RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE

RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE RUDOLF STEINER UND DIE ANTHROPOSOPHIE

04.07.2013 Aufrufe

126 Anthroposophische Gesellschaft aus der verfahrenen politisch-gesellschaftlichen Situation - das Kriegsglück hatte sich gegen das Deutsche Reich gewendet - zu zeigen. Und schon im Juli des gleichen Jahres stellt Steiner in zwei Memoranden seine ersten Grundgedanken über eine «Dreigliederung des sozialen Organismus» dar. Diese Memoranden werden von Freunden Steiners an einflußreiche Politiker weitergeleitet, jedoch ohne Erfolg. Eine ausführlichere Darlegung wird 1919 in dem Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» entwickelt, das eine weite Verbreitung erfährt, aber in der politischen Praxis auch so gut wie nichts bewegt - genausowenig wie der nach dem verlorenen Krieg von Steiner verfaßte Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt», auf den ich noch zurückkommen werde. Worum geht es bei Steiners «Dreigliederungsidee»? Kurz gesagt um folgendes: «So wie die menschliche Wesenheit durch drei Funktionssysteme gegliedert ist - durch das Nerven-Sinnes-System (Denken), das Rhythmische System (Fühlen) und durch das Gliedmaßen-Stoffwechsel-System (Wollen) -, sei die Dreigliederung auch im sozialen Organismus zu verwirklichen, nämlich die Freiheit im geistigen Leben, die Gleichheit der Menschen in rechtlicher Hinsicht und die Brüderlichkeit in den Prozessen der Wirtschaft» (Wehr 1993,257). Steiner fordert also eine Entflechtung von Geistesleben (Kultur, Wissenschaft, Religion und Erziehung), Rechtsleben (Jurisdiktion und Politik) und Wirtschaftsleben. Bisher sind diese drei Bereiche miteinander verbunden, woraus sich eine Reihe von Problemen ergibt, z.B. die Bevormundung von Wirtschaft, Kunst und Erziehung durch den Staat, die Abhängigkeit der Politiker von Wirtschaftsunternehmen, der Mißbrauch von Wirtschaftsunternehmen zu Kriegszwecken und ähnliches. Wir sehen, wie aktuell die Beobachtungen Steiners auch heute noch sind. Was aber schlägt er konkret vor? Walter Kugler faßt Steiners Gedanken folgendermaßen zusammen: «Hinter der Chiffre Dreigliederung des sozialen Organismus verbirgt sich letztlich die Auflösung des Einheitsstaates. An seine Stelle (...) haben in Zukunft zu treten ein vom Staat unabhängiges Wirtschaftsleben und Geistesleben. Das

Anthroposophische Gesellschaft 127 dritte Gebiet ist das Rechtsleben, das sich einzig auf die Regelung der öffentlich-rechtlichen Belange konzentriert. Jeder dieser drei Funktionsbereiche gibt sich seine eigene Struktur, seine eigene Verwaltung. Sie 'sollen nicht in einer abstrakten, theoretischen Reichstags- oder sonstigen Einheit zusammengefügt und zentralisiert sein', sondern 'jeder Mensch als solcher wird ein Verbindendes' der drei Glieder des Organismus sein» (606,6). Diese Ansichten im Detail zu beurteilen, muß ich den Politologen und Ökonomen überlassen. Manches dürfte bedenkenswert sein. Allerdings scheint es mir, daß Steiner auch hier von einem optimistischen Menschenbild ausgeht, indem er die «volle Selbstverwaltung» letztlich soweit individualisiert, daß sie in jedem einzelnen Menschen zu liegen kommt. Hier dürfte das Gedankengut des «anarchistischen Individualismus» eines John Henry Mackay noch nachwirken. So kann Steiner etwa im Blick auf das Wirtschaftsleben ausführen: «Diesem Organisieren, das die Menschen zur Produktion von außen zusammenschließen will, steht diejenige wirtschaftliche Organisation, die auf dem freien Assoziieren beruht, gegenüber. Durch das Assoziieren verbindet sich der Mensch mit einem andern; und das Planmäßige des Ganzen entsteht durch die Vernunft des einzelnen» (606,18). Es ist kritisch zu fragen, ob Steiners Konzeption nicht im Chaos endet. Er wendet sich zu Recht gegen einen absoluten Zentralismus und Dirigismus auf politischem, wirtschaftlichem und geistigem Gebiet mit ihren Auswüchsen. Das andere Extrem, dem Steiner zu verfallen droht, sieht freilich so aus, daß bei der immer weiteren Herunterstufung von Kompetenzen - letztlich bis zum Individuum - am Ende zu viele Individuen mitreden wollen und überhaupt keine konsensfahige und sinnvolle Entscheidung mehr zustande kommt - eine Erscheinung, die wir heute übrigens bei vielen Kongressen der «Grünen» im Parteimaßstab erleben, die maßgeblich von Anthroposophen (etwa aus dem der Dreigliederungsidee verbundenen «Achberger Kreis») mitbegründet wurden und bis heute mitgetragen werden (vgl. hierzu Gassmann 1994).

126 Anthroposophische Gesellschaft<br />

aus der verfahrenen politisch-gesellschaftlichen Situation - das<br />

Kriegsglück hatte sich gegen das Deutsche Reich gewendet -<br />

zu zeigen. Und schon im Juli des gleichen Jahres stellt Steiner<br />

in zwei Memoranden seine ersten Grundgedanken über eine<br />

«Dreigliederung des sozialen Organismus» dar. Diese Memoranden<br />

werden von Freunden Steiners an einflußreiche Politiker<br />

weitergeleitet, jedoch ohne Erfolg. Eine ausführlichere<br />

Darlegung wird 1919 in dem Buch «Die Kernpunkte der sozialen<br />

Frage» entwickelt, das eine weite Verbreitung erfährt,<br />

aber in der politischen Praxis auch so gut wie nichts bewegt -<br />

genausowenig wie der nach dem verlorenen Krieg von Steiner<br />

verfaßte Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt»,<br />

auf den ich noch zurückkommen werde.<br />

Worum geht es bei Steiners «Dreigliederungsidee»? Kurz gesagt<br />

um folgendes: «So wie die menschliche Wesenheit durch<br />

drei Funktionssysteme gegliedert ist - durch das Nerven-Sinnes-System<br />

(Denken), das Rhythmische System (Fühlen) und<br />

durch das Gliedmaßen-Stoffwechsel-System (Wollen) -, sei<br />

die Dreigliederung auch im sozialen Organismus zu verwirklichen,<br />

nämlich die Freiheit im geistigen Leben, die Gleichheit<br />

der Menschen in rechtlicher Hinsicht und die Brüderlichkeit in<br />

den Prozessen der Wirtschaft» (Wehr 1993,257).<br />

Steiner fordert also eine Entflechtung von Geistesleben (Kultur,<br />

Wissenschaft, Religion und Erziehung), Rechtsleben (Jurisdiktion<br />

und Politik) und Wirtschaftsleben. Bisher sind diese<br />

drei Bereiche miteinander verbunden, woraus sich eine Reihe<br />

von Problemen ergibt, z.B. die Bevormundung von Wirtschaft,<br />

Kunst und Erziehung durch den Staat, die Abhängigkeit der Politiker<br />

von Wirtschaftsunternehmen, der Mißbrauch von Wirtschaftsunternehmen<br />

zu Kriegszwecken und ähnliches. Wir sehen,<br />

wie aktuell die Beobachtungen Steiners auch heute noch<br />

sind. Was aber schlägt er konkret vor?<br />

Walter Kugler faßt Steiners Gedanken folgendermaßen zusammen:<br />

«Hinter der Chiffre Dreigliederung des sozialen Organismus<br />

verbirgt sich letztlich die Auflösung des Einheitsstaates.<br />

An seine Stelle (...) haben in Zukunft zu treten ein vom<br />

Staat unabhängiges Wirtschaftsleben und Geistesleben. Das

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