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KOSCHER STYLING

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SCHNULLER-REVOLUTION<br />

BERINA HAMIDOVIĆ IST TOT. DAS BABY MUSSTE STERBEN, WEIL DIE POLITIKER<br />

BOSNIEN-HERZEGOWINAS NUR NATIONALE INTERESSEN VERFOLGEN. MIT DEN<br />

LANDESWEITEN DEMONSTRATIONEN HAT KEINER VON IHNEN GERECHNET.<br />

Der Krieg in Bosnien und Herzegowina ist noch nicht vorbei.<br />

Nur kommen Menschen nicht mehr durch Wa en, Granaten<br />

und Soldaten um, sondern sind Opfer eines instabilen Staates,<br />

der wie ein Esel von politischen Volksgruppenvertretern hin-<br />

und hergerissen wird. Die Bevölkerung nahm das Geschehen<br />

auf der Politbühne bis jetzt apathisch zur Kenntnis. Zu groß<br />

sind die Gräben zwischen einzelnen Volksgruppen, zu wenig<br />

hat sich seit dem Kriegsende geändert. Menschen<br />

haben keine Arbeit, keine Motivation, keine<br />

Ho nung. Bis der Fall von Belmina in die<br />

Schlagzeilen kam. Was war passiert?<br />

Das Neugeborene benötigte eine<br />

Stammzellentransplantation. Dieser<br />

komplizierte Eingri war nur<br />

in Deutschland möglich. Belmina<br />

konnte jedoch nicht aus<br />

ihrem Heimatland ausreisen.<br />

Grund: irrwitzige, bürokratische<br />

Hürden.<br />

EIN BABY, DAS ES NIE GAB<br />

Belmina existiert für den<br />

bosnischen Staat nicht. Das<br />

Gesetz zur Regelung der Identi-<br />

kationsnummern (Abkürzung:<br />

JMBG) wurde am 12. Februar<br />

außer Kra gesetzt. Ohne Nummer<br />

keine Geburtsurkunde, kein Pass, keine<br />

Versicherungskarte, keine Existenz. Und<br />

keine Möglichkeit für kranke Neugeborene zu<br />

überlebenswichtigen Operationen ins Ausland zu reisen.<br />

Der Spießrutenlauf ihrer Eltern endete mit Resignation.<br />

Keine Behörde sah sich zuständig, Belmina war gefangen in<br />

den Nachkriegswirren der bosnischen Politik. Bis die Fälle medial<br />

bekannt wurden und das Nichtstun der parlamentarischen<br />

Nichtsnutze in Sarajevo auf den Zorn der Bürger traf. Mütter<br />

marschierten mit Kinderwägen vors Parlament und lösten eine<br />

Kettenreaktion im ganzen Land aus. Belmina bekam einen pro-<br />

visorischen Pass. Sie hatte mehr Glück als ihre Leidgenossin<br />

Berina. Das zweite bekannte Opfer der Schnuller-Revolution<br />

starb am 16. Juni im Krankenhaus in Belgrad, zu lange hatten<br />

die Behörden gezögert. Das Baby starb, ohne jemals auf Papier<br />

existiert zu haben.<br />

WIR ALLE!<br />

Bosnien-Herzegowina wacht auf. Die Schicksale von<br />

Belmina und Berina lassen niemanden kalt.<br />

Sie sind die Ikonen der Revolution. Sie<br />

rufen uns ins Bewusstsein: „Es hätte<br />

auch mein Kind tre en können“. Es<br />

betri ganz Bosnien, alle Volksgruppen.<br />

Wer sich nicht einigen<br />

kann, sind politische Vertreter<br />

dieser zwei Pseudo-Staaten<br />

im Staat, die nicht für das<br />

Interesse ALLER kämpfen<br />

und dadurch einen instabilen<br />

Staat für ALLE scha en. Einen<br />

Staat voller Kriegsveteranen,<br />

alleinerziehender Mütter,<br />

trauriger Kindergesichter,<br />

Familien in Armut, zurückgekehrter<br />

Kriegs üchtlinge, Bürger<br />

ohne Sozialversicherungsnummer.<br />

Kommt nun die Zeit für den Vielvölkerstaat<br />

Bosnien, in der den Menschen<br />

auch die Zukun der andersgläubigen<br />

Nachbarkinder wichtig ist? Ist diese Revolution<br />

der Anfang vom Ende nationalistischer Phobien?<br />

Nennen sich bald alle Bosnier „zemljaci“ (Landsmänner- und<br />

frauen), weil nicht die Religion sie zu diesen macht, sondern das<br />

Herkun sland? Eine Gemeinsamkeit hätte zumindest das neue<br />

vereinigte Bosnien-Herzegowina – den Schnuller als Revolutionssymbol<br />

für eine bessere Zukun aller bosnischen Kinder.<br />

Ivana Martinović, 30, biber-Kolumnistin<br />

POLITIKA & GESELLSCHAFT<br />

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