November 1960 angesetzten Wahlen in<br />

den USA einiges ändern würde, sicher eine Rolle gespielt hat.<br />

Chruschtschow spielte auf Zeit, während sich in der DDR die<br />

Situation dramatisch zuspitzte.<br />

� Zuspitzung der Lage in der DDR<br />

Gerade auch hausgemachte Fehler der von Walter Ulbricht geführten<br />

SED trugen zur Zuspitzung der Lage in der DDR bei:<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

Das irreale Überholmanöver des V. Parteitages der SED<br />

gegenüber der Bundesrepublik, dass 1961 zum Überholen<br />

im Pro-Kopf-Konsum und 1965 zum Überholen in der<br />

Arbeitsproduktivität führen sollte (Siebenjahrplan 1959).<br />

<strong>Die</strong> überstürzte Einführung der zehnjährigen Polytechnischen<br />

Oberschulbildung, die durch den verspäteten<br />

Berufsstart von etwa 80 Prozent zweier Altersjahrgänge<br />

die akute Arbeitskräftesituation weiter zuspitzte.<br />

<strong>Die</strong> Kampagne des „sozialistischen Frühlings“ 1960,<br />

die zu dem hohen Preis des Rückgangs der agrarischen<br />

Bruttoproduktion den Zusammenschluss der<br />

Einzelbauern in Agrargenossenschaften im Vergleich<br />

zum Siebenjahrplan (1965) vorfristig abschloss.<br />

<strong>Die</strong> in zweistelliger Milliardenhöhe getätigte Fehlinvestition<br />

in die Flugzeugindustrie, die ein kleines Land wie die<br />

DDR nicht ohne Weiteres verkraften konnte. Wären die<br />

25


26<br />

Mittel für die Flugzeugindustrie in die Rationalisierung<br />

der Industrieproduktion gesteckt worden, hätte ein bedeutender<br />

Produktivitätszuwachs erreicht werden können.<br />

Im Übergang vom zweiten zum dritten Quartal 1960 geriet<br />

die DDR-Wirtschaft aus dem Rhythmus. Disproportionen<br />

zwischen Durchschnittslöhnen und Arbeitsproduktivität sowie<br />

zwischen der Kaufkraft und dem Warenangebot machten<br />

sich im Alltagsleben der Bürger zunehmend negativ bemerkbar.<br />

Im September 1960 kam es zu neuen Zuspitzungen in<br />

der Berlin-Frage. Vertriebenenverbände der Bundesrepublik<br />

führten vom 1. bis 4. September in Westberlin einen „Tag<br />

der Heimat“ durch. Der Innenminister der DDR verfügte<br />

zur Abwehr des „Revanchistentreffens“ ein Einreiseverbot für<br />

Bundesbürger. <strong>Die</strong> Einreise in die DDR und nach Ostberlin<br />

wurde nur den Bundesbürgern gestattet, die im Besitz einer<br />

Einreisegenehmigung gemäß der Anordnung vom 3.<br />

September 1956 waren. Am 8. November 1960 unterwarf die<br />

DDR die Einreise von Bundesbürgern nach Ostberlin generell<br />

einer Genehmigungspflicht. Am 23. September 1960 wurde<br />

der amerikanische Botschafter in der Bundesrepublik, Walter<br />

C. Dowling, von Volkspolizisten am Brandenburger Tor angehalten<br />

und aufgefordert, nach Westberlin zurückzukehren.<br />

Erst nachdem sich Dowling als Botschafter ausgewiesen hatte,<br />

wurde ihm der Weg nach Ostberlin freigegeben.<br />

� Kündigung des Handelsabkommens<br />

Bei einem Essen mit Geschäftsleuten am 28. September 1960<br />

in New York wurde Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard<br />

gefragt, ob die Bundesrepublik den Interzonenhandel „aus<br />

Gewinnsucht“ aufrechterhalte. Am 30. September beschloss


das Bundeskabinett in Bonn unter massivem Druck Washingtons<br />

die Aufkündigung des Handels mit der DDR. Der<br />

Beschluss lautete: „Das Bundeskabinett hat am 30. September<br />

auf einer Sondersitzung, an der auch die Vorsitzenden der<br />

Bundestagsfraktionen und der Regierende Bürgermeister von<br />

Berlin, Willy Brandt, teilnahmen, beschlossen, das Interzonenhandelsabkommen<br />

aus dem Jahre 1951 nach Paragraphen<br />

16 des Abkommens zum 31. Dezember 1960 zu kündigen.<br />

<strong>Die</strong> Kündigung wird vorsorglich ausgesprochen. <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />

ist bereit, in neue Verhandlungen einzutreten.“<br />

<strong>Die</strong>se Kündigung destabilisierte die wirtschaftliche Situation<br />

der DDR weiter. In einer zwischen der DDR und den<br />

RGW-Ländern abgestimmten Aktion „Störfreimachung“<br />

kam es zu aufwendigen Maßnahmen zur Abwendung eines<br />

Kollapses der DDR-Ökonomie. <strong>Die</strong> Krise eskalierte, was auch<br />

die erneut anwachsende Flüchtlingswelle belegte.<br />

50000<br />

45000<br />

40000<br />

35000<br />

30000<br />

25000<br />

20000<br />

15000<br />

16697<br />

13576<br />

19803 19198<br />

17791<br />

16094<br />

10000<br />

5000<br />

0<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

30415<br />

Juli<br />

47433<br />

August<br />

14821<br />

September<br />

5366<br />

3412<br />

November<br />

Oktober<br />

Entwicklung der Fluchten aus der DDR im Jahre 1961<br />

(Quelle: Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann: 13.8.1961: <strong>Mauer</strong>bau,<br />

Bremen 2001, S. 38)<br />

2420<br />

Dezember<br />

2


Nikita Chruschtschows Hoffnung auf einen Regierungswechsel<br />

in den USA war nicht aus der Luft gegriffen. Der neue Präsident<br />

der USA hieß John F. Kennedy. Obwohl er erklärte, dass sich<br />

an der Berlinpolitik im Vergleich zur Vorgängerregierung<br />

nichts ändern werde, garantierte er als erster US-Präsident nur<br />

noch „die Freiheit der Bevölkerung Westberlins“. Er bestand<br />

aber darauf, dass die Truppen der Westmächte in Westberlin<br />

stationiert bleiben.<br />

Am 28./29. März 1961 fand in Moskau die turnusgemäße<br />

Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer<br />

Vertrages statt. Walter Ulbricht, der den Vorsitz innehatte,<br />

sprach sich für den Abschluss eines separaten Friedensvertrages<br />

mit der DDR aus, der es ermöglichen würde, „auch den<br />

Herd der Kriegspropaganda gegen die sozialistischen Länder<br />

in Westberlin“ zu beseitigen. Ulbricht drängte darauf, den<br />

„Besatzungsstatus für Westberlin“ aufzuheben. Noch sprach<br />

sich Ulbricht gegen schroffe Veränderungen aus, plädierte aber<br />

für verstärkte Grenzkontrollen. Konkrete Maßnahmen, wie<br />

die Massenflucht gestoppt werden sollte, standen noch nicht<br />

zur Diskussion. Das Kommuniqué der Tagung forderte den<br />

Abschluss eines Friedensvertrages und die Entschärfung des<br />

„Gefahrenherdes Westberlin“.<br />

2<br />

� Separatfrieden mit der DDR?<br />

<strong>Die</strong> NATO-Ratstagung vom 8.-10. Mai 1961 in Oslo wies im<br />

Kommuniqué die Androhung eines separaten Friedensvertrages<br />

zurück und bekräftigte die Entschlossenheit, „die Freiheit<br />

Westberlins und seiner Bevölkerung zu wahren“. <strong>Die</strong>se auf den<br />

ersten Blick unauffällige Formulierung wirkte laut Wilhelm G.<br />

Grewe wie eine „Hiobsbotschaft“, da nun die von Kennedy<br />

und Dean Rusk eingeführte terminologische Neuerung,<br />

„Westberlin“ statt „Berlin“ zu sagen, Eingang in ein NATO-


Kommuniqué gefunden hatte. Für den erfahrenen Diplomaten<br />

Grewe war das gleichbedeutend damit, dass zwar die Rechte<br />

der Westmächte geschützt wurden, jedoch die Freizügigkeit der<br />

West-<strong>Berliner</strong> in Gesamtberlin zur Disposition stand. Einem<br />

Bericht von Heinrich Albertz zufolge lief Egon Bahr mit dem<br />

Text des Kommuniqués zum Regierenden Bürgermeister Willy<br />

Brandt und sagte: „Das ist fast wie eine Einladung für die<br />

Sowjets, mit dem Ostsektor zu machen, was sie wollen.“ Egon<br />

Bahr bestätigte diese Darstellung in seinen Memoiren ausdrücklich:<br />

„Aufgeschreckt wurde ich erst durch das Kommuniqué<br />

der NATO-Ratssitzung in Oslo am 10. Mai. Da wurden drei<br />

Eckpunkte garantiert, nämlich Zugang, Anwesenheit der<br />

Westmächte und Lebensfähigkeit der Westsektoren. Von Vier-<br />

Mächte-Status war nicht mehr die Rede. Wirklich erregt stürmte<br />

ich zum Chef und legte die Meldung der Nachrichtenagentur<br />

auf den Tisch: ‚Das ist schrecklich, im Grunde eine Einladung<br />

an die Sowjets, dass sie mit ihrem Sektor machen können, was<br />

sie wollen.’ Unmittelbar vorher (muss eigentlich „nachher“<br />

heißen – d. Vf.) hatten Kennedy und Chruschtschow in Wien<br />

einander Maß genommen und einen Monat später erklärte der<br />

neue Präsident die Entschlossenheit der USA, Westberlin zu<br />

verteidigen. Das beruhigte die West-<strong>Berliner</strong>, die Menschen<br />

östlich des Brandenburger Tores nicht.“<br />

Das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten<br />

John F. Kennedy und dem sowjetischen Ministerpräsidenten<br />

Nikita S. Chruschtschow am 3. und 4. Juni 1961 in Wien<br />

führte nicht zur Beilegung der akuten Spannungen in der<br />

Berlin-Frage. <strong>Die</strong> Wiener Begegnung wurde gelegentlich als<br />

„Weichenstellung zum <strong>Mauer</strong>bau“ überbewertet. Das würde<br />

den Blick für die eigentliche Dramatik des Geschehens im<br />

„heißen Sommer“ 1961 verstellen.<br />

Chruschtschow hatte Kennedy am 4. Juni 1961 nach<br />

Abschluss der Gespräche mit einem Memorandum überrascht,<br />

das die Berlin-Krise nach Wien erneut anheizte. Das<br />

Memorandum, das wieder mit einer Sechsmonatefrist als<br />

2


Ultimatum aufgemacht war, drohte den Abschluss eines separaten<br />

Friedensvertrages mit der DDR an, in dessen Ergebnis<br />

die Besatzungsrechte in Berlin erlöschen sollten: „Insbesondere<br />

werden die Fragen der Benutzung der Verbindungswege auf dem<br />

Lande, zu Wasser und in der Luft, die über das Territorium der<br />

DDR führen, nicht anders zu lösen sein als auf der Grundlage<br />

entsprechender Übereinkommen mit der DDR.“<br />

30<br />

� Kurs auf die Luftsperre<br />

Am gleichen Tage erklärte Walter Ulbricht in einem Interview:<br />

„Schon seit Jahren wird der Verkehr zwischen Westberlin und<br />

anderen Ländern, einschließlich Westdeutschland, zumindest<br />

zu 95 v. H. von den Behörden der DDR kontrolliert. An die<br />

Kontrolle auch der restlichen 5 v. H. wird sich die Welt gewöhnen.<br />

Daran zweifele ich nicht.“<br />

Auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961<br />

hatte Walter Ulbricht auf eine Anfrage von Annemarie Doherr<br />

von der „Frankfurter Rundschau“ zutreffend erklärt, dass er<br />

nicht die Absicht habe, eine <strong>Mauer</strong> zu errichten. Auf die Frage<br />

des „Spiegel“, ob die Kontrolle über die Luftsicherheit auch die<br />

Kontrolle der Passagiere einschließe, erklärte Ulbricht: „Ob die<br />

Menschen zu Lande, zu Wasser oder in der Luft in die DDR<br />

kommen, sie unterliegen unserer Kontrolle... Wir machen es<br />

genauso, wie man es in London macht. Damit ist die Sache in<br />

Ordnung.“<br />

Am 28. Juni 1961 veröffentlichte das Post- und Verkehrsministeriums<br />

eine Anordnung für ausländische Flugzeuge, die<br />

das Datum des 15. Mai trug. <strong>Die</strong>se Anordnung bestimmte,<br />

dass alle Flugzeuge, die in die DDR einfliegen oder aus ihr<br />

ausfliegen, ab 1. August 1961 die Radiosicherungsbehörden<br />

der DDR zu informieren haben und beim Fluge innerhalb<br />

der DDR ihre Radioeinrichtung nur für Angelegenheiten


der Flugsicherung und Flugregelung auf den von den DDR-<br />

Behörden festgelegten Frequenzen benützen dürfen.<br />

Es besteht kein Zweifel, im Juni 1961 ging es Ulbricht<br />

noch nicht um den <strong>Mauer</strong>bau. Luftkontrolle war angesagt; es<br />

ging um die letzten fünf Prozent der noch nicht kontrollierten<br />

Verbindungen Westberlins. Es war bestimmt kein Zufall,<br />

dass in dieser Zeit Jugendbrigaden in einer sich „Zentrales<br />

Jugendobjekt der FDJ“ nennenden Hauruck-Aktion den<br />

Flughafen in Berlin-Schönefeld ausbauten.<br />

Düsenflughafen Berlin-Schönefeld<br />

Am 7. März 1959 nahm die Ostberliner FDJ-Organisation<br />

gemeinsam mit Baumeistern, Technikern und Ingenieuren die<br />

Arbeit am „Jugendobjekt Düsenflughafen Berlin-Schönefeld“<br />

auf. Der Ausbau zu einem der modernsten Großflughäfen<br />

Europas sollte gemäß offizieller Verlautbarungen den Anschluss<br />

der DDR an das internationale Verkehrsnetz für den Strahlluftverkehr<br />

gewährleisten. Der bisherige Kontrollbahnhof Schönefeld<br />

sollte als öffentlicher Umsteigebahnhof eingerichtet und an<br />

das elektrisch betriebene S-Bahn-Netz angeschlossen werden.<br />

Im Juli 1961 wurde die erste Start- und Landebahn in Betrieb<br />

genommen und sogleich mit dem Bau einer zweiten begonnen.<br />

<strong>Die</strong> Landebahn bestand aus einer 3 600 Meter langen und 60<br />

Meter breiten Piste. <strong>Die</strong>se Piste entsprach den internationalen<br />

Anforderungen der Flughafenklasse A I (d. h. Tragfähigkeit für<br />

Maschinen bis 45 Tonnen Einzelachslast). Da die Realisierung<br />

des geplanten komplexen Abfertigungszentrums, das Luft-,<br />

Eisenbahn- und Straßenzubringerverkehr vereinigen sollte,<br />

längere Zeit benötigt hätte, erfolgte eine Konzentration auf die<br />

Fertigstellung einer Passagierabfertigung.<br />

Kennedys heftiger Widerspruch gegen Chruschtschows Überrumpelungsversuch<br />

in Wien hatte Moskau ganz offensichtlich<br />

noch nicht zu einem Umsteuern veranlasst. Der separate<br />

31


Friedensvertrag mit der DDR, einschließlich der vor allem<br />

angestrebten Luftkontrolle bzw. „Luftsperre“, blieb auf der<br />

Tagesordnung der östlichen Deutschland- und Berlinpolitik,<br />

während die Planungen der Militärs sich schon auf verschiedene<br />

Varianten einstellten, darunter auch auf die Abriegelung<br />

zu Lande.<br />

32<br />

� Kennedy zwingt Chruschtschow zum Kurswechsel<br />

Der populäre Präsident Kennedy geriet ein knappes halbes Jahr<br />

nach Beginn seiner Regentschaft in eine schwierige Lage. Das<br />

Treffen in Wien wurde ihm als „Desaster“ angelastet. An seinen<br />

Führungsqualitäten wurde gezweifelt. <strong>Die</strong> „Falken“ kritisierten<br />

die Niederlage der amerikanischen Kuba-Politik (vor allem<br />

die Erfolglosigkeit des vom Vorgänger Eisenhower ererbten<br />

„Schweinebucht“-Abenteuers im April 1961), die mangelnden<br />

Erfolge der USA in Südostasien und die Unsicherheiten<br />

in Südkorea. Im Lande selbst warfen die Rassenunruhen<br />

in Alabama ihre Schatten auf Kennedys Bemühungen,<br />

Sympathien bei den afro-asiatischen Völkern zu erwerben. Zur<br />

negativen Bilanz Kennedys zählte, dass der enormen internationalen<br />

Ausstrahlung des Weltraumfluges Jurij Gagarins durch<br />

Alan B. Shepards kurzen Flug nur teilweise entegegengewirkt<br />

werden konnte. Das Regime Charles de Gaulles im verbündeten<br />

Frankreich wurde durch den Aufstand der französischen<br />

Generale in Algerien in seiner Stabilität erschüttert. Auch<br />

nach dem Zusammenbruch des Offiziersaufstandes waren die<br />

Zweifel nicht verschwunden.<br />

In diese Zeit der Irritationen und Wirrnisse fiel die Kritik<br />

Mike Mansfields, Führer der demokratischen Mehrheit im<br />

Senat, dass sich die USA in Berlin festklammerten. Er schlug<br />

am 14. Juni 1961 in Anknüpfung an seinen Berlin-Plan vor,<br />

ganz Berlin in eine entmilitarisierte „Freie Stadt“ unter dem


Schutz und der Aufsicht der Vereinten Nationen umzuwandeln.<br />

Warschauer Vertrag und NATO sollten gemeinsam den<br />

Interimstatus der „Freien Stadt“ bis zur Herstellung der deutschen<br />

Einheit garantieren.<br />

John F. Kennedy bemühte sich, seine Berlinpolitik auf eine<br />

feste Basis zu stellen und seinen Kritikern im Lande offensiv<br />

zu begegnen. Am 27. Juni 1961 berief er den früheren Stadtkommandanten<br />

General Maxwell Taylor zu seinem Militärbeauftragten.<br />

Er wies ihn an, die amerikanische Planung für den<br />

Fall einer ernsthaften Krise in Berlin zu überprüfen. Auf seiner<br />

Pressekonferenz am 28. Juni 1961 lehnte es der Präsident ab,<br />

sich zu konkreten Maßnahmen in Verbindung mit der Berlin-<br />

Frage zu äußern, solange ihm nicht der Bericht der „task force“<br />

unter dem Vorsitz Dean Achesons sowie weitere Vorschläge vorlägen.<br />

Im Nationalen Sicherheitsrat würden am folgenden Tage<br />

Maßnahmen beraten: „Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen,<br />

dass wir hier über Angelegenheiten von äußerstem Ernst<br />

sprechen“, erklärte Kennedy. Am 30. Juni 1961 war Kennedys<br />

Direktive fertig, die den Außen-, den Verteidigungs- und den<br />

Finanzminister aufforderte, bis zur Beratung des Nationalen<br />

Sicherheitsrates am 13. Juli 1961 Entscheidungsgrundlagen auszuarbeiten.<br />

In die Ernstfallplanung zur <strong>Berliner</strong> Krise (contingency<br />

planning), die bisher in den Händen der drei Westmächte<br />

lag, wurde ab Juli auch die deutsche Bundesregierung einbezogen.<br />

Am 14. Juli 1961 weilte Verteidigungsminister Franz-Josef<br />

Strauß auf Einladung Robert S. McNamaras zur Beratung des<br />

strategischen Konzepts der neuen Administration, vor allem der<br />

militärischen Aktionen zur Sicherung des freien Zugangs nach<br />

Berlin, in Washington. Strauß stimmte dem Konzept der „flexible<br />

response“ zu. <strong>Die</strong> Durchbruchpläne des Hardliners Dean<br />

Acheson fanden keine Berücksichtigung. Der frühere Radford-<br />

Plan, der sich ausschließlich auf Nuklearwaffen gestützt hatte,<br />

war schon vorher bei Strauß auf Vorbehalte gestoßen. Der<br />

Grundgedanke der Strategie bestand darin, die Schwelle für die<br />

Auslösung des „Garantiefalles“ hoch zu legen und für die ande-<br />

33


e Seite so riskant wie nur möglich zu machen. Nach Wilhelm<br />

Grewe, Botschafter der Bundesrepublik in Washington, bildeten<br />

die „militärischen Garantien zur Erhaltung der ‚Freiheit’ und<br />

‚Unabhängigkeit’ Berlins eine Art ‚Maginotlinie’“. Das schließlich<br />

beschlossene Szenario wird bis heute unter Verschluss gehalten.<br />

34<br />

„Live Oak“ (Lebende Eiche)<br />

(Quelle: Friedrich Jeschonnek/<strong>Die</strong>ter Riedel/William Durie: Alliierte in<br />

Berlin. Berlin 2002, S. 215)


Für die Eventualfall- und Verteidigungsplanungen bestand von<br />

1959 bis 1990 die Organisation „Live Oak“ (LO). Sie bestand<br />

aus dem Commander Live Oak (CLO), einem „Alternate<br />

Commander“ (ACLO) und dem Stab Live Oak.<br />

Anfangs setzte sich der Stab aus 40 Angehörigen der amerikanischen,<br />

britischen und französischen Streitkräfte zusammen,<br />

später wuchs er auf 100 Mann an. 1961 wurde dem Stab<br />

ein Verbindungskommando der Bundesrepublik zugeordnet.<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe des LO bestand in Friedenszeiten darin<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

vorausschauende militärische Krisenpläne und Maßnahmen<br />

vorzubereiten,<br />

ergänzende militärische Pläne für den Fall einer „Berlin-<br />

Blockade“ auszuarbeiten und im Falle der Krise den aktuellen<br />

Erfordernissen anzupassen sowie<br />

in Zusammenarbeit mit der Bonner Botschafter Gruppe<br />

(„Bonn-Group“)besondere Lufttransportpläne für die<br />

Versorgung Berlins zu erarbeiten.<br />

Franz-Josef Strauß ließ in seinen „Erinnerungen“ trotz noch<br />

geltender Geheimhaltung wissen, dass im Falle einer Luftsperre<br />

zum Zwecke des Erzwingens der Zugänge zu Berlin der Abwurf<br />

einer Atombombe auf einen russischen Truppenübungsplatz in<br />

der DDR vorgesehen war. Strauß schrieb: „Der amerikanische<br />

Gedanke eines Atombombenabwurfs auf einen sowjetischen<br />

Truppenübungsplatz hätte, wäre verwirklicht worden, den Tod<br />

von Tausenden sowjetischer Soldaten bedeutet. Das wäre der<br />

Dritte Weltkrieg gewesen. <strong>Die</strong> Amerikaner wagten einen solchen<br />

Gedanken, weil sie genau wussten, dass die Sowjets damals<br />

noch nicht über präzise treffende und zuverlässig funktionierende<br />

Interkontinentalraketen verfügten, auch nicht über<br />

einsatzgenaue Mittelstreckenraketen.“<br />

In die Zeit der Ausformung dieses riskanten Konzepts fielen<br />

Gespräche über einen Kompromiss zwischen dem ame-<br />

35


ikanischen Präsidentenberater Arthur Schlesinger und dem<br />

sowjetischen Botschaftsrat Georgij Kornijenko am 5. Juli in<br />

Washington. Der Gedankenaustausch endete mit dem sowjetischen<br />

Appell, die USA möchten doch ihre eigenen Garantien<br />

für Westberlin formulieren. Präsident Kennedy ließ Moskau<br />

nicht lange warten. In Erklärungen am 19. und 25. Juli 1961<br />

verkündete er sein Berlin-Programm, das „den Westen aus<br />

der fatalen Lage (befreite), auf Verwaltungsschikanen und<br />

Verkehrsbehinderungen nur mit der Drohung des thermonuklearen<br />

Krieges antworten zu können.“ (Wilhelm Grewe)<br />

Kennedy charakterisierte die Schwächen der sowjetischen<br />

Berlinpolitik und demonstrierte die Entschlossenheit der USA,<br />

die Verteidigungsanstrengungen erheblich zu steigern, wozu er<br />

beeindruckende Zahlen nannte. Kennedy erklärte sodann, dass<br />

die USA nicht daran dächten, sich von der Verpflichtung gegenüber<br />

der Menschheit, eine friedliche Lösung zu suchen, zurückzutreten.<br />

Er charakterisierte Art und Grenzen der amerikanischen<br />

Verhandlungsbereitschaft. Der Präsident erkannte die<br />

begründete Besorgnis der Sowjetunion bezüglich ihrer Sicherheit<br />

in Mittel- und Osteuropa nach einer Reihe räuberischer<br />

Invasionen ausdrücklich an. Erst in diesem Zusammenhang<br />

machten die „three essentials“ Kennedys überhaupt Sinn, die<br />

Kennedy in gar keinem Fall infrage gestellt sehen wollte:<br />

36<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>Die</strong> Anwesenheit der drei Westmächte in Berlin,<br />

ihr ungestörtes Zugangsrecht,<br />

die Sicherheit und Freiheit der West-<strong>Berliner</strong>.<br />

Das war das Angebot für eine Kompromisslösung. Dabei<br />

ist zu berücksichtigen, dass Kennedy sich hier auf westliche<br />

Minimalforderungen beschränkte und andere „essentials“, die<br />

im Notenaustausch des Jahres 1961 und in Wien noch eine<br />

Rolle gespielt hatten, nicht mehr nannte.<br />

Nicht erwähnt wurden:<br />

<strong>•</strong><br />

die Gewährleistung der bestehenden Bande zwischen<br />

Berlin und der Bundesrepublik,


<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

die Freiheit des Zivilverkehrs für Personen und Güter<br />

von und nach Berlin sowie<br />

die Freiheit des <strong>Berliner</strong> Binnenverkehrs über die<br />

Sektorengrenzen hinweg.<br />

Aufmerksamkeit verdienen auch folgende Sätze Kennedys:<br />

„Heute verläuft die gefährdete Grenze der Freiheit quer durch<br />

das geteilte Berlin. Wir wollen, dass sie eine Friedensgrenze<br />

bleibt.“ <strong>Die</strong>se Passage wurde in Moskau mit besonderer<br />

Aufmerksamkeit gelesen.<br />

William Fulbright, Sprecher des außenpolitischen Senatsausschusses,<br />

wurde am 30. Juli 1961 in einem Fernsehinterview<br />

noch deutlicher: „Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen<br />

nicht ihre Grenzen schließen, denn ich glaube, dass sie ein<br />

Recht haben, sie zu schließen.“<br />

� Weichenstellung <strong>Mauer</strong>bau<br />

Kennedys Härte und die zugleich bekundete Kompromissbereitschaft<br />

brachten Ende Juli 1961 die scheinbar versteinerten<br />

Politikkonzepte Moskaus in Bewegung. Der zeitliche<br />

Handlungsrahmen hatte sich für den Osten angesichts der steigenden<br />

Flüchtlingszahlen und der zunehmenden wirtschaftlichen<br />

Instabilität der DDR ohnehin eingeengt, sodass für neue<br />

Gipfelberatungen keine Zeit mehr blieb. Julij A. Kwizinskij<br />

beschrieb in seinen Erinnerungen diesen Vorgang detailliert.<br />

Demnach hatte Ulbricht dem sowjetischen Botschafter den<br />

ganzen Ernst der Lage Ende Juni/Anfang Juli 1961 geschildert<br />

und auf ein schnelles Handeln gedrängt. <strong>Die</strong> nicht genau datierte<br />

Antwort aus Moskau lautete nach Kwizinskij: „<strong>Die</strong>ser<br />

(Chruschtschow - d. Vf.) gab seine Einwilligung, die Grenze zu<br />

Westberlin zu schließen und mit der praktischen Vorbereitung<br />

dieser Maßnahme unter größter Geheimhaltung zu beginnen.<br />

3


<strong>Die</strong> Aktion sollte rasch und für den Westen unerwartet durchgeführt<br />

werden.“ Ulbricht habe Chruschtschow seinen Dank<br />

übermittelt und zugleich erklärt, dass die Grenze zu Westberlin<br />

in ihrer ganzen Länge nur mit Stacheldraht rasch abgeriegelt<br />

werden könne.<br />

Das war praktisch die Weichenstellung in Richtung <strong>Mauer</strong>bau.<br />

<strong>Die</strong> Datierung dieser Entscheidung war zunächst nur<br />

ungenau auf den Zeitraum von Ende Juli bis Anfang August<br />

vorzunehmen. Eine Eingrenzung für diese Weichenstellung<br />

ließ sich durch einen Politbürobeschluss und seine Korrektur<br />

objektivieren. Am 18. Juli 1961 hatte das Politbüro einen<br />

Maßnahmenplan für die Vorbereitung des 90. Geburtstages von<br />

Karl Liebknecht am 13. August 1961 beschlossen. Das Papier<br />

sah am 14. August eine Kundgebung auf dem Potsdamer Platz<br />

vor. In der Außerordentlichen Beratung des Politbüros vom 7.<br />

August 1961 wurde dieser Beschluss aufgehoben. Daraus lässt<br />

sich ableiten, dass am 18. Juli noch keine Entscheidungen für<br />

die Grenzschließung am 13. August vorhanden gewesen sein<br />

können. <strong>Die</strong>se existierten aber ganz gewiss am 7. August.<br />

Rolf Steininger datiert die Entscheidung für den <strong>Mauer</strong>bau<br />

auf den 31. Juli. Nach Ulbrichts Eintreffen in Moskau habe<br />

Chruschtschow an diesem Tag sein Einverständnis zur Sperrung<br />

der Grenze unter bestimmten Bedingungen mitgeteilt. Ein<br />

Friedensvertrag werde jedoch „jetzt“ nicht unterzeichnet werden.<br />

Beziehen wir die erwähnte Mitteilung von Kwizinskij in die<br />

Betrachtung ein, der sich erinnert hatte, dass schon Perwuchin<br />

Ulbricht in Berlin über Chruschtschows Entscheidung zur<br />

Abriegelung informiert hatte, können wir annehmen, dass die eigentliche<br />

Entscheidung wenige Tage vor dem 31. Juli in Moskau<br />

gefallen war. Aus dem Verlauf der Gespräche Chruschtschows<br />

mit dem Direktor der USA-Abrüstungskommission, John J.<br />

McCloy, lässt sich die Vermutung ableiten, dass die Entscheidung<br />

am 27. Juli 1961 fiel. Darüber, dass Chruschtschow diese<br />

Entscheidung fällte, besteht kein Zweifel mehr. Er, der die<br />

<strong>Mauer</strong> für eine hässliche Sache hielt und der die Gefühle des<br />

3


deutschen Volkes verstand, hatte dazu gegenüber Botschafter<br />

Hans Kroll geäußert: „Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen,<br />

dass ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu<br />

gegeben hat. Ulbricht hat mich zwar seit längerer Zeit und in<br />

den letzten Monaten immer heftiger gedrängt, aber ich möchte<br />

mich nicht hinter seinem Rücken verstecken. Er ist viel zu schmal.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> wird, wie ich schon gesagt habe, eines Tages<br />

wieder verschwinden, aber erst dann, wenn die Gründe für ihre<br />

Errichtung fortgefallen sind.“<br />

Vom 3. bis 5. August 1961 fand in Moskau eine Beratung der<br />

Ersten Sekretäre der Kommunistischen und Arbeiterparteien<br />

statt, die sich mit der Vorbereitung eines Friedensvertrages und<br />

der Regelung der Westberlinfrage befasste. Jan Sejna, einer<br />

der Konferenzteilnehmer, der Parteisekretär im Verteidigungsministerium<br />

der ČSSR, hat nach seiner Flucht im Westen über<br />

Details dieser Beratung berichtet. Seiner Schilderung zufolge<br />

soll Ulbricht noch einmal die Kontrolle der Luftkorridore, die<br />

Luftsperre, gefordert haben. <strong>Die</strong>se Forderung wurde aber zurückgewiesen.<br />

Chruschtschow habe auf einer weniger radikalen<br />

Lösung zur Unterbindung des Flüchtlingsstromes bestanden.<br />

Sejna berichtete: „Ulbricht sagte schließlich: ‚Danke, Genosse<br />

Chruschtschow, ohne Ihre Hilfe können wir dieses schreckliche<br />

Problem nicht lösen.’“ Chruschtschow habe daraufhin<br />

noch einmal eindringlich Ulbricht in die Schranken gewiesen:<br />

„Ja, ich bin einverstanden – aber keinen Millimeter weiter!“<br />

Am 7. August traf der gefeierte Held des Zweiten Weltkriegs,<br />

der „Eroberer von Prag und Dresden“, von 1956 bis 1960 Oberkommandierender<br />

der Vereinten Streitkräfte der Staaten des<br />

Warschauer Vertrages, Iwan S. Konew, in Ostberlin ein. Im<br />

Auftrage von Chruschtschow übernahm er den Oberbefehl<br />

über die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen. Am<br />

selben Tage stellte Chruschtschow in einer Rundfunkrede<br />

zur Deutschland- und Berlin-Frage die Verstärkung der<br />

Sowjetarmee an den Westgrenzen und die Einberufung von<br />

Reservisten in Aussicht. Ihm ging es aber nicht mehr um das<br />

3


Durchpeitschen eines separaten Friedensvertrages oder das<br />

Erzwingen einer „Freien Stadt“, obwohl er auch darüber scheinbar<br />

in der alten und gewohnten Weise sprach. Das eigentliche<br />

Signal, das er in dieser Rede dem Westen gab, lautete, dass ein<br />

separater Friedensvertrag mit der DDR, das war neu, keine legitimen<br />

Rechte der Westmächte antasten werde: „Es ist von keinem<br />

Verbot des Zugangs nach Westberlin, von keiner Blockade<br />

Westberlins die Rede.“<br />

<strong>Die</strong>se Botschaft wurde im Westen verstanden. Am 10. August<br />

erfolgte in Zossen bei Berlin die Information der westlichen<br />

Militärgouverneure durch Marschall Konew. Ein westlicher<br />

Teilnehmer fragte nach den erhöhten militärischen Aktivitäten<br />

in der DDR. Konew antwortete: „Meine Herren, Sie können<br />

beruhigt sein, was immer in nächster Zukunft geschehen mag,<br />

Ihre Rechte werden unberührt bleiben. Nichts wird sich gegen<br />

Westberlin richten.“ <strong>Die</strong> Details der vorgesehenen Maßnahmen<br />

blieben indes bis zum 13. August streng geheim.<br />

In zahlreichen Betrieben der DDR bildeten sich „Komitees<br />

gegen Menschenhandel“, berichtet das „Neue Deutschland“,<br />

Zentralorgan der SED. <strong>Die</strong> 53 000 Grenzgänger wurden aufgefordert,<br />

sich registrieren zu lassen und sich Arbeitsplätze in<br />

der DDR zu suchen.<br />

<strong>Die</strong> Grenzgänger<br />

Der Begriff der Grenzgänger entstand unmittelbar nach der<br />

Währungsreform im Jahre 1948. <strong>Die</strong> in Westberlin arbeitenden<br />

Grenzgänger erhielten nur einen Teil ihres Lohnes in DM-<br />

West, der restliche Lohn wurde in DM-Ost ausgezahlt. Der<br />

Westberliner Arbeitgeber musste den dem Ost-Geldanteil entsprechenden<br />

Betrag in DM-West an die Lohnausgleichskasse<br />

abführen. Aus dieser Kasse wurde der Umtausch eines Teils des<br />

in Ostberlin empfangenen Lohnes der in Ostberlin arbeitenden<br />

Grenzgänger in Westgeld finanziert. Mit dem Rückgang der<br />

Arbeitslosigkeit im Westen ging die Zahl der anfangs 100 000<br />

40


im Osten arbeitenden Westberliner auf 13 000 Anfang August<br />

1961 zurück, während die Zahl der in Westberlin arbeitenden<br />

Ostberliner und DDR-Bewohner trotz offener Arbeitsstellen<br />

im Osten ständig anstieg. Im Sommer 1961 entfesselten die<br />

Instanzen der DDR ein Kesseltreiben gegen die Grenzgänger.<br />

Sie wurden vom Kauf hochwertiger Industriegüter ausgeschlossen<br />

und mussten ab 1. August 1961 die Miete und alle<br />

öffentlichen Ausgaben in DM-West bezahlen.<br />

� <strong>Die</strong> „Operation Grenzsicherung“<br />

Am 9. August beschloss das Politbüro der SED in einer geheimen<br />

Sitzung auf dem Landsitz Walter Ulbrichts am Döllnsee<br />

(Schorfheide) detaillierte Maßnahmen zur „Operation Grenzsicherung“.<br />

In der Nacht zum 10. August riegelten Einheiten<br />

der Staatssicherheit den Gebäudekomplex des MfS in der<br />

<strong>Berliner</strong> Normannenstrasse hermetisch ab. Der eigentliche<br />

Einsatzstab für die Operation bezog im Polizeipräsidium in der<br />

Nähe des Alexanderplatzes Quartier.<br />

Einsatzstab „Operation Grenzsicherung“<br />

Leitung:<br />

Erich Honecker, Mitglied des SED-Politbüros<br />

Mitglieder:<br />

<strong>•</strong> die Mitglieder des SED-Politbüros Willi Stoph (Vorsitzender<br />

des Ministerrates) und Paul Verner,<br />

<strong>•</strong><br />

die Mitglieder des ZK der SED Heinz Hoffmann (Verteidigungsminister),<br />

Erich Mielke (Staatssicherheitsminister),<br />

Karl Maron (Innenminister) und Erwin Kramer (Minister für<br />

Verkehrswesen), sowie Willi Seifert (Stellv. Innenminister),<br />

Fritz Eikemeier (Präsident der Volkspolizei Berlin) und<br />

Horst Ende (Leiter des Stabes des Innenministeriums)<br />

41


Vom Einsatzstab wurden Funk- und Telefonverbindungen<br />

zu allen Büros der Staatssicherheit und zu den Kasernen der<br />

Nationalen Volksarmee in allen Teilen der DDR geschaltet.<br />

Eine abhörsichere Direktleitung verband den Einsatzstab mit<br />

dem Hauptquartier des Chefs der Sowjettruppen, Marschall<br />

Konew. An alle Kommandeure der NVA, der Grenztruppen<br />

und der Betriebskampfgruppen erging Befehl, sich einsatzbereit<br />

zu halten.<br />

Zur gleichen Zeit badeten viele Westberliner bei herrlichem<br />

Sommerwetter im Wannsee. Politiker und Militärs im Westen<br />

bereiteten sich auf ein ruhiges Wochenende vor, denn die<br />

Geheimdienste hatten gemeldet: „Für das kommende Wochenende<br />

sind in Berlin keine besonderen Vorkommnisse zu erwarten.“<br />

Ernst Lemmer, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen<br />

hielt eine der üblichen Reden an die „Brüder und Schwestern“,<br />

in denen er versicherte, dass „der freie Zugang von Ost- nach<br />

Westberlin erhalten bleibt“.<br />

Am 11. August 1961 tagte die Volkskammer der DDR, die in<br />

der damals üblichen Weise feststellte, dass der Frieden in Gefahr<br />

sei. Sie beauftragte den Ministerrat der DDR, Maßnahmen<br />

zur Sicherung des Friedens vorzubreiten und durchzuführen.<br />

Am folgenden Tag beschloss der Ministerrat der DDR, die<br />

offene Grenze zwischen dem „sozialistischen und kapitalistischen<br />

Europa“ unter zuverlässige Kontrolle zu nehmen. Am<br />

12. August gegen 16 Uhr unterzeichnete Walter Ulbricht, der<br />

Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, die<br />

vom Einsatzstab vorbereiteten Befehle. Zu dieser Zeit standen<br />

die Motorisierten Schützenverbände der Nationalen Volksarmee<br />

bereits in den Bereitstellungsräumen.<br />

An diesem Tag hatte Ulbricht in seinem Landsitz am<br />

Döllnsee das Politbüro und die führenden Politiker der<br />

Blockparteien zu Gast. Das langjährige Mitglied des SED-<br />

Politbüros, Alfred Neumann, berichtete darüber: „Wir waren<br />

am Vorabend der Abriegelung zum Döllnsee eingeladen. Das<br />

42


war am Sonnabend. <strong>Die</strong> Vertreter der Blockparteien waren auch<br />

da. Nachmittags gab es Kaffee bei Ulbrichts und Abendbrot gab<br />

es da auch. Das Interessante war, dass keiner wusste, warum<br />

wir zusammenkamen. Der Volkskammerpräsident Johannes<br />

<strong>Die</strong>ckmann, wir hatten gerade Kaffee getrunken, kam zu<br />

mir: ‚Sagen Sie einmal Neumann, warum sind wir heute am<br />

Döllnsee?’ Es war nichts bekannt. Götting 1 , Gerlach 2 , alle waren<br />

sie da. Ich antwortete: ‚Ich habe keine Ahnung.’ Es war<br />

ja nicht meine Sache, die Leute zu informieren. Dann ging<br />

es weiter mit Plätscher, Plätscher, Witze erzählen und Musik<br />

hören. Zu einer bestimmten Zeit sagte Ulbricht: ‚Aufgrund<br />

der Volkskammerbeschlüsse werden heute nacht zuverlässige<br />

Sicherungen an der Grenze vorgenommen.’ Es war vor 12<br />

Uhr. <strong>Die</strong> genaue Zeit, weiß ich nicht mehr. Honecker war<br />

nicht dabei. Er war beim Stab.“<br />

In seiner Autobiographie schilderte Honecker den Ablauf<br />

der Aktion mit sichtlichem Wohlgefallen: „Am späten Abend,<br />

eine Stunde vor Beginn der Operation, trat der von mir geleitete<br />

Stab im <strong>Berliner</strong> Polizeipräsidium zusammen ... Um 0.00<br />

Uhr wurde Alarm gegeben und die Aktion ausgelöst. Damit begann<br />

eine Operation, die an dem nun anbrechenden Tag, einem<br />

Sonntag, die Welt aufhorchen ließ.“ Honecker sprach später<br />

gern darüber, dass die von ihm geleitete Operation „glänzend<br />

organisiert“ gewesen sei. Jedoch wissen wir seit Langem, dass das<br />

nur im Großen und Ganzen stimmte. Der Historiker Hartmut<br />

Mehls fand in einem <strong>Berliner</strong> Archiv heraus, dass der um 1.40<br />

Uhr ausgelöste Kampfgruppenalarm gar nicht so „glänzende“<br />

Resultate hatte. Der Bericht der Bezirkseinsatzleitung Berlin<br />

vom 18. September stellte fest: „Bis 12.00 Uhr (etwa 10 Stunden<br />

nach Alarmauslösung) befanden sich durchschnittlich 40 bis<br />

45 Prozent der Kämpfer bewaffnet im Konzentrierungsraum.<br />

Infolge verzögert gegebener Stärkemeldungen der Einheiten in<br />

den ersten 12 Stunden des Einsatzes und einiger Mängel im<br />

1 Gerald Götting, Parteivorsitzender der CDU.<br />

2 Manfred Gerlach, Parteivorsitzender der LDPD.<br />

43


Meldesystem war ein realer Überblick über die vorhandenen<br />

Kräfte nicht überall vorhanden.“ Der Parteiapparat der SED<br />

hatte die Zügel straffer in der Hand. In den Bezirksleitungen<br />

Berlin, Frankfurt (Oder) und Potsdam waren bereits am 12.<br />

August um 20 Uhr die Sonderdienste auf 20 Mitarbeiter unter<br />

der Leitung eines Sekretärs verstärkt worden. Um 2.30 Uhr<br />

erfolgte die Einweisung der leitenden Funktionäre der CDU,<br />

DBD, LDPD und der NDPD sowie der Massenorganisationen.<br />

<strong>Die</strong> Mitarbeiter der Apparate der SED, des FDGB und der FDJ<br />

wurden um 2.45 Uhr alarmiert. <strong>Die</strong>se formierten sofort den<br />

Propagandaapparat; Agitations- und Informationsgruppen entstanden.<br />

<strong>Die</strong> SED-Kreisleitungen hatten alle zwei Stunden zu<br />

berichten.<br />

Bewaffnete Kräfte errichteten noch in der Nacht an der<br />

Grenze zu Westberlin überwiegend aus Stacheldrahtverhauen<br />

bestehende Grenzsperren, die in den folgenden Tagen rasch<br />

verstärkt wurden. Damit wurde der bis dahin weitgehend freie<br />

Verkehr zwischen beiden Teilen der Stadt unterbrochen. Auch<br />

der bis dahin durchgehende S- und U-Bahn-Verkehr kam zum<br />

Erliegen. Er war nur noch innerhalb der jeweiligen Stadthälfte<br />

möglich. An einigen Stellen wurden Übergangsstellen eingerichtet,<br />

an denen Bürger, Fahrzeuge und Güter nach Kontrolle<br />

durch die Grenzpolizei und den Zoll passieren konnten.<br />

Parallel zur Operation in Berlin verstärkten bewaffnete Kräfte<br />

die Grenzanlagen zwischen den beiden deutschen Staaten.<br />

<strong>Die</strong> Operation in Berlin konzentrierte aus „heiterem<br />

Himmel“ eine militärische Übermacht um Westberlin:<br />

44<br />

1. Staffel:<br />

Bereitschaften der Volkspolizei und Kampfgruppen<br />

2. Staffel:<br />

NVA und Staatssicherheit<br />

3. Staffel:<br />

Sowjetische Streitkräfte, die nur bei Eingreifen westalliierter<br />

Truppen aktiv werden sollten.


Berlin nach dem 13. August 1961<br />

(Quelle: Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann: 13.8.1961: <strong>Mauer</strong>bau.<br />

Bremen 2001, S. 113)<br />

� <strong>Die</strong> Reaktion des Westens<br />

In Westberlin war in dieser Nacht Polizeioberkommissar Hermann<br />

Beck „Polizeikommissar vom <strong>Die</strong>nst“ im Polizeipräsidium<br />

am Tempelhofer Damm. Er hatte sich um halb zwei in<br />

der Nacht ausgezogen, weil um diese Zeit in der Stadt gewöhnlich<br />

Ruhe einzog. Gerade war er eingeschlafen, als das Telefon<br />

ihn wach klingelte. Aus Spandau kam die Meldung, dass der S-<br />

Bahnzug aus Staaken in Richtung Spandau „auf sowjetzonales<br />

Gebiet“ zurückgeführt wurde. <strong>Die</strong> Fahrgäste mussten den Zug<br />

verlassen. Ihr Fahrgeld erhielten sie zurück. Das Telefon klingelte<br />

unentwegt. Beck, der kaum zum Anziehen kam, machte<br />

sich seine Gedanken, während er im Wachbuch Position<br />

45


für Position die Einstellung des S-Bahnverkehrs in Richtung<br />

Westberlin notierte. Er erinnerte sich an Mobilisierungspläne<br />

für den Fall einer Besetzung Westberlins durch östliche<br />

Organe. Bald kamen neue Meldungen über Panzerspäh- und<br />

Militärlastwagen in großer Zahl, die jedoch auf Ostberliner<br />

Gebiet verharrten. Beck überlegte, was er tun sollte. Der<br />

Alarmplan zur Verteidigung Westberlins war in einem dicken<br />

Kuvert im Panzerschrank. <strong>Die</strong>ser ging von einem Angriff auf<br />

Westberlin aus. <strong>Die</strong> Truppen in Ostberlin drangen jedoch<br />

nicht auf Westberliner Territorium vor. Beck löste deshalb nur<br />

den internen Alarm für die 13 000 Mann starke Westberliner<br />

Polizei aus. Der Auftrag an die Polizei lautete, die „Zonen“-<br />

und „Sektorengrenze“ verstärkt zu sichern. Schwerpunkte waren<br />

das Brandenburger Tor und der Potsdamer Platz.<br />

Im Sender RIAS 3 lief die beliebte Nachtsendung „Mit Musik<br />

und guter Laune“. Gegen 3.25 Uhr erhielt der Nachtredakteur<br />

eine Eilmeldung der Nachrichtenagentur „United Press<br />

International“ (UPI). Er unterbrach den Schlager „Bimm,<br />

Bamm, Bummerang“ und verlas die Nachricht: „Starke<br />

Verbände der kommunistischen Volkspolizei haben in der Nacht<br />

zum Sonntag die Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin<br />

abgeriegelt.“ Um 3.53 Uhr folgte die Meldung der „Deutschen<br />

Presseagentur“ (dpa): „Vopo spannt Stacheldraht.“<br />

In Washington landeten die Meldungen aus Berlin zuerst<br />

auf dem Tisch der zuständigen „Berlin Task Force“, die<br />

im Außenministerium einquartiert war. Der Stellvertretende<br />

Außenminister und Chef des Berlin-Stabes, Foy Kohler, hatte<br />

<strong>Die</strong>nst. Er sah keinen Anlass zu großer Aktivität. Rückblickend<br />

erklärte er: „Wir waren einerseits zwar sehr überrascht von den<br />

Ereignissen, denn unsere Nachrichtendienste wie der CIA<br />

hatten nichts Derartiges erwartet, aber andererseits spielte<br />

sich ja alles im sowjetischen Sektor ab. <strong>Die</strong> Grenze zu den<br />

Westsektoren wurde um keinen Zentimeter überschritten,<br />

3 Abkürzung für „Radio in the American Sector“<br />

46


und unsere Interessen waren damit nicht berührt. Unsere drei<br />

Essentials für Berlin – das Anwesenheitsrecht alliierter Truppen,<br />

die Zufahrt von und nach Westberlin und die Lebensfähigkeit<br />

der Stadt – waren keineswegs betroffen.“<br />

In der Senatskanzlei bemühte sich ihr Chef <strong>Die</strong>trich<br />

Spangenberg, den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt<br />

zu erreichen, der gerade auf Wahlkampftour mit dem<br />

Nachtzug von Nürnberg nach Kiel reiste. In Hannover verließ<br />

Brandt den Zug, um mit dem Flugzeug nach Berlin zu<br />

fliegen. Er begab sich zum Potsdamer Platz und sah zu, wie<br />

Männer in den blauen Arbeitsuniformen der Kampfgruppen<br />

mit Pressluftbohrern das Pflaster aufrissen, Stacheldraht ausrollten<br />

und Betonpfähle einrammten. „Hört mal! Was soll<br />

das?“, rief Brandt etwas hilflos hinüber. Er bekam keine<br />

Antwort. Zurück in der Senatskanzlei begab sich Brandt in<br />

sein Arbeitszimmer. Verschiedene Gedanken schossen ihm<br />

durch den Kopf: „Musste man den brutalen Akt der Verletzung<br />

des geltenden Rechts hinnehmen? Musste man dulden, was<br />

unseren Landsleuten, was den Bürgern Ostberlins und der<br />

‚Zone’ angetan wurde? Würden die Alliierten die Hände in<br />

den Schoß legen und geschehen lassen, was hier begonnen<br />

wurde.“ Dann begab sich Brandt in das Haus der ehemaligen<br />

Viermächte-Kommandantur in Berlin-Dahlem, wo gerade<br />

die Generäle der westlichen Alliierten berieten. <strong>Die</strong>se ließen<br />

Brandt dreißig Minuten warten. In hoher Erregung drängte<br />

Brandt die Generäle dazu, Flagge zu zeigen und Patrouillen an<br />

die Sektorengrenze zu schicken. Brandts Aufforderung wurde<br />

zurückgewiesen. <strong>Die</strong> Generäle hatten strikte Weisungen ihrer<br />

Regierungen für den Krisenfall, nichts zu unternehmen, solange<br />

nicht die Westsektoren angegriffen werden. Sie forderten<br />

Brandt auf, Westberliner Polizei an die Grenze zu schicken, um<br />

Zusammenstöße zwischen Westberliner Demonstranten und<br />

den DDR-Kampfgruppen zu verhindern. Brandt verließ das<br />

Haus mit den Worten: „Wenn das alles ist, was die westlichen<br />

Kommandanten unternehmen wollen, dann lacht der ganze<br />

4


Osten von Pankow bis nach Wladiwostock.“ Erst 36 Stunden<br />

später lieferten die drei westlichen Stadtkommandanten bei<br />

ihrem sowjetischen Kollegen einen offiziellen Protest ab, der<br />

allerdings nicht gerade scharf war.<br />

Der Minister für Gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer<br />

rief in der Nacht von Berlin aus den Kanzlerstaatssekretär<br />

Hans Globke, einen wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittenen<br />

Mann, in Bonn an. Beide diskutieren darüber, ob es<br />

angemessen sei, den 85 Jahre alten Kanzler Konrad Adenauer<br />

aus dem Schlaf zu wecken. Globke entschied sich um 4.30<br />

Uhr für einen Anruf in Bad Honnef. <strong>Die</strong> Witwe Schlief,<br />

Haushälterin des Kanzlers, meldete sich. Es bedurfte einiger<br />

Überredungskunst Globkes, bevor sie bereit war, den „Alten<br />

aus Rhöndorf“ zu wecken. Adenauer bestellte zum Morgen des<br />

13. August Globke und Heinrich Krone, den Vorsitzenden der<br />

CDU-Bundestagsfraktion, zu sich. Sie beschlossen, dass die<br />

Regierung angesichts der Vorgänge in Berlin „Ruhe bewahren“<br />

sollte. Einem Rundfunkreporter des RIAS sagte der Kanzler<br />

ins Mikrofon, dass die Alliierten Gegenmaßnahmen treffen<br />

werden, auf die alle Deutschen vertrauen sollen.<br />

Wie aber reagierten die Regierungschefs der Alliierten?<br />

Charles de Gaulle, Frankreichs Staatspräsident, verbrachte sein<br />

Wochenende auf dem Lande. Der britische Premier Harold<br />

Macmillan weilte zur Moorhuhnjagd in Schottland. Keines der<br />

beiden Staatsoberhäupter dachte daran, wegen der „Operation<br />

Grenzsicherung“ auf Ostberliner und DDR-Gebiet den<br />

Wochenendurlaub abzubrechen. Nachdem US-Außenminister<br />

Dean Rusk John F. Kennedy über die Absperrung unterrichtet<br />

hatte, notierte Kenneth O‘Donnel, Chef des Terminkalenders<br />

des amerikanischen Präsidenten, dessen Worte: „Wenn die<br />

Russen die Absicht gehabt hätten, uns anzugreifen und uns<br />

die Verbindungswege zu sperren, würden sie keine Stacheldrahtbarrikaden<br />

errichten.“ Weiter soll er gelassen geäußert<br />

haben: „Das ist die Lösung“. Danach begab sich Kennedy an<br />

Bord seiner Ferienjacht „Marlin“.<br />

4


Im Unterschied zu den ersten, sehr emotional gehaltenen<br />

Stellungnahmen in der Medienöffentlichkeit des Westens reagierten<br />

John F. Kennedy und andere westliche Regierungschefs<br />

betont zurückhaltend. <strong>Die</strong> Äußerungen Kennedys zeigen,<br />

dass die Politiker im Verantwortungsbereich der NATO die<br />

Gefahren eines militärischen Konflikts mit atomaren Waffen<br />

erkannt hatten. Sie wollten ebenso wie die UdSSR wegen<br />

Berlin nicht in einen Krieg verwickelt werden.<br />

<strong>Die</strong> Reaktion des Westens wurde mitgeprägt vom Überraschungsaspekt<br />

des 13. August. Auf alles war man vorbereitet,<br />

nur nicht auf das, was tatsächlich eintrat. In seinen Planungen<br />

war der Westen davon ausgegangen, dass zur Unterbindung<br />

des eskalierenden Flüchtlingsstroms mit einer Neuauflage der<br />

Blockade oder mit einer Abriegelung Ostberlins von der DDR<br />

zu rechnen sei. Nun war aber der Sperriegel mitten durch die<br />

Stadt entlang der Linie gelegt worden, die schon seit 1948 den<br />

Geltungsbereich der zwei deutschen Währungen markierte.<br />

4


50<br />

DDR-Karikatur<br />

Quelle: Kurt Thieme, Da schlug‘s 13. (Berlin), o. J.


Zwischen <strong>Mauer</strong>bau und <strong>Mauer</strong>fall<br />

� Vom Stacheldrahtverhau zur <strong>Mauer</strong><br />

Nach dem 13. August 1961 war in den Auseinandersetzungen<br />

auf deutschem Boden eine neue Situation entstanden, die die<br />

deutschen Staaten dazu zwang, eine Neuorientierung ihrer<br />

Politik vorzunehmen. Walter Ulbricht konnte gelassen reagieren,<br />

war doch das Ausbluten der DDR erst einmal gestoppt<br />

worden. Chruschtschow hatte nur bedingt das erreicht, was<br />

ihm 1958 vorgeschwebt hatte. Nach wie vor befanden sich<br />

die westlichen Schutzmächte in Berlin. Kennedy war über das<br />

Ergebnis der Berlin-Krise erleichtert. Das Ende des Exodus in<br />

den Westen wertete er als Anzeichen dafür, dass es keine Berlin<br />

-Krise mehr geben würde.<br />

Konrad Adenauers deutschlandpolitische Konzeption hatte<br />

den größten Schlag erhalten. Es wurde offensichtlich, dass mit<br />

einem schnellen Anschluss der DDR jetzt nicht zu rechnen<br />

war. Adenauers Politik stand in deutlichem Kontrast zur realistischen<br />

Politik von Präsident Kennedy. Das zeigte sich auch<br />

bei den Wahlen am 17. September 1961, wo die CDU ihre<br />

absolute Mehrheit verlor, während Willy Brandt für die SPD<br />

6 Prozent der Wählerstimmen hinzugewann. Adenauer hatte<br />

Chruschtschow der Wahlkampfhilfe für Willy Brandt bezichtigt.<br />

Beim Wahlkampf sprach er vor 4 000 Zuhörern. Mit seiner<br />

Bemerkung „Brandt alias Frahm“ spielte er darauf an, dass<br />

Brandt unehelich als Kind einer Lübecker Verkäuferin geboren<br />

worden war. Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, den eine<br />

Reihe von Wählern nicht durchgehen lassen wollte. Adenauer<br />

ließ sich auch Zeit, nach Berlin zu fahren. Er, der eingefleischte<br />

Rheinländer, mochte den „Kartoffelacker jenseits der Elbe“<br />

nicht besonders. Im Fernsehen hatte er die <strong>Berliner</strong> am 14.<br />

August vor Nervosität gewarnt: „Zu einer Panik besteht wegen<br />

51


der Situation in Berlin kein Anlass. Der Ernst der Situation ist<br />

natürlich, aber es besteht kein Anlass zur Panik.“<br />

<strong>Die</strong> emotional aufgeheizte Westberliner Öffentlichkeit war<br />

höchst unzufrieden mit dem Verhalten des Kanzlers. Auch<br />

die „Bild-Zeitung“ gab sich ungehalten. Sie erschien am 16.<br />

August mit der Schlagzeile: „Der Osten handelt – der Westen<br />

tut NICHTS! – Präsident Kennedy schweigt... Macmillan geht<br />

auf die Jagd... Und Adenauer schimpft auf Willy Brandt“.<br />

Am 16. August empfing der Kanzler den sowjetischen<br />

Botschafter Andrej A. Smirnow. <strong>Die</strong> Erklärung, die das Kanzleramt<br />

danach herausgab, klang in den Ohren der Westberliner<br />

seltsam. Darin hieß es, dass der Kanzler darauf hingewiesen<br />

habe, „dass die Bundesregierung keine Schritte unternimmt,<br />

welche die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der<br />

UdSSR erschweren und die internationale Lage verschlechtern“.<br />

Obwohl Adenauer hier Augenmaß bewies, wurde ihm<br />

das in Westberlin als „Kuschen“ vor der mächtigen Sowjetunion<br />

angelastet.<br />

Ganz anders trumpfte hingegen der 48 Jahre junge Willy<br />

Brandt am gleichen Tag bei einer Kundgebung vor dem<br />

Schöneberger Rathaus auf. <strong>Die</strong> Russen hätten „den Kettenhund<br />

Ulbricht von der Leine gelassen“. Das kam an. Zugleich hatte<br />

Brandt einen scharf gehaltenen Brief an Kennedy geschickt,<br />

in dem er vom „Risiko letzter Entschlossenheit“ sprach<br />

und die Gefahr eines tiefen Vertrauensbruchs zwischen den<br />

Westberlinern und den Schutzmächten beschwor. Kennedy reagierte<br />

im Kreise seiner Berater zunächst sichtlich verärgert. Er<br />

sagte: „Was bildet sich dieser Bursche in Berlin eigentlich ein,<br />

mir in diesem Ton zu schreiben? – Ich lasse mir von diesem<br />

Nörgler nicht vorschreiben, was die USA zu tun oder zu lassen<br />

haben.“ Ein Journalist erhielt von Kennedys Pressesprecher<br />

Pierre Salinger die Antwort: „Der Präsident hat bisher noch<br />

nicht entschieden, ob der Brief beantwortet wird, und wenn<br />

ja, wann...“<br />

52


Doch in den folgenden Tagen erreichten Kennedy immer<br />

mehr Nachrichten, die es ihm geraten erscheinen ließen, auf<br />

Brandts Brief positiv zu reagieren. Kennedy war gegen Brandts<br />

Vorschlag, das Berlin-Problem vor die UNO zu bringen. Aber<br />

Brandts Vorschlag, die US-Garnison symbolisch um 1 500<br />

Mann zu verstärken, gefiel Kennedy. Schließlich kristallisierte<br />

sich der Plan heraus, den Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson<br />

und den Blockade-Helden und Viersternegeneral Lucius D.<br />

Clay nach Berlin zu schicken. Ganz im Sinne der geplanten<br />

Machtdemonstration sollten die 1 500 Mann mit 300 Jeeps<br />

und Kraftwagen über die Autobahn nach Berlin fahren.<br />

Mit dem Auftrag, die „Moral der <strong>Berliner</strong> wieder aufzurichten“,<br />

flog Vizepräsident Johnson am 19. August nach Berlin.<br />

In Köln-Wahn wurde ein Zwischenaufenthalt eingelegt, weil<br />

Johnson Kanzler Adenauer einen Kurzbesuch abstatten wollte.<br />

Dabei kam es zu einer Verstimmung, weil Adenauers<br />

Hoffnung, er könne gemeinsam mit dem amerikanischen<br />

Vizepräsidenten nach Berlin fliegen, nicht stattgegeben wurde.<br />

Kennedy wünschte keine Einmischung in den deutschen<br />

Wahlkampf. In Westberlin wurde Johnson stürmisch empfangen.<br />

Ein Korrespondent der „New York Times“ fand, dass die<br />

Freudenstimmung in Berlin nur zu vergleichen sei mit dem Jubel<br />

bei der Befreiung von Paris im Jahre 1944. Der Wagen wurde<br />

auf dem Weg vom Flughafen Tempelhof zum Schöneberger<br />

Rathaus immer wieder gestoppt. <strong>Die</strong> Menschen des Spaliers<br />

riefen: „Bravo, Johnson! Bravo, Clay! Bravo, Willy!“ Blumen<br />

wurden in den Wagen geworfen. Ein dorniger Rosenstrauß landete<br />

im Gesicht von General Lucius D. Clay. Am Stacheldraht<br />

war ein Fototermin mit Dutzenden von Reportern vorbereitet<br />

worden, doch Johnson ließ die Fahrtrichtung ändern. Am<br />

Potsdamer Platz stand bereits eine 1,25 m hohe <strong>Mauer</strong>. Aber<br />

Jonsohn erklärte, dass es nicht seine Aufgabe sei, „die <strong>Mauer</strong><br />

umzuwerfen“.<br />

Der Konvoi zur Verstärkung der US-Garnison hatte am<br />

20. August 1961 gegen 6 Uhr den Autobahn-Kontrollpunkt<br />

53


Helmstedt erreicht. Sowjetische Kontrolleure registrierten<br />

gewohnheitsgemäß jeden einzelnen Soldaten. Das dauerte einige<br />

Zeit. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Registrierung stimmten jedoch<br />

nicht mit den Transportlisten überein. Der 1 500. Mann fehlte.<br />

Oberst Glover Jones, der Kommandeur der Einheit, ließ<br />

alle Soldaten antreten und tippte jedem Soldaten auf die Brust<br />

und ließ ihn die fortlaufende Zahl rufen. Am Ende fehlte der<br />

1 500. Mann immer noch. Erst nachdem Militärpolizisten<br />

die Fahrzeuge durchsucht hatten, konnte das Rätsel gelöst<br />

werden. Der fehlende GI schlief hinter einer schrankgroßen<br />

Munitionskiste. <strong>Die</strong> Kolonne konnte dann ungehindert die<br />

Autobahn passieren. Gegen Mittag kam sie in Westberlin an.<br />

Am 21. September begannen in New York Erkundungsgespräche<br />

der Außenminister der beiden Supermächte, Dean<br />

Rusk und Andrej Gromyko. Adenauer, der zu keinem politischen<br />

Neuansatz mehr fand, reagierte misstrauisch und intensivierte<br />

seine Kontakte mit Charles de Gaulle. <strong>Die</strong>se westdeutschfranzösische<br />

Annäherung gipfelte schließlich im Januar 1963<br />

im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Über seinen<br />

Besuch im Dezember 1961 in Paris schrieb Adenauer in seinen<br />

Erinnerungen: „Ich beschwor de Gaulle eindringlich, sich nicht<br />

nur beobachtend gegenüber den schwebenden Fragen, insbesondere<br />

der Berlin-Frage, zu verhalten. Meine Befürchtung<br />

sei, dass bei einem Ausbleiben von Verhandlungen die Lage<br />

im nächsten Jahr nur noch schlechter sein werde. <strong>Die</strong> Russen<br />

seien militärisch und taktisch im Vorteil, und Kennedy habe<br />

gesagt, dass das amerikanische Volk sich erst an den Gedanken<br />

eines möglichen großen Krieges gewöhnen müsse.“<br />

Über sein Treffen mit de Gaulle im Februar 1962 in Baden<br />

-Baden schrieb Adenauer: „Wenn ich das Fazit aus den ersten<br />

zwölf Monaten der neuen amerikanischen Administration<br />

zöge, dann müsste ich feststellen, dass der Erfolg zweifellos<br />

auf Seiten des Kommunismus liege. Um ganz korrekt zu sein,<br />

müsste ich jedoch hinzufügen, dass mir die amerikanische außenpolitische<br />

Tendenz schon seit dem Ausscheiden von John<br />

54


Foster Dulles nicht mehr gefallen habe, denn nach dem Tode<br />

von Dulles habe bereits das Weichwerden begonnen.“ <strong>Die</strong>se<br />

Position blieb Kennedy nicht verborgen. Pierre Salinger berichtete<br />

in seinem Buch „With Kennedy“, dass Kennedy jeden<br />

Gedanken, die Grenzbefestigungen der DDR in Berlin einzureißen,<br />

mit dem Hinweis abgelehnt habe. Das Ulbricht-Regime<br />

habe das Recht, die Grenzen zu schließen. Niemand dürfe deshalb<br />

einen Krieg beginnen, habe der Präsident gesagt.<br />

Der Westen vertrat also zu den Maßnahmen vom 13. August<br />

unterschiedliche Auffassungen. So blieb der Spielraum für eine<br />

Verhandlungslösung im Interesse der Ost-West- und West-Ost-<br />

Bürgerkontakte ungenutzt, solange die Grenzbefestigung „nur“<br />

aus Stacheldrahtverhauen bestand. Da die Meinungsbildung<br />

im Westen keinen Konsens fand, musste Präsident Kennedy<br />

auf dem Felde der Diplomatie auf Zeitgewinn aus sein.<br />

Deshalb erklärte er bilaterale Verhandlungen, die Gewähr<br />

für einen späteren Erfolg schüfen, zur Vorbedingung für eine<br />

Gipfelkonferenz. Damit rückte eine Verhandlungslösung nolens<br />

volens in die Ferne.<br />

Ende Oktober kam es am „Checkpoint Charlie“, dem<br />

Grenzübergang für Diplomaten in der Friedrichstraße, zu einer<br />

brenzligen Situation, weil sich ein höherer US-Beamter weigerte,<br />

den Volkspolizisten seinen Pass vorzuweisen. Er durfte nicht<br />

passieren. Am 25. und 26. Oktober ließ Clay General-Patton-<br />

Panzer in der Friedrichstraße auffahren. Am 27. Oktober erschienen<br />

für 16 Stunden sowjetische Panzer. Es passierte glücklicherweise<br />

nichts, weil beide Supermächte ihr Terrain vorher<br />

bis auf den letzten Quadratmeter abgesteckt hatten.<br />

Im Herbst 1961 trat an die Stelle von Stacheldrahtverhauen<br />

nach und nach eine <strong>Mauer</strong> aus Betonfertigteilen, die immer<br />

stabiler wurde, je mehr „<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> muss weg!“-Aktionen vom<br />

Westen aus in Gang gesetzt wurden. <strong>Die</strong> Grenze durch Berlin<br />

sollte „blutende Grenze“ sein, weshalb Grenzbefestigungen<br />

eine Zeit lang von Kommandos gesprengt wurden, die von<br />

Westberliner Boden aus agierten. Sicher unbeabsichtigt und<br />

55


unfreiwillig bauten die Kalten Krieger im Westen auf diese<br />

Weise mit an der <strong>Mauer</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“, die<br />

die DDR-Propaganda lange Zeit verwandte (im Lehrplan<br />

Geschichte für die Erweiterte Oberschule 1988 existierte der<br />

Begriff nicht mehr), suggerierte die falsche Vorstellung, dass in<br />

Westberlin Faschismus herrsche. „Erfinder“ des Mythos vom<br />

„antifaschistischen Schutzwall“ war Horst Sindermann, der<br />

im Auftrage des SED-Politbüros im Herbst 1961 eine ideologische<br />

Begründung für den <strong>Mauer</strong>bau zu erarbeiten hatte.<br />

Zur Rechtfertigung erklärte Sindermann im Mai 1990 dem<br />

„Spiegel“: „Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische<br />

Ordnung, die es in der DDR gab,<br />

erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch<br />

für richtig.“<br />

<strong>Die</strong> Abriegelung brachte für viele Bürger Berlins und in den<br />

angrenzenden Bezirken enorme persönliche Härten und Probleme<br />

mit sich. <strong>Die</strong> Reaktionen in der DDR waren außerordentlich<br />

vielfältig. Manche Bürger hofften auf das Versprechen<br />

der SED-Propaganda, dass es sich um vorläufige Maßnahmen<br />

bis zum Abschluss des Friedensvertrages noch im Jahre 1961<br />

handele. Andere Bürger fühlten sich erleichtert, weil nun die<br />

DDR nicht weiter ausbluten konnte. Sie gingen davon aus,<br />

dass bei hohen Wachstumsraten die DDR die Bundesrepublik<br />

vielleicht doch noch in der Arbeitsproduktivität überholen<br />

könnte. Eine dritte Gruppe wurde „mauerkrank“. Sie wuchs<br />

von Jahr zu Jahr.<br />

Zwar durften nach einem Gespräch zwischen dem Bischof<br />

Moritz Mitzenheim und Walter Ulbricht auf der Wartburg ab<br />

1964 Rentner in den Westen reisen und in der zweiten Hälfte<br />

der 80er Jahre fuhren auch immer mehr Bürger unterhalb des<br />

Rentenalters „in dringenden Familienangelegenheiten“, aber zu<br />

einem Reisegesetz, das allen Bürgern Reisefreiheit im Rahmen<br />

der ökonomischen Möglichkeiten der DDR garantierte, kam<br />

es bis 1989 nicht.<br />

56


(Quelle: Horst Pötzsch: Deutsche Geschichte im Spiegel der Karikatur. München<br />

und Landsberg am Lech 1997, S. 115)<br />

� <strong>Die</strong> „moderne Grenze“<br />

Am 23. Juni 1963 beschloss der DDR die Errichtung eines<br />

Grenzgebietes zwischen der DDR und Westberlin, was die<br />

Schaffung eines 10 m breiten Kontrollstreifens und im Bezirk<br />

Potsdam sowie innerhalb Berlins eines 500 m bzw. 100 m breiten<br />

Schutzstreifens bedeutete.<br />

Im Oktober 1964 begann der Ausbau des Sperrsystems<br />

zur „modernen Grenze“. <strong>Die</strong>ses Bauprogramm dauerte bis<br />

Ende 1970. Es entstand jene <strong>Mauer</strong>-Architektur, die 1989/90<br />

die „<strong>Mauer</strong>spechte“ kennenlernten; die 165,7 Kilometer<br />

Sperranlagen, die aus 3,50 bis 4,20 Meter hohen Betonplatten<br />

5


mit aufmontiertem Rohr oder aber aus Metallgitterzaun bestanden.<br />

Nach 1970 wurden weitere Verstärkungen vorgenommen,<br />

sodass aus der ursprünglichen Grenzlinie immer<br />

mehr ein „Grenzgebiet“ wurde: Kontrollstreifen, Kfz-Graben,<br />

Panzersperren, Beleuchtungsanlagen, Grenzpostenlinie, Kolonnenweg,<br />

Kontakt-Signalzaun, Hinterlandzaun, Beobachtungstürme,<br />

Bunker und Hundelaufanlagen zählten zu dem ausgeklügelten<br />

System, das im Verlauf etwa eines Jahrzehnts entstand.<br />

5<br />

<strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>: Grenzsicherungsanlagen im Stadtgebiet<br />

(Quelle: Peter Feist: <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>. Berlin 1961-1989.<br />

Berlin 2003, S. 14/15)<br />

Schon am 18. August 1961 hatte das „Studio am Stacheldraht“,<br />

eine Art zivile Lautsprecher-Kompanie des Westberliner Senats,<br />

die Arbeit aufgenommen. Ostberlin wurde lautstark beschallt.<br />

Bald setzte auch die NVA ihre Lautsprecher in Richtung<br />

Westberlin ein. Auf beiden Seiten erhöhte sich die Phonzahl.


Der „Phonkrieg“ endete Anfang 1962, weil Westberlin zu dieser<br />

Zeit bereits „durchschallt“ werden konnte.<br />

Es gab nach dem 13. August auch Krawalle, Steinwürfe<br />

und andere Zwischenfälle wie z. B. die nicht ungefährlichen<br />

Schleusungsaktionen.<br />

Beim Zumauern der Häuser in der Bernauer Straße wurden<br />

etwa 2 000 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben.<br />

Mehreren Dutzend Bewohnern gelang die Flucht. Für<br />

vier Bürger endete der Sprung auf Westberliner Territorium<br />

mit dem Tod. Umsiedlungsaktionen fanden auch in anderen<br />

Stadtteilen statt. <strong>Die</strong> Grundlage für Zwangsumsiedlungen aus<br />

dem Grenzgebiet zu Westberlin und aus dem 5-km-Grenzgebiet<br />

zur Bundesrepublik bildeten ein Beschluss des Präsidiums<br />

des Ministerrates vom 12. August 1961 und eine gleichlautende<br />

Direktive des ZK der SED über die weitere Erhöhung<br />

der Sicherheit an der Staatsgrenze West. Demzufolge waren<br />

Bürger, „die durch ihre Vergangenheit, ihre Entwicklung<br />

und ihre persönliche Haltung für Agenten und Provokateure<br />

Ansatzpunkte bieten“ umzusiedeln. Außerhalb des unmittelbaren<br />

Grenzgebiets waren neue Wohnung und Arbeit nachzuweisen<br />

. Über die Auswahl der Bürger, die in die Zwangsaktion<br />

einbezogen werden sollten, entschieden „Kaderkommissionen“,<br />

denen jeweils ein Mitarbeiter des Volkspolizeikreisamtes, des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit, der SED-Kreisleitung und<br />

der 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises angehörten.<br />

Betriebe, Institutionen und staatliche Organe wurden<br />

beauftragt, regelmäßig „Kaderanalysen“ zu erarbeiten und<br />

der zuständigen Kommission zu übergeben. <strong>Die</strong>se Aktion lief<br />

unter dem Codewort „Trabant“. Mit der „Verordnung über<br />

Aufenthaltsbeschränkung“ vom 24. August 1961 erfolgte eine<br />

Verschärfung der Umsiedlungsaktion, die ab 3. Oktober unter<br />

dem Namen „Kornblume“ stattfand. Räumkommandos<br />

mit Lastkraftwagen erzeugten in den Grenzregionen eine<br />

Atmosphäre von Angst und Schrecken.<br />

5


Einschüchternd wirkte auch die FDJ-Aktion „Ochsenkopf“,<br />

bei der auf westliche Fernsehstationen ausgerichtete Antennen<br />

rechtswidrig von jugendlichen Trupps zerstört wurden. <strong>Die</strong>ses<br />

Vorgehen löste viel Unwillen in der Bevölkerung aus, weshalb<br />

die SED-Führung sie bald abbrechen ließ. Einige Hardliner<br />

der SED hatten sich mit der Annahme verkalkuliert, dass es<br />

möglich sei, die <strong>Mauer</strong> auch im Äther zu errichten.<br />

<strong>Die</strong> Situation an den Grenzanlagen in Berlin drohte mehrfach,<br />

explosive Formen anzunehmen. Es gab politische Kräfte,<br />

die keine Ruhe einkehren lassen wollten. Ihr Konzept der „offenen<br />

Wunde“ und der „blutenden Grenze“ führte vor allem in<br />

den ersten Monaten nach der Abriegelung zur Konfrontation<br />

und Verschärfung der Situation, ohne an der Gesamtlage auch<br />

nur das Geringste ändern zu können.<br />

Im Mai und Juni 1962 wurden Grenzer der DDR von<br />

Westberlin aus erschossen. Der Fluchthelfer Rudolf Müller, der<br />

am 18. Juni 1962 den Grenzpolizisten Reinhold Paul Huhn<br />

erschoss, antwortete auf die Frage eines Journalisten, wie oft<br />

er habe abdrücken müssen, bis Huhn am Boden lag: „Einmal.<br />

Der Mann fiel sofort um.“<br />

Im Januar 1962 senkte sich plötzlich der S-Bahnsteig<br />

Wollankstraße in der Mitte. Entdeckt wurde nahe dem<br />

Gleis der Fernbahn ein nach Westberlin führender Stollen<br />

von 1,50 Meter Höhe und 1,20 Meter Breite. „Fluchthelfer“<br />

und Schleusungsgruppen hatten Hochkonjunktur. Ende Mai<br />

erfolgten auf die Grenzanlagen am Reichstagsufer, an der<br />

Gleimstraße, an der Eberswalder und der Schwedter Straße<br />

Sprengstoffanschläge. Als am 17. August 1962 Peter Fechter<br />

auf der <strong>Mauer</strong>krone von Schüssen der DDR-Grenzer getroffen<br />

wurde, fiel er auf Ostberliner Gelände zurück. Hunderte Ost-<br />

und Westberliner hörten 55 Minuten lang seine Hilfeschreie.<br />

Er verblutete. <strong>Die</strong> Grenzsoldaten hatten Schüsse aus dem<br />

Westen befürchtet und deshalb nicht geholfen. <strong>Die</strong> Mutter<br />

Peter Fechters, die das Sterben des Sohnes aus der Nähe mit<br />

ansehen musste, sagte darüber später: „An dem Tag, als mein<br />

60


Sohn sinnlos sein Leben lassen musste, wusste ich, dass diese<br />

<strong>Mauer</strong> und diese Grenze nicht bestehen können.“<br />

Insgesamt fanden 125 Menschen an der <strong>Mauer</strong> den Tod. In<br />

81 Fällen steht die Klärung noch aus. Das letzte Opfer war ein<br />

vierzehnjähriger „<strong>Mauer</strong>specht“, der von einer umstürzenden<br />

Platte erschlagen wurde. An der Grenze zwischen der DDR<br />

und der Bundesrepublik waren 111 Todesopfer zu beklagen.<br />

Bei Fluchtversuchen über die Ostsee verloren 140 Menschen<br />

das Leben. <strong>Die</strong> Zahl der Verletzten liegt weit höher.<br />

� Das Passierscheinabkommen<br />

<strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> wurde allmählich zu einem unverrückbaren Bestandteil<br />

der deutschen Frage. <strong>Die</strong> „<strong>Mauer</strong> muss weg!“-Slogans waren<br />

immer nur ein Bestandteil der Propaganda gewesen. Bei<br />

Verhandlungen mit Moskau hat nie ein westlicher Staatsmann<br />

die Sowjetunion zum Abbau der <strong>Mauer</strong> aufgefordert.<br />

Vor allem Konrad Adenauer fand zu keinem politischen<br />

Neuansatz. Seine Starrheit entwickelte sich für die dynamische<br />

Politik Kennedys zu einer Belastung. Als Anfang 1963 die<br />

US-Regierung über eine Berlin-Interimslösung nachdachte<br />

und die bilateralen Berlin-Gespräche mit Moskau fortsetzte,<br />

schoss Bonn sofort Sperrfeuer. Staatssekretär Hans-Günther<br />

von Hase erklärte am 12. Januar, dass die Bundesregierung einer<br />

Ersetzung der Rechte der alliierten Mächte in Berlin durch<br />

die UNO nicht zustimmen werde, da dadurch die Position des<br />

Westens in Berlin beeinträchtigt würde.<br />

Ebenso starr verhielt sich Bonn in der Frage des Abschlusses<br />

eines Teststoppabkommens. Es war zunächst dagegen. Als es dies<br />

nicht mehr verhindern konnte, versuchte Bonn vergeblich, das<br />

Teststoppabkommen mit einer Erklärung zur deutschen Frage<br />

zu verknüpfen. Am 17. Juni 1963 wurde der bisherige Tag der<br />

Deutschen Einheit (aus Anlass des Aufstandes von 1953) von<br />

61


Bundespräsident Heinrich Lübke zum Nationalen Gedenktag<br />

des deutschen Volkes proklamiert. <strong>Die</strong> Bundesregierung forderte<br />

in einem Aufruf die Wiederherstellung der deutschen<br />

Einheit. Den „Brüdern und Schwestern“ im Osten wurde<br />

zugerufen: „Bewahrt Vertrauen, Geduld und Zuversicht! Ihr<br />

steht nicht allein!“<br />

Der amerikanische Präsident hatte am 10. Juni 1963 seine<br />

„Strategie des Friedens“ entwickelt. Kennedy hatte längst mit<br />

dem Denken in bloßen Schlagworten aufgehört. Ihm ging es<br />

im globalem Maßstab um Berührungspunkte und Verbindungsmöglichkeiten.<br />

Er war für den Teststopp, die Beendigung des<br />

Kalten Krieges im Äther und die Einrichtung eines „heißen<br />

Drahtes“ zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, damit<br />

in gefährlichen Konfliktsituationen wie der Karibik-Krise<br />

1962 das Schlimmste verhindert werden konnte. Als er am<br />

26. Juni 1963 Westberlin besuchte, schlug ihm eine Woge<br />

der Sympathie entgegen. Er sprach vor dem VI. Ordentlichen<br />

Gewerkschaftskongress der IG Bau, Steine, Erden und vor<br />

Studenten der Freien Universität Berlin. Den Studenten erklärte<br />

Kennedy, dass die Wiedervereinigung weder rasch kommen<br />

noch leicht sein werde. Wichtig aber sei, die Verbindung zum<br />

Osten zu halten, weshalb die Großmächte zusammenarbeiten<br />

müssten. Kennedy besuchte den Checkpoint Charlie und die<br />

<strong>Mauer</strong>. Seine Rede auf dem Rudolf-Wilde-Platz schloss er mit<br />

dem Satz, der später legendär wurde: „Alle freien Menschen,<br />

wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt, und als<br />

freier Mensch spreche ich deshalb voll Stolz die Worte: ‚Ich bin<br />

ein <strong>Berliner</strong>.’“<br />

Kennedys politischer Neuansatz fiel vor allem bei Politikern<br />

der SPD auf einen fruchtbaren Boden. Am 15. Juli 1963 hielt<br />

Egon Bahr, Leiter des Presse- und Informationsamtes von<br />

Westberlin, vor der Evangelischen Akademie in Tutzing eine<br />

aufschlussreiche Rede. Bahr polemisierte gegen die Politik<br />

des Alles oder Nichts. <strong>Die</strong> bisherige Politik des Drucks und<br />

Gegendrucks habe nur zu einer Erstarrung des Status quo<br />

62


geführt. Er warb dafür, im Vertrauen darauf, dass die westliche<br />

Welt die in friedlichem Sinne bessere sei, die bisherigen<br />

Befreiungsvorstellungen zurückzustellen. Bahr sagte: „Wir<br />

haben gesagt, dass die <strong>Mauer</strong> ein Zeichen der Schwäche ist.<br />

Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und<br />

des Selbsterhaltungstriebs des kommunistischen Regimes. <strong>Die</strong><br />

Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten<br />

Sorgen dem Regime graduell zu nehmen, dass auch<br />

die Auflockerung der Grenzen und der <strong>Mauer</strong> praktikabel wird,<br />

weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf<br />

die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“<br />

Bahrs Konzept „Wandel durch Annäherung“ hatte es anfangs<br />

auch in der SPD schwer. Zu stark waren Denkklischees<br />

des Kalten Krieges in den Köpfen vieler Zeitgenossen verankert.<br />

Bahr fand aber die Unterstützung durch Willy Brandt,<br />

der im Februar 1964 Parteivorsitzender der SPD wurde. Auch<br />

im konservativen Lager kam es zu Auseinandersetzungen über<br />

die weitere Politik gegenüber dem Osten. Nach dem Rücktritt<br />

Adenauers, der das endgültige Ende der Ära Adenauer besiegelte,<br />

übernahm Mitte Oktober 1963 Ludwig Erhard die Regierung.<br />

Der neue Kanzler hatte zwar in seiner Regierungserklärung eine<br />

„Politik der Mitte und der Verständigung“ versprochen, war jedoch<br />

nicht die starke Politiker-Persönlichkeit, die einer neuen<br />

Politik zum Durchbruch hätte verhelfen können. Bestenfalls<br />

ein kleiner Schritt war denkbar. Für Berlin zeigte sich schließlich<br />

ein Lichtblick mit dem Passierscheinabkommen vom 17.<br />

Dezember 1963 zwischen dem Westberliner Senat und der<br />

DDR-Regierung, das – unterhalb der Anerkennungsschwelle<br />

abgeschlossen – Hunderttausenden Westberlinern erlaubte,<br />

über die Feiertage ihre Verwandten, Freunde und Bekannten<br />

zu besuchen. Das Abkommen bewies, dass humanitäre<br />

Regelungen möglich waren.<br />

<strong>Die</strong> DDR-Regierung gab auf ihre Weise zu verstehen,<br />

dass sie ohne völkerrechtliche Anerkennung zu weitgehenden<br />

Maßnahmen nicht bereit war. Sie verfügte am 2. Dezember<br />

63


1964 einen Zwangsumtausch in Höhe von fünf DM für westliche<br />

Besucher der DDR und Ostberlins. Bis 1966 wurde das<br />

Passierscheinabkommen mehrfach erneuert. Dann wurde die<br />

Frage der diplomatischen Anerkennung ohne Wenn und Aber<br />

gestellt.<br />

64<br />

� Rudi Dutschkes „Freie Stadt“-Konzept<br />

Nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2.<br />

Juni 1967 am Rande einer Demonstration gegen den Schahbesuch<br />

in Westberlin entfaltete sich eine Bewegung der außerparlamentarischen<br />

Opposition gegen die geplanten Notstandsgesetze.<br />

Der aus Luckenwalde stammende (Alfred Willi) Rudi<br />

Dutschke wurde charismatischer Führer der studentischen<br />

Opposition an den Westberliner Universitäten. Er entwickelte<br />

1967 das Modell der „Freien Stadt Westberlin“, das wegen<br />

seines utopischen Charakters lange Zeit unbekannt bleib. Erst<br />

Bernd Rabehl, Dutschkes Mitstreiter in den Jahren 1967/68,<br />

erinnerte 2002 in seiner Dutschke-Biographie wieder daran.<br />

Rudi Dutschke (1940-1979)<br />

(Zeichnung von Iris Kathrin-Fischer)


Dutschke stellte seinen Plan Ende Juni 1967 auf einem Treffen<br />

verschiedener Fraktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes<br />

und des Republikanischen Clubs in der Gewerkschaftsschule<br />

der IG-Metall am Pichelsee vor. Während<br />

Chruschtschow und Ulbricht mit ihrem „Freie Stadt“-Plan das<br />

Ziel verfolgt hatten, Westberlin von der Bundesrepublik zu trennen<br />

und ihm die Funktion zu nehmen, „Schaufenster der freien<br />

Welt“ zu sein, verfolgte Dutschke ein anderes Ziel. Er wollte<br />

Westberlin zu einer Freihandels- und Freiheitszone machen,<br />

die außerhalb der Wirtschafts- und Verfassungskompetenz von<br />

DDR und Bundesrepublik lag. Rabehl schreibt: „In der westlichen<br />

Teilstadt sollten die östlichen ‚Kombinate’ und die westlichen<br />

‚Großkonzerne’ gemischte Produktionsstätten errichten,<br />

um für den riesigen Ostmarkt Produkte des Massenkonsums<br />

zu produzieren und um die technologischen Erneuerungen<br />

in Produktion und Planung auszuprobieren. Nach Dutschke<br />

hatten DDR und UdSSR Interesse an einer technologischen<br />

Erneuerung der Planwirtschaft und an den westlichen Waren<br />

von Massenkonsum. <strong>Die</strong> US-Firmen und das westdeutsche<br />

Kapital waren nach seiner Überzeugung an einem intensiven<br />

Osthandel und zugleich an technologischen Investitionen im<br />

Osten interessiert, falls gegenseitiges Vertrauen hergestellt werden<br />

und falls die neuen Technologien nicht der Rüstung dienen<br />

konnten.“<br />

Im Unterschied zu Hongkong sollte die Westberliner<br />

Freihandelszone auf Ost- und Westeuropa gleichermaßen<br />

Einfluss nehmen. Dutschke hielt es für möglich, dass neben<br />

der parlamentarischen Demokratie in den Großbetrieben,<br />

Verwaltungen, Schulen und Universitäten eine Rätedemokratie<br />

eingerichtet werden konnte, die die Arbeiter, Angestellten,<br />

Schüler und Studenten befähigte, auf Entscheidungen dieser<br />

Institutionen Einfluss zu nehmen. Durch eine Rätedemokratie<br />

sollte der Einfluss der Funktionäre der Verbände und der<br />

Parteipolitiker zurückgedrängt werden. <strong>Die</strong> Demokratisierung<br />

der Teilstadt Westberlin sollte auf den Osten ausstrahlen und<br />

65


auch dort Veränderungen bewirken. Dutschke hatte keinen<br />

Zweifel, dass Westberlin als „Freie Stadt“ Initialzünder in zwei<br />

Richtungen werden könnte:<br />

<strong>•</strong> in die der Rückkehr der realsozialistischen Staaten zum<br />

sozialistischen Ursprung sowie<br />

<strong>•</strong> in die der Redemokratisierung der erstarrten Parteidemokratien<br />

im Westen.<br />

Dutschke konnte an seinem idealistischen Konzept nicht<br />

weiterarbeiten. Am 11. April 1968 feuerte der Neonazi Josef<br />

Bachmann mehrere Schüsse auf ihn ab. Im Dezember 1979<br />

starb er an den Spätfolgen der dabei erlittenen Verletzungen.<br />

66<br />

� Das Vierseitige Abkommen<br />

Anfang der 70er Jahre zeichnete sich ab, dass die DDR weltweit<br />

völkerrechtlich anerkannt werden würde. Das machte<br />

auch die Regelung der Beziehungen zu Westberlin und zur<br />

Bundesrepublik erforderlich. In diesem Zusammenhang bedurften<br />

die in der Berlin-Frage angestauten Probleme einer<br />

Neuregelung auf der Basis austarierter Kompromisse zwischen<br />

den vier Mächten. <strong>Die</strong>se paraphierten nach langwierigen<br />

Verhandlungen am 3. September 1971 das sogenannte<br />

Vierseitige Abkommen.<br />

Das Vierseitige Abkommen beinhaltete zunächst einen<br />

allgemeinen Abschnitt, der sich auf ganz Berlin bezog, dann<br />

einen zweiten Abschnitt, der die Westsektoren betraf, sowie<br />

weitere Anlagen, die<br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

den Transitverkehr,<br />

die Verbindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik,<br />

eine Besuchervereinbarung,<br />

die Postvereinbarung,


<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

den Territorialaustausch,<br />

die Auslandvertretungen von Berlin sowie<br />

die Errichtungen eines sowjetischen Konsulats in Westberlin<br />

betrafen.<br />

<strong>Die</strong>se verschiedenen Vereinbarungen wurden von den vier<br />

Mächten bis Dezember 1971 fertiggestellt.<br />

Das Vierseitige Abkommen mit all seinen Unterabkommen<br />

trat am 3. Juni 1972 in Kraft, die vier Außenminister unterzeichneten<br />

dabei ein abschließendes Protokoll.<br />

Zur gleichen Zeit ratifizierte die Bundesrepublik Verträge<br />

mit der Sowjetunion und Polen. Offiziell gab es keine<br />

Verbindung zwischen diesen Verträgen, aber es war klar, dass<br />

die Ostverträge ohne ein befriedigendes Berlin-Abkommen den<br />

Bundestag nicht passieren würden. Dem Berlin-Abkommen<br />

kam so eine Schlüsselstellung in der sich abzeichnenden Phase<br />

der politischen Entspannung zu. Das Abkommen erwies sich<br />

als gelungener Wurf, denn einerseits war das Berlin-Abkommen<br />

eine Deklaration, die die Spannungen um Berlin abbaute, andererseits<br />

war es eine Vereinbarung über Probleme, die aus der<br />

insularen Situation Westberlins herrührten. Es brachte beträchtliche<br />

praktische Verbesserungen und mehr Beruhigung<br />

für die Stadt. Das Abkommen bedeutete keine vollständige<br />

Lösung des Berlin-Problems. In geopolitischer Hinsicht blieb<br />

Westberlin so etwas wie eine Insel. Es war kein vollständiger<br />

Bestandteil der Bundesrepublik, es blieb eine besetzte Stadt<br />

und war abhängig von erheblicher finanzieller Unterstützung.<br />

<strong>Die</strong> Verhandlungen veranschaulichten das Ausmaß an unterschiedlichen<br />

Standpunkten zwischen den vier Mächten.<br />

Deshalb finden sich nicht wenige vage Formulierungen im<br />

Dokument, die die differenten Standpunkte überwölbten. Es<br />

enthielt noch genügend Potential für neue Konflikte. Dazu<br />

äußerte Egon Bahr in seinen Memoiren: „Als politisch gefährlich<br />

empfanden wir, dass keine Einigung mehr zustande kam,<br />

wie das englische ‚ties’ und das russische ‚swasi’ zu übersetzen<br />

6


sei. Beide Vokabeln bedeuten ‚Bindungen’ wie ‚Verbindungen’.<br />

Der Unterschied zwischen Verbindungen, die Männlein und<br />

Weiblein pflegen, und einer Bindung, vom Standesbeamten<br />

beglaubigt, braucht nicht erläutert zu werden. War die Berolina<br />

nun gebunden oder nur lieb und teuer? In der Praxis stellte sich<br />

heraus, dass dieser potentielle Konflikt kein neues Gewitter ankündigte,<br />

sondern das Wetterleuchten eines abziehenden war.“<br />

Und in der Tat – eine dritte Berlin-Krise brach nie aus!<br />

Es konnte auch keine genaue Einigung über die Bezeichnung<br />

Westberlins – in Englisch „relevant area“ – gefunden<br />

werden. Genauer war die Bezeichnung nicht, weil die Verhandlungspartner<br />

sich auf eine genauere Fixierung nicht einigen<br />

konnten.<br />

<strong>Die</strong> Sowjetunion sprach nach Abschluss über ein „Westberlin-Abkommen“<br />

– aus ihrer Sicht stand Ostberlin nicht zur<br />

Diskussion, weil dies ein Teil der souveränen DDR war. <strong>Die</strong><br />

Westmächte andererseits bestanden auf ihrem Standpunkt,<br />

dass ganz Berlin eine Viermächte-Stadt blieb. <strong>Die</strong>ser westliche<br />

Standpunkt gründete sich auf alle Berlin-Regelungen seit<br />

dem Zweiten Weltkrieg. <strong>Die</strong>s spiegelte sich auch in den beiden<br />

Abschnitten des Abkommens wider: Der erste war auf ganz<br />

Berlin bezogen, der zweite nur auf die Westsektoren Berlins.<br />

Das Abkommen bestimmte, dass die Verbindungen zwischen<br />

Westberlin und der Bundesrepublik bestehen bleiben<br />

und weiterentwickelt werden. Andererseits wurde betont, dass<br />

Westberlin kein Teil der Bundesrepublik ist und nicht von<br />

der Bundesrepublik regiert werden darf. <strong>Die</strong> UdSSR gab ihre<br />

Zustimmung, dass die Bundesrepublik Westberliner Bürger international<br />

vertritt. Damit wurde Übereinstimmung über die<br />

Verbindungen hergestellt, wie sie zwischen der Bundesrepublik<br />

und Westberlin bereits entstanden waren. <strong>Die</strong> Präsenz der<br />

Bundesrepublik wurde nur in einigen Bereichen begrenzt:<br />

6<br />

<strong>•</strong><br />

Der Bundespräsident durfte nicht in Westberlin gewählt<br />

werden.


<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

<strong>•</strong><br />

Bundesrat und Bundestag durften nicht mehr (wie 1959<br />

und 1965 geschehen) in Westberlin im Plenum tagen.<br />

Andererseits wurden den Bundestagsparteien Veranstaltungen<br />

in Westberlin gestattet, allerdings nicht zusammen<br />

zur gleichen Zeit!<br />

Auch Bundestagsfraktionen durften in Westberlin tagen,<br />

wenn sie sich mit Berlin betreffenden Fragen beschäftigten.<br />

In allen Transitfragen von und nach Westberlin war die Bundesrepublik<br />

der Verhandlungspartner der DDR, nicht der Senat<br />

von Westberlin. Bei Postfragen, Telekommunikation, Besucherverkehr<br />

und Territorialaustausch verhandelten der Senat, die<br />

DDR, die Bundesrepublik und die betreffenden Ministerien<br />

miteinander. <strong>Die</strong> hier skizzierten Kompromisse ermöglichten<br />

es der DDR und der Bundesrepublik, ihre Beziehungen auf die<br />

Basis eines Grundlagenvertrages zu stellen.<br />

Der Grundlagenvertrag, der von Dezember 1971 bis<br />

Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik und der<br />

DDR verhandelt wurde, bestimmte, dass gutnachbarliche Beziehungen<br />

zwischen beiden Staaten angestrebt werden, die beide<br />

souverän sind und deren territoriale Integrität beide Seiten<br />

achten wollten. <strong>Die</strong> Unterzeichnung des Grundlagenvertrages<br />

am 21. Dezember 1972 führte zur Einrichtung Ständiger<br />

Vertretungen in Bonn und Ostberlin. Es begann eine fruchtbare<br />

Phase deutsch-deutscher Beziehungen.<br />

� Der Bericht zur Lage der Nation 1981<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte am 9. April 1981<br />

im Bericht zur Lage der Nation, der weltpolitische Horizont<br />

habe sich Ende der 70er Jahre verdunkelt, „vor allem, weil<br />

die Sowjetunion wichtige Prinzipien des internationalen<br />

6


Zusammenlebens außer acht gelassen“ habe. Ihre fortlaufende<br />

Hochrüstung auf dem Felde der eurostrategischen Waffen habe<br />

gegen das Prinzip des militärischen Gleichgewichts verstoßen.<br />

Der Einmarsch und der Krieg in Afghanistan verletzten das<br />

Völkerrecht. <strong>Die</strong> Schaffung neuer militärischer und politischer<br />

Abhängigkeiten in Afrika und anderswo verstoße gegen das<br />

Prinzip der Unabhängigkeit und Blockfreiheit der Länder der<br />

Dritten Welt. Und jeder wisse: Ein etwaiger Versuch, in die<br />

Auseinandersetzungen um die innere Erneuerung in Polen mit<br />

Gewalt einzugreifen, könnte die Welt verändern und damit<br />

auch manche Positionsbeschreibungen ungültig machen, die<br />

heute vorgenommen würden. Das friedliche Gelingen in Polen<br />

liege im Interesse aller Völker in Europa. Jedes Anheizen der<br />

Situation von außen, ob aus dem Osten oder aus dem Westen,<br />

sei gefährlich. Soziale Reformen ohne gefährliche internationale<br />

Verwerfungen zu ermöglichen – auch das gehöre zur<br />

Friedenssicherung. Nur wenn ein Klima der Zusammenarbeit<br />

in Europa erhalten bleibe, könnte der Westen den Polen auch<br />

weiterhin bei der Überwindung ihrer sehr großen wirtschaftlichen<br />

Schwierigkeiten die Hilfe leisten, die sie brauchen. In<br />

der heutigen Lage müsse zunächst erhalten werden, was die<br />

Deutschlandpolitik erreicht hat, nämlich das Vertrauen der<br />

Partner im Westen, aber auch das Vertrauen der Sowjetunion<br />

und der Nachbarn in Osteuropa darauf, dass jedenfalls von der<br />

Entwicklung in Deutschland keine zusätzlichen Spannungen<br />

ausgehen. Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan habe<br />

die Bundesregierung keinen Zweifel daran gelassen, „dass nach<br />

unserer Überzeugung der Dialog mit der Sowjetunion gerade in<br />

Krisenzeiten nicht abreißen darf“. Hierüber sei er auch am 30.<br />

März in längeren telefonischen Gesprächen erneut mit den beiden<br />

Präsidenten Ronald Reagan und Valery Giscard d‘Estaing<br />

einig gewesen. <strong>Die</strong> Gespräche von Bundesaußenminister<br />

Hans-<strong>Die</strong>trich Genscher in Moskau fügten sich in dieses<br />

Konzept ein. „Sie haben wichtige Klarstellungen sowjetischer<br />

Positionen im Rüstungskontrollbereich und zur Fortsetzung<br />

0


des KSZE-Prozesses einschließlich der von allen Seiten ins Auge<br />

gefassten Konferenz über Abrüstung in Europa erbracht. <strong>Die</strong><br />

Sowjetregierung hat ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über<br />

Mittelstreckenwaffen ohne Vorbedingungen bestätigt.“ <strong>Die</strong><br />

Bundesregierung sei davon überzeugt, dass sie ihren Beitrag<br />

zur Fortführung des notwendigen Dialogs nicht nur leisten<br />

könne, sondern dass sie ihn auch leisten muss, nicht zuletzt im<br />

Interesse des deutschen Volkes. Je intensiver die Beziehungen<br />

zwischen West und Ost seien, je besser die Beziehungen zwischen<br />

den USA und der Sowjetunion, desto besser sei das für<br />

die Deutschen.<br />

<strong>Die</strong> Strukturkrise der Weltwirtschaft und die Folgen der<br />

2. Ölpreisexplosion hätten Westeuropa und Osteuropa hart<br />

getroffen. „Wir in der Bundesrepublik haben Mühe, die seit<br />

1978 eingetretene abermalige Verdoppelung unserer jährlichen<br />

Ölrechnungen auf 60 Mrd. DM zu verkraften. Unter dem<br />

Druck von außen werden auch bei uns Bruttosozialprodukt<br />

und Volkseinkommen in diesem Jahr real etwas zurückgehen.<br />

Das gilt für Industrieunternehmen, das gilt für Banken, das<br />

gilt für die Landwirtschaft und es trifft auch die Arbeitnehmer.<br />

<strong>Die</strong> Sorge um Arbeitsplätze hat zugenommen. „Gegenwärtig<br />

seien allgemeine Konjunkturprogramme zur Stimulierung der<br />

Nachfrage kein brauchbares Rezept. <strong>Die</strong>s gelte übrigens für<br />

Osteuropa genauso, wie es die Europäische Gemeinschaft gemeinsam<br />

festgestellt hat. Für die Bundesrepublik komme es vor<br />

allem darauf an, das Leistungsbilanzdefizit zu verringern, es abzubauen.<br />

„Auf Hochdeutsch: Wir können nicht auf die Dauer<br />

höhere Rechnungen an das Ausland bezahlen, als wir selber an<br />

Zahlungen aus dem Ausland erhalten. <strong>Die</strong>s bedeutet vor allem,<br />

unsere Einfuhr an Öl weiterhin zu drosseln. Es bedeutet ebenso<br />

allgemeine Einsparung von Energie, und es bedeutet ebenso,<br />

die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte am Weltmarkt<br />

nochmals zu verbessern, um mehr verkaufen zu können.“<br />

In der Bundesrepublik und ähnlich in der DDR gebe es manchen,<br />

der sich Sorgen um seine wirtschaftliche Zukunft macht.<br />

1


Angst um den Frieden, Angst um Sicherheit insgesamt kommen<br />

hinzu, und dies keineswegs nur unter jüngeren Menschen.<br />

Gewiss könne niemand ihnen Sicherheit gegen alle Fährnisse<br />

des Lebens bieten. Es gebe Gott sei Dank kein automatisiertes<br />

oder unfallfrei durchprogrammiertes Leben, denn das wäre<br />

ganz schrecklich und ganz unmenschlich. Gewiss soll auch keiner<br />

die Probleme anderer, zumal ihre Sorgen und Ängste, kleiner<br />

schreiben, als sie sind. Aber es bleibe auch richtig, dass die<br />

allermeisten Menschen auf der ganzen Welt ihren Platz gern<br />

mit einem Deutschen tauschen würden. Auch sollte keiner<br />

übersehen, dass im letzten Jahr die Beschäftigung im Lande mit<br />

25,8 Millionen Menschen den absolut höchsten Stand in der<br />

Geschichte der Bundesrepublik erreicht habe. Jeder, der sich um<br />

den Frieden und um die Sicherheit Sorgen mache, der dürfe wissen:<br />

das Bündnis, die Partnerschaft mit den Verbündeten, mit<br />

den Vereinigten Staaten, gebe der Bundesrepublik Sicherheit.<br />

Er dürfe wissen, der Friede sei nicht akut bedroht, und er brauche<br />

keinem Angstmacher anheimzufallen, weder den friedenspolitischen<br />

Angstmachern noch den wirtschaftspolitischen<br />

Angstmachern. Es müssten aber zwei Dinge hinzugefügt<br />

und verstanden werden: Der Beginn der achtziger Jahre stelle<br />

an die Gesellschaft Anforderungen von größerer Bedeutung<br />

und von anderer Bedeutung, anderer Qualität als der Beginn<br />

der 70er Jahre. <strong>Die</strong> Bürger sollten sich aus dem einseitigen<br />

Anspruchsdenken befreien, das die Wachstumsgesellschaft zunächst<br />

mit sich gebracht habe. Manche Minoritäten würden<br />

bisweilen ziemlich brutal von der Solidarität ausgeschlossen.<br />

Sicherlich mangele es bisweilen auch an der Solidarität gegenüber<br />

der Jugend und auch gegenüber künftigen Menschen, die<br />

erst noch geboren werden sollen, wenn die Heutigen die natürliche<br />

Umwelt bisweilen unbedacht zerstören lassen.<br />

Schmidt über die DDR<br />

An Solidarität mangele es bisweilen auch gegenüber Bürgern<br />

der DDR, wenn zum Beispiel Bundesbürger, weil es ihnen bes-<br />

2


ser geht, jenen herablassend auf die Schulter klopfen. „Unsere<br />

Landsleute drüben haben an Hitler und haben am II. Weltkrieg<br />

ganz gewiss nicht mehr Schuld als die Bundesbürger, aber sie<br />

tragen viel schwerer an den Folgen dieser Ereignisse.“ Zum<br />

Verhältnis zur DDR sagte Schmidt: „Vor Jahr und Tag hat<br />

der Gedanke an Annäherung zwischen Ostberlin und Bonn,<br />

zwischen den beiden deutschen Staaten, häufig den Argwohn<br />

Dritter ausgelöst: <strong>Die</strong> deutsche Frage schien den Status Europas<br />

zu beunruhigen; sie schien den Frieden Europas zu gefährden.<br />

Heute ist das eher umgekehrt: Unruhe und Angst in der Welt<br />

und in Europa gefährden das inzwischen erreichte Maß an<br />

deutsch-deutscher Zusammenarbeit. <strong>Die</strong> von der Regierung<br />

der DDR unter diesen Weltumständen im letzten Herbst verfügte<br />

Erhöhung und Ausweitung der Mindestumtauschsätze<br />

im Reiseverkehr ist dafür ein Beispiel. Sie hat den Beziehungen<br />

zwischen den beiden deutschen Staaten einen erheblichen<br />

Rückschlag versetzt. Der Reiseverkehr in die DDR, der sich bis<br />

zum Oktober normal entwickelt hatte, ist danach drastisch zurückgegangen,<br />

besonders in Berlin. <strong>Die</strong> Bundesregierung erwartet,<br />

dass die Führung der DDR diesen Eingriff in den Bestand<br />

an menschlichen Kontakten korrigiert. <strong>Die</strong>s ist wieder einmal<br />

ein Rückschlag; es ist kein Ende, kein Scheitern unserer Politik<br />

der Minderung von Spannungen und des Interessenausgleichs.<br />

Wir haben uns auch früher durch Rückschläge nicht aus<br />

dem Gleis werfen lassen, und wir werden auch zukünftig<br />

Abgrenzung nicht unsererseits mit eigener Abgrenzung beantworten.<br />

Wir bieten vielmehr auch für die Zukunft den Ausbau<br />

der Zusammenarbeit und der Beziehungen mit der DDR an.“<br />

Schmidt hatte über die Kontaktschiene <strong>Die</strong>trich Spangenberg/Hermann<br />

von Berg schon in der zweiten Hälfte der<br />

70er Jahre eine Kooperation auf Drittmärkten in Milliarden-<br />

Größenordnung angeboten, wozu auch entsprechende Kredite<br />

ins Auge gefasst wurden. Ähnlich wie die Volksrepublik China,<br />

die unter Deng Xiao Ping einen Kurswechsel zu einer sozialistischen<br />

Marktwirtschaft vollzog, hätte die DDR einen<br />

3


Paradigmenwechsel vollziehen können. Aber Erich Honecker<br />

bevorzugte eher „kleine Schritte“:<br />

<strong>•</strong><br />

Den Autobahnbau nach Hamburg und die Gestattungsproduktion<br />

in der DDR. Honecker und seine Mitstreiter<br />

im SED-Politbüro verfügten nicht über das Format,<br />

einen Paradigmenwechsel zu vollziehen.<br />

<strong>Die</strong> Verschiebung des für August 1980 vorbereiteten Treffens<br />

von Bundeskanzler Schmidt mit SED-Chef Erich<br />

Honecker hatte ihren Grund in erregenden außerdeutschen<br />

Entwicklungen. Der Entschluss zur Verschiebung dieses<br />

Besuchs war Schmidt umso schwerer gefallen, als das ursprünglich<br />

schon für die ersten Monate des Jahres 1980 verabredete<br />

Treffen wegen der Zunahme der Spannungen zwischen West<br />

und Ost nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan auf<br />

Wunsch von Honecker schon einmal hatte verschoben werden<br />

müssen. Schmidt hielt daran fest, dass das Gespräch über den<br />

Gesamtkomplex der Beziehungen zwischen beiden Staaten<br />

und über aktuelle internationale Fragen zu einem für beide<br />

Seiten besser geeigneten Zeitpunkt durchgeführt wird.<br />

4<br />

� Das 25. <strong>Mauer</strong>-Jubiläum und die deutsch-deutschen<br />

Beziehungen<br />

Zum 25. Jahrestag des Baus der <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong> fand am 13.<br />

August 1986 im <strong>Berliner</strong> Reichstag eine zentrale Gedenkstunde<br />

statt. In Ansprachen gedachten Bundeskanzler Helmut Kohl,<br />

der Regierende Bürgermeister Berlins, Eberhard <strong>Die</strong>pgen, und<br />

der SPD-Vorsitzende Brandt der politischen und menschlichen<br />

Auswirkungen des <strong>Mauer</strong>baus. Bundeskanzler Kohl nannte<br />

die geteilte Stadt „ein Symbol für den Freiheitswillen aller<br />

Deutschen“. Ziel der Politik müsse es sein, den Frieden zu wah-


en. Er forderte aber auch „Freiheit und Selbstbestimmungsrecht<br />

für alle Deutschen“. Daher werde sich die Bundesrepublik<br />

nicht mit der Existenz der <strong>Mauer</strong> abfinden. Kohl wiederholte<br />

die bereits in seinem Bericht zur Lage der Nation erhobenen<br />

Forderungen: „Erstens: Wir fordern Humanität und<br />

Frieden an der Grenze mitten durch Deutschland. <strong>Mauer</strong> und<br />

Stacheldraht und Schießbefehl müssen weg. Zweitens: Wir fordern<br />

Freizügigkeit in Deutschland. Reisefreiheit für Menschen,<br />

der ungehinderte Fluss von Informationen und Meinungen,<br />

das sollte auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland<br />

endlich alltägliche Praxis werden. Drittens: Wir fordern die<br />

Einhaltung der Menschenrechte und die Gewährung der<br />

Grundrechte für unsere Landsleute in der DDR. Sie haben ein<br />

selbstverständliches Recht, nach ihrem Gewissen zu handeln,<br />

ihre Meinung frei zu äußern und wegen ihres Glaubens nicht<br />

diskriminiert zu werden.“ Da die DDR heute weltweit als Staat<br />

anerkannt und innerlich gefestigt sei, verfüge sie heute auch<br />

„über mehr eigenen Spielraum, um die Folgen der Teilung für<br />

die Menschen in Deutschland zu mildern“. Kohl kritisierte die<br />

DDR, dass sie den Tag des <strong>Mauer</strong>baus mit „Pomp und militärischem<br />

Gepränge“ feiere. Dazu gehöre viel Zynismus. Er<br />

erinnerte an die 74 Menschen, die seit 1961 ihr Leben verloren<br />

bei dem Versuch, die <strong>Mauer</strong> zu überwinden.<br />

Der SPD-Vorsitzende Brandt, der 1961 Regierender<br />

Bürgermeister von Berlin war, setzte sich für eine Fortsetzung<br />

der Entspannungspolitik ein. Er wies darauf hin, dass der<br />

August 1961 „nicht nur einen Einschnitt, sondern einen gewissen<br />

Wendepunkt“ bedeutet habe. „Was deutschlandpolitisch<br />

als das allein Mögliche angepriesen worden war, mit moralischem<br />

Alleinvertretungsanspruch obendrein, hatte sich als<br />

untauglich erwiesen; es hat nicht zu mehr Einheit, sondern zu<br />

weiterer Teilung – zur <strong>Mauer</strong> also – geführt.“ <strong>Die</strong> Konsequenz,<br />

die er selbst daraus gezogen habe, habe ihren Ausdruck in seiner<br />

Ostpolitik als Kanzler gefunden. Er sagte weiter: „Eine<br />

Alternative zu der nach dem 13. August entwickelten Maxime<br />

5


gibt es im übrigen auch heute nicht. Trotz der <strong>Mauer</strong> leben<br />

heißt: die Auswirkungen der Trennung für das Leben der<br />

Menschen auf beiden Seiten erleichtern helfen, so gut es geht;<br />

und Westberlin in enger Bindung an den Bund so weiterentwickeln<br />

und mit immer neuem Leben erfüllen, dass sich die<br />

vitale Zukunft unserer Stadt nicht in Zweifel ziehen lässt.“ Es<br />

gebe weder eine lokale noch eine nationale Perspektive, um<br />

die <strong>Mauer</strong> zu überwinden, sondern nur eine europäische.<br />

Der Regierende Bürgermeister Eberhard <strong>Die</strong>pgen bezeichnete<br />

die <strong>Mauer</strong> als „Symbol einer permanenten Lebenslüge des<br />

DDR-Sozialismus: Sie ist Ausdruck permanenten Misstrauens<br />

gegenüber der eigenen Bevölkerung“. Er warnte aber vor einer<br />

Destabilisierung der DDR: „Für Mitteleuropa erwies sich<br />

die zunehmende politische Stabilität des DDR-Regimes als<br />

Voraussetzung für einen deutsch-deutschen Interessenausgleich,<br />

für menschliche Erleichterungen, für eine, wenn auch nur millimeterweise,<br />

Überwindung der <strong>Mauer</strong>. Wir können daher<br />

kein Interesse daran haben, die DDR zu destabilisieren.“ Er<br />

sei davon überzeugt, dass die <strong>Mauer</strong> vor der Geschichte keinen<br />

Bestand haben werde. Das entbinde heutige Generationen<br />

nicht von der Verantwortung: Sie müsse „produktiv mit der<br />

<strong>Mauer</strong> umgehen“. <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> könne aber durchlässiger werden,<br />

z. B. durch eine Verbesserung der Reisemöglichkeiten.<br />

6<br />

� Einsatz der <strong>Mauer</strong> gegen Asylbewerber?<br />

Vertreter der Grünen und der Alternativen Liste bezeichneten<br />

die <strong>Mauer</strong> als „unmenschlich“ und als „Ausdruck einer<br />

gescheiterten Politik beider deutscher Staaten“. Der<br />

Bundestagsabgeordnete der <strong>Berliner</strong> Alternativen Liste (AL),<br />

Christian Stroebele, forderte, dass die „Grenze noch durchlässiger“<br />

werden müsse, sowohl für Deutschland als auch für<br />

Asylsuchende. Er bezeichnete die Reden der Politiker, die sich


am Jahrestag des <strong>Mauer</strong>baus über die <strong>Mauer</strong> empörten, gleichzeitig<br />

aber die Grenze benutzen wollten, um die steigende<br />

Zahl von Asylbewerbern einzudämmen, als „heuchlerisch“.<br />

„Menschenrechte sind nicht teilbar“, meinte Stroebele. In einer<br />

Erklärung der Grünen in Bonn forderten sie, die <strong>Mauer</strong> müsse<br />

überflüssig werden. Gleichzeitig warnten sie aber vor „nationaler<br />

Vaterlandsduselei“. <strong>Die</strong> Fraktionssprecherin Hannegret<br />

Hönes erklärte, dass, wenn die Forderung nach einem Abbau<br />

der <strong>Mauer</strong> kein „frommer Wunsch“ bleiben sollte, entsprechende<br />

politische Voraussetzungen geschaffen werden müssten.<br />

Es solle das „Faktum der Zweistaatlichkeit zum Ausgangspunkt<br />

bundesdeutscher Politik gemacht werden“. <strong>Die</strong> Grünen plädierten<br />

daher für eine umfassende Anerkennung der DDR.<br />

Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker sprach<br />

am 13. August 1986 vor „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“<br />

und mehreren Tausend zumeist von ihren Betrieben dorthin<br />

delegierten Menschen: „Heute vor 25 Jahren hat die Arbeiter-<br />

und Bauern-Macht auf deutschem Boden in Übereinstimmung<br />

mit ihren Verbündeten im Warschauer Pakt die Grenzen der<br />

Deutschen Demokratischen Republik gegenüber Berlin (West)<br />

und der BRD, die bis dahin offen waren, unter Kontrolle genommen.<br />

Das hat unserem Volk, hat den Völkern Europas, den<br />

Frieden gerettet. Mit dieser historischen Tat wurde die Freiheit<br />

unseres Volkes bewahrt und der Grundstein für das weitere<br />

Erblühen unseres sozialistischen Staates gelegt.“ Honecker<br />

schilderte die Ereignisse, die zum <strong>Mauer</strong>bau führten, aus der<br />

DDR-Sicht: „In den Jahren 1960/61 hatte sich die internationale<br />

Lage zugespitzt. Der Imperialismus folgte seiner illusionären<br />

Doktrin vom Zurückrollen des Sozialismus. Mit NATO-<br />

Manövern wurde die Aggression gegen die DDR geprobt, die<br />

gewaltsame Änderung des Status quo in Europa angestrebt.<br />

Westliche Politiker hatten Westberlin zur ‚Frontstadt’, zum<br />

‚Pfahl im Fleische der DDR’, deklariert. Sie verstiegen sich sogar<br />

dazu, die Stadt als ‚billigste Atombombe’ zu bezeichnen.<br />

In riesigem Umfang wurde Währungsspekulation betrieben,


große materielle Werte wurden verschoben, gut ausgebildete<br />

Fachkräfte abgeworben, um die Wirtschaft der DDR zu destabilisieren.<br />

Alledem haben wir am 13. August einen Riegel<br />

vorgelegt.“ Honecker führte das nach 1961 geschaffene System<br />

von Verträgen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa<br />

ursächlich auf den <strong>Mauer</strong>bau zurück: „Unsere Maßnahmen<br />

vom 13. August dienten dem Frieden. Sie ebneten ... den<br />

Weg von der Konfrontation zur Entspannung. Sie dienten der<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sie dienten dem<br />

Frieden.“ Er sprach sich für einen Ausbau und eine Festigung<br />

dieses Vertragssystems aus. <strong>Die</strong> DDR werde „immer unter denen<br />

zu finden sein, die im Interesse der Völker verantwortungsbewusst<br />

nach Wegen der Friedensbewahrung, des Abbaus der<br />

Konfrontation suchen“. <strong>Die</strong> DDR bleibe bei ihrem Standpunkt,<br />

dass „es besser sei, zehnmal, ja hundertmal, miteinander zu verhandeln,<br />

als auch nur einmal auf einander zu schießen“. Es sei<br />

im Übrigen heute nicht zuletzt auch dank des Wirkens der DDR<br />

zu einer allgemein anerkannten Erfahrung geworden, dass die<br />

Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen<br />

Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa in ihren<br />

gegenwärtigen Grenzen eine grundlegende Bedingung für den<br />

Frieden sind. Er vertrat die Auffassung, dass sich seit 1961 „der<br />

Sozialismus in der DDR in zuverlässig geschützten Grenzen für<br />

jeden sichtbar zum Wohle des Volkes entfaltet“ habe. Als Beleg<br />

führte er unter anderem an, dass zwischen 1961 und 1985<br />

das Nationaleinkommen von jährlich 77,9 Mrd. Mark auf<br />

234,8 Mrd. Mark und das Pro-Kopf-Realeinkommen von 357<br />

Mark im Monatsdurchschnitt auf 970 Mark gestiegen seien.<br />

Zusammen mit Honecker nahmen zahlreiche andere Politiker<br />

der DDR-Führung den Kampfgruppen-„Vorbeimarsch“ ab,<br />

den die Westmächte am 14. August in einer gemeinsamen<br />

Erklärung als „eindeutige Verletzung“ des entmilitarisierten<br />

Status von Berlin bezeichneten.<br />

Das sowjetische Außenministerium wandte sich bereits<br />

am 12. August in Erklärungen an die Botschaften der drei


Westmächte in Moskau. Darin hieß es: „In Zusammenhang<br />

mit dem Jahrestag der Schutzmaßnahmen an der Grenze zu<br />

Berlin (West) am 13. August 1961 wurde in dieser Stadt mit<br />

Unterstützung oder direkter Beteiligung von Behörden der<br />

BRD und Berlins (West) eine Reihe von Aktionen durchgeführt<br />

und geplant, deren Ziel es allem Anschein nach ist, Feindschaft<br />

zur UdSSR und zur DDR vorsätzlich zu schüren und schließlich<br />

die ganze Lage um Berlin (West) zu verschärfen. In einer<br />

Atmosphäre der Psychose, die von gewissen Massenmedien<br />

und durch offizielle Persönlichkeiten, darunter auch einzelne<br />

Vertreter der drei Westmächte, geschürt wird, wurden bereits<br />

mehrere gefährliche Provokationen und Terrorakte an der Grenze<br />

von Berlin (West) zur DDR verübt. In der Stadt ist ferner die<br />

Durchführung weiterer Veranstaltungen, darunter im Gebäude<br />

des ehemaligen Reichstags und unter Mitwirkung offizieller<br />

Persönlichkeiten der BRD, geplant. An der Vorbereitung und<br />

Durchführung einzelner Aktionen sind offen revanchistische<br />

Organisationen unmittelbar beteiligt. Es liegt klar auf der Hand,<br />

dass die in Berlin (West) aufgezogene feindselige Kampagne<br />

die Atmosphäre in der Stadt und um sie vergiftet und nicht<br />

mit den Interessen zur Erhaltung einer ruhigen und normalen<br />

Atmosphäre zu vereinbaren ist. Bekanntlich sollen die USA,<br />

Großbritannien und Frankreich entsprechend dem Vierseitigen<br />

Abkommen vom 3. September 1971 dazu beitragen, dass im<br />

Geltungsbereich des Abkommens Komplikationen verhindert<br />

und Spannungen vermieden werden. <strong>Die</strong> amerikanische Seite<br />

muss sich aller Konsequenzen bewusst sein, die die Versuche<br />

bestimmter Kreise haben können, wider Geist und Buchstaben<br />

des Vierseitigen Abkommens zu handeln. <strong>Die</strong> sowjetische Seite<br />

erwartet, dass die Behörden der USA für Maßnahmen sorgen<br />

werden, um die genannten provokatorischen und gegen den<br />

Frieden gerichteten Aktionen in Berlin (West) zu unterbinden.“<br />

<strong>Die</strong> Sowjetunion legte in Bonn Protest ein. Sowjetbotschafter<br />

Julij A. Kwizinskij trug im Kanzleramt eine Erklärung vor, in<br />

der die Sowjetunion gegen die Veranstaltungen zum Jahrestag


des <strong>Mauer</strong>baus in Westberlin sowie die Teilnahme von<br />

Mitgliedern der Bundesregierung protestiert. Bundeskanzler<br />

Kohl wurde nicht namentlich erwähnt. In der Erklärung war<br />

von „Provokationen“ und von „Umtrieben in Berlin“ die Rede.<br />

Der Botschafter warnte vor „ernsten Konsequenzen“.<br />

0<br />

� Das Asylantenproblem<br />

Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann legte am 23. Juli<br />

1986 vor dem Bundeskabinett einen ausführlichen „Bericht<br />

zur Asylproblematik“ vor. Darin heißt es: „Der Zustrom von<br />

Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland hat besorgniserregende<br />

Ausmaße angenommen. Er ist zu einem dringenden<br />

und zugleich brisanten Problem der Politik dieser Tage<br />

geworden.“ <strong>Die</strong>s gelte insbesondere für die Vielzahl der über<br />

den Ostberliner Flughafen Schönefeld in die Bundesrepublik<br />

einreisenden Asylsuchenden, da die DDR diesen Personen<br />

Transitvisa ausstellt, ohne dass sie eine Einreisegenehmigung in<br />

die Bundesrepublik vorweisen können. Zimmermann erläuterte,<br />

dass von 1980 bis 1983 ein Rückgang der Zahl der Asylsuchenden<br />

von 108 000 auf 20 000 Personen zu verzeichnen gewesen sei;<br />

dagegen seien seit 1984 die Zugangszahlen einschneidend angestiegen:<br />

„1984 stiegen die Asylbewerber um 79 Prozent gegenüber<br />

dem Vorjahr auf 35 000. 1985 haben wir wiederum<br />

eine Steigerung um 109 Prozent auf 74 000 zu verzeichnen. Im<br />

ersten Halbjahr dieses Jahres liegen die Zugangszahlen erneut<br />

um 45 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres:<br />

Es kamen 42 000 Asylsuchende. Am Jahresende dürften wir<br />

eine Zahl von 100 000 erreichen.“ Mit diesen Zugangszahlen<br />

liege die Bundesrepublik seit Jahren an der Spitze der westeuropäischen<br />

Staaten. <strong>Die</strong>ses gelte nicht nur für die Asylsuchenden,<br />

sondern auch für die sich im Land befindenden Flüchtlinge mit<br />

oder ohne Flüchtlingsstatus. Bund, Länder und Gemeinden


hätten 1984 für diese Flüchtlinge schätzungsweise rund 2 Mrd.<br />

DM aufgebracht. Zimmermann wies auf folgende Probleme hin:<br />

„Neben den Schwierigkeiten, die die Aufnahme, Versorgung<br />

und Unterbringung der über die DDR einreisenden Ausländer<br />

bereitet und die sich zur Zeit nur durch Notmaßnahmen wie<br />

Benutzung von Turnhallen, Bau-Containern und dergleichen<br />

bewerkstelligen lassen, stellen sich zunehmend auch<br />

Sicherheitsprobleme. Bei ghanaischen Staatsangehörigen etwa<br />

ist die Kriminalität rund achtmal so hoch wie die allgemeine<br />

Ausländerkriminalität. Weibliche ghanaische Staatsangehörige<br />

gehen häufig der Prostitution nach. Zunehmend wird bei<br />

Ausländern, die über die DDR eingereist sind, Rauschgift gefunden.<br />

Deutlich an der Spitze der Tatverdächtigen-Statistik<br />

liegen hierbei Libanesen, Palästinenser, Türken und Pakistani.<br />

Große Besorgnis bereitet auch das in seiner Gefährlichkeit<br />

überhaupt nicht abschätzbare Terrorismuspotential, das sich<br />

möglicherweise unter den Reisenden aus Indien, aber auch aus<br />

dem arabischen Raum, hier vor allem unter den Libanesen und<br />

Palästinensern, befindet.“<br />

Um des Ansturms der Asylsuchenden Herr zu werden, habe<br />

die Koalitionsfraktion folgende Neuregelungen vorgesehen:<br />

„Durch die Erweiterung des Arbeitsverbots auf fünf Jahre wird<br />

deutlich gemacht, dass das Betreiben eines Asylverfahrens kein<br />

geeigneter Weg ist, in absehbarer Zeit zu einer aus wirtschaftlichen<br />

Gründen angestrebten Erwerbstätigkeit zu gelangen.<br />

Für viele Asylbewerber ist offenbar die derzeitige Befristung<br />

auf zwei Jahre immer noch Anreiz genug zur Einreise und<br />

Asylantragstellung aus wirtschaftlichen Gründen. Ich erhoffe<br />

mir von der neuen Regelung einen bremsenden Einfluss auf<br />

die Attraktivität unseres Landes für Wirtschaftsflüchtlinge.“<br />

Außerdem sollten die Möglichkeiten der Grenzbehörden erweitert<br />

werden, Ausländer zurückzuweisen, die trotz eines<br />

verfolgungsfreien Aufenthaltes in Drittstaaten aus wirtschaftlichen<br />

oder sonstigen privaten Gründen in die Bundesrepublik<br />

kommen wollten.<br />

1


„Unerlaubte“ Einreise der Asylanten über die DDR<br />

Zimmermann äußerte sich dann zur vermehrten Einreise der<br />

Asylsuchenden über die DDR: „<strong>Die</strong> unerlaubte Einreise über<br />

die DDR hat ein Ausmaß angenommen, das nicht mehr akzeptabel<br />

ist.“ Von ca. 6 000 Personen in den Jahren 1982 und 1983<br />

sei die Zahl 1984 auf 15 000 angestiegen. Im Jahr 1985 habe sie<br />

mit 44 852 Personen ihren vorläufigen Höchststand erreicht,<br />

der bei Anhalten der gegenwärtigen Tendenz in diesem Jahr<br />

jedoch noch übertroffen würde. Allein in den ersten Monaten<br />

dieses Jahres seien 22 789 Ausländer ohne Sichtvermerk auf<br />

dem Weg über die DDR in die Bundesrepublik eingereist.<br />

15 000 von 42 000 Asylbewerbern hätten ihren Asylantrag in<br />

Berlin gestellt. Nach den Erkenntnissen der <strong>Berliner</strong> Behörden<br />

sowie der Grenzpolizeibehörden reisten die Asylbewerber ausnahmslos<br />

auf dem Luftweg über den Ostberliner Flughafen<br />

Schönefeld ein. Sie benutzten zu etwa 60 bis 70 Prozent die<br />

sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot; die restlichen 30 bis 40<br />

Prozent verteilten sich auf die Fluggesellschaften Interflug,<br />

Syrian Arab Airlines, Balkan Airlines und Turkish Airlines. Von<br />

Schönefeld aus könnten die Asylsuchenden, zuerst mit DDR-<br />

Bussen bis zum Bahnhof Friedrichstraße, dann mit der U-<br />

oder S-Bahn, ungehindert in den Westen reisen, sie würden,<br />

da sie keine Grenze im völkerrechtlichen Sinne überschritten<br />

hätten, nicht kontrolliert. Bisher seien alle Bemühungen der<br />

Bundesregierung, die DDR zu veranlassen, entsprechend den<br />

internationalen Gepflogenheiten den Transit nur bei Vorliegen<br />

einer entsprechenden Einreisegenehmigung für den Zielstaat<br />

zu gestatten, ohne Erfolg geblieben.<br />

Berlins Bundessenator Rupert Scholz sagte nach einer Senatssitzung<br />

vom 22. Juli 1986, die Bundesregierung müsse intensive<br />

Gespräche mit der DDR führen, um den Asylantenstrom<br />

einzudämmen. <strong>Die</strong> Stadt könne weitere Asylbewerber kaum<br />

noch verkraften und habe Schwierigkeiten, die Asylsuchenden<br />

2


angemessen unterzubringen. In Turnhallen und in Zelten<br />

auf Sportplätzen seien bereits Notquartiere geschaffen worden.<br />

Nach dem für das gesamte Bundesgebiet geltenden Verteilungsschlüssel<br />

müsse Berlin nur 2,7 Prozent der Asylbewerber<br />

aufnehmen. Derzeit kämen aber über Ostberlin mehr als<br />

60 Prozent der Asylbewerber in Westberlin an. <strong>Die</strong> Verteilung<br />

der Asylanten auf die einzelnen Bundesländer dauert etwa<br />

vier bis sechs Wochen, das Anerkennungsverfahren mindestens<br />

ein Jahr und die Überprüfung durch den gerichtlichen<br />

Instanzenweg nochmals zwei bis vier Jahre. Der <strong>Berliner</strong><br />

Senat fordert als erste Konsequenz eine Beschleunigung des<br />

Anerkennungsverfahrens und eine schnellere Verteilung auf<br />

das Bundesgebiet. Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Jochen<br />

Vogel meinte, die Bundesregierung müsse gegenüber der DDR<br />

auf hoher Ebene deutlich machen, dass die gegenwärtige Praxis<br />

das deutsch-deutsche Einvernehmen belaste. Der DDR ginge<br />

es nicht um humanitäre Hilfe. Sonst würde sie die Betroffenen<br />

selbst im Land behalten. Es gehe ihr vielmehr offenbar darum,<br />

„uns mit Hilfe unserer eigenen Grundsätze ad absurdum<br />

zu führen“. <strong>Die</strong> Westmächte sollten überlegen, ob sie „ohne<br />

jede Präjudizierung des völkerrechtlichen Charakters der<br />

Sektorengrenze in Berlin Kontrollen praktizieren sollten, die<br />

diesen Missbrauch verhindern“. <strong>Die</strong> DDR würde „rasch nachdenklich<br />

werden“, wenn einmal 200 bis 300 der Asylbewerber<br />

innerhalb von ein bis zwei Tagen in Ostberlin blieben und dort<br />

dann das gleiche Problem entstünde, das sich jetzt im Westen<br />

ergebe. Solche Kontrollen auf Anordnung der Alliierten habe<br />

es ja schon in anderen Fällen gegeben. Für Kontrollen an der<br />

Sektorengrenze von West- nach Ostberlin sprachen sich auch<br />

einige CSU-Politiker aus. Gegner dieser Regelung wiesen darauf<br />

hin, dass nach ihrer Ansicht die DDR dann ihr Ziel erreicht<br />

hätte, dass in diesem Falle aus der durch den Vier-Mächte-<br />

Status festgelegten Demarkationslinie zwischen beiden Teilen<br />

der Stadt eine „Staatsgrenze“ werden würde.<br />

3


Das DDR-Außenministerium ließ wiederholt durch einen<br />

Sprecher erklären, die DDR habe mit dem Zustrom von<br />

Asylanten nichts zu tun. <strong>Die</strong>s sei „ein Problem, das Berlin<br />

(West) lösen muss, und zwar diejenigen, die dort aus bekannten<br />

Gründen zu bestimmen haben“. Damit wurde offenkundig<br />

auf die westlichen Alliierten angespielt. Bundeskanzler<br />

Kohl zeigte sich in einem Interview am 27. Juli deutlich verärgert<br />

über die Art und Weise, wie die DDR das Asylproblem<br />

behandelte. Er nannte es einen rasch abzustellenden „unerträglichen<br />

Zustand“, dass Wirtschaftsasylanten über Ostberlin<br />

in den Westteil der Stadt kämen. <strong>Die</strong> DDR, die dies zulasse,<br />

müsse sich „alles andere als freundliche Akte“ vorhalten lassen.<br />

Der Kanzler äußerte sich zurückhaltend auf die Frage, ob es an<br />

den Sektorenübergängen in Berlin zu einer Kontrolle durch die<br />

Alliierten kommen solle. Es gelte sehr genau zu prüfen, „welche<br />

Konsequenzen das hat“, betonte Kohl. Der Vorsitzende<br />

der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Theo Waigel, warf<br />

der DDR und der Sowjetunion vor, sie wollten mit dem<br />

Asylantenstrom Druck ausüben, „um den Status von Berlin zu<br />

verändern“. Waigel regte als Druckmittel gegen die DDR an,<br />

die zwischen der Bundesrepublik und der DDR bestehenden<br />

Verträge infrage zu stellen.<br />

Am 29. Juli meldete die amtliche Ostberliner Nachrichtenagentur<br />

ADN unter der Überschrift „Querschläge gegen gute<br />

Nachbarschaft“, Politiker in der Bundesrepublik hätten in der<br />

Asylfrage „eine groß angelegte und zügellose Kampagne gegen<br />

die DDR entfacht, um von Problemen abzulenken, deren<br />

Lösung einzig und allein ihre Angelegenheit ist“. Sie gäben<br />

der Konfrontation Vorrang vor der Entwicklung normaler<br />

Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. „Es<br />

fällt schwer, dabei an Zufälle oder persönliche Irritationen von<br />

Politikern zu glauben“, hieß es weiter. <strong>Die</strong> DDR gestatte entsprechend<br />

dem Völkerrecht (Konvention von Barcelona vom<br />

20. April 1921) den Transit durch ihr Hoheitsgebiet. Es werde<br />

niemandem gelingen, die DDR von diesen Grundsätzen ab-<br />

4


zubringen, die auch im Transitabkommen von 1971 enthalten<br />

seien. ADN erinnerte daran, dass die DDR seit dem 1. Februar<br />

1986 auf Bitten der Bundesregierung Bürgern aus bestimmten<br />

Ländern nur dann ein Transitvisum ausstelle, wenn sie ein<br />

Einreisevisum für die Bundesrepublik besäßen. Anders sehe<br />

es mit Westberlin aus, das unter Besatzungsrecht stehe, kein<br />

Bestandteil der Bundesrepublik sei und von ihr nicht regiert<br />

werden dürfe. ADN betonte, dass „die Frage der in Westberlin<br />

um Asyl nachsuchenden Personen nicht in die Zuständigkeit<br />

der DDR fällt“. <strong>Die</strong> Einreise in die Stadt sei ausschließlich<br />

Sache der Alliierten. Im übrigen „dürfte es auch den Politikern<br />

in der BRD hinreichend bekannt sein“, dass die meisten<br />

Asylbewerber nicht über die DDR in die Bundesrepublik einreisten.<br />

Offenbar mit Blick auf die Sanktionsforderungen aus<br />

Kreisen der Union meinte ADN, jeder Versuch, die DDR zu erpressen,<br />

sei von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Wer sich<br />

dennoch daran beteilige, solle nicht vergessen, „dass sich Hetze<br />

und Provokationen mit guter Nachbarschaft nicht vereinbaren<br />

lassen“. Eine sachliche Atmosphäre in den Beziehungen liege<br />

nicht nur im Interesse der DDR. Es sei zu hoffen, „dass dies in<br />

den verantwortlichen Kreisen verstanden wird“.<br />

Auf Weisung Erich Honeckers ließ die DDR ab 1. Oktober<br />

1986 nur noch Personen im Transit nach Westberlin reisen, die<br />

über ein Anschlussvisum anderer Staaten (d. h. natürlich vor<br />

allem der Bundesrepublik) verfügten. Wolfgang Schäuble hatte<br />

zuvor bei seinen Verhandlungen ein Junktim zwischen der Transitfrage<br />

und der Swing-Regelung im deutsch-deutschen Handel<br />

konstruiert. <strong>Die</strong> SPD hatte gleichzeitig den Wahlkampf ins<br />

Spiel gebracht. Sie wollte im Falle eines Wahlsiegs von Johannes<br />

Rau die DDR-Staatsbürgerschaft „respektieren“, hatte Willy<br />

Brandt in einem Gespräch Erich Honecker versichert, wenn die<br />

DDR eine gefällige Transitlösung fände. Bundeskanzler Kohl<br />

bedankte sich in einem Brief für das Entgegenkommen der<br />

DDR. DDR-Deutschlandpolitiker Karl Seidel kommentierte<br />

den Vorgang rückblickend: „Trotz des ‚Lobes’ von Kohl blieb<br />

5


die Tatsache bestehen, dass die DDR einen Preis an moralischer<br />

Glaubwürdigkeit zu zahlen hatte, was bei allen Beteiligten ein<br />

ungutes Gefühl zurückließ.“ Festzuhalten bleibt aber, ab 1.<br />

Oktober 1986 nahmen Westberlin und die Bundesrepublik im<br />

Einvernehmen mit der DDR-Regierung den Schutz der <strong>Mauer</strong><br />

gegen unerwünschte Asylbewerber in Anspruch.<br />

6<br />

� Folgenschwere Unterlassung der DDR-Regierung<br />

Verschiedentlich wurde der Vorschlag unterbreitet, die Bundesrepublik<br />

möge der DDR einen Reparationsausgleich anbieten,<br />

um durch die ökonomische Stärkung der DDR die <strong>Mauer</strong><br />

überflüssig zu machen. Zuerst lancierte diesen Vorschlag der<br />

Kieler Ökonom Fritz Baade unterstützt von 25 Bundestagsabgeordneten<br />

der SPD 1962 über den Ostberliner Wirtschaftshistoriker<br />

Jürgen Kuczynski an Walter Ulbricht. Im Gegensatz<br />

zur Regierung in Bonn bekundete Ulbricht, wie zahlreiche seiner<br />

Reden in den 60er Jahren belegen, Interesse für den Vorschlag.<br />

Zuletzt wandte sich Ende 1989 der Bremer Historiker<br />

Arno Peters mit dem Appell für einen Reparationsausgleich an<br />

beide deutsche Regierungen. Ministerpräsident Hans Modrow<br />

zeigte Interesse, Helmut Kohl winkte ab.<br />

Erwähnung verdient die „Operation <strong>Mauer</strong>durchlöcherung“<br />

des Schriftstellers Robert Neumann. Mit Hilfe seines<br />

Tonbandgerätes brachte Neumann von 1961 bis 1964 einen<br />

Dialog zwischen Marburger und Ostberliner Studenten und<br />

Wissenschaftlern auf den Weg. Das Ziel bestand darin, Klischees<br />

auf beiden Seiten abzubauen.<br />

Nachdem 1973 beide deutsche Staaten Mitglied der UNO<br />

geworden waren und 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki<br />

unterzeichnet worden war, stand die Regierung der DDR in<br />

der Pflicht, Regelungen auf den Weg zu bringen (Reisegesetz),<br />

die ihren Bürgern das Reisen auch in Länder der ihnen seit


August 1961 verschlossenen westlichen Welt ermöglichten.<br />

DDR-Vermittler Jürgen Nitz legte 1994 Dokumente vor, die<br />

zeigten, dass solche Projekte wie „Länderspiel“ und „Zürcher<br />

Modell“ von Unterhändlern von Ost und West erörtert wurden.<br />

Nitz zufolge erwog 1986 die Bundesregierung, mit der<br />

Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und der Schließung<br />

der Erfassungsstelle in Salzgitter die „totale Freigabe“ der<br />

Reisemöglichkeiten zu erkaufen. Aus unterschiedlichen Gründen<br />

kam keines dieser Projekte zum Zuge. <strong>Die</strong> Schuld hierfür<br />

muss auf beiden Seiten gesucht werden.<br />

Generell sei aber die folgenschwere Unterlassung der DDR-<br />

Regierung festgehalten, kein Reisegesetz auf den Weg zu bringen.<br />

So bekam die <strong>Mauer</strong> immer mehr eine nach innen gerichtete<br />

Repressivfunktion. Dem wachsenden inneren Druck<br />

konnte die <strong>Mauer</strong> auf die Dauer nicht widerstehen.<br />

� <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>öffnung<br />

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre traten in mehreren<br />

Ländern des Ostblocks Krisenerscheinungen zutage. <strong>Die</strong><br />

Nationaleinkommen stagnierten. Es kam zu Spannungen, die<br />

sich in sozialen und nationalen Konflikten entluden. Michael<br />

Gorbatschow, Parteichef der Sowjetunion, entschloss sich<br />

1987 zu einer Reformpolitik (Glasnost, Perestroika), die jedoch<br />

den weiteren Bestand der UdSSR als Supermacht nicht<br />

mehr zu sichern vermochte. Schon im zweiten Halbjahr<br />

1988 brach die sowjetische Volkswirtschaft zusammen, was<br />

Moskau vollends von westlichen Krediten abhängig machte<br />

und den Niedergang der sozialistischen Staaten in Ost- und<br />

Mitteleuropa beschleunigte. In der DDR mehrten sich die<br />

Krisenerscheinungen angesichts der Reformverweigerung<br />

durch Parteichef Erich Honecker. In Ungarn und Polen hatten<br />

der „Runde Tisch“ bzw. der „Dreieckstisch“ im ersten Halbjahr


1989 den Systemwechsel vom autoritären Sozialismus zur parlamentarischen<br />

Demokratie eingeleitet.<br />

Unter diesen Bedingungen war es dem Ostblock nicht<br />

mehr möglich, den „Eisernen Vorhang“ aufrechtzuerhalten.<br />

Am 10. September gab Ungarn bekannt, seine Grenze zu Österreich<br />

ab 11. September 00.00 Uhr zu öffnen. Danach erklärte<br />

Österreich, dass DDR-Bürger aus Ungarn ohne Visum einreisen<br />

dürften. Zu dieser Zeit warteten schon 6 600 DDR-Urlauber<br />

in Zeltlagern und Privatunterkünften nahe der Grenze auf<br />

die Ausreise nach Österreich. <strong>Die</strong> Sowjetunion bedauerte die<br />

Entscheidung der ungarischen und österreichischen Regierung,<br />

ließ jedoch wissen: „Aber das betrifft uns nicht direkt.“ Am 18.<br />

Oktober wurde Erich Honecker auf einer überraschend einberufenen<br />

Sondersitzung des SED-Zentralkomitees gestürzt.<br />

Zum Nachfolger avancierte Egon Krenz, der zunächst an den<br />

alten Prämissen der SED-Politik festhielt und dann auf die<br />

schon gescheiterte Reform-Politik Gorbatschows einzuschwenken<br />

versuchte. Nach Montagsdemonstrationen in Leipzig und<br />

Massenprotesten in Berlin sowie vielen anderen Städten stürmten<br />

am späten Abend des 9. November Tausende Ostberliner<br />

die Grenzübergangsstellen an der <strong>Mauer</strong>. Auslöser war ein<br />

Versprecher von Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer<br />

Pressekonferenz kurz vor 19 Uhr, die vom DDR-Fernsehen übertragen<br />

wurde. Schon um 19.05 Uhr meldete Associated Press:<br />

„<strong>Die</strong> DDR öffnet nach Angaben von SED-Politbüromitglied<br />

Günter Schabowski ihre Grenzen.“ <strong>Die</strong> Befehlshaber an den<br />

<strong>Berliner</strong> Grenzübergangsstellen waren von „oben“ nicht instruiert<br />

worden. Gegen 22.30 Uhr entschieden sie in eigener<br />

Verantwortung: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!“<br />

Auf Westberliner Seite wurden die Ostberliner begeistert<br />

begrüßt. Es floss viel Sekt. Es regnete Konfetti. Das am meisten<br />

gebrauchte Wort hieß: „Wahnsinn!“<br />

Der erste Politiker, der nach dem <strong>Mauer</strong>fall in Berlin die<br />

Gunst der Stunde richtig erkannte, war Bundeskanzler Helmut<br />

Kohl. Ohne Abstimmung mit seinen Bündnispartnern legte er


am 28. November ein Zehnpunkte-Programm vor, das auf die<br />

Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands zielte.<br />

Mit Demonstrationen verlieh eine Mehrheit der DDR-Bürger<br />

ihrem Wunsch nach Herstellung der Einheit Ausdruck. Neuen<br />

Sozialismus-Experimenten wurde eine Absage erteilt.<br />

Der am 12. September 1990 unterzeichnete 2-plus-4-Vertrag<br />

regelte die äußeren Fragen der deutschen Wiedervereinigung.<br />

Der von der Volkskammer und dem Bundestag verabschiedete<br />

Einigungsvertrag ebnete den Weg zum Beitritt der DDR zur<br />

Bundesrepublik am 3. Oktober 1990. Nach Ratifizierung des<br />

2-plus-4-Vertrages durch die jeweiligen Parlamente erlangte<br />

Deutschland am 15. März 1991 die volle Souveränität.<br />

<strong>Die</strong> deutsche Einheit wurde in allzu großer Hast hergestellt.<br />

<strong>Die</strong> Transformation der Wirtschaft der Ex-DDR in<br />

die Marktwirtschaft der Bundesrepublik verlief nicht so erfolgreich,<br />

wie sich das Millionen Ostdeutsche erhofft hatten.<br />

Kanzler Kohls Vision von den „blühenden Landschaften“<br />

blieb eine Illusion. <strong>Die</strong> Niederlage der DDR bewirkte in der<br />

Bundesrepublik eine Störung im Verhältnis von Kapital und<br />

Arbeit. Im wiedervereinigten Deutschland entstand so eine Art<br />

umgekehrte <strong>Mauer</strong> bzw. ein schwer überbrückbarer Canyon:<br />

Es klafft eine für Millionen Deutsche in Ost und West immer<br />

spürbarere Gerechtigkeitslücke zwischen unten und oben.


Während das Volk verarmte, wurden die Reichen immer<br />

reicher.<br />

0<br />

(Quelle: junge Welt, 17.04.2008, S. 11)<br />

Massenarbeitslosigkeit, Ungleichbehandlung und die drohende<br />

neue Armut führten im Sommer 2004 zum erneuten<br />

Aufflammen von Montagsdemonstrationen, in deren Ergebnis<br />

die linke Partei WASG mit Schwerpunkt im Westen entstand<br />

und die vor allem im Osten verankerte PDS neuen Auftrieb<br />

erhielt. 2007 vereinigten sich die WASG und die PDS zur<br />

Partei „<strong>Die</strong> Linke“, die sich im Verlaufe des Jahres 2008 erfolgreich<br />

im Parteiensystem der Bundesrepublik zu etablieren<br />

vermochte. Im gleichen Jahr entdeckte die SPD das Thema<br />

Gerechtigkeit neu und forderte nun auch die von ihr bis dahin<br />

abgelehnten Mindestlöhne. Selbst die CDU rückte von<br />

rechts in die Mitte. Es kam zum Erstaunen nicht weniger<br />

Zeitgenossen einiges in Bewegung in Deutschland.


Zeittafel<br />

12. September 1944<br />

Im Londoner Protokoll einigen sich die Drei Mächte über die<br />

Besatzungszonen und die Verwaltung von Groß-Berlin. Ein<br />

Alliierter Kontrollrat mit Sitz in Berlin soll das gemeinsame<br />

Vorgehen in allen Zonen sichern.<br />

1948<br />

Politische und wirtschaftliche Teilung Berlins. Blockade<br />

(24.6.1948-12.5.1949) und Luftbrücke (8.7.1948-30.9.1949)<br />

markieren Höhepunkte im Kalten Krieg.<br />

4. August 1950<br />

Eine „<strong>Berliner</strong> Verfassung“, die Westberlin den Charakter eines<br />

Stadtstaates wie Hamburg und Bremen verleiht, wird vom<br />

Stadtparlament einstimmig verabschiedet.<br />

27. November 1958<br />

<strong>Die</strong> UdSSR erklärt in einem Memorandum an die Westmächte<br />

und die Regierungen der beiden deutschen Staaten, dass sie<br />

die Vereinbarung der European Advisory Commission (EAC,<br />

Europäische Beratende Kommission) vom 12. September<br />

1944 und die sich daran knüpfenden Einzelabkommen<br />

über die Rechte der Westalliierten in Berlin, die für die ersten<br />

Nachkriegsjahre getroffen worden waren, als nicht<br />

mehr in Kraft befindlich betrachte. Für Verhandlungen zur<br />

Neubestimmung des Berlin-Status als „entmilitarisierte Freie<br />

Stadt“ setzt die Sowjetunion eine Frist von sechs Monaten.<br />

(Berlin-Ultimatum)<br />

3. und 4. Juni 1961<br />

Das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten<br />

John F. Kennedy und dem sowjetischen Ministerpräsidenten<br />

1


Nikita S. Chruschtschow führt nicht zur Beilegung der akuten<br />

Spannungen in der Berlin-Frage. Chruschtschow überreicht<br />

ein Memorandum, das anregt, die Fragen der deutschen<br />

Wiedervereinigung in die Kompetenz der beiden deutschen<br />

Staaten zu übergeben.<br />

5. Juli 1961<br />

Der amerikanische Diplomat Arthur Schlesinger und der<br />

sowjetische Botschaftsrat Georgi Kornijenko sprechen in<br />

Washington über die sowjetischen „Garantien“ für Westberlin.<br />

Angesichts des großen amerikanischen Misstrauens fordert<br />

Kornijenko, die amerikanische Seite möge ihre eigenen<br />

Garantien formulieren.<br />

19. und 25. Juli 1961<br />

Präsident Kennedy verkündet die „three essentials“ für eine<br />

Konfliktregulierung in Berlin: 1. <strong>Die</strong> Freiheit der Bevölkerung<br />

von Westberlin, ihr eigenes politisches System zu wählen 2.<br />

<strong>Die</strong> Anwesenheit westlicher Truppen, solange sie von der<br />

Bevölkerung gewünscht und benötigt werden 3. Den ungehinderten<br />

Zugang zur Stadt vom Westen auf der Autobahn sowie<br />

auf den Luft- und Wasserwegen.<br />

3. bis 5. August 1961<br />

Beratung der Ersten Sekretäre der ZK der Kommunistischen und<br />

Arbeiterparteien der Staaten des Warschauer Vertrags in Moskau<br />

über die Vorbereitung eines deutschen Friedensvertrages. <strong>Die</strong><br />

Beratung billigt die von der DDR und der UdSSR vorgesehenen<br />

„Maßnahmen zur Sicherung des Friedens.“<br />

4. August 1961<br />

Der Magistrat von Ostberlin beschließt, dass ab sofort alle<br />

West-Grenzgänger ihre Miete oder Pacht, die Gebühren für<br />

Strom, Gas und Wasser in DM-West zu zahlen haben.


13. August 1961<br />

Nach Alarm um Mitternacht Errichtung von Stacheldrahtbarrieren<br />

zwischen dem sowjetischen Sektor und dem Bezirk<br />

Potsdam sowie den Westsektoren von Berlin. Verstärkung<br />

der Grenzbefestigungsanlagen zwischen der DDR und der<br />

Bundesrepublik. Unterbrechung des S- und U-Bahnverkehrs.<br />

Einrichtung von Grenzübergangsstellen, die allerdings von der<br />

Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht benutzt werden können.<br />

14. August 1961<br />

Der Grenzübergang am Brandenburger Tor wird geschlossen.<br />

15. August 1961<br />

An der Ostseite der Ackerstrasse werden Betonteile, 1,25 Meter<br />

mal 1,25 Meter groß und 20 Zentimeter dick, nebeneinander<br />

gesetzt und mit Mörtel verschmiert. Der Abstand zur eigentlichen<br />

Grenze beträgt fünf Meter.<br />

16. August 1961<br />

<strong>Die</strong> Westalliierten protestieren in offiziellen Noten an die<br />

UdSSR gegen die Verletzung des Viermächte-Status.<br />

19. August 1961<br />

US-Vizepräsident Lyndon B. Johnson wird begeistert von den<br />

Westberlinern empfangen.<br />

22. August 1961<br />

Bei einem Fluchtversuch stirbt Ida Sickmann. Sie ist das erste<br />

Opfer.<br />

26. August 1961<br />

Alle Grenzübergänge werden für Westberliner geschlossen.<br />

3


27. Oktober 1961<br />

Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Panzer am<br />

Grenzübergang „Checkpoint Charlie“<br />

Oktober 1961<br />

In Salzgitter wird auf Beschluss der Justizminister der Länder<br />

der Bundesrepublik ein Zentrum geschaffen, dass „die in<br />

Ost-Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone begangenen<br />

Gewaltakte“ dokumentiert. Bis zum <strong>Mauer</strong>fall konnte<br />

Salzgitter in 192 Fällen Mord belegen, in siebenhundert Fällen<br />

Verletzungen.<br />

18. Juni 1962<br />

Der Grenzsoldat Reinhold Huhn wird von einem Fluchthelfer<br />

erschossen.<br />

26. Juni 1963<br />

US-Präsident John F. Kennedy besucht Westberlin und erklärt:<br />

„Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger<br />

dieser Stadt, und als freier Mensch spreche ich deshalb voll<br />

Stolz die Worte: ‚Ich bin ein <strong>Berliner</strong>.’“<br />

17. Dezember 1963<br />

Das erste Passierscheinabkommen gestattet Westberlinern<br />

bis 5. Januar 1964 den Besuch Ostberlins. Bis 1966 folgen<br />

drei weitere Passierscheinvereinbarungen, dann scheitern die<br />

Verhandlungen.<br />

1966<br />

Aufstellung der ersten Beobachtungstürme<br />

31. Januar 1971<br />

Begrenzte Wiederaufnahme der Telefonverbindung zwischen<br />

beiden Teilen Berlins<br />

4


3. September 1971<br />

Paraphierung des Vierseitigen Abkommens. Es schafft Voraussetzungen<br />

für die Verbesserung der Beziehungen zwischen<br />

den beiden deutschen Staaten (Grundlagenvertrag, 21.<br />

Dezember 1972). In der nachfolgenden Zeit verbessern sich<br />

die Besuchsmöglichkeiten für die Westberliner.<br />

1971<br />

Installierung des „Grenzzauns“ aus engem Stacheldraht<br />

1974<br />

Es werden die „Hinterlandmauer“ und der hintere „Grenzsignalzaun<br />

74“ errichtet.<br />

1976<br />

Errichtung der ersten Teile der „Grenzmauer 75“<br />

1997<br />

Getrennte Feierlichkeiten in beiden Stadtteilen aus Anlass des<br />

750. Jahrestages der Gründung Berlins<br />

12. Juni 1987<br />

US-Präsident Ronald Reagan fordert auf einer Kundgebung<br />

am Brandenburger Tor KPdSU-Generalsekretär Michail<br />

Gorbatschow auf, das Tor zu öffnen. („Open this gate!“)<br />

19. Januar 1989<br />

Erich Honecker erklärt, dass die <strong>Mauer</strong> noch in 50 oder 100<br />

Jahren bestehen werde, wenn nicht die Bedingungen geändert<br />

würden, die zu ihrer Errichtung geführt haben.<br />

5. Februar 1989<br />

Chris Gueffroy wird bei einem Fluchtversuch erschossen.<br />

5


11. September 1989<br />

Ungarn genehmigt DDR-Bürgern die Ausreise nach Österreich<br />

ohne gültige Reisedokumente. Damit wird die <strong>Mauer</strong> in Berlin<br />

immer fragwürdiger.<br />

16. Oktober 1989<br />

In Leipzig demonstrieren 120 000 Leipziger unter der Losung<br />

„Wir sind das Volk!“ für demokratische Reformen in der<br />

DDR.<br />

18. Oktober 1989<br />

Generalsekretär Erich Honecker wird von allen Funktion entbunden.<br />

An seine Stelle tritt Egon Krenz, der am folgenden Tag<br />

im Gespräch Landesbischof Werner Leich Dialogbereitschaft<br />

signalisiert.<br />

4. November 1989<br />

500 000 Ostberliner demonstrieren auf dem Alexanderplatz<br />

gegen die SED-Herrschaft.<br />

7. November 1989<br />

Der Rechtsausschuss der DDR-Volkskammer verwirft den<br />

Entwurf für ein Reisegesetz, weil dieser den allgemeinen<br />

Erwartungen widerspricht.<br />

9. November 1989<br />

<strong>Mauer</strong>öffnung, Jubelfeiern in beiden Teilen Berlins:<br />

„Wahnsinn!“<br />

22. Dezember 1989<br />

Öffnung des Brandenburger Tores<br />

30. Juni 1990<br />

Einstellung der Grenzkontrollen<br />

6


30. August 1990<br />

Am Schichauweg im Bezirk Lichtenrade wird ein vierzehnjähriger<br />

„<strong>Mauer</strong>specht“ von einem herunterfallenden Betonsegment<br />

erschlagen.<br />

13. November 1991<br />

Am Rudower Wäldchen wird das letzte Stück der <strong>Mauer</strong> demontiert.<br />

1992 bis 2004<br />

Prozesse gegen SED-Politbüromitglieder, Mitglieder des<br />

Nationalen Verteidigungsrates der DDR und Grenzsoldaten<br />

im Zusammenhang mit ihrer Verantwortung für die Opfer an<br />

der <strong>Mauer</strong>.


Literatur (Auswahl)<br />

Cate, Curtis: Riß durch Berlin. Der 13. August 1961. Aus dem<br />

Englischen von Walter Hasenclever, Hamburg 1980.<br />

Eisenfeld, Bernd/Engelmann, Roger: 13.8.1961: <strong>Mauer</strong>bau.<br />

Fluchtbewegung und Machtsicherung. Mit einem Vorwort<br />

von Marianne Birthler, Bremen 2001.<br />

Feist, Peter: <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>. Berlin 1961-1989, Berlin<br />

2003.<br />

Flemming, Thomas: <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong>. Grenze durch eine<br />

Stadt, Berlin 1999.<br />

Frotscher, Kurt/Krug, Wolfgang (Hrsg.): <strong>Die</strong> Grenzschließung<br />

1961. Im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes, Schkeuditz<br />

2001.<br />

Gelb, Normann: The Berlin Wall, London 1986.<br />

Hertle, Hans-Hermann: Chronik des <strong>Mauer</strong>falls. <strong>Die</strong> dramatischen<br />

Ereignisse um den 9. November 1989. Berlin 1996.<br />

Hübsch, Reinhard/Balzer, Friedrich-Martin (Hg.): Operation<br />

<strong>Mauer</strong>durchlöcherung, Robert Neumann und der deutschdeutsche<br />

Dialog, Bonn 1994.<br />

Jeschonnek, Friedrich/Riedel, <strong>Die</strong>ter/Durie, William: Alliierte<br />

in Berlin 1945-1994. Ein Handbuch zur Geschichte der militärischen<br />

Präsenz der Westmächte, Berlin 2002.<br />

Mehls, Hartmut (Hrsg.): Im Schatten der <strong>Mauer</strong>. Dokumente<br />

12. August bis 29. September 1961, Berlin 1990.<br />

Nakath, Detlef: Deutsch-deutsche Grundlagen. Zur Geschichte<br />

der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen<br />

der DDR und der Bundesrepublik in den Jahren von 1969 bis<br />

1982, Schkeuditz 2002.


Nitz, Jürgen: Länderspiel. Ein Insider-Report, Berlin 1994.<br />

Otto, Wilfriede: Spannungsfeld 13. August 1961. hefte zur<br />

ddr-geschichte, Nr. 71, Berlin 2001.<br />

Petschull, Jürgen: <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong>. Vom Anfang und vom Ende<br />

eines deutschen Bauwerks. Hamburg 1989.<br />

<strong>Prokop</strong>, <strong>Siegfried</strong> (Hrsg.): Der versäumte Paradigmenwechsel.<br />

„Spiegel-Manifest“ und „Erster Deutscher im All“ – die<br />

DDR im Jahr 1978. Schriften der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

Brandenburg. Band 2, Schkeuditz 2008.<br />

<strong>Prokop</strong>, <strong>Siegfried</strong>: Unternehmen „Chinese Wall“. <strong>Die</strong> DDR<br />

im Zwielicht der <strong>Mauer</strong>, 2., überarbeitete Auflage, Frankfurt/<br />

M. 1993.<br />

Rabehl, Bernd: Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten<br />

Deutschland, Dresden 2002.<br />

Rühle, Jürgen/Holzweißig, Gunter: 13. August 1961. <strong>Die</strong><br />

<strong>Mauer</strong> in Berlin, Köln 1988.<br />

Seidel, Karl: Berlin-Bonner Balance. 20 Jahre deutsch-deutsche<br />

Beziehungen. Erinnerungen und Erkenntnisse eines<br />

Beteiligten, Berlin 2002.<br />

Steiniger, Rolf: Der <strong>Mauer</strong>bau. <strong>Die</strong> Westmächte und Adenauer<br />

in der Berlinkrise 1958-1963, München 2001.<br />

Thoss, Hendrik: Gesichert in den Untergang. <strong>Die</strong> Geschichte<br />

der DDR-Westgrenze, Berlin 2004.<br />

Wetzlaugk, Udo: <strong>Berliner</strong> Blockade und Luftbrücke 1948/49,<br />

Berlin 1998.<br />

100


Weitere Titel zum Thema:<br />

Klaus Behling<br />

Berlin im Kalten Krieg<br />

Schauplätze und ereignisse<br />

Berlin – von 1945 bis 1990 Stationierungsort der vier Alliierten, Hochburg<br />

der Geheimdienste und Front des Kalten Krieges. Mit dem Bau der <strong>Mauer</strong><br />

1961 wird Berlin zum Probefeld für die Politik des Kalten Krieges.<br />

Der Autor führt hin zu den damaligen Schauplätzen und Ereignissen und<br />

bringt sie dem Leser anschaulich näher.<br />

„Glienicker Brücke: 25. März 1985, gegen 17 Uhr.<br />

Der Sowjet-Posten auf der Ost-Seite der Brücke blickt versteinert geradeaus,<br />

als sich ein schwarzer Mercedes und ein Krankenwagen dem<br />

nur für Alliierte und Diplomaten zugelassenen Grenzübergang nähern.<br />

Dann stoppt der kleine Konvoi ein paar Zentimeter hinter der Grenzlinie.<br />

Ein amerikanischer Offizier steigt in das Fahrzeug und breitet ein<br />

Sternenbanner über den darin befindlichen Zinksarg. Major Arthur D.<br />

Nicholson ist vom Einsatz hinter den feindlichen Linien zurück. Er hat<br />

ihn nicht überlebt.”<br />

-Auszug-<br />

ISBN 978-3-89706-901-5<br />

300 S., Softcover, € 14,80<br />

Format: 13,5 x 21<br />

Reiseziele einer Region 5


Joachim Mitdank<br />

Berlin zwiSchen oSt und weSt<br />

erinnerung eines diplomaten<br />

Als 1944/45 beschlossen wurde, Berlin zum Sitz der Zentral-<br />

Kontrollkommission der Siegermächte zu machen, waren Churchill,<br />

Roosevelt und Stalin von dem Gedanken beseelt, von hier aus das<br />

besetzte Deutschland zentral zu verwalten und zu kontrollieren. Von<br />

Deutschland sollte nie wieder Krieg ausgehen.<br />

Als in der Nachkriegszeit die Entwicklung Deutschlands in der Gründung<br />

zweier verschiedener Staaten mündete, war nunmehr auch Berlin<br />

geteilt. Fortan wurde dieser Ort zum Symbol. Hier, im Herzen Europas,<br />

wurden jene Auseinandersetzungen ausgefochten, die die Welt an den<br />

Rand eines dritten Weltkrieges führten.<br />

Mit den von J.F. Kennedy im Juni 1961 formulierten Three Essentials<br />

konnte man annehmen, dass eine adäquate Lösung der Berlinfrage die<br />

Tolerierung durch die USA finden würde: Am 13. August 1961 wurde die<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Mauer</strong> gebaut.<br />

Eine allmähliche Normalisierung, vorsichtige Annäherung beider<br />

deutscher Staaten war erst in der Folgezeit zu beobachten. Dafür<br />

musste vor allen Dingen auf der diplomatischen Ebene hart gearbeitet<br />

werden. Das Viermächteabkommen und weitere Regelungen folgten.<br />

<strong>Die</strong> Besucherströme wuchsen, bis die DDR im Herbst 1989 förmlich<br />

implodierte. <strong>Die</strong> <strong>Mauer</strong> fiel, doch so manche Probleme sind bis heute<br />

geblieben. Joachim Mitdank war als Diplomat hinter den Kulissen<br />

jahrzehntelang sozusagen hautnah vor allen Dingen mit der Berlinfrage<br />

beschäftigt. Er verhandelte mit dem Senat, suchte Lösungen. Später<br />

vertrat er die DDR als Botschafter in verschiedenen Ländern, zuletzt in<br />

London.<br />

Ein bewegtes Leben. Seine Erinnerungen liegen nunmehr vor.<br />

ISBN 3-89706-880-X,<br />

350 S., Hardcover, € 24,80<br />

Edition Zeitgeschichte Band 14

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