RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE

RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE

04.07.2013 Aufrufe

128 Anthroposophische Gesellschaft 1919: Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt». Waldorfschule Am 27.1.1919 treffen sich drei in der Wirtschaft tätige Anthroposophen, nämlich der Jurist Roman Boos, der Kaufmann Hans Kühn und der Direktor der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt, mit Rudolf Steiner zu einer Besprechung. Dabei werden zwei wichtige Beschlüsse gefaßt: Erstens, sich nach dem verlorenen Krieg mit einem Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» zu wenden, den Rudolf Steiner ausarbeiten soll und in dem er den Dreigliederungsgedanken als Mittel zur Genesung der Völker einer breiten Öffentlichkeit vorstellt. Und zweitens, eine eigene staatsunabhängige Schulform zu begründen. Bereits am 2. Februar kann Steiner seinen Freunden den fertigen Aufruf überreichen, die damit auf Unterschriftensammlung bei prominenten Persönlichkeiten gehen. Davon verspricht man sich eine größere Wirkung als mit einer bloßen Weitergabe Steinerscher Memoranden an einflußreiche Politiker, wie dies in den Jahren 1917 und 1918 erfolglos geschehen ist. Zu sehr ist Steiner bereits als Esoteriker bekannt, dem man auf politischem Gebiet nichts zutraut. So sucht man «Verstärkung». Viele der Angefragten verweigern ihre Unterschrift unter den Aufruf. Die Enttäuschung der Initiatoren ist groß. Aber sie geben nicht auf, und so kommt innerhalb weniger Wochen doch eine Reihe von Unterschriften zusammen. Neben bekannten Anthroposophen wie Friedrich Rittelmeyer und Emil Bock oder dem fernöstlichen Denken zugeneigten Persönlichkeiten wie Hermann Beckh und Hermann Hesse unterzeichnen auch Männer, die ansonsten zum anthroposophischen Denken keine Beziehung haben, z.B. der liberale Theologe Martin Rade und der Naturforscher Hans Driesch. Um die Steinersche Reformidee weiter voranzutreiben, wird im Mai 1919 in Stuttgart der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» gegründet, und am 8. Juli kommt in der gleichen Stadt die erste Nummer der Wochenschrift «Dreiglie-

Anthroposophische Gesellschaft 129 derung des sozialen Organismus» unter der Schriftleitung von Ernst Uehli heraus. Bis heute werden diese Gedanken in anthroposophischen Kreisen weiter bewegt und diskutiert. Manches davon ist in Programmforderungen der deutschen «Grünen» in die Politik gelangt, die zum Teil eine eigenartige Mischung aus goetheanisch-organischen, anthroposophischen und marxistischen Forderungen darstellen. So heißt es z.B. im «Bundesprogramm» der Grünen von 1989 (S. 7): «Eine grundsätzliche Neuorientierung des kurzfristig bestimmten wirtschaftlichen Zweckdenkens, die mit einschneidenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen einhergehen muß, ist notwendig, um ein ökologisches und soziales Wirtschaften sicherzustellen. Die GRÜNEN unterstützen alle Bewegungen, die sich für dezentrale und überschaubare Produktionseinheiten sowie eine demokratisch kontrollierbare veränderte Anwendung der Technik einsetzen. Die Großkonzerne sind in überschaubare Betriebe zu entflechten, die von den dort Arbeitenden selbstverwaltet werden.» Der Zusammenhang zwischen anthroposophischer und grüner Bewegung (es gibt viele persönliche und ideologische Querverbindungen) wird auch in der Forderung nach Gleichberechtigung der Schulen in freier Trägerschaft deutlich: «Gleichberechtigung aller Schulen in freier Trägerschaft bzw. Alternativschulen (Waldorfschulen, Glocksee-Schule, Tvind usw.), um die positiven Erfahrungen dieser Schulen zu nutzen» (Bundesprogramm, S. 40). Interessanterweise werden an erster Stelle die anthroposophischen Waldorfschulen genannt, während z.B. Freie Christliche Bekenntnisschulen keine Erwähnung finden. Letztere werden vielmehr in Ländern, in denen die Grünen mitregieren, immer wieder bekämpft. Aber gehen wir zurück in das Jahr 1919. Wie kommt es zur Entstehung der ersten Waldorfschule? Es kommt dazu durch die Initiative des Besitzers der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt. Er sucht nicht nur seinen Arbeitern, sondern auch deren Kindern eine Ausbildung auf spiritueller Grundlage zu vermitteln, und so reift Anfang 1919 der Plan, eine - wie im Dreigliederungsdenken vorgesehen - «staatsfreie,

128 Anthroposophische Gesellschaft<br />

1919: Aufruf «An das deutsche Volk und an<br />

die Kulturwelt». Waldorfschule<br />

Am 27.1.1919 treffen sich drei in der Wirtschaft tätige Anthroposophen,<br />

nämlich der Jurist Roman Boos, der Kaufmann Hans<br />

Kühn und der Direktor der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik,<br />

Emil Molt, mit Rudolf Steiner zu einer Besprechung.<br />

Dabei werden zwei wichtige Beschlüsse gefaßt:<br />

Erstens, sich nach dem verlorenen Krieg mit einem Aufruf<br />

«An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» zu wenden, den<br />

Rudolf Steiner ausarbeiten soll und in dem er den Dreigliederungsgedanken<br />

als Mittel zur Genesung der Völker einer breiten<br />

Öffentlichkeit vorstellt. Und zweitens, eine eigene staatsunabhängige<br />

Schulform zu begründen.<br />

Bereits am 2. Februar kann Steiner seinen Freunden den fertigen<br />

Aufruf überreichen, die damit auf Unterschriftensammlung<br />

bei prominenten Persönlichkeiten gehen. Davon verspricht<br />

man sich eine größere Wirkung als mit einer bloßen<br />

Weitergabe Steinerscher Memoranden an einflußreiche Politiker,<br />

wie dies in den Jahren 1917 und 1918 erfolglos geschehen<br />

ist. Zu sehr ist Steiner bereits als Esoteriker bekannt, dem man<br />

auf politischem Gebiet nichts zutraut. So sucht man «Verstärkung».<br />

Viele der Angefragten verweigern ihre Unterschrift unter den<br />

Aufruf. Die Enttäuschung der Initiatoren ist groß. Aber sie geben<br />

nicht auf, und so kommt innerhalb weniger Wochen doch<br />

eine Reihe von Unterschriften zusammen. Neben bekannten<br />

Anthroposophen wie Friedrich Rittelmeyer und Emil Bock<br />

oder dem fernöstlichen Denken zugeneigten Persönlichkeiten<br />

wie Hermann Beckh und Hermann Hesse unterzeichnen auch<br />

Männer, die ansonsten zum anthroposophischen Denken keine<br />

Beziehung haben, z.B. der liberale Theologe Martin Rade und<br />

der Naturforscher Hans Driesch.<br />

Um die Steinersche Reformidee weiter voranzutreiben, wird<br />

im Mai 1919 in Stuttgart der «Bund für Dreigliederung des sozialen<br />

Organismus» gegründet, und am 8. Juli kommt in der<br />

gleichen Stadt die erste Nummer der Wochenschrift «Dreiglie-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!