RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE

RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE

04.07.2013 Aufrufe

88 Erste Berliner Jahre Die Erklärung dürfte zunächst darin zu sehen sein, daß Steiner mit manchen Lehren der von Blavatsky geprägten Theosophen, vor allem mit der Art ihres Zugangs zu übersinnlichen Welten, nicht einverstanden ist. Aber dennoch begegnet ihm in der Berliner Theosophischen Gesellschaft erstmals ein Publikum, das sich für Lehren geistiger, übersinnlicher Art aufgeschlossen zeigt, die sich auch Steiner offensichtlich inzwischen innerlich errungen hat. Nur so lassen sich folgende Ausführungen über seine ersten Erfahrungen im Hause Brockdorff erklären: Beim Vortrag über Nietzsche «bemerkte ich, daß innerhalb der Zuhörerschaft Persönlichkeiten mit großem Interesse für die Geistwelt waren. Ich schlug daher, als man mich aufforderte, einen zweiten Vortrag zu halten, das Thema vor: 'Goethes geheime Offenbarung'. Und in diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen leuchten zu lassen... Nun waren Brockdorffs die Leiter eines Zweiges der 'Theosophischen Gesellschaft', die von Blavatsky begründet worden war. Was ich in Anknüpfung an das Märchen Goethes gesagt hatte, führte dazu, daß Brockdorffs mich einluden, vor den mit ihnen verbundenen Mitgliedern der 'Theosophischen Gesellschaft' regelmäßig Vorträge zu halten. Ich erklärte, daß ich aber nur über das sprechen könnte, was in mir als Geisteswissenschaft lebt. Ich konnte auch wirklich von nichts anderem sprechen. Denn von der von der 'Theosophischen Gesellschaft' ausgehenden Literatur war mir sehr wenig bekannt» (636,294). Und so hält Steiner vom 6.10.1900 bis zum 27.4.1901 insgesamt 27 Vorträge über die abendländische mittelalterliche Mystik in der Brockdorffschen Bibliothek. In der Einleitung zur 1901 besorgten Buchausgabe unter dem Titel «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung» bemerkt er: «Diese Ideenwelt ist schon ganz in meiner 'Philosophie der Freiheit'

Erste Berliner Jahre 89 enthalten. Um aber diese Ideenwelt so auszusprechen, wie ich es heute tue, und sie so zur Grundlage einer Betrachtung zu machen, wie es in dieser Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas ganz anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest überzeugt zu sein. Dazu gehört ein intimer Umgang mit dieser Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens bringen können. Erst jetzt, nachdem ich diesen Umgang genossen habe, wage ich, so zu sprechen, wie man es in dieser Schrift wahrnehmen wird» (623,11). Neben seiner Ablehnung des gewöhnlichen Spiritismus, wie er ihm bei Blavatsky begegnet, wird die Anknüpfung an das abendländische und auch das christliche Denken für ihn ein Hauptunterschied zu den mehr fernöstlich, vom Buddhismus und Brahmanismus beeinflußten Theosophen bleiben und schließlich zur Trennung von diesen führen. Und so hält er ein Jahr später - vom 5.10.1901 bis zum 22.3.1902 - im Brockdorffschen Kreis 18 Vorträge über das «Christentum als mystische Tatsache», die er 1902 zusammengefaßt im Druck erscheinen läßt. Hat jetzt ein Wandel stattgefunden von dem monistischatheistisch argumentierenden Anhänger Haeckels und Nietzsches zum Künder höherer Welten oder gar zum Christen? Steiner selber behauptet immer wieder die Kontinuität seiner Ansichten, gesteht allerdings - wie in obigem Zitat - einen Erkenntnisfortschritt durchaus zu. Das Wesentliche in seiner Entwicklung ist nach seiner Selbstaussage ein nicht genau datierbares Ereignis, das aber um die Jahrhundertwende herum eingetreten sein muß und das von ihm als das «geistige Gestandenhaben vordem Mysterium von Golgatha» bezeichnet wird. Im berühmten 26. Kapitel seines «Lebensgangs» erwähnt er dies und definiert das Christentum, wie er es versteht. Wegen der Wichtigkeit dieser Aussagen für das Verständnis der «Christosophie» Steiners sei daraus ausführlich zitiert: «In Widerspruch zu den Darstellungen, die ich später vom Christentum gegeben habe, scheinen einzelne Behauptungen zu stehen, die ich damals (sc. vor der Jahrhundertwende) niedergeschrieben und in Vorträgen ausgesprochen habe. Dabei

Erste Berliner Jahre 89<br />

enthalten. Um aber diese Ideenwelt so auszusprechen, wie ich<br />

es heute tue, und sie so zur Grundlage einer Betrachtung zu machen,<br />

wie es in dieser Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas<br />

ganz anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest<br />

überzeugt zu sein. Dazu gehört ein intimer Umgang mit dieser<br />

Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens bringen können.<br />

Erst jetzt, nachdem ich diesen Umgang genossen habe, wage<br />

ich, so zu sprechen, wie man es in dieser Schrift wahrnehmen<br />

wird» (623,11).<br />

Neben seiner Ablehnung des gewöhnlichen Spiritismus, wie<br />

er ihm bei Blavatsky begegnet, wird die Anknüpfung an das<br />

abendländische und auch das christliche Denken für ihn ein<br />

Hauptunterschied zu den mehr fernöstlich, vom Buddhismus<br />

und Brahmanismus beeinflußten Theosophen bleiben und<br />

schließlich zur Trennung von diesen führen. Und so hält er ein<br />

Jahr später - vom 5.10.1901 bis zum 22.3.1902 - im Brockdorffschen<br />

Kreis 18 Vorträge über das «Christentum als mystische<br />

Tatsache», die er 1902 zusammengefaßt im Druck erscheinen<br />

läßt.<br />

Hat jetzt ein Wandel stattgefunden von dem monistischatheistisch<br />

argumentierenden Anhänger Haeckels und Nietzsches<br />

zum Künder höherer Welten oder gar zum Christen? Steiner<br />

selber behauptet immer wieder die Kontinuität seiner Ansichten,<br />

gesteht allerdings - wie in obigem Zitat - einen Erkenntnisfortschritt<br />

durchaus zu. Das Wesentliche in seiner Entwicklung<br />

ist nach seiner Selbstaussage ein nicht genau datierbares<br />

Ereignis, das aber um die Jahrhundertwende herum eingetreten<br />

sein muß und das von ihm als das «geistige Gestandenhaben<br />

vordem Mysterium von Golgatha» bezeichnet wird.<br />

Im berühmten 26. Kapitel seines «Lebensgangs» erwähnt er<br />

dies und definiert das Christentum, wie er es versteht. Wegen<br />

der Wichtigkeit dieser Aussagen für das Verständnis der «Christosophie»<br />

Steiners sei daraus ausführlich zitiert:<br />

«In Widerspruch zu den Darstellungen, die ich später vom<br />

Christentum gegeben habe, scheinen einzelne Behauptungen<br />

zu stehen, die ich damals (sc. vor der Jahrhundertwende) niedergeschrieben<br />

und in Vorträgen ausgesprochen habe. Dabei

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