Schoenberger_Koestler_Der freie Westen_1992 - Blog
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<strong>Der</strong> . <strong>freie</strong> _ Wes ten,<br />
der _vernünftige _ Krieg,<br />
seine _linken_ Liebhaber<br />
und ihr okzidentaler<br />
Rassismus
"Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich.<br />
<strong>Der</strong> Zustand ist elend oder niedertrlichtig, eler Weg heraus krumm.<br />
Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bargerlieh sein. H<br />
Ernst Bloch: Erbschufl dieser Zeil<br />
(Vorwort zur Ausgabe 1935)
Erstausgabe Juni <strong>1992</strong><br />
Herausgegeben vom<br />
Autonomen Zentrum<br />
Marbach e.V.<br />
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Marbach<br />
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do Cafe Provinz<br />
Cotlaplatz 4<br />
7142 Marbach a.N.
Beschreibung dieser Zeit<br />
I. Saddam wie Bananen und Hitle, wie Äpfel<br />
18 Die Charaktermaske Saddam -<br />
ein Produkt des <strong>Westen</strong>s<br />
21 Appeasemement = Pazifismus ?der Beschwichtigungs·<br />
politik zur Wahrung eigener Interessen?<br />
24 Waffen und Hitler<br />
»Die« Deutschen - ein Exportvolk<br />
29 Deutsch·nationale Obsessionen versus<br />
arabisches Unterlegenheitsgefühl<br />
34 <strong>Der</strong> Golfkrieg als Nord-Süd-Konflikl<br />
U. Die Okzidentale Ideologie und ihr Feindbild »Dritte Weltu 38<br />
4 1 Die Angst des »friedliebenden Mitteleuropäers«<br />
vor dem "Schwert des Islam"<br />
53 Die Okzidentale Ideologie<br />
111. Die "Historische Verantwortung der Deutschen"<br />
72 Die Verlegung des Krieges nach Israel<br />
85 Friedensbewegter Vernichtungswille?<br />
Exkurs I - Zur Möglichkeit des Antisemitismusvorwurfs<br />
91 ))Nuklearer« Holocaust und Friedensbewegung<br />
93 Funktionaler Antifaschismus und seine Konsequenzen<br />
102 ))Ticket«·Denken als Voraussetzung von Indifferenz<br />
113 Zionismus und antiimperialistische Palästina·Solidarität<br />
Exkurs 11 - Zur Kritik des Antisemitismus·Vorwurfes 124<br />
126 Projektionitis und Ableitungsmarxisten<br />
135 ))Philosemitismus« und ))Antiarabismus«<br />
142 Die falschen )/Freunde Israels«<br />
148 Die »Historische Verantwortung« und die linken<br />
IV. Geschichtsrevision und Negativer Nationalismus 152<br />
nErbschaft dieser Zeitu 17'<br />
Literatur 173<br />
•<br />
"<br />
7.<br />
..
I Beschreibung<br />
dieser Zeit .. Es wird in allen politischen. Lngern in Deutschland<br />
geradezu verzweifeLt wut beschwören(l davon<br />
gesprochen, daß eler Coljkrieg nicht der Beginn der ZUkUIlft., sondern<br />
ein Ruck/all in die Vergangenheit sei. ( ... ) IVarwlt beschreibt<br />
niemand die realistische Aussicla,f ilr die nächsten Jahre, ttilmlich<br />
daß sich weder die arabischen Massen mit. Sozialpolitik beslill/tigen<br />
lassen, noch die europäischen Massen plötzlich ihren Durst auf Öl<br />
vergessen? Was ist, wenn 'weder Appeasement noch Ausgleich gelingen<br />
? Welcher Politiker, gar welcher Lehrer denkt darUuer nach, wie<br />
man Kinder erzieht in einer KullW; die sich behaupten muß? Welche<br />
der Tttgenden, die in härteren Zeiten nötig sind, haben die Deutschen<br />
noch nicht 'verächtlich gem.acht?" (ECKABD FUI-!Il : "ur !lUrleren Zei<br />
leu. 111: Fran kfu rier Allgemeine Zeil ung, 16.2. 1991)<br />
Genau das, was Anfang des Jahres 1991 während des Golfkrieges<br />
vo rexerziert wurde, halle der Ghostwriter Helmut Kohls, der<br />
Hi storiker Michael Stürm er, gemeint, als er feststellte, daß nur<br />
derjenige die Zukunft gewinnen werde, der die Vergangenheit<br />
deuten und die Begriffe prägen könne. Wie so etwas fu nktioniert,<br />
wurde nun anno 1990/91 anläßlich des Golfkri eges anschauli ch<br />
vo rgefUhrt. Dabei zeigte sich erneut der »Nutzen« von »Geschichte((<br />
und ihrer Instrumentalisierung, die wir im folgenden als<br />
Kriegstrciberdiskurs bezeidlllcn, da sie nicht nur in diesem KTieg<br />
effekti veinsetzbar war, sondern bereits das Szenario lind Legitimatiollslllodell<br />
künftiger Kr iege vorweggenommen hat.<br />
Eine wesentli che Voraussetzung fUr di e Führbarkeit und Rechtfer<br />
Wir sparen uns zuk.ün f tlg die<br />
Anführungsstriche, wenn wir<br />
... on . der. Linken sprechen.<br />
Entsprechendes gilt für an·<br />
dere Sammelbegriffe wie<br />
_die_ Autonomen oder<br />
_die_ friedensbewegung .<br />
<strong>Der</strong> Begriff _Unke« wird von<br />
uns operationahstisch yerstanden:<br />
Es ist dabei nicht<br />
wesentlich. ob sich jemand<br />
selbst . der. Unken zugehörig<br />
fOhlt oder nicht, sondern<br />
ob er bzw. sie sich weitelhin<br />
in Diskussionen zu<br />
Wort meldet, die bisher . Iin·<br />
ken _ Politikfeldern (Imperfa.<br />
IIsmus. Antlkapitalismus.<br />
Frieden, Faschismus oder<br />
Nationalismus) zugerechnel<br />
wurden .<br />
8<br />
ti gung des Golfkrieges bestand in der »Chloro-Formierung«<br />
der Weltöffentli chkeit. Die eigene ideologische<br />
Selbs tüberhöhung und die Inszenierung eines Kampfes<br />
Gut gegen Böse zielten auf die Ausschaltung mögli <br />
cher Widerstände. Dabei gelang dem Kri egstreiberdisku<br />
rs e in Einbruch bis tief in di e Heihen früherer<br />
Gegner ei ner solchen Politik. Di e vielbeschworene<br />
»Kritische Vernunft « blieb dabei auf der Strecke (Z IE<br />
BU ll A, 16 l u. THIELEN <strong>1992</strong>11, 13), Entscheidend für »di e«<br />
Linke 1 ist dabei di e Tatsache, daß sich die vorgeführte<br />
Kl'iegslegitimation vo r allem auf Argumente und Vergleiche<br />
aus der eigenen Denktradition bezog und uber
aus erfolgreich wa r. Un ter Berufung auf linke Di skurse fanden<br />
dramatische Kurswechsel ihren Abschlu ß, die weitreichende<br />
Änderungen, insbesondere hinsichtli ch der Interpretation des<br />
No rd- SUd-Konfliktes, beinhalten und einen allgemeinen Rechtsrutsch<br />
in der gesamLen bundesdeutschen pol itischen Kultur zur<br />
Folge halten.<br />
Es wird zu zeigen sein , daß diese »Argumente« fast gar nichts mit<br />
dem Golfkri eg, um so mehr aber mit der momentan stattfindenden<br />
und regelrecht inszeni erten Geschi cht srevision zahlreicher (ehemaliger)<br />
Linker zu tun haben, indem sie an tifaschi stische Lehren<br />
in ei ne (auf dieser Ebene) »neue« Herrscbartsralionalität um zuschmelzen<br />
begannen (L.U.P. U.S. 1991b, 29): Die ideologische Rechtfertigung<br />
des Krieges gegen di e Menschen im Irak kulminierte im<br />
.. Krieg hiesiger Linker gegen die eigene Ident,iUu l' erHI EtEN <strong>1992</strong>a, 9).<br />
Zum Vorschein kam dabei jener et hnozentristisch aufgeladene.<br />
»aufgek lärt.e« ku lLurali sti sche Rassismu s, der mittels der Okzidentalen<br />
Ideologie (vgl. Kap. 2) ve rsucht, di e Ausbeutung und<br />
Unterd rückung anderer Menschen im WeItmaßstab zu legitimi eren<br />
bzw. davon abzulenken. Unter Rassismus verstehen wir allgemein<br />
,J'ede Verhaltenswetse, durch die lndi'viduen oder Gruppen au/grund<br />
ihrer Abstatnmung, d.h. au/grund ihrer Geburt, als minderwertig<br />
eingestuft bzw. überhaupt eingestuft, klassi,{uiert werden. j eiLer Versuch,<br />
eine andere Verhaltensweise, eine andere Lebensweise au.s der<br />
Abstammung eines Menschen abzuleiten, (ist) (. . .) als rassistisch<br />
(zu.) bezeichnen. (. .. ) Rassismus ist also eine Form, der Naturalisierung<br />
sozialer Verhältnisse. ( ... ) Häufig wird z, B, ansteLle von 'RaJsse'<br />
der Begriff 'Kultur' benutzt, der aber dann genauso verstanden wird<br />
wie der Begrif/ 'Rasse', niimlich als lUwerverltnderLiches, bioLogisches<br />
Kennzeichen einer Gruppe" (KALPAKMIlÄTI-IZt: L,87). Daruber hin ·<br />
aus gehört zum Rassismus eine bestimmte Macht. diese<br />
Auffassungen auch gegenüber der amieren (» minderwerti ge ren«)<br />
Gruppe durchzusetzen. Rassismus ist also nicht nur eine Idee oder<br />
eine Einstellung, sondern imm er auch ein über Herrschaft vermittelter<br />
Prozeß der Ausgrenzung und des Ausschlusses. Ein solcher<br />
Rassismusbegriff, der die zunehmende Tendenz von einem bi ologistischen<br />
zu ei nem kulturalisti schen Rassismus reflektiert, versucht<br />
nicht nur gesellschaftliche Diskriminierung zum Zwecke der<br />
Ausgrenzung bzw. der Betonung des eigenen Oberlegenheitsge-<br />
9
10<br />
fühls auf der Grundlage von körperlichen Merkmalen, sondern<br />
auch di ejeni ge ober Werte und Nonnen sowi e Sitten und Gebräuche<br />
fa ssen zu können. Hiervon wäre noch de r Ethnozentrismus zu<br />
unterscheiden, der Klassifizi erungen vor dem Hintergrund histori <br />
scher Entwicklungc n (z.ß. der Moderni sicrung des »Okzidents«)<br />
vornimmt und von dcm hier verwendeten ß egriff des »Rassismus«<br />
(von Natur aus) abzugrenzen isl. Doch ist ihre gemein same Perspektive<br />
die "selbsttJersWrulliche Höherbewertllng der eigenen Kultur"<br />
(e h!!., UB). Wir gehen im fo lgenden davon aus, daß di eser in der<br />
Linken schon immer existente EthnozenLl'i smus im Verlauf des<br />
Golfkri eges sich zu einem kulturali sti schen bzw. zu dem sogenannten<br />
differentialisti schen Rassismus (IlAI .lnAIl) hin entfesselte.<br />
Die Grundlagen und Ursachen eines solchen kulturalisti schen<br />
Rassismus könn en 8n dieser SteHe ni cht untersucht werden. Es<br />
kommt zu nächst darauf an, ihn zu beschreiben und zu lokalisieren.<br />
Wenn wir im fol genden die Okzidenta le Ideologie in den Mittelpunkt<br />
unserer Kritik stellen, so ist damit keine Absage an di e<br />
\Verte und Nonnen der AufKlärung oder gar der bürgerlichen<br />
Revolutionen verbunden, sonde l'l1 hauptsächlich an ihre Fetischi <br />
sierung und Teleologisierung zum Zwecke der Hen schaftssicherung.<br />
Unsere Kritik selbst ist nur denkbar vor dem Hintergrund<br />
»kritischer Vernunft«, also Ergebni s »aufgeklärter « Denk ve rhüllni<br />
sse. Es ist aber nochmal ei ne andere Sache, dieselben in Form<br />
der Okzidentalen Ideologie a ls das E nde der Geschichte auszugeben<br />
oder, analog der Marxschen Methode, s ie imm er wi eder auf<br />
sich selbst anzuwenden.<br />
Auch we nn bekennende (neudeutsch) »Bellizisten« wie M.<br />
BHUM LI K bereits den Epilog auf die Linke sprechen ( .. Von der eigenen<br />
Geschichte eingeholt, steht die deutsche Linke vor einem. Scherbenhaufen.<br />
<strong>Der</strong> ne/l.en geschichtlichen Epoche hat sie nichts 1nehr<br />
m.itzuteilen", ß1WM LIK 1991b, ISS), genügt es nun nicht, in selbstgerechter<br />
Pose zu verhalTen und großzUgig das Renegaten-Etikett zu<br />
ve rabreichen. <strong>Der</strong> gegenwärtige Versuch, di e Linken, di e weder<br />
ei ne »Zivilisierung« der We1thungerordnung bemerken können,<br />
noch einer Versöhnung mit den herrschenden Verhältnissen das<br />
Wort reden, als All esmögliche (z.B als Anti semiten) zu denunzieren,<br />
JUag hauptsächlich derjeni gen Tatsache geschuldet sein, daß
der Kurswechsel »ge läuterter« Linker lImso gerechtferti gter erscheint<br />
, je schlimmer das »Pack« ist, das nuch wie vor di e Bedingungen<br />
jeglicher kapitalistischer und imperi alistischen Herrschaft<br />
in Frage stellt und bekämpft.<br />
Aber dieses ßuch ist zugleich der Versuch zu ergründen,<br />
warum unsere gängi ge lin ksrad!kale politische Praxis es ihnen<br />
dabei immer so einfach macht. Es bleibt nämlich unabhängig von<br />
den relati v durchsichtigen Motiven des Kl'i egstreiberdi skurses die<br />
Aufgabe bestehen, die di esen Fraktionswechseln der »Bellizisten«<br />
eben auch zugrundeliegenden objektiven Veränderungen zu analysieren.<br />
Von dahe r wollen wir zugleich eine notwendige und sicherlich<br />
schmerzliche Selbstkritik vo rantreibcn, ohne dabei über den<br />
Weg das Ziel aus den Augen zu verli eren.<br />
Es slehl außer Frage, daß die Erfolge des Kriegstreiberdiskurses<br />
auch Ausdruck der Kri se eines traditionellen linken Anliimperi<br />
al ismus im klassischen Gewande sind. FOr eine undogmati sche,<br />
radikale und autonome Linke macht es aber einen Unterschied. ob<br />
das, was au f Demonstrationen gemeinhin >dnternationale Solidarität«<br />
heißt, neu bestimmt werden muß, oder ob der Sachverhalt<br />
der gegenwä rtigen neo- kolonialistischen und imperialistischen<br />
Verhältnisse im WeItmaßstab gänzl ich in Abrede gestellt wird . Es<br />
ist hi er ni cht möglich, diese Diskussion zu führen. Unser Vorhaben<br />
ist daher bescheidene r. Wir beschränken uns auf ())defensive«)<br />
Ideologiekritik, die sich bewußt ist, daß für eine wirkli ch<br />
angemessene Auseinandersetzung mit diesem Krieg eine Analyse<br />
notwendig wäre. di e di e widersprüchlichen Interessen der beteili<br />
gten westlichen imperialistischen wie der ve rschi edenen arabischen<br />
(mitunter s ub-impe ri alistischen) Staaten in ein schlüssiges<br />
Erklärungsmodell einzubinden vermag. Eine unabdingbare Voraussetzu<br />
ng hi erfür ist aber zugleich jene Ideologiekritik, der wir<br />
tlllS nUll zuwenden woll en.<br />
Vor und unmittelbar nach Beginn des Golfkrieges formierte<br />
sich hierzulande zunächst eine außerordentlich aktive Bewegung<br />
gegen den Krieg. Sie blieb insgesamt freilich eine Minderheit. Die<br />
Mehrheit wartete ab. Es stand zwar für die Antikriegsbewegung<br />
nie zur Debatte, die fUr die US-Kriegsfuhrung strategisch wichtige<br />
Nachschublillie Bundesrepublik (Frankfurt und Bremerhaven)<br />
effektiv zu unterbrechen, aber offensichtlich wurde sie dennoch<br />
11
12<br />
sowohl von der Kri egs koalition wie auch dem offiziellen NATO<br />
Bonn als ein sclnver kalkulierhures Potential mit mögli cher Ausstrahlungsgefuhr<br />
angesehen.<br />
Zu nächst wußten di e öffentlich-rechtli chen wie di e privaten<br />
Med ien nicht recht , was der »<strong>freie</strong> <strong>Westen</strong>« in diesem Moment<br />
eigentli ch zu wollen hat und zeigten sich durchaus vo n der Anti <br />
kri egsbewegung beeinflußt. Doch sehr bald selzte d ie Kriegspropaganda<br />
mit aller Massivi tät ein. Regierung und Medi en<br />
begannen, den Kri eg in die Köpfe zu tragen und versuchten, einer<br />
zustimmenden Haltung in der (ver}öffentlich(t)en Meinung wieder<br />
größeren Einfluß zu verschaffen. Da dem Einve rständnis zu einer<br />
bundesdeutschen Kriegsbeteili gun g hi storisch bedingte koll ekti ve<br />
Erfahrungen zahlreicher Menschen entgegenstanden, gnlt es tun <br />
liehst die politische Wirkung der Anti kriegsbewegung zu neutra:Jisieren.<br />
Und um zumindest die burgerliche Öffentlichkeit auf Linie<br />
zu bringen, inszenierten die Kri egsbefurworler den Kriegs treiberdiskurs,<br />
infolge dessen die Fri edensbewegung ihr )) Vi etnam « erleben<br />
soll te. Das E rgebnis dieses Kri egstreiberdiskurses kann sich<br />
sehen lassen. Durch das gegenseiti ge Ausspi elen von antifaschi <br />
sti schem und antimi li taristischem Di sku rs verstummte der Protest<br />
gegen den Kri eg in der zweiten Woche weitgehend . Am Ende stand<br />
eine Antikriegs bewegung, di e ni cht mehr hinten und vo rne oder<br />
oben und unten zu unterscheiden vermochte. Was sie sich noch zu<br />
sagen getraute, war zu we ni g, um ernst genommen zu werden.<br />
Denn eine inhaltli ch derart reduziert e Positi on wi e )) Kriege sind<br />
immer sc hlimm « verurteilt zwangsläufig zu politischer ßedeutungslosigkeit.<br />
Di e andere Seite hatte aus Vietnam gelernt und di esen Kri eg in<br />
den Medi en bestens vorbereit et. So vermochte unter den bisherigen<br />
und potentiellen Kri egsgegnern die Gegenpropaganda bereits<br />
in der zweiten Woche Fuß zu fassen. Seine Hauplaufgabe saJl der<br />
Kri egstreiberdis kurs in der Befestigung derj enigen Ideologie, di e<br />
besagte, daß es sich (von se iten der US-gefü hrten Kri egskoilliti on)<br />
um keinen imperialisti schen Kri eg, sondern um einen sozu sage n<br />
antifaschi stischen »surgical strike« für Menschenrechte, Demokratie<br />
und Völkerrecht handle. Sein E influß ve rgrößerte sich in<br />
dem Maße, wi e sich klar abze ichnete, daß es über den Golfkri eg<br />
nicht zu einem Dritten \Veltkrieg kommen wUrde, di e Metropolen-
ewohner also nicht mehr fürchten mußten, direkt in Kri egshandlungen<br />
verwi ckelt zu werden. Dabei zeigte s ich, daß der Mobilisierungserfolg<br />
der Friedensbewegung in der ersten Woche nichl<br />
unbedingt nur dem Einfluß antimil ita ristischer Überzeugungen zu<br />
verdanken war, sondern auch der massenhaften Angst, sich plötzlich<br />
im Kri egsgebiet wi ederzufinden. Ein Anzeichen hierfür ist die<br />
Spaltung des öffentlichen (demoskopi sche n) Bewußtseins, daß<br />
wäh rend des Kri eges zwa r 80 % der Befragten fUr den Kri eg ein <br />
truten, s ich genausoviele aber gegen einen Ein satz der Bundeswe<br />
hr wa ndten. War einmal klar, daß der Kri eg ni cht noch Europa<br />
kommen wU rd e, ve rmochten di e eigenen, wohlsllInds-chauvinisli <br />
sehen Interessen in Vel'knupfun g mit den s ie rechtfertigenden<br />
Feindbi ldern das Denken wieder zu bestimmen. Das a ll es bew irk <br />
te .. in der öffentlichen Meinung ein.en UI11,SchuJlLng (. . .), wie I1U Ln<br />
ihn dramatischer wul schneller selten erle bt hat" (Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung, 3 1. 1. 1991). <strong>Der</strong> Erfolg der Kriegsbeflirwort er fuhrte<br />
zu r regelrechten »G leichschaltung« eines bi s dahin noch<br />
d ifferenzicrteren öffentlichen Meinungsspektrums. Hierzu instrumentalisierten<br />
sie hi storische Vergleiche. beförderten tradierte<br />
Feindbi lder und formulierten morali sche Imperative. Im Mittelpunkt<br />
standen drei zum Teil in einander ve rwobene, sich auch<br />
gegenseitig bedingende historische »Argumente« :<br />
Gleichsetzung von Hider-Deutschland und Saddllm-lrak.<br />
Zus pitzung vo n ethnozentristischen zu rassisti schen Denkformen<br />
gegenüber der »Dritten Welt « unter ß czugnahl'l'Ic auf alte<br />
»okz identale« Islam-Feindbilder,<br />
Instrumenl nli sieru ng der »His torischen Verantwortung der<br />
De ut schen« nach der Ermordung der europäischen J ude n.<br />
Ocr Kri egstreiberdiskurs zielte außerdem da rauf, (mil it iiri <br />
schcn) Großmacht plänen der Bundesrepublik den Boden zu bereiten.<br />
Bi sher vor dem Hintergrund der militärischen Niede rl age des<br />
deutschen Nationalismus unmögliche Disk ussionen wurden<br />
schlagartig wieder salonfii hig. Interessierte politische Gruppierungen<br />
ve rmochten eine Diskussion über eine zukünftige - nunmehr<br />
angeblich positi v zu bewertende - Großmaehtrolle der Bundesrepublik<br />
un zuzett eln sow ie eine Debatte darUber, unter welchen<br />
13
(ist), die ihn jetzt beklimpJen; da.s kann man von Hitler in keinem<br />
FaU "'gen" (NEC't). Klar kam dies in der Stellungnahme des Chefs<br />
der Nahost-Abteilung im Sicherheitsrat der USA , G. Kemp zum<br />
Ausdruck: " Wir wußten, daß Saddam ein flurensohn war, aber er<br />
war eben dam.als ullser flurensohll., den wir gegen die schlimmere<br />
Bedrohung des Ayatollah Khomeini einsetzen wollten" (SI'EHN 6/1991).<br />
Saddams nach außen gerichtete machtpolitische und militärische<br />
Bedeutung resulti erte wesentlich aus dem Handeln jener Staaten,<br />
die ihn schließJi ch auch »abzurüstcI1 « gedachten (C HOMSKY <strong>1992</strong>u, 16).<br />
Er steht für einen .. Diktator von der Art, wie sie die Vereinigten Staaten<br />
immer wieder gefunden nnd unterstiltzt haben" (SA I D 199 1,32) Oder:<br />
Mitunt er sind "die Husseins (.".) selbst u.a. auch Produkte westlicher<br />
Interoentionen" (MASSAllHAT 1990, 53). Saddams High-Tech-Waffenarsenal<br />
stammt(e) im wesentlichen aus westlicher Produktion<br />
(KOLKO). Und nach wi e vor sind ABC-Waffen ein Resultat okzidentaler<br />
Phantasie und ) Intelligenz «. Die HOJ'l'orvisionen vom .. arabi<br />
schen Frankenstein" lassen sich auch als die entlastenden "Schuldprojektionen<br />
H<br />
derjeni gen begreifen, die für die Aufrüstung des Irak<br />
ha uptSäc hlich verantwortlich si nd (SCH NE IOEtl). Die Quelle des<br />
Ubels »Saddam « ist der »<strong>freie</strong> <strong>Westen</strong>« selbst. Die .. aggressive<br />
Militärmacht Irak (ist) selbst ein Produkt imperialistischer Strategien"<br />
(HIRSC H 1991n. 7).<br />
Außerdem erschien schon vor dem Kri eg mehr als fmglich, ob<br />
Saddams "primärer Antrieb" tatsächlich die irrationale "Entschlossenheit<br />
zur Aggression" war, wie ENZ ENSßEBGE R Glauben machen<br />
wollte. Denn bi s ?Um 2.August 1990 halte Saddam nach außen<br />
»nur« einen Krieg gegen den Tran vor allem mit der Motivation des<br />
Machterhaltes geführt , die sich als »Selbsterhaltungstrieb« charakterisieren<br />
läßt. Wie zahlreiche andere arabische Staaten auch,<br />
fohlte er sich von der " fslamisehen Revolution", dem Islamismus<br />
im Iran bedroht und ve rsuchte auf offensiv-kriegerische Weise<br />
(mit westli cher UnterstUtzung), dieser Bewegung Einhalt zu gebieten<br />
(BlECK, 11 8) . Bis dahin hatte sich Saddam durchaus »rational«<br />
verhalten. Saddam ist nämlich ein nüchterner ») Realo«, der, wi e<br />
alle Welt sehen konnte, sich am Möglichen orientierte und das<br />
physische wie politische Überleben dem Märtyrertod allemal vorzog.<br />
Di e auf der Erscheinungsebene vorhandenen Ähnlichkeiten<br />
zu Hitler (totalitärer und skrupelloser Diktator) hingegen sind in<br />
19
Zur Rechtfe rti gung des Krieges de r »Anti-Saddam-Koalition<br />
«: wurde ein we ite rer hi storische r<br />
Verglei ch angefU hrl. Di e sogenannte Appeaseme<br />
ntpolitik Englands und Frankreichs vor<br />
ßeginn des Zwe it e n Weltkrieges stand als wa r<br />
Appeasement = l<br />
Pazifismus oder<br />
Beschwichtigungs<br />
politik zur Wah-<br />
rung eigener<br />
Interessen?<br />
nendes Bespi el für zu wenig En.tschl ossenhei l.<br />
Demzufolge hube di e mit dem Münchner Abkomme n von 1938<br />
verbundene Appenseme ntpoli tik Hitler erst zu seinen weite re n<br />
Überfälle n auf die T'schechos lowakei und Polcn ermunte rL. Desweitere<br />
n wird angefUh rt, daß sie ein en Krieg unter a ll cn Umsliinden<br />
ve rm eiden wollte und ihn dann unter viel schl echte ren<br />
Umständen doch führe n mußte. Diese Analogie di ente den Kri egsbefUrworl<br />
ern wi ederum dazu, die angebliche Sinnlosigkeit von<br />
Verhandlungen mit einem »hemmungslosen Aggressor« vo rzuführen.<br />
Mit Blick auf die Friedens- und Antikriegsbewegung obernahme<br />
n nun selbst Autoren wie J. FHIEOIH CII die Behauptung<br />
Heiner Geißle rs, daß der Pazifis mus Auschwitz e rst ermögli c ht<br />
habe: JJlitlers Vernichtungswut und der Pazifism.us der Appeaser<br />
haben mehr Menschenleben gekostet als alle vorigen Kriege zusammen.<br />
Doch die Vernichtungswütigen und die Nullen sterben nicht<br />
aus" (FnmnHICII). Ähnlich hielt es auch J, die schnelle int.ellektnetle<br />
Eingrei/uuppe wn Bernard f/enri Uvy", die "mit $chneLlen chirurgischen<br />
Schlägen gegen den JGeist. von München'" kümpfen wollte<br />
(5"0"rC2YK).<br />
In das gleiche Horn stieß aus einer ganz anderen Ecke K. IIILnE·<br />
BRA ND, der zwar nicht so unklug war, di e Appeasemenlpolitik von<br />
1938 in einen direkte n Zusammenhang mit den Ansichte n der Golfkri<br />
egsgegner zu setzen, aber entsprechende Anspi elungen an klingen<br />
li eß: "Zu der unübersehbaren PopulariUit dieser Politik trug<br />
zudem. maßgeblich bei, daß esJür eine Mehrheit der BeVlJlkerung in<br />
beiden Litndern (Frankreich und England, d. v.) keine Alternative<br />
zur EntspwUl.ung zu gehen schien. H<br />
Mal abgesehe n davon, daß es beim Münchner Abkommen und<br />
der Appeasemelltpolitik von 1938 um alles mögli che, bloß ni cht<br />
um Friedenspolitik und schon gar ni cht um pazifisti sche oder<br />
linke Politik ging, verspürten Franzosen wie Briten vor dem Hintergrund<br />
innerer Kri sen und der Wahrung ihrer eigene n Großmachtinteressen<br />
schli cht und einfach kein Bedorfnis, in eine n<br />
21
Auf " die" wissenschaftliche<br />
Banl:rotterl:liirung" von<br />
ger sieht nicht mehr. Doch an Deutsche im Krieg habe ich präzise<br />
Erinnerungen, wul so wUßte ich gerne, wo und wann er denn die<br />
Deutschen so todessehnsüchtig erlebt hai," {1l i\1T1I)." Bei der Befreiung<br />
von faschi stischen Regimen kommt es dann auf ein paar hunderttausend<br />
Menschen nicht an. Am Ende stehen di e<br />
Vernichtungsphanlllsien eines w. POBIlT: .,Eben meldet Bagdad, daß<br />
es nun Israel mit Chemiewaffen auslöschen wolle, eine<br />
Absicht, die Israel gegebenenfalls mit Kernwaffen zu 1;er-<br />
sozialwissenschaftlichen hindern wissen wird".<br />
Interpretationen, die mit der·<br />
lei psychologischen Kompen·<br />
sationstheorien verbunden<br />
sind, verweist A. GES TRICH:<br />
"Theorien, die solche sozialen<br />
Bewegungen wie den NS<br />
und die Begeisterung der Ira·<br />
ker für Saddam Hussein als<br />
psy
von ihm zugestandene n "historisch gut begründeten Einwiinde"<br />
herrsche " im Orient die Vorstellung, Niedergang wul Verfall seien<br />
auf absichUvolles westliches Handeln und dahinterstehende Verschwörungen<br />
zurückzu[iihren" (ebd., (5). Die nicht vorhandene bürgerli<br />
che Örrentlichke it mache es deshalb dem rechtglHubigc ll Muslim<br />
unmöglich, die eigent lich kompl exeren GrUnde, also di e., Wahrnehmung<br />
von Umständen ( ... ) weit endogenen Charakters" (clxl., (4),<br />
7.lI durchschauen, warum das »Abendland « beschloß, ihm Bomben<br />
auf den Kopf zu we rfen. Denn di es hat I)J NER (199111, 147 r.) wfolge<br />
nichts mit dem anhaltenden Anspruch de r im perialistische n Staaten<br />
übe l' ihre Ressourcen zu tun, sonde l'll ist allein in der historischen<br />
Mi ssion des Weste ns begründet. (vgl. Kap. 2) di e Menschenrechte<br />
und das Völkerrecht universal durchzusetzen. <strong>Der</strong>lei<br />
Behauptungen gipfeln immer wieder in der Illusion, daß wirklich<br />
demokratische - ode r zumindest bürgerli ch-demokratische - Verhältnisse<br />
prinzipiell unabhängig von gerechten smdoökonomischen<br />
Bedingungen möglich seien. Sie sind gegenwärtig auch Bestandteil<br />
eines Di skurses über die» Unterentwicklullg« im Trikont, wonach<br />
die Ursachen hierfür hauptsächli ch hausgemacht und nicht aus den<br />
unglei che n Beziehungen zwischen Nord und Süd ableitbar seien<br />
( ... gl. l.B. MENZEL) . Wenn also vorrangig die inte rn en Versäumnisse und<br />
Fehlplanungen zur Erklärung der Verhältnisse im Trikont taugen,<br />
bedarf es folglich auch keiner Abschaffung der s ie hauptsächlich<br />
bedingenden metropolitanen Strukturen. Die realen Mechanismen<br />
der Welthungerordnung und der sie garantierenden Wehpolitik<br />
(SCHOLLER) mUssen dann nicht mehr in Beziehung zu de n jewei ligen<br />
undemokratischen Verhältnissen gesetzt werden. Aber "es gibt keine<br />
Demokratie ohne Entwicklung und umgekehrt" (Tahar Bel 1e110un<br />
, zit. n. n Ma nifesto, 19.3. <strong>1992</strong>).<br />
33
36<br />
Ku.wait einen Krieg gegen den Süden/ührt, lUn den FlujJ des bilLigen<br />
Öls von Süden nach Norden aufrechtzuerhalten. Ein wichtiges<br />
Kriegsziel 'war auch die Dezim,ierung der irakischen Armee. Dieses<br />
Ziel wurde erreicht, u.nd die militli.rische Oberlegenheit Israels, das<br />
als Verbürulel,er des IVestens gilt, wurcle im Nahen Osten wiederhergestellt.<br />
<strong>Der</strong> Goljkrieg kann somit auch hegernonialpolitisch als ein<br />
Krieg gegen den Süden interpretiert werden, da mit dem, Irak ein<br />
Lcmd des Südens es gewagt hat, sich durch miliUirische Macht eigene<br />
politische fj(uullu,ngsspielrliwne zn schaffen" (MASSABHAT <strong>1992</strong>,40).<br />
Auch wenn die realen militärischen Möglichkei ten des Irak erhebli<br />
ch dramatisiert wurden (v gl. Kap. 3), bedeutete der Einmarsch in<br />
Kuwait ei ne versuchte Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses<br />
in der Region: "Ein Land des Südens umr im. Begriff,<br />
dem technologischen und kulturellen Vorposten des Nordens, dem<br />
Staate Israel, miliUirisch Paroli ZlL bieten" (dJlI.) . Nu r zu einfach li eß<br />
sich der völkerrechtswidrige Überfall auf KuwaiL dazu nu tze n,<br />
" den irakisehen Vorstoß gegen die militärische Oberlegenheit Israels<br />
zu stoppen" (e11d.). <strong>Der</strong> Sieg über den Irak unter Einsatz modernster<br />
konventioneller Waffen ist zugleich di e Vernichtung des<br />
Sy mbol s eines selbständi g handelnden Repräsentanlen ei ner<br />
Region, die nach kultureller und ökonomischer Unabhängigkeit<br />
strebt. Di e mit dem Sieg verbundene politisch-psychologische<br />
Botschaft richtete sich daneben auch an alle Staaten des Si.idens,<br />
di e sich von der Hegemonie des <strong>Westen</strong>s lösen wollen. Die ku lture<br />
ll e Dimens ion des Konfliktes ze igt di e Tatsache, daß vo n west licher<br />
Seite ,)mittelalterli che« Verhältnisse erst in dem Mom ent als<br />
bedrohlich empfunden werden, wenn sie Formen annehmen, die<br />
darauf zielen, die Vorherrschaft abzuschütteln: " Denn rnit zumindest<br />
ebenso riLckwärtsgewandten Herrschern in Saudi-Arabien kann<br />
der <strong>Westen</strong> nicht nur gut. leben, sondern - wie wir sahen - sogar<br />
einen gem.einsamen Krieg führen " (Cbll, 41 f.).<br />
De rlei Sachve rhalt verwandeln Saddam Hu ssein selbstve rständlich<br />
noch lange nicht in ein en antikolonialen Helden. Da er<br />
selbst nur ei n Produkt der ko lonialen Deformation der Verhältnis<br />
se im Nahen Osten ist (H IHSC H 199 1u, 7), kann eine Solidarisierung<br />
oder gar Identifi kation (I-lALL 1991: .. anti-,:mperialism of fools H<br />
) mit<br />
ihm nicht zur Debatte stehen. Doch selbst wen n er sein sollte,<br />
.. was er irnmer war: ein wahrer Wolf irn Schafspelz, der nie zögerte,
seinen mörderischen Drohungen auch ebe/lSolche Taten folgen zu<br />
lassen", wäre doch zu bedenken, daß, wer in ein em Stud tviertel<br />
eine n Mörder ve rsteckt weiß, dieses ni cht .. per Ekrasit zehn Meter<br />
fiber Normalnull heben" kann (SA U_EH).<br />
37
40<br />
lVunschvorstellltng, daß alles so bleibt., wie es ist; die anderen hoffen<br />
auf Friedens - wul Sicherheitsko flferenzen europüischen Musters<br />
nach dem, Krieg - au.ch das trügt lage der Realitätsverweigerung.<br />
Nach dem. Ende der Ut,opien nennen sich die Politiker Realisten wut<br />
Pragmatiker" (chll.) .<br />
Wohin dieser »Saddam ;;;; l-litl er«- Vergleich führt. dUrfte nun<br />
offensichtlich sein. Die obe n vorgeführten »Argumente« si nd nicht<br />
Resultate historischer Analyse, sondern Ausfluß dieser selbstgerechten<br />
Okzide ntalen Ideologi e. die die Dämonisierung arabischer<br />
Ku ltur und Lebensweise vorantreibt und die }>okzidentalen « We rte<br />
des »zivilisatorische n « <strong>Westen</strong>s ve rhe rrlicht. Es geht nach der<br />
wei tgehenden Aunösung des Ost-West-Widerspruches um die ideologische<br />
Legitim ieru ng und Beschreibung der alten »neuen « Welthungerordnullg<br />
in Form der »Pax Alllcric8na«. Hi erzu bedarf es der<br />
Kon struktio n dieser ideologischen Kluft zwischen Zivilisation und<br />
Barbarei, zwischen Gut und Böse, uberlebenswerl und der Vernichtung<br />
preisgegeben. Am Ende geben " diese Monster keine Rätsel"<br />
mehr auf WNZENSBEllGEH). Und derartige Behauptungen führten<br />
schnurstracks zu jener Hetzpropaganda, daß, wer Saddam nicht<br />
militärisch bekämpfte, realite r mit ihm paktierte.
Offens ic htlich bedeutet der Wegfall des bipolaren<br />
Ost-West-Konfli ktes eine wesentli che<br />
Erschütterung de r Selbsl legi timation des<br />
»<strong>freie</strong>n <strong>Westen</strong>s«. Auf ein m
anzunehmen, es gäbe »den« Islam. Ein islamischer Lebensstil existi<br />
ert genausowenig wie ein einhei tlicher christlicher Lebensstil.<br />
VOll Bedeutung sind ein schriftgelehrter [siam, ei n mys tischer<br />
Islam, zahllose <strong>Der</strong>wischorden und sehr unterschi edliche regionale<br />
Ausprägungen des Islam. Darüber hinaus find en sich pietistische<br />
und sogenannte quieti sti sche Strömungen, abcr auch militante<br />
Kampfgruppen. Di e iranischen Mullahs gelten in der arabischen<br />
Welt keineswegs als »Fundamentalisten«, sondern als antikonserval<br />
iv (im Vergleich zu den Saudis etwa), da sie die Doktrin der <strong>freie</strong>n<br />
Entscheidungsfindung mit Hilfe der Ratio vertreten und sie deswegen<br />
hauptsächlich von den feudalen OPEC-Herrscher als Gefahr<br />
angesehen werden. Schon di e Verwendung des Begriffes »Fundamentalismus«<br />
in diesem Zusammenhang ist fragwürdig, da dieser<br />
aus den USA stammt und dort eine sehr einflußreiche Spielart des<br />
Protestantismus seit 1910 bezeichnet. Dieser »Fundamentalismus«,<br />
der etwa die Darwinsche Evolutionstheorie bekämpft, findet<br />
im [siam kein entsprechendes Äquivalent, da der Koran keine<br />
Schöpfungsgeschichte kennt und deshalb mit der modernen Naturwissenschaft<br />
keinerlei Probleme hat ( HALM 1991,201). Für das westliche<br />
Bi ld des Islam ist außerdem di e "irreführende" Übersetzung<br />
des arabischen Begriffs "Dschihad" mit " Heiliger Krieg" bestimmend<br />
geworden (C LEMESJALBEHT, 5 1 u. REBSTOCK 1990). <strong>Der</strong> Versuch, jegliches<br />
militärische Agieren arabischer Staaten mit der Formel vom<br />
"Heiligen Krieg" zu überziehen, zielt darauf, einen besonders<br />
gefährlichen Charakter islamgläubiger Menschen zu behaupten.<br />
Wissentlich oder unwissentlich wird der Kontext dieser Parole<br />
unterschlagen, wonach es sich dabei um einen "gerechtfertigten<br />
notwendigen Krieg zur Verteidigung" und nicht um 23<br />
<strong>Der</strong> sogenannte Fundameneinen<br />
Eroberungskrieg handelt. J. CAI:J'UNC ( 1990) be rnerk- talismus ist eher als defensi·<br />
te schon im August 1990, daß "diese verdummende west- ver Rückzug, denn als »islamische<br />
Offensive _ zu begreiliehe<br />
Presse das alles mif die Einheitsformel 'Heiliger fen (HALL). Zur historischen<br />
Krieg' redu.ziert - und nicht mal versteht, daß diese For- Konzep tion der religiOsen<br />
Expansionen und dem Kon-<br />
11'/,el kein Offensiv-, sondern ein Defensivkonzept ist u. 23 zept der Oschlhad vgL<br />
<strong>Der</strong> Kriegstreiberdiskurs deutet in den Koran eine WAITIWElCH. 154 ff.<br />
besondere Aggressivität vo n Muslimen hinein. <strong>Der</strong>artiges läßt sich<br />
genauso belegen wie das Gegenteil. <strong>Der</strong> Islam selbst beruft sich<br />
nämlich wie das Christentum und das Judentum auf den Stammvater<br />
Abraham_ Alle drei Religionen lassen programmatisch ein sehr<br />
43
Denkwett der afrika.nischen Menschen le,:ch.t.er zu. verstehen a.ls die<br />
christliche Lehre" (zit. 11. HAU\. (97).26 Zum anderen bedrohe der Islam<br />
seit Jahrhunderlen das Abendland und habe derzeit Europa in<br />
eincr Znngen bewegung wieder im Visier ( .. Das Schwert,<br />
des Islarn U<br />
).27 An dem Feindbild von der angeblic h<br />
uberbo rdcnden islumisc hcn Aggressivität formt Pcter<br />
Scholl -LaloUl' in vo rderster Reihe mit. H.I-I . HALM paraph<br />
rasiert di e Tend enz der Scholl- Lal.o urschen Aussagen:<br />
"Sch.OIl. immer brande/.e die is/.a.m.i.,·che F'lll.l,<br />
gefäll.rlich gegel'. die Kilst,en des Abendicuules, ILful h.ell,te<br />
ist, die Gefahr der Dbe,jlut.ung rlrüngender denn je" (l:I.d.),<br />
Scholl -Latour Leilt e uns den n auch im ersten Teil sei<br />
Iler Fernsehrei he " Das Schwert, des ISI.CUl1S" ( .. <strong>Der</strong> lange<br />
Weg nach l erusalem U) mi t: "Ein Goueskrieg wird heul.e<br />
irn Oriell! au sgetragen, der bis in die Nacht der Zeiten<br />
zurückreicht., Cl Im zwei ten Teil warn te er die Zuschauer<br />
vo r der hieraus e rwac hsenden Gefa hr fU r das Chri stentum:<br />
"Noch breitet die mo/wmellt.a,le Chrisl,LLSsULl.ue ihre<br />
Arme ii.ber die LelJanLinil sche Küste" (Z i!. n. Fernsehsendun<br />
g). Die Wirk samke it solcher Assoz iati onen ergibt<br />
sich aus ei nem christl ich bestimmten Anti islullIismus,<br />
de r "das Bild vom Islam als einer Religion mit f euer<br />
luul Schwert, zu einem tief'verwurzelten kollektiven Vorurteil"<br />
(tNTEHNi\TJO NA l.EH i\HBE1TSKHEIS, 23) ve rdichtete. Die<br />
vie lges ta lti ge inLe ll ektu ell e Synthese zw ischen islami <br />
scher lind chri stl icher We lt sow ie das progrll lllmali sch ex istent e<br />
f'ri edenspotellt ia l des Koran s nimlllt hier nur ei ne Minderheit zur<br />
Ke nntni s.<br />
<strong>Der</strong> vorn Kriegstreiberd iskurs konst rui erte Zusam menhang von<br />
Krieg und fanatischer islam ischer Heligion uillerschl ilgt di e ebe nfH<br />
lls religiös ve rbräm te westlich-christli che Kri egspropugandH.<br />
Wer sich vo r dem Hintergrund des Golrkri eges über di e Rückkehr<br />
des Religiösen in die Politik beunruhi gt., darf seinen Bli ck ruhig<br />
über die islam ische We il hinaus ri chten. Erinnert sei nur an di e<br />
Instrumcnt Cll isicrung vo n Heligion auf seiten de r USA, al s Geo rgc<br />
Bush am 18. Januar 1991 erklärte, der Krieg um Co lf ellt h
46<br />
Indiellstnahme ihres Gottes für die »gerechte« Sache auf Seiten<br />
der westlichen Alliierten war gleichfalls ein wichtiges Propagandamittel<br />
in den USA. Das Strickmuster des auf Kreuzritter-Niveau<br />
betenden ßush steht dem des betenden Saddam in nichts nach. Im<br />
Hinblick auf di e Geschichte der ch ristli chen Kreuzzüge, der<br />
chri stlichen Ermordung der Mauren in Südspanien, des dreißigjährigen<br />
Reli gionskrieges und den Koppelschlössern ("Cott mit<br />
uns") dcutscher Soldaten gi bt es nun überhaupt keine Berechtigung<br />
fUr hiesige überhebli chkeit gegenüber den angeblich unzivi<br />
I isierten »Fundamentali sten «.<br />
Di e Bctrachtungen von Scholl-Latour und Konzelmann sind<br />
gleichz.eitig Ausdruck eines Interpretationsmusters vo n Konflikten,<br />
das sich als Kulturalismus bezeichnen läßl. <strong>Der</strong> KuJturali smus<br />
erklärt di e Kulturen zu historischen Su bj ekten. Ni cht di e<br />
Menschen oder wirtschaftliche Interessensgruppen (Klassen) formen<br />
in einer solchen Sichtweise die Lebensbedingungen, nicht<br />
Wechselwirkungen zw ischen ihrem gesell schaftlichen Sei n und<br />
Bewußtsein bestimmen die Dialektik von konkreter histori scher<br />
Situation und kultureller Transformation . Stattdessen macht der<br />
Kulturalismus die Menschen zu .. Geschöpfen und Gefangenen ihrer<br />
jeweiligen KILÜlLr" (AUE Il. NHEIMEH, 191). So geraten die Menschen und<br />
di e Kämpfe um kulturelle Hegemoni e innerhalb verschiedener<br />
Kulturen aus dem Blickfeld. Kulturen erscheinen als " relativ<br />
hOl1wgene Gebilde mit einheitlichen Wesenszügen" und ihr Gegensatz<br />
erwächst "zur Triebkraft des geschichtlichen Prozesses" (ebet.).<br />
<strong>Der</strong> Kulturalismus stilisiert nicht nur den islam zur ideologischen,<br />
sondern auch zu der "gesamtkultlLrelle(n) Antithese zum <strong>Westen</strong><br />
und seiner ILftiversalistischen Identität" hoch (SC HULZE, 2 10). Das<br />
strategische Ziel ist di e Umdeutung des Nord-Sud-Konflikts in<br />
einen kulturellen Gegensatz. Diese Interpretation spekuliert<br />
zudem auf ein Mittelschicht-Milieu, das hi storische Deulungen<br />
aktuell er Konflikte besonders zu schätzen weiß. Gleichzeitig soll<br />
"die FestlLng Europa psychologisch" vorbereitet werden (eint.): " <strong>Der</strong><br />
Golfkrieg hat gezeigt, wie aklLt die Gefahr aus dem islamisch-arabischen<br />
Raum plötzlich auch für die Europäer werden kann. ( ... )<br />
<strong>Der</strong> Druck aus Nordafrika auf das südliche Europa wächst. Er wirft<br />
Fragen der inneren Sicherheit auf. De C(wUe sah schon vorau.s: <strong>Der</strong><br />
Ost- West-Konflikt werde bis zum. Ende des Jahrhunderts entschieden
Diese Furcht einte den fri edensbewegtf(Jl Metropolen-Pazifisten<br />
mit denen sich auf eine »zeitweilige Ausnahmesituation« berufenden<br />
Anhängern einer Pax Americana vom Schlage H.L CREMLIZAS<br />
(»Burgfrieden« fiel ihm dazu nicht ei n, dem angeblich Unbelehrbaren).<br />
Daß diese Menschen die bestehenden VerhUltnisse als veritlldel'bal'c<br />
begreifen, läßt ihn von arabischen Massen phantasieren,<br />
die aus ihrer Niederl age die Konsequenz ziehen könnten (199 Ih,8),<br />
.,daß der Krieg besser nicht im eigenen Land ( .. .) ge/ithl'l, sondern in<br />
die Metropolen getragen wird. Was terroristische Kriegfuhru,ng verrnag,<br />
wird sich zeigen, wenn sich nicht versprengte Grüppchen ihrer<br />
annehmen, sorutem' halbe Kontinente: heute ein Giflgasanschlag auf<br />
einen Kinderhort in Frankfurt, morgen eine Bombe im .. Atomreaktor<br />
von Stade, da wird sich mancher Bu,ndesanwalt noch nach den chirurgischen,<br />
Zivilisten weitgehend verschonenden Opemtionen der<br />
guten alten RAF zurücksehnen". Pointiert fassen diese Haltung<br />
Frankfurter Autonome zusammen: " Die Angst in Europa vor der<br />
'Arabischen Ge/ahr' (nach dem.. Ende der 'Roten Gefahr') ist auch die<br />
Angst vor der radikalen Infragestellung eines europl.l..ischen Kulturimperialistnus.<br />
der in der behaupteten Universalität seiner angeblich<br />
zivilisatorischen Werte, gerade mit der 'linken' Golfkriegsbe/lLrwortung,<br />
eine ideologische Renaissance erlebt" (L.U.P.U.S. 1991h, 38).<br />
Die gegenwärtig herrschende Weltwi rtschaftsordnung bedingt<br />
im Tl'ikolll und in den Schwellenländern Verhältnisse, di e in ökonom<br />
isch und ideell völlig destabilisierten Staaten und angesichts<br />
der kulturellen Hegemonie des Imperialismus in der Tat a nLi westliche<br />
Rachei deologien zur Folge haben können und di e sich alle<br />
mögli chen Regimes zunutze machen: "A ber was heißt das? Etwa,<br />
daß man diese Regimes abstrakt-unmittelbar in ihrer 'Bösartigkeit'<br />
verdammen und sich die Hände in der demokratischen BlutschiLssel<br />
in Unschuld waschen kann? Viel eher heißt es doch, daß die demokratische<br />
Vernurifi historisch am Ende ist, und jeder Analogismus<br />
mit vergangenen Konstellationen innerhalb des <strong>Westen</strong>s selber die<br />
pure Heuchelei. <strong>Der</strong> Weltmarkt, die materielle Grundlage der westlichen<br />
Demokratie und Zivilisation, ist absolut url/llhig geworden,<br />
die globale Mehrheit der Menschen in seinen Zuscunmenhang integrieren<br />
zu können. Das ist der wahre Kern des Problems" (KUnZ, 16).<br />
Diese »okzidentale« Sichtweise ignori ert die Voraussetzungen der<br />
grundlegend en Probleme des Nahen Ostens: " <strong>Der</strong> Kultu,ralisnw,s<br />
51
S2<br />
und Nonnativismus, der die Geschichte als Durchselzung eines Weltbildes<br />
auffaßt, lUßt jene Frage nicht das Herangehen {u!. {len Konflikt<br />
leiten, die die Aufmerksamkeit richtet au! die kolonialen und<br />
militärischen DemUtigungen, au,! Armut und Arbeitslosigkeit, sowie<br />
au! eine die Spaltu,ng der Gesellschaft vertiefende Modernisierung.<br />
Auf sie ist die Re- Islamisierung eine Antwort mit den Mitteln, die<br />
dazu, bereitstehen. Erst so, nicht aus der Logik des Islam. und nicht<br />
ohne interne soziale DiJJerenzierung kann der Resonanzboden<br />
bestimmt werden, au! den der <strong>Der</strong>nagoge Saddam Hllssein waghalsig<br />
zu. setzen 'versuchte" (eHEYDT) . Unsere »aufgeklärten" westli chen<br />
»Sachve rständ igen« in sogenannten Mcnschenrechlsfragen liefern<br />
ungefragt das ideologische Unterfu Ller filr Massenbombardements.<br />
Ein solcher " Experte" ist sich bewußt, "wie relaüv diese l3egriJJe<br />
sind. Er weiß, daß die anderen solche Errungenschaft.en weder<br />
anstreben noch verdienen. Für die Anstrengungen von naiven Westlern,<br />
den ewig archaischen Orient zu bekehren, hat er nur ein<br />
Uicheln übrig. Ob sich ein erneuter Versuch mit einem modernisierten<br />
Kolonialismus lohnen könnte - das wäre einmal eine gute<br />
PlLblikwnsJrage" (SENOeA K).<br />
<strong>Der</strong> Kriegstreiberdiskurs behauptete einen allgemeinen<br />
»fundamen ta listischen« Rückschriu arabischer Gesellschaften<br />
gegenüber der Entwicklung »okzidentaler« Gesellschaft en westlichen<br />
Zuschnius. Die ihm zugrundeliegende Okz identale Ideologie<br />
erwe ist s ich aJs das Spiegelbild der Angst zahlreicher Musli me vor<br />
dem Schreckgespenst der westli chen Welt (/-I ALM, 206). <strong>Der</strong> GoU'krieg<br />
hinterl üßl in den " Köpfen Eu,ropas" (ßA IEH , 9) eine Verheerun<br />
g. d ie der Ve rwüstung des Denkens im angenommenen<br />
Wa hn bi ld vom Islamismus in nicht s nachsteht und einem q uasi<br />
"slikularisierten Heiligen Krieg" (cbn,) das Wo rt redet. Die nun<br />
offens iv gepredigte OkzidentaJe Ideologie läßt den bisher latenten<br />
impli ziten Rassismus in Gestah des viele rnlellckt uelle prägenden<br />
Eurozenlrismus zur Tendenz werden (BOIUS/IMßUSCII , 7).
54<br />
ger (l,mbischer Staaten h(l,t sich - rUckblickend geurteilt - iln Konflikt<br />
zwischen dem Irak Saddam Husseins und der westlich-ambisehen<br />
Koalition vernilnfi.ig wul interessellsgeleitet verhalten. Das im<br />
IVest.en gezeichnete Zerrbild trog" (D INEH 1991h, 81) . So pflegen die<br />
beiden Hauptapologeten de .. Okzidental en Ideologie nicht das<br />
"quasi-anthropologische, traditionell offen anti-orientalische Ressentiment"<br />
(ebd., 83), sondern wissen es in abgewogene staatsphilosophische<br />
Abhandlungen zu ve rpacken.<br />
Die Essenz der Okzidentalen Ideologie und deren Zuspitzung<br />
wä hrend des Golfkrieges formulierte in der Berliner »taz« ein<br />
Bamberger Professor für Philosophie. Er pries " das europäische<br />
Modell" als "einzige(s) lutter den lVeltkulturen, welches sich dem<br />
Problem des Zusammenlebens lutterschiedlicher Kulturen eigens<br />
gestellt wul eine Lösung dafür entwickelt hat. ( ... ) Eben das nötigte<br />
diese Kultur zu de1jenigen TmflSformation, die wir die Aufklärung<br />
( ... ) nennen und die eine Konzeptionjiir das friedliche Zusammenleben<br />
unterschiedlicher Völker hervorbrachte" (WE I.SCH). Dahinter<br />
verbirgt sich auch nichts anderes als das inzwischen al lerol'len in<br />
Di enst genommene Konzept der »Zivilgesellschaft«, das in diesem<br />
Zusammenhang zu einern Kernstück der Okzidentalen Ideologie<br />
muti ert und einer allgemeinen Dom estizierung des Kapitalismus<br />
das Wort redet. Am Ende solchen »Philosophierens« steht dann,<br />
wenn die Wel t ni cht "von Europa lernen will" (MENZEL), die Legiti <br />
mi erung von Kri eg als »Aufkl ärung mit Waffen«, sei es nun in<br />
Form vo n »ßlautöpfen« der UNO oder mittels des ideellen<br />
Gesamtzivili sten USA: Di e »neue« Weltordnung also als ,,Instrument<br />
zum herrischen Ab-Richten von Völkern und Staaten na.ch<br />
Anweisung der Großm.ächte" (INTEUNATIONA LEH AIUlF.I'I'S KIU:IS, 30).<br />
FUr die Okzidentale Ideologie erweist sich der .,westliche<br />
<strong>Westen</strong>" als der Maßstab aller Dinge, nämlich als jener originäre<br />
" Bereich der atlantischen Revolution., von dem auch weiterhin als<br />
einem überragenden Kraftfeld und Innovationszentrum wegweisende,<br />
zivilisatorische Impulse ausgehen" (D INEH 1991 b. 59). In dieser<br />
Konstruktion erschei nt die wertende Hierarchi siel'ung von christlichem<br />
Abendland und islamisch beeinflußten Gesellschaften. Es<br />
sei "beispielsweise die Tatsache bemerkenswert, daß in ehemalige n<br />
kommunistischen Staaten, die im geografischen Bereich lagen, der<br />
fTilher unter osmanischer Herrschaft stand, wie Bulgarien, Rumäni-
Hi eran wäre nun die rrage anzuknüpfen, ob eine solche Betrachtungsweise<br />
ni cht nur dann möglich ist, wenn zuvo r der bürgerli <br />
chen »Zivili siertheit « ein Frei-» Ti cket« au sgestellt wurde. Eine<br />
derartige Sicht verwechselt aber sys temat isch di e programmati <br />
schen innergesellschaftlichen Umgangsformen mit den real-ex is<br />
ti erenden gegenüber Trikont- und Schwe ll enlä nd ern. Di ese<br />
Prax is mu nitioniert zudem ständig, wenn auch naserümpfend, die<br />
»barbarischen« Verfahrensweisen untereinander (z.B. Erster Golfkri<br />
eg: Iran-Irak). <strong>Der</strong> arabische Lyriker Ali Ahmed Said beklagl<br />
daher: "Man hat den Eindruck, der <strong>Westen</strong> ist auf der Seite von aU<br />
dem, was antidemokratisch wut menschenfeindlich ist und was die<br />
arabischen Regimes begunstigt, atso auch Unterdrückung wut<br />
Tyrannei" (A DON IS). Aus der »okzidentalen« Warte läßt es sich dann<br />
leicht rü hmen, we nn Kriege wegen der "Rationalität des komplexen<br />
Verfahrens in der potitischen Entscheidung zwischen Demokratien<br />
kaum, denkbar" sind (Dl NEIl 199 111, 150).<br />
Wenn die Okzide ntale Ideologie selbslredend auf der Vorstellung<br />
einer politischen Ökonomie beruht, di e den Zusammenhang<br />
zwischen wes tlichem Kapitalismus und »freiheitlicher« Demokrati<br />
e herausstellt , und ihn gleichzeitig dort leugnet, wo dessen Kehrseite<br />
offe nbar wird , so schreibt sie die Welthungerordnung als<br />
ehernes Gesetz fest. Hi erfOr ist sie sich nicht zu schade, schei nbare<br />
Widersprüche zwischen ökonomi schen In teressen und uni ve rsalen<br />
Werten zu konstrui eren. Im Golfkri eg galt es zu ve rschl eiern,<br />
daß im bürgerli ch-kapitalistischen Zeitalter formuli erte völkerrechtli<br />
che Prinzipien sehr wohl darauf zielen, sich einen <strong>freie</strong>n<br />
Zu ga ng zu und damit di e Kon troll e über strategische Ressourcen<br />
zu sichern . Di es verdeutli chten am 16. September 1990 die Ausführungen<br />
des konserva li ve n britischen Jou rnali sten Peregrine<br />
WOl'sthorne im Sunday Telegraph. So bestehe die Aufgabe der<br />
US A und ihrer Alliierten darin, " bei dem Auf bau und der Aufrechterhaltung<br />
einer IVettorclnung zu helfen. die st.abiL genug ist, um,<br />
den f ortgeschrittenen Ökonomien der Welt e,:n Funktionieren ohne<br />
dauerlwjte Störung und Bedrohung aus der Dritten Welt zu erlauben".<br />
Das impli ziere uuch " Prä1)eTltivmaß rw lunen" (lit. n. INTEHNATIO·<br />
NALEIl AIHJ EI'I'S KHE IS. 28 u. vgl. CHOMSKY <strong>1992</strong>11, 37 q . Noch klarer<br />
unterstri ch der Vo rsitzende des Unterausschusses fUr Europa lind<br />
den Nahen Osten im US-Repräsentanl enhaus, Lee I-Iamilton, das<br />
57
66<br />
der ethnolingu,istischen, kulturellen und konfessionell nicht integrierten<br />
Gruppen, die Zerbrechlichkeit und das Defizit der Legitim.iwt<br />
des S(.{wtes, der kl.llturelle, wissensclwft.liche wuL technische<br />
Rückstand, das rasche Bevölkerungswachstwn, fehlende oder<br />
ungeniigend vorhandenen Rohst.offe, die Kolonialstruktu.r der wirtschaftlichen<br />
Veränderungen und so weiter - 'von außen gesteuert<br />
und verstärkt wealen" (AR KOUN).<br />
<strong>Der</strong>zeit habe n die westl ichen Intell ektuelle n an emanzipatorische<br />
n Gegene nlwürfen zur Welthunge rordnung nicht viel zu biete<br />
n. Im Gegenteil, nach dem Scheite rn des real ex isti erende n<br />
Sozialismus tönt es imme r lauter: Es gibt keine Alternative zu dem<br />
was ist, und wir wünschen s ie auch gar nicht. Entsprechend meinte<br />
).1'. nEEMTSMt\ (1990) den Me nschen im Nahen Oste n die von seinem<br />
Standpunkt aus sichere, uberlegene re US-amerikanische<br />
Variante von Herrschaft empfehlen zu müssen. Auch Angelo<br />
ßolaffi bekannte: "Zwischen Leben und Tod habe ich Amerika<br />
ge-wählt" (A L:I'VATEH , 28). Eigenständige E ntwickl ungen im Trikont<br />
besit zen keine En tJalLungschancen mehr. Di e Verk ettung mit<br />
undell10kratischen Strukture n li egt ni cht zuletzt im westliche n<br />
Verhalt en selbst veranke rt: " Wieder einmal mehr wird die Denwkratie<br />
in den Gesellschaften scheitern, wo sie am. solidest.en verpflanzt,<br />
respektiert und versprochen ist: Das, was für die westlichen<br />
Völker gut lind errungen ist, bleibt für diese Völker auf dem Wege<br />
der Befreiung ohne Au.ssichten, ohne Wirkwl.g. Die 'wirtschaftlichen<br />
EI/olge, die die westlichen Wirt schaften dynam.isieren, ersetze1/. die<br />
Verstlindigung, den Frieden zwischen den 'Nationen', so daß nur die<br />
Staaten an dem Austausch beteiligt sind" (t\ Il KOUN). Vor dem Hintergrund<br />
des Fehlens jegli cher emanzipatorischer Alternati ve a us<br />
denjenigen Lündern, die die Nutzni eßer des ungleiche n Tausches<br />
auf dem •• <strong>freie</strong>n « Weltmarkt sind, verwundert es nicht, daß die<br />
Opposition gegen diese Verhältnisse als eine verallgemeinert e un d<br />
fu ndamentale Europa- und USA-Kritik daherk om mt. Als das<br />
eigentliche Problem erwies s ich also ni cht Saddam, sonde rn di e<br />
kolonialisti sche Moral des »<strong>freie</strong>n Weste ns«, den die Me nsche nrechte<br />
in d ieser Region einen feuc hte n Kehricht scherten, solange<br />
»nur« Kurden und Tra ner vergast wurde n und er davon auch noch<br />
profitie rte. Es ist di e westliche Hegemonie, d ie .. einer Erneuerung<br />
des arabischen Denkens entgegensteht", wie S. AI-Azm belont (I.az,
68<br />
nun ei nmal sind, nennen wir dies »kritische Solidarität«. Die<br />
Ursachen für die Gewaltverhältnisse im Trikont sind nicht zuletzt<br />
auch Ausdruck der universalistischen Werte ei ner »aufgeklärten«<br />
Weltwirtschaftsordnung und können ni cht losgelöst von ihr gesehen<br />
werden: "Man muß nur wissen, daß die lfell. noch »schlechter«<br />
werden kann, als sie ist, u.nd dies nicht in erster Linie, weil die Mensc/um<br />
der Dritten Welt immer fanatischer werden, sondern weil ein<br />
Weltsystem. herrscht, daß sie immer 'fanal.ischer' werden läßt" (AK<br />
:i2ß, 11.3. 1991, he.) .<br />
Als gefährli che "Feinde des Menschengeschlechtes" (ENZ ENSUE II<br />
CE II) entpuppten s ich eher diejenigen HUter von Menschen- und<br />
Völkerrechten, die diese nach GutdUnken und unter ßerufung auf<br />
allgemein gultige universale Werte instrumentalisieren, um ah und<br />
an Hunderttausende von Kriegstoten sowie ständig Millionen<br />
Hungertote auf dem Altar der Okzidentalen Ideologie zu opfern .<br />
Vor diesem Hintergrund bewirkte der Golfkrieg einen weiteren<br />
Aufschwung und war die beste Reklame fUr den Islumisrnus.
111.<br />
I Die »Historische<br />
Verantwortung Seine größte Durchschlagskraft e ntwi c ke lt.e<br />
der DeutschenIC de r Kriegstre ibe rdiskll1's in der Bundesrepubl<br />
ik in dem Moment, als neben dem »Saddam<br />
= Hitler«-Vergle ich und der ZuspiLzu ng de r Okzidentalen Ideologie<br />
in Form e ines Anti-A rabis l11us der Basso continuo »Gas« angestimmt<br />
wurde. Saddam halle mit der Ve rn ic htung Israels d urc h<br />
c hemische Waffen gedroht. Auf der Di skurs-Ebene sollte für di e<br />
Bundesrepublik »kri egscnl sche idc nd « werden. De r Kri egstreibe rdisku<br />
rs hob die Ankündi gung SaddClll1s und den Scud -Raketen<br />
Beschuß auf ein e Ebene mit der Judcll vcl'Ili chlung in Ausc hwit z.<br />
Die naz i-deutsche n Gaska mm e rn , di e planmäßige ind ustri e lle<br />
Ermordung vo n Mi ll io ne n Menschen, insbesondere vo n Jude n,<br />
aufgrund der Nazi-Rassenkonstru ktion, wurde nun in einem gänzlic<br />
h a nderen geschichtlichen Moment heraull)eschwore n, UIIl ei ne<br />
besond ere Bedrohung Is raels zu be tone n. J-IABEHM AS ( 1991)<br />
beschreibt als Au sdruc k der »Hi stori sche n Ve rantwortung« je ne<br />
"beiden sUirkst.en Affekte, die (. . .) das politische Bewußtsein ,neiner<br />
Generation geprligt haben. <strong>Der</strong> Zuscunrnenhang von Diktatur u.nd<br />
l udenvernichtung best.inunt die Loyalit.lit mit Israel, der ZlLsammenlwng<br />
von Nationalismus wul Eroberungspolitik die Skepsis<br />
gegen eine Machtpolitik, die das zivile Zusammenleben der Völker<br />
gefiihrdet. Fast instinktiv drUckt sich der Bruch mit der faschistischen<br />
Vergangenheit in zwei Reflexen aus: nie wieder Antisemitismus<br />
lLnd Verletzung der gleichen staatsbürgerlichen Rechtej nie<br />
wieder Nationalismus und Krieg. I< Genau diese be i den zentra len<br />
Pun kte ka men s ich nun während des Golfkri eges in di e Quere. '1:<br />
ROTH SCI-II LD (19910, 79) legte den Finger genau in d iese Wunde:<br />
" Warum also fallen Juden die Alliierten des Zweiten Weltkrieges,<br />
nicht-jiidischen deu.tschen Linken aber nur pazifistische Parolen<br />
ein?" Aufgrund genau di eses Di lemmas und de r politische n sowie<br />
theore ti schen Unfähigkeit. da ra us e ine n Ausweg zu finde n, vermochte<br />
de r Kriegstreiberdiskurs seinen Erfolg zu verbuche n. So<br />
konnte er e ne rgi sch e ine n bundesdeutsche n Militäreinsatz und<br />
Waffenlie ferungen zugunsten Israels re kla mi ere n. »Solidarit ät mit<br />
Israel « forderte n sogenannte Freunde Israels, die während des<br />
Krieges in einigen bundesdeutsche n StHdl e n e igene Kundge bungen<br />
organis ierten. Für eine antim ilitaristi sche linke Positi on, die<br />
sich der nazi-de utschen Vorgeschic hte der israe li sche n Staats-<br />
70
gründung bewußt ist, stellte sich dagegen die knifnige Frage" Was<br />
heißt es, für Israel zu, sein?" (TUGENO IUT). <strong>Der</strong> Kri egstreiberdi skurs<br />
wollte jedenfalls eine bedingungslose Partcinahme für die gegenwä<br />
rti ge israelische Regierung als angebli cher Ausdruck »Historischer<br />
Verantwol1ung« erzwingen.<br />
Es wird aber zu zeigen sein, daß es dem Kri egstreiberdi sk urs<br />
nicht um ein sich auf die deutsche Geschi chte beziehend es angemessenes<br />
Handeln ging, sondern deren Instrumentalisierun g zu<br />
ga nz anderen Zwecken, nämlich einer Lähmung und Spaltung der<br />
Antikriegsbewegung di ent e. Angesicht s der angenommenen<br />
Bedrohung zeigte die Dämonisierung des Islams und Saddams<br />
prak tische Wirkung. So glaubten zahlreiche Kriegsgegner, di e<br />
Lehre des Holocaust vor Augen, wegen ihres eigenen Handeins sei<br />
Israels Ex istenz gefnhrdet. Di e Heraufbeschwörung einer zweiten<br />
»E ndlösung« halt e jedoch weder mit der realen Situation Israels<br />
(s.u.) noch mit der »Histori schen Verantwortung« zu tun, sondern<br />
diente vor allem einer Festigung von derzeit durch die israeli sc he<br />
Regierung ve rtretenen Positionen als auch den Interessen des mit<br />
ihr ve rbündeten »<strong>freie</strong>n <strong>Westen</strong>s«. Am Ende ergab sich für die<br />
Bllndesrepllblik implizit eine Bagatellis ierung des Hol ocaust<br />
sowie di e fUr di e rec hte is raeli sche Regierung nützliche Fortschreibung<br />
jener ihre jetzige Praxis legitimi erende Propaganda,<br />
wonach mit den arabischen Nachbarn ein gerechter Interessensausgleich<br />
nicht mögli ch sei.<br />
71
Ioie Verlegung<br />
des Krieges<br />
nach Israel<br />
72<br />
Obwohl der Krieg rcal in Kuwait und im Irak<br />
staHfand, wurde er während der zweiten Woche<br />
im Bewußtsein des »<strong>freie</strong>n <strong>Westen</strong>s« nach Israel<br />
verlegt. Hier:w bedurfte es keine r Zensur. Was im Irak und in<br />
Kuwait al s größter Bomhenterror in der Geschichte der Kriegsführung<br />
auf die Menschen niederging, inte ressierte im Vergleich<br />
zu den Ereignissen in Israel kaum noch: Die Satellitenbilcler vom<br />
Krieg .,beforderten einen neuen. lIigh-Tech-Orientalislnu,s, in dem<br />
sie die arabische Bevölkerung entmenschlichten (s ie kwn in der<br />
westlichen Kriegsberichterstat.tung schlicht nicht mehr 'vor, d. V.)<br />
I,md sie d(ulurch zugleich zu einer 'vernachlässigbaren Schadensgröße'<br />
degradierten, die, da sie sich den au/geklärten westlichen<br />
Vorstellungen uber die Welt entzieht, ihre Zerstörung sich selbst<br />
zuzuschreiben hat" (LEV IDOW/ ROßI NS, 88). <strong>Der</strong> reale Kri eg wurde<br />
zweitrangig. Zur Dis kussion standen ausschließlich die, wenn<br />
auch ernst zu nehmende, 50 doch waffe ntechnologisch nur hypothetische<br />
Gefahr ira kischer Giftgasbombe n und die unter militärischen<br />
Gesichtspunkte n wenig relevanten Scudraketentreffe r auf<br />
Israel. Di e Massenvernichtungsmittel aus de n US-amerikanischen<br />
ß-52-ßombern waren nun kein Thema mehr. Diese trafe n ja nur<br />
die todessehnsilchtigen Arabe r: ,.Zweifellos eine Leistung der psychologischen<br />
Kriegsfilhrung, aber kein Ruhmesblatt far die /Uwb <br />
hängige Presse" (SA IU 1991, 32). Auch im nachhinein, als langsam<br />
klar wurde, welches Ausmaß die Verluste und di e Schäden angenomme<br />
n haUe n, beharrten die Vertreter des Kriegstreibe rdi skurses<br />
auf Israel als Hauptkriegsschauplatz. Noch an der Stelle, wo es<br />
thematisch um ga nz anderes ging, sprach u n u lm (199 11l, 87) im Kl artext<br />
nur von israelischen Opfern . Tm Gegensatz?U Exemplaren aus<br />
der Tierw elt wurden Araber weder implizit noch explizit in di esem<br />
Zusammenhang angeführt: ,,( ... ) den Krieg in Echtzeit erleben, live,<br />
als Säße er selbst am Drücker, wenn die Scuds auf Tel Aviv fallen"<br />
oder "sie haben die nackte Faktizitli.t der ölverpesteten Kormorane<br />
und der ausgebombten Israelis, die Statisl,ik der abgewolfenen Bomben<br />
und der erfolgreich von Menschen gesäuberten 'killing boxes'<br />
( .. . )". Di es funkti oni ert e vor allem deshalb, weil es »bloß« ein arabisches<br />
Land und seine Mensche n wa re n, di e in die Steinze it<br />
zurückgebombt wurden.
Gelingen konnte die Verl egung des Kri eges in de n Köpfen nUf, da<br />
dcr KriegstreibCL'di skurs genau jcnes »Linknge« behauptete, weIches<br />
vor Kriegsbeginn noch völli g indiskutabel war lind das veheme<br />
nt zuruckge wi esen wurde, als der fl'llk es aus taktischen<br />
Gründen anführtej nämlich jenes zwischen der Kuwait- und de r<br />
Paläst inafrage. We nn POSTONE (<strong>1992</strong>) bei der " deutschen Linken"<br />
angesichts des irakisehen Scud-Raketenbeschusses von Israel ein<br />
bißchen "Empathie" für di e Jude n und ihr Trauma (deulschc<br />
»Wiedervereinigun g« lind "passiv die Bedroh.ung abwarl.en zu lnlissen")<br />
im Nachhinein einfordert, bleibt auch er e ine Antwort auf<br />
die Gründe für das schne lle Zusamme nbrechen der Antikriegsbewegung<br />
nach de n erste n Ilaketenangriffen auf Tel Aviv schuldig.<br />
\Venn nicht wegen Israel, wa rum sonsl kam es zu einem solch<br />
schnellen Ende? Für di e bundesdcutsche Antikriegsbewegung<br />
bestand das Dilemma, das Bedrohungsgefuhl der israe li schen<br />
Bevölk e rung e rnstne hm cn zu müssen und gleichzeitig ei ne politische<br />
Antwort auf de ren In strumentalisierung im Kriegstreibe rdi skurs<br />
zu finden. DlNEH beschreibt dieses Bedrohungsgefü hl vor dem<br />
Hintergrund de r histori sche n Erfahrung des Holocaust: " FUr die<br />
Befindlichkeit der Bevölkerung elllscheideruLer aber war die emotionale<br />
Ebene: Im, Unterschied zu allen anderen Kriegen, an denen<br />
Israel beteiligt. war ( .. .), /WL eine Verkehrung von Front und Hinterland<br />
stattgefunden. Die Front steht dabeiflir so etwas wie Realilltt<br />
tuul das Hinterland far so etwas wie Phantasie, Erinnerung. Die<br />
Menschen in Israel waren mit der jüdischen Erinnerung konfrontiert<br />
- im Unterschied zur israelischen RealiUit. Und da haben die Raketen,<br />
da hat die Bedrohung durch einen 11l,öglichen GasangriJ! die<br />
Erinllerungsbesu;,rule des kollektiven Gedlichtnisses aufgewühlt. Ich<br />
würde soweit gehen wut sagen: Die Israelis sind dadurch wieder zu<br />
Juden geworden" (199 Ic. 489). Es gab hi er spätestens nach de n Bil <br />
dern über di e Gasmasken tragenden und der C-Waffen harrende n<br />
Israe li s eine breite Well e der Sympathie, di e a ber zugleich davon<br />
ablenke n half. daß im Irak ebe nso mit bundesdeutscher Unters LUlzung<br />
ein noch ni e gekmllltcs Dauel'bombardement auf eine gleichfall<br />
s hilflose Bevölke rung vo nslalle n ging. Aufgrund der<br />
spez ifischen »Historische n Ve rantwortung« für diese »j üdische n<br />
Erinnerungen« und einem mehr als unausgegorenen Begriff von<br />
73
74<br />
der nazi-deutschen Geschichte (s.u.) fiel es schwer, eine angemessene<br />
Antwort auf die komplexe »israelische Realität « zu geben.<br />
Wer nungegen den Krieg opponi erte, dem wurde zumindest die<br />
billigende Jn kaufnuhme der Vernichtung Israels, wenn nicht gar<br />
schlimmeres (s. u.), unterstellt. In der Tat halte Saddam damit<br />
gedroht. Und vermutli ch würde er Israel - wenn er denn könnte -<br />
mit einern iihnli chcn Krieg überziehen wie den Iran oder die Kurden.<br />
Drohungen vo n dcr Art Saddams gehören im Nahen Osten<br />
all erdings seit Bestehen Is raels zur Tagesordnung (vgL a. SC HMID ,<br />
der auf di e »Tradition« solcher Ankündigungen ve rweist). Außer<br />
der Tatsache, daß der Irak sich anschickte, seine immerhin mit<br />
west licher Hilfe errungene regionale Vormachtstellung auszubauen,<br />
gab es keine konkreten Anzeichen für einen bevorstehenden<br />
Angriff auf Israel: " Die akute Gefiihrdung Israels, solange und<br />
soweit sie durch die Scnd-Raketen bewirkt worden ist. resultierte aus<br />
dem. Krieg H<br />
selbst (NAHHfVACK, 44).<br />
Um den Krieg zu legitimieren, wurde nun einer behaupt.eten<br />
militärischen Omni potenz des Irak eine militärische Hilflosigkeit<br />
der Israeli s gegenübergestellt. Di e passive Haltung Israels, seine<br />
»Objektrolle«, wa r darüber hinaus ein wicht iger (mi litärischer wie<br />
ideologischer) Eckpfeiler des US-amerikanischen Kri egskurses<br />
und ein "durchkalkuliertes Risiko" (KELLEItSIIOI-IN, 13), das angesichts<br />
der vereinten alliierten und israelischen Mil itärmachl jedoch zu<br />
keinem Zeitpunkt ein existenzbedrohendes war. Das Waffenpotentia<br />
l des Irak ge ri et im Kriegstreiberdiskurs immer mehr zu ein em<br />
Med ienpotential und di en te vor allem der zwanghafte n Behauptung,<br />
daß e ine Wiederholung der Massenvernichtung von Menschen<br />
j üd ischen Glaubens mittels Gift gas nu r über ein en<br />
militärischen Eingriff abgewendet werden könnte. lnwieweit diese<br />
Gefährdung wirklich zu traf, hüll immerhin auch D1 NEH für eine diskussionswUrdige<br />
Frage: "Ob I,md in welchem Unifang Israel faktisch<br />
bedroht gewesen ist, nwß hier nicht entschieden werden" (199Ih.<br />
72). Genau rias ist aber der Punkt.<br />
Eine Hinterfragung des Kri egstreiberdi skurses zielt überhaupt<br />
ni cht darauf, auch nur indirekt di e Verantwortung VO ll bundesdeutschen<br />
Waffenexporleuren fUr rl ie irak ische Aufrii sLlIng herunterzuspielen.<br />
Zudem sind es ausschli eßlicl I linke Anti-M ili taristen<br />
gewesen, die ohne Rücksicht auf den uni versalistischen Wert des
76<br />
.. deutsche Antisemitismus so exklusiv der deutschen Linken zuschreiben,<br />
daß man ihn zusammen mit ihr. die gerade ihr Ableben vorzubereiten<br />
schien. verschwinden lassen könnte". Denn mittlerweil e<br />
gesteht selbst er zu, .. daß ( ... ) der Antisemitismus der deutschen<br />
Linken dem Antisemitismus der deutschen Mitte und gar dem der<br />
deutschen Rechten nicht das Weihwasser reichen kann ".<br />
Es bleibt aber dabei. Angesichts des israeli schen<br />
Abschreck ungspotenti als stand ein existenzbedrohender Angriff<br />
auf Israel bi s zum 17. Januar 1991 nicht zu r DebaLl e bzw. wa r die<br />
Wirksamkeit der dann erfolgten Raketenangriffe auch unter den<br />
Mächten der Kriegskoalition höchst um stritten (SC HM ID). Israel<br />
selbst beteiligte sich an den direkten Kampfhandlungen gegen den<br />
Irak ni cht; ob es diese aber, wie TOLMEINIZUM WINK EL (7 1) behaupten.<br />
uuch ni cht mitprovoziert hatte, ist fragli ch. Israel wa r zwa r in der<br />
Ta t .. nicht An.greifer, sondern Angegriffener u (IlO'IlISCHILD 199 1u, 79),<br />
doch zeigte die israelische Regieru ng alles andere als Neu tralität.<br />
Immer dann. wenn nichtrnilitärische Lösungen dis kutiert wurden,<br />
versuchte sie dieselben zu ve rhindern. Sie bekämpft e z.O. die<br />
fra nzösisch-maghrebinische Friedensinitiati ve und trug somit zu m<br />
Scheitern einer anvi sierten Friedenskonferenz tatkräftig bei (rH/E·<br />
LEN <strong>1992</strong>0 . ,17). F. Langer besteht daher darauf. daß Israel "seit der<br />
Besetzu.ng Kuwaits ( ... ) sich vor einem Kompromjß gefurchtet, Schamir<br />
alles getan hat, damit der Krieg ausbricht" (ZEIT-Magazin,<br />
22.2.1991). Während des Kri eges dauerte diese Haltung an. Jeder<br />
Ve rsuch. einen Waffenstillstand herbei.,;ufUhren. wurde mit einem<br />
Aufschrei der E mpörung beantwortet. Auch nach dem Bunker<br />
Massaker am 14. Februar in Bagdad bemühte sich die is rae li sche<br />
Diplomati e um den Fortgang des Krieges. <strong>Der</strong> laz-Korrespondent<br />
Amos Wo lJ in berichtete aus Tel Aviv: " Israel ist bemüht, jede<br />
Initiative zu verhindern, deren Absicht oder 'Nebeneffekt' ein '1IOrzeitiges'<br />
Ende des Krieges gegen Irak wäre - schließlich hatfar Israel<br />
die Frage der Befreiung Kuwaits nie eine besondere Rolle gespielt.<br />
Es ging vielmehr von Anfang an imm.er um die möglichst totale lIer<br />
"ichtung des irakisehen Potentials. Um israelische Befürchtungen<br />
von einem baldigen Waffenstillsuuul zu zerstreuen. versicherte US<br />
Außenm.inister Baker in einer Botschaft an seinen israelischen<br />
Amtskollegen in Tel Aviv, Levy, daß die US wul ihre Verbündeten<br />
den. Krieg 'bis zwn Erreichen aller Kriegsziele'fahren werden" (taz,
15.2. 1991) . M. WA HSC IIAWSKI (20) erinnert e an di e verschärft en Auseinanclcl'setwngen<br />
mit den Palästinensern wä hrend des Kri eges: "Es<br />
ist gesagt worde n, Israel habe nicht am Golfkrieg /,eilgenornmell.<br />
(. .. ) Das ist falsch, ganz falsch. Israel war alrtiv an diesem Krieg<br />
beteiligt, und z'war im Rahmen einer genaufestgelegl.en Arbeitsteilung.<br />
Die Front, an der die israelische Armee und der israelische<br />
Staat zu kämpfen !taUen, war die paltistinensische Front: im Slld<br />
Libanon, gegenllber den Palästinensern in Israel und vor allem<br />
gegenüber den Palastinensem in den besetzt.en Gebieten." Auch der<br />
israeli sche Vertei di gungsminister Rabin beton te die VorzUge der<br />
arbeit steiligen Vern ichtung des iraki sch-mili Uirischen Potenti nls<br />
fUr Israel: .. Wir hätten uns nicht im Traum, das gegenwärtige Szenario<br />
vorstellen kötwen. Eine internationale Koalition - lUJ.d nicht<br />
Israel selbst - ist dabei, unseren größten und ge/iihrlichsten Feind<br />
zu zerstören LUul Z1var grlLlUllich. Fitr Israel ist das, sofern man das<br />
von einem Waffengang überha.upt sagen kann, ein 'Krieg ele lnxe' "<br />
(D En SPIEGEL6/199 1).<br />
Pointiert gesprochen ist " Israel (. .. ) nu,r ein Vorwandfar den<br />
falschen Analogieschluß auf die Anti-Hitler-Koalition. <strong>Der</strong> IVesten<br />
hat nicht interveniert, weil Israel überhaupt oder gar e:tistenzbedrohelld<br />
angegriffen wurde, sondern genau. umgekehrt: Israel 'Wurde<br />
angegriffen, weil sein Schutzherr USA in einem innerara.bischen Kon<br />
]lila irHerveni,ert hat" (Kunz, 17) . Unabhängig davon, daß jegliche<br />
Ilaketena llgriffe auf Menschen zu verurteilen si nd, ist ebcn auch<br />
ri chti g, daß sie im Gefolge der alliierten Kri cgsfUh rullg erst machbar<br />
und ni cht ihr Grund wa ren. Selbst di e ZEIT-Gräfin DÖN HOFF<br />
Hußel't e wä hrend des Krieges di e Ver mutung, ob es wo mögli ch<br />
um gekehrt sei, daß nämlich "nur weil jetzt Krieg gegen den Irak<br />
geführt wird, Saddam Israeltnit Raketen beschießen kalln?" Die<br />
Rakctenangriffe des Irnk auf Israel jedenfa lls ent sprangen der<br />
Kriegslogik, die Anti-l rak-Koa1it ion s palten zu wollen, und steil <br />
ten hierzu ein takti sches Mitt el dar. Sie wa ren aber Il ur denkbar<br />
vo r dem Hintergrund israelischer Politi k im Nahen Osten. Insofern<br />
lag es nicht so fern , wen n II.·C. STHOUELE sagte, daß di e Rak elenangl'iffe<br />
auf Israel auch eine Ko nseq uenz is raelischer Politi k<br />
seien. Sie wa ren wohl naheliegend , aber ni cht "zwingend", Zwingend<br />
erschi enen sie höchstens in der Kriegs logik des Irak. Allerdings<br />
wirft die Äußerung STHOBELES d ie Frage nach den<br />
77
Voraussetzungen fUr di e Mögli chk eit des irakisehen Verhaltens<br />
auf. Diese liegen ni cht nur in dem verbrecherische n Charakte r des<br />
irakischcn Regimes, sondern a uch in der H.olle Israels im Nahen<br />
Oste n begriindet: " Daß Israel dnrch eine Kette von Kriegen sowohl<br />
gegen die Palttstinenser im 'eigenen' Land wie gegen verschiedene<br />
arabische Nachbarn sich kO rlstüu,iert und bis heute behauptet. hat,<br />
wird von allen nicht heilsgeschichtlich-fundamentalistisch oder<br />
schicksetLsm.ytlwlogisch verkündenden, sondern historisch konkret<br />
analysierenden Autoren gezeigt., so daß hinreichencl begründet<br />
scheint, als den besonderen CluL/'(I,kter dieses Staates den pemuUI.en<br />
!en, institut,ionalisierten Krieg zu bezeichnen, also eine sehr extreme<br />
A usprägu1Ig von struktureller Friedensunfähigkeit Jestzuhalten,<br />
solange nicht seine ze ntralen bisherigen Konstituenten allfgegeben<br />
werden: die Unterdrlickung der Palüstinenser und die (J,rbeitsteilige<br />
Beherrschnng der (l,rabischen lflelt znsarnmen mit den USA , mit<br />
nicht unwesentlichen IV eiterungen in deren 'Dritte- Welt'- Politik"<br />
rnm:U;N 1 992a, 1J.7).<br />
Schon vor Kri egsbeginn, und erst recht wä hre nd des Krieges,<br />
wurde de r Irak zu fUnfl stärks Len Militärmacht auf der Erde hochstili<br />
sierL. Hie rbei beschwore n Politiker und Medien neben der iraki<br />
schen Atombombe immer wi eder di e mit Giflgas-Spre ngköpfe n<br />
beslückbaren So ud-Raketen als Hauptgefahr. Dies li eß s ich mit<br />
de r H.ealiläl schl echt in Einklang bringen (SC I-IIl OEDE R). Bereits<br />
Anfang Januar wies de r israe li sche Ve rteidigungsminister Arens<br />
darauf hin, daß mit einem »Regen « irakische r Raketen auf Israel<br />
ni cht zu rechnen sei. Schli eßlich war bekannt. daß di e Scuds<br />
»ungeschickte« und schwer zu handhabende Waffen sind. Offens<br />
ic htlich entfalten chemische Waffe n nur im massierten Einsatz<br />
ihre n Charakte r als Massenve rnichtungsmiltel. Die irakische<br />
Scud-Raketenve rsion hingegen wäre (und ist) vermutlich bereits<br />
vor dem Ziel auseinandergefallen (/\ K 328, L1.3. L991; ßctr. Scud): " Ihre<br />
43 Eignung, materiellen Schaden zu verursachen, ist<br />
In der Spr"che der Militllrs I Z) 43<br />
dOlften damit wohl auch die begrenzt" (Je rusa em Post, 5. 1.1991. il. 11. cbd.. Di esen<br />
tödlichen Auswifkungen "uf Sachve rh alt analysiert e in gleicher Weise a uch \V.v. BAVEN<br />
Menschen gemeint sein.<br />
78<br />
in de r Zeitschri ft »Europäische Siche rh eit«: " <strong>Der</strong> Hake-<br />
tenbeschuß Israels blieb ohnehin ohne militl.lrischen Belang, was<br />
den psychologischen Schockeffekt verringerte. Die Steigerung der<br />
Reichweite der SClLd B von 300 km (Lu! 600 km bei der 'Al Husseini'
45<br />
Vgl. ebd. den Hinweis, daß<br />
auch Syriens Scud·Raketen,<br />
möglicherweise mit chemi·<br />
schen Sprengköpfen be·<br />
stO
Das Ungleichge wicht gibt Anlaß zur Entwickl ung, ni cht der Einsatzwille.<br />
Solange Israel im Na hen Osten über die Atombombe<br />
verfügt. werden die Nachbarländer immer versuchen, sie ebenfalls<br />
in di e Hände zu bekommen. Das Atomwaffenmonopol der Israelis<br />
bleibt ei n wichtiger Grund fü r das anhaltende WettrU sten im<br />
Na hen Osten. E ine Perspektive, die auf einen Interessensausgleich<br />
zieh , kann überhaupt niemandem - damit auch ni cht in der<br />
Region des Na hen Ostens - Massenvernichtungsmittel zubilligen.<br />
Aus westlicher Sicht legitimi ert di e Okzidentale Ideologie di eses<br />
Ungleichgewicht. Darüber hinaus öffnet sie im Falle des Versuchs<br />
vo n Atomwaffenentwicklung der präventiven »Zwangsabrüstung«<br />
gegenüber jedem »Sc hwellenland« Tür und Tor.<br />
Ein I>Saddam «, der seine tatsächli che Unterlegenheit mit<br />
wahnwit ziger Propaganda und Rhetorik wettzumachen versucht<br />
und zugleich mit denjenigen verfügbaren "schm.utzigen Mitteln"<br />
der "sauberen technologischen Überlegenheit" des »<strong>freie</strong>n<br />
<strong>Westen</strong>s« zu Leibe rUcken will , läßt sich zur Legitimation von<br />
Krieg immer finden . Dafür gibt es genug historische Vorbilder.<br />
Eri nnert sei nur an 1914, als die Sozialdemokratie begann, das<br />
Vaterland gegen die »russische Despoti e« zu verteidi gen. Das<br />
Feindbild »Hitler Saddam« führt anschauli ch vor, wie auch morgen<br />
noch in erneut mit deutschen Waffen hochgerusteten Ländern<br />
wie Saudi-Arabi en oder der Türkei sich ein weiterer Hitler ausmachen<br />
lassen wird (A K. 11.2. 1991, 15). Letztlich ist Saddam nur ein<br />
"mieser Dikator" (Uri Avneri , Schwäbisches Tagblatt, 16.3. 1991),<br />
einer vo n denen, die es auf dieser Welt zu Dutzenden gibt und di e<br />
zur Aufrechterhaltul1g der Vormachtstellung des »<strong>freie</strong>n <strong>Westen</strong>s«<br />
unabdingbar sind.<br />
Ober die Giftgas-Assoziation gelang dem Kri egstreiberdisku rs,<br />
Saddams Israel-Feindschaft und den Nazi-Endlösungs-Antisemitismus<br />
gleichzusetzen. Mittels des »Sacldam = Hitler«-Vergleichs<br />
wurde die arabische Israelfeindschaft und der Antisemitismus<br />
europäischen oder gar nazistischen Maßstabes in eins gesetzt und<br />
so die Opferrolle im Nahen Osten ausschließlich durch Israelis<br />
besetzt. Dabei fiel eine gewichtige Differenz unter den Tisch.<br />
Während im Nazi-Deutschland »di e« Juden den konkreten Feind<br />
abgaben "und die Logik (Hitlers) Aggression nach a 'ifien ( ... ) zu<br />
einern nicht unerheblichen Teil durch die Logik, ja die Logistik der<br />
Bt
moralischen Qualitäten der jeweiligen Kontrah enten ab, sondern<br />
auch von den politischen und militärischen Rahmenbedingungen<br />
eines Konfliktes. Hätte der Irak im Krieg gegen die westli chen<br />
Staaten Giftgas eingesetzt, so wäre ein vern ichtender Gegenschlag<br />
di e Folge gewesen. Im Krieg gegen die Kurden und gegen den Iran<br />
besaßen di e Gegner keine derartigen Möglichkeiten. Im übrigen<br />
ist es mit der westli chen Ablehnung von irakischem Giflgas ni cht<br />
so weit her, denn die USA und Europa unterstützten den Irak auch<br />
noch in dem Mom ent, als er cs im Kri eg gegen den h an oder zur<br />
Unterdrückung der kurdi schen Aufstände einsetzte. 47<br />
Di e unterschiedlichen Vernichtungspotentiale bei-<br />
47<br />
Vielleicht solhe auch noch<br />
einmal daran erinnert wer·<br />
der Se iten offenbarte der reale Kri egsverl auf. In der<br />
Ka ltschnäuzigkeit lind Bereitschaft, Massenve rni chden,<br />
daß in der Vergangen·<br />
heit die USA in Vietnam und<br />
Israel im libanon bereIts Gift·<br />
lUngsmittel anzuwenden, obsiegte bislang imm er noch gas eingesetzt haben. Dies·<br />
der »<strong>freie</strong> <strong>Westen</strong>«. Bei einer Verlust bilanz von 1:1000<br />
bezügliche Überlegungen in<br />
Großbritannien wurden sogar<br />
und einer den gesamt en Zweit.en Weltkrieg übertreffen schon in den 20er Jahren zur<br />
den Bombenabwurftollnage läßt sich in der Tat nicht<br />
" Zivilisierung _ widerspenstiger<br />
Araber angestellt: "Gift·<br />
mehr vo n ein.em Kri eg, sond ern nur noch von einer gas soll zu anschaulichem<br />
Exek ution sprechen (ZIEBURA. 161). Das Geschwätz vo n<br />
Terror fOh ren. Es ist einfach<br />
die Anwendung der moder·<br />
der generell en Bedrohung durch den Irak wa r Zweck nen Wissenschaft auf die<br />
propaganda, die den un verhältnismäßi gen Kriegszug<br />
Kriegsführung. und wir I:ön·<br />
nen uns der Anwendung von<br />
rechtfertigen bzw. die eigene militärische »Größe« in Waffen nicht versagen, die<br />
szenieren helfen sollte (SALLEIl). Darüber hinaus ziehe<br />
verwendet werden könnten,<br />
die Aufstände niederzuschia·<br />
die Behauptung VO ll der irakischen Omnipotenz, di e gen.· (Winston Churchill<br />
Konstruktion eines il'akischen Ober-Totalitari smus<br />
zit. n. CHQMSKY <strong>1992</strong>a. 32).<br />
so wi e die These vo n der anstehenden zweiten »Endlö-<br />
sung« hauptsächlich auf die Rechtfertigung eines möglichen Einsatzes<br />
westlicher Massenvernichtungsmittel.<br />
Während das einsichtige Motiv der israeli schen Regierung für<br />
di ese Propaganda und di e Instrumentalisierung der »Historischen<br />
Verantwortung« eine Verbesserung ihrer außenpolitischen Lage<br />
wa r, zielte der Kriegstrei berdiskurs in Deutschland noch auf etwas<br />
ganz anderes. Das ideologische »Korsett« n.lr ein »runderneuertes«<br />
Deutschland, das die Holle einer ökonomischen, politischen<br />
und militärischen Großmacht im Gefolge der europäischen Integrati<br />
on anstrebt, sollte eiligst geschneidert werden. <strong>Der</strong> zweite<br />
Golfkrieg und die viel beschworene Bed rohung Israels wurden im<br />
Kriegstreiberdiskurs Mittel zum Zweck: der Legi timierung und<br />
83
84<br />
AusUbung der von Te ilen der herrschenden Klassen angestrebten<br />
Hegemoni almachtrolle und stärkeren lnterventionsfähi gkeit der<br />
ßundesrepublik im europäischen Verbund . Eine Entwicklung, die<br />
einer Gegenrnacht bedarf, die sich allerdings auch nicht mit einem<br />
»erklärenden« Rückgriff auf die deutsche Nazigeschichte (» IV.<br />
Reich. etc.) beschreiben und verstehen läßt (vgl. Kap. 4).
86<br />
Zunächst konstrui erte der Kri egstreiberdiskurs im Hinblick auf<br />
Israel und die Juden eine gesamtdeutsche Reaktion, die aber im<br />
Vergleich zu dem, was noch kommen sollte, sich sogar relativ moderat<br />
ausnahm. Für H.M. BIlODEIl (199la) wurde in der Bundesrepublik<br />
eine "zweite ElldlöSlUl.g der l uderifrage nicht unbedingt gewUnscht,<br />
aber billigend in Kauf genommen ( .. .). Bei der Begeistenmg für tote<br />
l uden, die nULn in Deutschland pflegt, und bei den Schwierigkeiten,<br />
die man mit den lebenden hat, wUre dies die optimale Gelegenheit,<br />
die eigene Wiedergutmachung zu demonstrieren. Ein paar Flugzeugladu,ngen<br />
mit Wolldecken und Milchpulver, einige »Eillsatzjlage«<br />
des Technischen Hilfswerks im zerstörten Tel Aviv - könnte es einen<br />
überzeugenderen Beweis dafür geben, daß die Deutschen, im Gegensatz<br />
zu den l uden, aus ihrer Geschichte gelemt haben?" Eine Zuspilzung<br />
nahm dann die Freiburger ISF vor, das aber seine Anwürfe<br />
wenigstens noch in F'rageform kleidete: "Oder ist es schon<br />
Absicht, die den Vernichtungswillen der imkischen Diktatur zuhause<br />
aussitzen will?" (ßRUHN 199 1a) Dabei klingt jedoch schon der Versuch<br />
an, antimilit.aristi schen und pazifistischen Positionen einen dem<br />
Nazismus vergleichbaren antisemitischen »passiven« Vernichtungswi<br />
ll en anzudichten. Am weitesten ging dann wen ig später<br />
wiederum SItODEH (199 111, 35), als er behauptete: "Daß ich ja richtig<br />
mißverstanden werde: Ich meine nicht, daß sich die Mehrheit der<br />
Deutschen die Vernichtung Israels wünscht, im, Gegenteil. Ich meine<br />
nur, daß in einem relevanten Teil der Friedensbewegung der unbewußte,<br />
aber durchaus heftige Iflunsch das FUhlen, Denken und Handeln<br />
bestimmt, Saddarn flussein möge die hist.orische Chance nutzen<br />
und den Job vollenden, den die Nazis nicht zu Ende bringen konnten."<br />
Hiergegen intervenierte nOTHSC I-II LJ) (199 I b): " Tut mir leid, Henryk,<br />
aber fitr solch eine unbewiesene (und unbeweisbare) Spekulationfallt<br />
auch mir das Attribut 'perfide' ein."<br />
Die »bellizisti sche« Kritik verbündete sich mit den Waffendealern<br />
und den herrschenden Klassen gegen die AnLikriegsbewegung.<br />
Erstere hatten sich noch ni e bei der Bekämpfung von<br />
Neonazismus, Antisemitismus und Waffenschiebereien hervortgetan.<br />
Entsprechend entgegnete das Auschwitz-Komitee: " Die Verknüpfung<br />
des Krieges am Golf, insbesondere der verbrecherischen<br />
Angriffe auf Israel, ntit der Frage der deutschen Verantwortung ist<br />
nicht zuletzt denen anzulasten, die - aus welchem Gnutde auch
immer - die geschichtliche Verantwortung n.ur dann im Mun.de<br />
jUhren, 1venn es ihren Interessen nutzt" (AU SC HWITZ-KOMITE E). Die<br />
»bellizistische» Kritik des Kriegstreiberdiskurses zielte zi emli ch<br />
genau an der Rechten vorbei. Sie nahm gleichmachend vor allem<br />
die Linke sowie das Gros der Friedensbewegung ins Visier. Daher<br />
verwundert ni cht mehr weiter, daß die bundesdeutsche Waffenexportindustrie<br />
hinsichtlich des Antisemitismusvorwurfes recht<br />
glimpflich davonkam: "Es Jehlt (der Rilstullgsindustrie) vollkomm.en<br />
an politischer Reflexion, an politischem Wissen und an politischer<br />
Verantwortnng. Aber das würde ich nicht als Antisemitismus<br />
klassi[Lzieren. Es ist denen schlicht und einfach gleichg ültig, gegen<br />
wen die Waffen eingesetzt werden. Dahinter stecken Menschenverachtung<br />
und Profitst,reben. ( ... ) Was bei der deutschen Industrie vorliegt,<br />
würde ich als kriminelle Unschuld bezeichnen" (BRODER 1991c.<br />
149). Die bundesdeutsche RUstungsindustrie wurde schließli ch<br />
noch gebraucht und vermochte mit entsprechenden Ablaßleistungen<br />
gegenüber Israel Reue zu zeige n. Den Kriegsgegnern hingegen<br />
mußte als Überzeugungstätern ein fUr allemal das Handwerk<br />
gelegt werden.<br />
Selbstverständlich zeigten die Kriegsgegner Sympathie für die<br />
israelische Bevölkerung. Sie hatten in ihrer überwiegenden Mehrheit<br />
auch nie das Existenzrecht Israels in Frage gestellt (vgl.<br />
NA RRfVACK.44f.). Die ethische Verpflichtung jedoch •.. mit allen OpJem<br />
uneingeschränkt und, ohne sie zu klassifizieren, solidarisch zu sein"<br />
(TIIIELEN <strong>1992</strong>11, 19), erga b vor dem Hintergrund der »Histori schen Verantwortung«<br />
das spezifisch bunclesdeutsche Dilemma. Da auf dem<br />
abstrakt-ethischen Niveau vor allem Menschen als Individuen im<br />
Vordergrund stehen und nicht der Ausdruck ihrer Organisation in<br />
der Gese1lschaft (der Staatsbürger in der »Nation «), standen zwei<br />
außerordentlich normativ geprägte Bezugsgrößen miteinander im<br />
Konflikt: .. Die IdentifIZierung des Lebens- "nd Selbstbestimmungsrechtes<br />
der Juden in Palästina mit der Gewalt- und Kriegspolitik<br />
der israelischen StaatsJührung und die Parteinahme Jür sie als<br />
alternativlos und schicksalsgeboten, also schlechthin irrational, (hat)<br />
von Teilen der Friedensbewegung her den Krieg gerechtfertigt und den<br />
Protest gegen die Vemichtungsmaschinerie geschwächt" (ebll., 11 ). Die<br />
weitläufig verbreitete Fixierung auf Nationalstaaten und das vorherrschende<br />
Denken in Staatsverhültnissen schlechthin führte zu fa-<br />
87
Exkurs I<br />
Zur<br />
Möglichkeit des<br />
Antisemitismusw<br />
vorwurfs<br />
48<br />
Die Beschränkung auf die<br />
angeführten Bewegungen<br />
erfolgt aus quellen- und<br />
arbeitstechnischen Gründen.<br />
Desweiteren ist die Trennung<br />
der Gruppierungen oder<br />
Tendenzen nicht im strengen<br />
Sinne aufzufassen, da vielerorts<br />
politische Querverbin·<br />
dungen und personelle Ver·<br />
flechtungen bestehen .<br />
Sicherlich ließe sich hier so<br />
manches auch über andere<br />
Strömungen innerhalb der<br />
Linken ausführen. Bezüglich<br />
des VerhCiltnisses zu Israel ist<br />
auf das umfassende Quel·<br />
lenmaterial bei KlOKE zu<br />
verweisen.<br />
90<br />
Wir wollen nUll die Frage aufgreifen. warum der<br />
Antisemitismusvorwurf an di e Antikriegsbewegung<br />
während des Golfkrieges überhaupt zu deren<br />
Zusammenbruch führen und warum sie dem Kri eg<br />
streiberdi skurs nichts Substantielles entgegnen konnte. Di e Ursachen<br />
hi erfü r sind hauptsächlich in den letzten bei den Jahrzehnten<br />
vor dem zweiten Golfkri eg zu suchen. Neben der hegemonialen<br />
Durchschlagskraft der Okzidentalen Ideologie spielte hierbei vor<br />
allem di e eigene linke antifaschi stische Praxis und der mit ihr verbundene<br />
ve rkUrzte funktionalisti sche Faschismusbegriff eine ze ntrale<br />
Rolle. Als ein we iterer wesentlicher Schwachpunkt sollte sich<br />
der ständige Versuch herausste ll en, aktuell e Verhältnisse unter<br />
Rückgriff auf den historischen Nazi-Faschismus erklären oder<br />
denunzieren zu wollen. Di eses Anli egen durchzi eht wie ein roter<br />
Faden die Geschichte ve rschi edenster linker und in der Antikri<br />
egsbewegung vertretener politischer Gruppen. Welche fat alen<br />
Folgen di es zeitigte, soll nun anhand der Friedensbewegun g, der<br />
Antiimperialisten, der Autonomen sowie der Palästinakomitees<br />
il1ustriert we rden. 48 Bei all di esen Bewegungen lassen<br />
sich grundlegende InHimer und Defi zite in ihrer Anlisemitismusanalyse<br />
infol ge einer unzureichenden Ausein <br />
andersetzung mit dem Nazifaschi smus feststeHen. Unzul<br />
ängli che und undifferenzierle Paralleli sierungen<br />
gegenwärtiger politischer Verhältnisse mit der nazi- deutschen<br />
Geschichte bewirkten, daß rür antisemitische oder<br />
di e deutsche Geschichte »entsorgende« Positionen<br />
(meist unfreiwillig) der Türöffner gespielt wurde. Versuchten<br />
solche Vorstell ungen unter dem linken Deckmantel<br />
Land zu gewinnen, bliehen sie lange Zeit unbeachtet<br />
oder galten als vernachlässigbal'. Das rächte sich<br />
bitter. Unter den Bedingungen des Golfkriegs vermochte<br />
der Kriegstreiberdiskurs diese Versäumnisse mehr und<br />
mehr als Voraussetzung fUr den Antisemitismusvorwurf in das Zentrum<br />
der Debatte zu rücken.
Die Friedensbewegung der 80er Jahre setzle sich<br />
aus einem breiten Bündnis verschiedenster Gruppierungen<br />
zusammen, von denen di e Linke wiederum<br />
ein Spektrum bildete. Die mit einer Mas<br />
))Nuklearercc<br />
Holocaust und<br />
Friedens<br />
bewegung<br />
sen mobilisierung ve rbundene Heterogenität nötigte der Bewegung<br />
einen »Minimalkonsens« (» Keine Pershings «) zur Durchführung von<br />
politischen Aktionen und zur Bestimmung gemeinsamer Positionen<br />
auf. Die nazi- deutsche Geschichte legte den pazifistischen Kräften<br />
eine Ori entierung um moralischen Prinzip »Nie wieder Kri eg!« nahe.<br />
Es mangelte aber allgemein an einer Präzision des politischen<br />
Selbstverständnisses dieser Bewegung. Daher mußte auch das »Niewi<br />
eder-Kri eg!« ubstrakt bleiben. Auf der Suche nach idenlitätsstiftenden<br />
Gemeinsamkeiten fand regelmäßig ein assoziati ver Rückgriff<br />
auf di e deutsche Geschichte statt. Obwohl Kritik an der atOlnaren<br />
Hochrustung keinerlei histori scher Legitimation bedürfte, nahm die<br />
Friedensbewegung wä hrend der »Nachrüstungs«-Debutten freizügig<br />
und parolenhaft eine Gleicllsetzung von spekulativem Atomtod und<br />
faktischem Holocaust vo r (vgl. KLOKI::, 185 f.) . <strong>Der</strong>artige Assoziationen<br />
bündelten Emotionen, sie wurden funkti onal dem Diskurs der Friedensbewegung<br />
zur Verfügung gesteUt und gaben vo r, der »Betroffenheit<br />
« zahlreicher »F'riedensbewegter« entschiedeneren Ausdruck<br />
zu verleihen.<br />
Inwiefern sich das Gros der » Friedensfreunde« darüber klar war,<br />
daß sie durch di esen Vergleich die Perspekti ve der Opfer der deulsehen<br />
Geschichte fUr die Täter reklamierten und damit das falsche<br />
Bild der »Deutschen als di e potentiell en Opfer von Auschwitz«<br />
stimulierten, also unwillkürlich Auschwitz zu ihren Gunsten zu<br />
instrumentalisieren begannen, ist zunächst einmal zweitrangig. Entscheidend<br />
in bezug auf den Kri egstreiberdiskurs wä hrend des Golfkrieges<br />
war der Schritt, mit der deutschen Nazivergangenheit ve rbundene<br />
Begriffe und Assoziationen im Hinblick auf gegenwärtige<br />
und völlig anders gelagerte Verh ältnisse zu ve rallgemeinern. Di e<br />
Friedensbewegung trug dazu bei, daß der Holocaust zu einem nichtssagenden<br />
Gemeinplatz verkam und entwertete somit di eses Bild zu<br />
einem jeden:eit und nahezu fUr alles instrumentalisierbaren »Joker«.<br />
Sie entledigte sich somit auf der Symbol- und Parolen ebene leichtferti<br />
g ihres Differenzierungsvermögens, das sie Anfang 1991 bitter<br />
nötig gehabt hä Lle. Die Fri edensbewegung der 80er Jahre hinter-<br />
91
94<br />
ches hi storisches Wissen insbesondere uber den Nazi-Faschismus<br />
zu konstatieren, wie di es auch selbstkritisch B. IWSF.:NKÖrrEH 11.11. fUr<br />
den »alltiimpe ri alistischen Widerstand « einräumen. (n der Verkennung<br />
des Horkheimerschen Satzes» \Ve r vom KapitaJi smus<br />
ni cht reden will, soU auch vom Faschi smus schweigen« führte das<br />
leichtfertige Ben ut zen des Begriffs » Faschismus« im Gewa nde<br />
ei ner etikettenhafteIl Kriti k an Kapitalismus und Imperialismus<br />
vielerorl.s zum Verwischen eines wesentlichen Unterschieds:<br />
Faschi smu s als einer mögl ichen Erscheinungsform gegenwärti ger<br />
kapitalisti scher Gesellschaften unt er der Voraussetzung bestimmter<br />
historischer Bedingungen - und nicht: F'aschislllus als essenti <br />
eller Kern jeglicher Erscheinungsform von Kapitali smus!<br />
Letzteres zieht zwangs läufig ein fal sches Gleichsetzen vo n gegenwärti<br />
gen Verhult ni ssen mit histori sch-faschistischen nach sich.<br />
Sollte diesel' gewichti ge Unterschi ed eigentlich zum Selbstverständnis<br />
der Linken gehören, so galt das in den 70er und 80er Jahren<br />
nur fUr Te ile. Da mittlerwe ile ernster genommen wird, daß<br />
.. Kapitalismus eine notwendige - aber keinesfa.lls hinreichende -<br />
Bedingung Jar faschistische Herrschaft darsteUt" (MTK , 65), findet<br />
immer öft er der Ausdruck »faschi stoid« anstelle von »faschis<br />
tisch« Verwendung. Dies reicht jedoch bei weitem nicht aus. <strong>Der</strong><br />
Pauschalisierung vo n »Faschismus« kann nur dann entgangen<br />
werden, wenn d ie wesentliche Diffcrcnz vo n hi stori schem Nazi<br />
F'aschismus und gegenwärtigem Neofaschi smus Eingang in die<br />
Theoriebildung findet. Erst dann erfolgt ein UmschlaSj durch das<br />
Ersetze n vo n Begrifnichkeiten werden die Strukturen des jetzigen<br />
Denkens und Handeins zunächst unberührt gelassen.<br />
Es muß davon ausgegangen we rden, daß in der Linken vielerorts<br />
nach wie vo r ein solch verkürzter Faschism usbegriff di e Praxis<br />
bestimmt. In der Analyse des Faschismus gingen die ansonsten<br />
in zahl reichen Fragen gespaltenen Gruppierungen und Parteien<br />
bezeichnenderweise nur marginal auseinander (L.U.P.U.S. 1991a, 143) .<br />
Sie bezogen sich vo rwiegend auf di e gesell schaftli chen Verhii ltnisse<br />
in der GrUndlingszei t der BlIndcsrepublik und dje in dieser bUrgedieh-parl<br />
amentarische Demokrati e potentiell in korporierten<br />
nazi-faschisti schen Fragmente: " Die antifaschistischen Thesen der<br />
70er Jahre waren auf eine Gesellschaft gerichtet, die mit eier 'Stunde<br />
0" 1948, ihre eigene Geschichte tabuisierte, eine Gesellschaft
96<br />
Daher besitzen auch di e gegenwärtigen linken Neofaschismusund<br />
Rassismustheori en meist einen entsprechend funktional en<br />
»Anstri ch«. Sie beziehen sich unausgesprochen stets auf den<br />
historischen Nazi-Faschi smus und dessen Kont inuität in der<br />
Gegenwart. Die aktuelle Fortschreibung des funktionalistischen<br />
Ansatzes versucht über den historischen Umweg den gegenwärti <br />
gen kapitali sti schen Ve rhält nissen di e Legitimität zu ent ziehen.<br />
Hi erüber ge rät der Massenbewegungscharakter des Nazi-Faschismus<br />
allzuofL in Ve rgessenheit. Ein solcher Ansatz wird weder dem<br />
histori schen Nazi-Faschismus noch dem aktuellen Neofaschismus<br />
und Rassismu s gerecht. Di es führte in der Vergange nheit einerseits<br />
zu ein em problemati schen ßegriff vom })Nazi-Faschismus«;<br />
andererseits blockierte es die Entwicklung tragfähi ge r Theorien<br />
und angemessener Analysen der Voraussetzungen gegenwärtiger<br />
neofaschistischer und rassistischer Mobilisierung.<br />
Dieser funkti onalisti sche Begriff ließ di e untiimperialislischen<br />
und -faschistischen Theori ebildung zu »Agententheo ri en« ve rkommen.<br />
Insbesondere zeigte der in den 80er Jahren ve rstärkt<br />
auftretende Neofaschi smus, wie ve rkürz t diese sind. we nn sie die<br />
gesellschaft lichen Verh ältnissen zu beschreiben versuchen. <strong>Der</strong>artige<br />
»Age ntentheorien« bedienen sich immer wieder eines<br />
Schemas, dem nach wie vor di e Verwechslung vo n Kapitali smus<br />
und Faschismus zugrundeliegl, d.h. bei dem das »repressive kapitali<br />
stische System« mit einem »faschistischen Kern « gezeichnet<br />
wird : .. Dieser Staat steht in der ungebrochenen Tradition des 111.<br />
Reiches und org(utisiert selbst aber Staatsschu.tz, Bullen wut Militär<br />
die Strukturen, die Bewaffnung und Anschläge der Faschisten"<br />
(Radikal 1331l987, 47: "Antifaschismus ist undemokratisch und<br />
staatstragend"; zil. n. MTK, (6) . Oder: " Faschisntus ist integraler<br />
Bestandteil jeder parlamentarischen Demokratie der imperialistischen<br />
Staaten" (ebd.). Eine solche Logik reduziert den Faschismus<br />
hauptSächli ch auf seinen fun ktionalen Charakte r. Danach entscheidet<br />
der Staat als Handlange r des Kapitals permanent, wann,<br />
wie und ob er »faschistische Mittel« zur Herrschaftssicherung<br />
einsetzt (vgl. MTK). Da selbiger Zusa mmenhang nicht offen sichtbar<br />
ist, gehört es zu den wesentlichen Aufgaben dieser Sorte antifaschistischer<br />
Strategie, den Staat mittels Akti onen zum Ablegen<br />
seiner Maske zu provozieren: " Wir können die Herrschenden nicht
wingen, die Wahrheit zu. sagen, aber wir können sie zwingen.,<br />
immer unverschämter zu. lügen" (Gudrun Ensslin, zit. n. VESPE II ,9).<br />
<strong>Der</strong>arli geVersuche, »faschistische« Strukturen der bundesrepublikani<br />
schen Gesellschaft zu »entlarven«, sind uber ihren methodi<br />
schen Fehler hinaus alleine schon aus der Unzulänglichkeit von<br />
si mplifiziere nden »Agenl cnlheori en « fUr die Beschreibung komplexer<br />
gesellschaftli cher Verhältnisse zum Scheitern verurteilt .<br />
Di e fatalen Konsequenzen lassen s ich auch au s der Perspekti ve<br />
des ) antiimperiali stischen Widerstands« umreißen: ,Jndem wir so<br />
oftmals u,nbedacht Ursache und Wirkung verwechseln, eine<br />
bestimmte historische Erscheinungs/orm mit ihrem. Kern, trage n wir<br />
eher dazu bei, die herrschenden Verhältnisse zu, verke nnen. Das<br />
führt im,mer wieder dazlL, daß unsere Politik faktisch darin steckenbleibt,<br />
den Herrschenden die Maske vom Gesicht reißen zu wollen in<br />
der Hoffnung, die sich dann zeigende f aschistische I"ratze würde<br />
eine Mobilisierung von Protest be'wirken - auch wenn wir diese<br />
Bestünmung verbal alle ablehnen" (ROSENKO'I' I'ER 11.11., 86).<br />
Ein solch funktionalistisches Verständnis des Charakters des<br />
aktu ell en Verh ältnisses von Kapital. Slaal und Faschismus impliziert<br />
zugleich ein fra gwürdiges Bild des Nazi-Faschi smus, in dem<br />
nolwendige rweise dessen Massenbewegungscharakter unterbeli<br />
chtet bl eibt. Jedoch genau di eser konstituiert wesentli ch auch<br />
das bekannte Ausmaß an Anti semitismus in Form des Holocaust.<br />
Damit der Antisemitismus als Bestandteil totalitärer Herrschaft im<br />
Nazideutschland seine terroristische Gestalt annehmen konnle,<br />
mußt e er nicht neu erfunden, sondern konnte auf bereits existi erende<br />
anderweitige Versionen zurückgreifen und dieselben zuspitzen.<br />
Die Möglichk eit des Antisemitismus als Massenideologie und<br />
ihre Voraussetzung für di e Machtübergabe an den Faschismus<br />
1933 vermochte die funktionalistische Reduktion nur unzureichend<br />
zu verstehen.<br />
Besaß di e Propagierung der funktionalisti schen Faschismustheori<br />
en in der Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten und<br />
den restaurativen Tendenzen der bundesdeulschen Nachkriegsgesellschaft<br />
durchaus ihre Berechtigung, so refl ektieren sie heute<br />
die Veränderungen seit 1968 nicht mehr angemessen. Die gesellschaftlichen<br />
Grunclstrukturen, die den Nazi-Faschismus ermöglichten,<br />
existieren zwar weiterhin, doch " noch nie hat es in der<br />
97
ni cht hauptsächlich aus der aktuellen Analyse von Staat, Kapital<br />
und Gesellschaft heraus begründet. sondern sich vorwiegend des<br />
Begriffs- und Analyseapparates für den historischen Nazi- Faschismus<br />
bedient, ist letztendlich seiner \Virk ung beraubt, da er z. B.<br />
die europäische Dimension des gegenwärti gen Neorassismus nicht<br />
ergründen kann.<br />
Trotzdem übten und üben sich insbesondere Allliimperi alisten<br />
und Autonome in Duellen mit den »Agenten« des Staales, den<br />
Neofaschisten, die ni cht nur dem eigenen Schutz vor deren Überfällen<br />
dienen, sondern vor allem von der Tllusion zehren, hi erüber<br />
auch den »richti gen« Kampf gegen »Faschi smus« zu fü hren. so Es<br />
ist dieser vielerorts ve rwendete verkürzte Faschis musbegriff. der<br />
di e Durchschlagskraft des Anti semitislllusvorwurfes<br />
50<br />
Inwiefern die militante Ausdes<br />
Kri egstreiberdi skurses auch in den linksradi kaien einandersetzung um öffentli.<br />
politischen Gefilden erm öglichte. Da der lin ksradi kaie che Räume und Plätze ein<br />
notwendiger Bestandteil im<br />
Faschismusbegri f f nur au f den f un k tiona I em C h ara k ter Kampf um die kulturelle<br />
von A ntisemitis rnus zielte, vermochten s ich zudem Hegemonie ist, steht auf<br />
einem anderen 81.111 und soU<br />
hier nicht diskutiert werden.<br />
Vgl. hierzu l.U.P.U.S. 1991.1,<br />
150.<br />
über die »Agententheori e« vermittelte fa lsche Gleich-<br />
setzungen von Faschismus und Zionismus etabli eren.<br />
Denn wird diese Gleichsetzung aus antiirnperialisti<br />
scher (bundesdeutscher) Perspektive auch noch in der KonOiktregion<br />
Israel-Palästina fortgesetzt, so tritt ihre Fehlerhafti gkeit mit<br />
ganz ve rheerenden Konsequenzen in dem Moment deutlich zutage,<br />
wenn Israel als Exemplar eines Staates mit bürgerlich-kapitalistischen<br />
Charakter indirekt über die Gleichsetzung von Faschismus<br />
und Zionismu s (s.u.) mit dem Attribut des nazi-faschistischen<br />
Deutschland (und nur diese Assoziation ist hierzulande mit dem<br />
Begriff »Faschismus« verknüpft) überzogen wird. <strong>Der</strong>art<br />
geschichtl ich analogisiert ist es nur noch ein klei ner Schritt zu der<br />
vielerorts vertretenen »These«: »Die Palästinenser sind die luden<br />
von heute«.51 <strong>Der</strong>artige Behauptungen trugen ebenfalls zur Relati<br />
vierung und »Entsorgung« der nazi-deutschen Vergangenheit<br />
bei. Einige der bundesdeutschen Linken " malen Bil-<br />
Mit der in Anlehnung an "<br />
der, die eine seltsame Mischung sind aus althergebrach- A. u. M . MlTSCHERlICH<br />
teT!. antisemitischen Motiven und der Vorstellung, daß auch auf die bundesdeutsche<br />
Linke ausgeweiteten, sehr<br />
die Juden sich wie die Nazis verhalten. So können diese verbreiteten sozial.psycho-<br />
Leute zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen: Man logischen Interpretationen<br />
dieses Stereotyps als Schuld<br />
entlastender Projektion<br />
setzen wir uns später<br />
grunds.1tzlich auseinander.<br />
99
100<br />
trifft die altere Generation und setzt gleichzeitig ihre Ideologie fort.<br />
Eine perfekte Konstruktion. Viele in. Deutschland, die dachten, sie<br />
hätten mit der NS-Vergangenheit gebrochen, haben manchmal hinter<br />
ihrem eigenen Rücken Elemente der NS- Verg(mgenheit verlängert.<br />
Das ist eine Tragödie" (POSTONE. <strong>1992</strong>).<br />
Daher fordern inzwi schen selbstkriti sc here Antiimperialisten<br />
"die inhaltlichen Bestimmungen des Antizionismus so klar und eindeutig<br />
herauszuarbeiten, daß jede Verwechslung mit A ruisernitismus<br />
und dem als 'antizionistisch' verkleideten neofaschistischen Antisemitismus<br />
ausgeschlossen ist. Daß es hierbei noch dringend zu überwindende<br />
Mangel gibt, hat sich leider gezeigt" (HOSENKOTI'EIlIl.II., 88) .<br />
Di e häufig anzutreffende Unbekümmertheit hängt auch mit der<br />
Annahme zusammen, daß selbstverständlich davon auszugehen<br />
sei, sozial isti sche Ideale oder link e Einstellungen würden allgemei<br />
n an ti-antisemitische Überzeugungen sicherstell en. Dies ist<br />
allerdings ein Trugschluß. Es spricht viel dafür, daß erst als Antisemiten<br />
und Konservative gegen Ende des letzten Jahrhunderts<br />
ein Bü ndnis eingingen und sich im Laufe der Zeit zu dem amalgierten,<br />
was heute unter »modernem Anti semitismus« zu verstehen<br />
ist, Antisemitismus als ein »integraler Bestandteil der<br />
Rechten« erkannt wurde: "Das heißt aber, daß u.nsere Vorstellung,<br />
Sozialismus und Anti-Anl.isemitismu.s sl.ellten eine Einheit dar, seien<br />
eine Selbst'verständlichkeit, mehr mit unserer Vorstellu.ng nach 1945<br />
zu tun hat, nämlich daß Antifaschismus unbedingt auch Anti-Antisemiti.H1ws<br />
bedeuten muß, Für die Identiläl.sbildung einer ganzen<br />
Generation nach 1945 waren solche Vorstellungen geradezu notwendig<br />
geworden" (DINER 1987,70). Di e ausschli eßli che Verortung<br />
vo n Antisemiti smus in rechten ldeologien ve rleitete zu dem voreiligen<br />
Schluß, die (Neue) Linke wäre in ihrem Denken und Handeln<br />
gegenüber antisemitischen Elementen per se gefei t. Wenn der<br />
deutsche Nazi-Faschismus so funktionali stisch gefaßt wird, wie<br />
ih n weite Tei len der Lin ken in den 70er und 80er Jahren verstanden<br />
haben, so reduziert der daraus resultierende Antifaschislllus<br />
den Stellenwert des eigentlich notwend igen Anti-Ant isemitislllus,<br />
Theorie und das eigene Selbst bild begannen darüber auseinanderzuklaffen.<br />
Wer sich aber nicht des spezifischen Verhältnisses vo n<br />
nazi -deutschem Faschis mus und Antisemitismus klar macht und<br />
in seiner Analyse aufnimmt, der führt zwangsläufig die Annahme
nTicket(c-Denken<br />
als Voraus- <strong>Der</strong> Faschismusverdacht gegenüber den bundessetzung<br />
von republikanischen Verhältnissen durch die Linke<br />
Indifferenz mUndete in einem vorwiegend politischen,<br />
zugleich die eigene Prax is legitimierenden<br />
Kampfbegriff. In zahlreichen politischen Aktionen spiegelt sein<br />
Anfüh ren die auf un zureichenden Verkür7.unge n in der Analyse<br />
basierenden Fehler linker Politik wider. Daher muß ein » Fehl er<br />
mit Methode« vo rliegen, der sich über Ritualisierunge n im Denken<br />
und Handeln der Linken tief verwu rze lt hat. Anhand der<br />
Autonomen 52 lind ») Anti -Irnps« möchten wir di e strukturell<br />
en Merkmale solcher Ritualisierungen beispielhaft<br />
nachvollziehen. Für ei n besseres Verständnis<br />
di eser Fehler ziehen wir den vo n AI)OIl NQ (1973. 191)<br />
geprägten Begriff des )Ticket«-Denkens heran, der di e<br />
in ihnen sich ausdrückende " Bezie/mngslosigkeit zwischen<br />
Realität und Individuum" bezeichnet und das<br />
theoretische Rüstzeug für die konstatierbaren Ind ifferenzen<br />
nicht weniger linksradikaler Positionen gegen<br />
über hi stori schen JudenressenLiments und seinen heutigen<br />
nachnazisti schen, hauptsächlich israelfeindlichen Ausformu ngen<br />
bi etet. Solche Indifferenzen haben ihre Ursachen nicht zu letzt in<br />
einem spezifischen Verhältnis zwischen politischer Theorie und<br />
Praxis. Aufgrund eines losen organisatorischen Zusammenhangs<br />
läßt sich dem au tonomen PolitikversHindnis allerdings nur sclnver<br />
gerecht werden. Di e Vi elzahl di ve rser Strömungen und Gruppen<br />
spiegelt sich auch in verschi edenen th eoretischen "O berbau ten«<br />
wide r. Um autonome Positionen einer handhabbaren Analyse<br />
zugänglich zu machen, sind daher Verallgemeinerungen nötig, die<br />
der Kritik jedoch keinen Abbruch tun, da sie in erster Linie Tendenzen<br />
bezeichnen sollen.<br />
Noch nie seit ihrem Erscheinen auf der Bildfläche der außerparlamentarischen<br />
Opposition steckte di e radikale und autonome<br />
Linke in einer politischen Krise heutigen Ausmaßes:" lVasfür die<br />
reformistische Linke in ideologisch-enthemmte Machtpolitik mündet,<br />
endet - vorläufig - unter um in Sprachlosigkeit oder U11StJ.gliehen<br />
Flugbliittern" (L.U.P.U.S. 19918. 143). Bildeten die Autonomen in<br />
der Anti-A KW-Bewegung, während der Hochzeit en des ) Häuserkampfes«<br />
oder auch in der Friedensbewegung der 80er Jahre noch<br />
52<br />
Oa nach unserer Einschat·<br />
zung bei den Autonomen<br />
aufgrund der Aktionsorien <br />
tielung das Manko dieser<br />
verkürzung am deutlichsten<br />
hervortritt (und da unsere<br />
eigenen politischen Bezüge<br />
gewisse Überschneidungen<br />
aufweisen). ziehen wir vor<br />
a1lem sie /or eine nahere<br />
Betrachtung heran.<br />
102
106<br />
kens erac hten wir als nützlich, da dieses konzeptionell dynamischer<br />
Natur ist sowie "entweder als Symptom/ar die 'innere Konsistenz'<br />
der antisemitischen Ideologie oder als Ausdruck der geistigen<br />
Starrheit" (A DOHNO 1973, 107) von Individuen gewertet werden kann.<br />
Für di e begriffliche Entfaltung von Stereotypie und Personali sierung<br />
ging ADOH NO in Anlehnung an die Theorie vo n Freud vor. Da<br />
der den Linken vorgeworfene (latente) Antisemitismus vor all em<br />
über auf Verdrängung der Nazi-Vergangenheit beruhenden<br />
Schulclprojektionen (im Freudschen Sinne) motivi ert sei, besteht<br />
zudem also eine begriffiiche Verbindung zum method ischen<br />
Ansatz VO ll AOO IlNO auf der individuellen - und erst einmal nur auf<br />
di eser! - E bene. Ging es ADOR NO vorrangig um den individuellen<br />
Charakter als eine - nicht überzubewertende - Determi nante ideologischer<br />
Präferenzen von Individuen, so liegt der Schwerpunkt<br />
unseres Interesses jedoch in der Programmatik bzw. im Verhältnis<br />
vo n Theorie und Praxis (linker) politischer Bewegunge n. Deswegen<br />
müssen unsererseits Modifikationen an den vo n ADOHNO entwickelten<br />
Begriffli chkeiten vorgenommen werden.<br />
Zunächst sind Stereotypie, Personalisierung und »Ticket«<br />
Begriffe, die über Individuen bestimmt sind, aber in einer sozialpsychologischen<br />
Perspektive zugleich auch auf Gruppen Anwendung<br />
finden können, Stereotypie und Personalisierung si nd<br />
konstitui erende Merkmale von »Ticket«-Denken aller Individuen,<br />
Bei der ge nerellen Anwendung individualpsychologi scher Beobachtungen<br />
auf Gruppen ist unseres Erachtens jedoch allergröß te<br />
Sorgfalt geboten. Denn eine solche übertragung konstruiert Individuen<br />
nunmehr verkürzend als Prototypen, Sie prüft ni cht mehr,<br />
in wieweit die dem Prototypus zugeschriebenen Stereotypisierungen<br />
und Personalisierungen im Einzelfall tatsächli ch vorli egen<br />
bzw. das "Ticketc.c-Denken auf ihn zutrifft. Erschei nt eine solche<br />
Vorgehenswei se bereits gegenüber einfachen Gruppen überaus<br />
problematisch, so ergeben sich bezüglich politischer Bewegungen<br />
noch viel größere methodische Schwierigkeiten, Da die Verwendung<br />
VOll ßegriffiichkeiten aus der Sozialpsychologie den Antisemitismusvorwurf<br />
an di e Linke untermauern helfen soll , wäre nun<br />
die Reichweite ihrer Erklärungskraft hinsichtlich der Motive politischer<br />
Aussagen zu diskutieren, Wer sie zur Beschreibung und<br />
Analyse von Theorie und Praxis politischer Bewegungen heranzie-
hen will, muß unseres Erachtens Modifikationen vornehmen, di e<br />
den sehr komplexen Sprung vom Ich zum Wir angemessen refl ekti<br />
eren. Denn das Problem der sozialpsychologischen Anwendung<br />
von individualpsychologischen Kategorien besteht in unserem Fall<br />
darin, daß sie politische Theorienbildung eben nur unzureichend<br />
zu erfassen vermag und s ie tendenziell selbst wiederum nur noch<br />
als psychologisiertes Konstrukt verstanden wissen will. 54 Um die<br />
ser Gefahr zu ent gehen und dennoch besUmmte Vorteile<br />
des .. ricket«- Begriffs für die Analyse der Dynamik<br />
von Theorie und Praxis politischer Bewegungen nutzen<br />
zu könn en, ist nUll auch die Frage zu stellen, inwiefern<br />
in diesem Untersuchungsfeld gemachte Einschränkungen<br />
bezügli ch ihrer Reichweite helfen. den Unterschi<br />
ed des Verhältnisses zum Antisemitismus zwischen<br />
politischen Bewegungen und Individuen plausibel zu<br />
machen.<br />
Di e oben vorgefii hrte stereotype politische Praxis linker Gruppi<br />
erungen wie den Autonomen ist für uns zunächst nur unzureichend<br />
durch den vo n ADonNO verwandten Begri[f von Stereotypi e<br />
beschreibbar. Denn ADOIlNO (1973, 55) faßt Stereotypi e als "eine Form<br />
von Beschränktheit besonders in psychologischen und sozialen Fragen"<br />
auf. Desweiteren unterstellt er ,.daß die Men.schen in der<br />
modem en Gesellschaft ( ... ) deshalb zu. primitiven, vereinfachenden<br />
Erklärungen von Geschehnissen greifen, weil so viele der zu einer<br />
Interpretation notwendigen Gedanken und Beobachtungen zu den<br />
Überlegungen nicht zugelassen werden, da sie affektiv besetzt sind<br />
und Angst erzeugen könntenj das schwache Ich ist nicht imstande,<br />
sie in ein Denkschema au/zunehmen". Diese Bestimmung greift<br />
unseres Erachtens jedoch zu kurz, wenn sie insbesondere die<br />
Linke zum Gegenstand hat. Da die Programmatik (linker) politischer<br />
Bewegungen einen hochgradig intersubjektiven Zusammenhang<br />
darstel lt, muß davon ausgegangen werden, daß eine<br />
Übernahme des Begriffs »Stereotypie« in der von AOORNO formulierten<br />
Weise spekulativ wird, wenn er auf die Linke als einen Träger<br />
von kritischer Theorie, die einem emanzipatorischen Anspruch<br />
verbunden ist, angewandt wird. Daher begreifen wir die in bezug<br />
auf Individuen angenommene "Beschränktheit" auf der Ebene der<br />
Theorienbildung vorrangig im Sinne einer Reduktion von Wirk-<br />
54<br />
Ein Beispiel stellt die<br />
Behauptung DINERS<br />
(1987,77) dar. daß der posi·<br />
tive linke Bezug zu nationalen<br />
Befreiungsbewegungen<br />
im Sinn habe, auf Umwegen<br />
einen positiven Bezug zur<br />
eigenen nationalen (deutschen)<br />
Identitc'it zu<br />
vermItteln .<br />
107
108<br />
lichkeit, die in ihrer si mplifizi erenden Form zu realitätsentstellenden<br />
Verzerrungen und damit zu Stereotypisierungen fuhren könnell<br />
.<br />
Eine derartige Wahrnehmung trifft fUr nahezu jedes politisch<br />
handelnde Subjekt zu: "Die modemen Massenmedien, die der industriellen<br />
Produktion nachgebildet sind, verbreiten ein ganzes System<br />
von Stereotypen, das. während es im wesentlichen im Individuum<br />
'unverständlich' bleibt, ihm jederzeit erlaubt, sich informiert und<br />
eingeweiht zu geben. Daher ist stereotypes Denken in politischen<br />
Fragen/ast unvermeidlich" (ehd ., 190). Mittels solcher (politischer)<br />
Stereotypen gelingt es dem lndividuum allgemein, .. (sich) in einer<br />
kalten, entfrem,deten und weithin wwerstli.ndlichen Welt mühelos zu<br />
'orientieren' " (ebd., 109).<br />
Nach ADOIlNO zieht stereotypes Denk en zudem einen ihm<br />
gegen läufigen Prozess der Personalisierung nach sich: " Die Angste<br />
des Individuums, die ihm vor allem die Fremdheit und Kälte der<br />
politischen Realität bereiten. (werden) auch durch einen Trick (der<br />
Stereotypisierung, d. v. ) nicht ganz beseitigt, der selbst den bedrohlichen,<br />
unaufhaltsamen Prozeß der wirklichen sozialen Welt widerspiegelt.<br />
So verlangt Stereotypie abermals nach ihrem Gegenteil:<br />
nach Personalisierung. <strong>Der</strong> Ausdfltck erhält hier eine präzise<br />
Bedeutung: die Tendenz. objektive gesellschaftliche und ökonomische<br />
Prozesse, politische Programme. innere und äußere Spannwtgen<br />
mittels Personen zu bezeichnen, die mit dem jeweiligen Fall<br />
identifiziert werden, anstaU sich selbst der Anstrengwtg der unpersönlichen<br />
geistigen Arbeit zu unterwerfen, die die Abstraktheit der<br />
gesellschaftlichen Prozesse erfordert" (e h
wenn linke (»antizionistische«) Positionen, wie z.B. in der bundesdeutschen<br />
Diskussion über Israel bzw. in der Kritik an israelischer<br />
Politik gegenUber den Palästinensern in das Fahrwasser des hegemonialen<br />
(tendenziell antisemitischen) Diskurses abzudriften drohen.<br />
Es ist einfach fal sch. Israel umstandslos auf ein imperialistisches<br />
Strukturgebilde zu reduzieren (s.u.). Damit werden zwar über<br />
di e Analogisierung von bunclesdeutschen Zuständen und isrealisehen<br />
Verhältnissen die hiesigen ebenfalls zum Gegenstand der<br />
Kritik gemacht. doch wird einfach übersehen, wie eine solche Kritik<br />
indirekt der Rehabilitierung des deutschen Nationalismus in<br />
die Hände spielt . Ei n mit solchen Auffassungen ve rbundenes progressives<br />
»Ticket« verkehrt sich spätestens in dem Moment ins<br />
Gegenteil seiner ursprünglichen Intention, wenn es auf geschilderte<br />
Weise indirekt in Einklang mit hegemonialen, (latent) antisemitischen<br />
Denkmustern gerät. Insofern ist es genereJI wichtig, ein<br />
jedes »Ti cket«-Denken auf sein Verhältnis zum hegemonialen Diskurs<br />
hin zu untersuchen und zu überprüfen, inwiefern es konform<br />
mit hegemonialen reaktionären »Orienti erungen« geht oder gegenläufig<br />
wirkt.<br />
1m Falle ei ner direkten Konformität, d.h. der Identität von<br />
»rechten« und »linken« Stereotypen, sind linke Diskussionszusamlllenhänge<br />
ve rlassen. Die durch linkes »Ti ckel«- Denken eigens<br />
produzierte Indifferenz zieht jedoch ebenso eine Verdoppelung der<br />
Wirkung »rechter« Stereotypen nach sich und kann somit zu einer<br />
indirekten KonfonniUit mit reaktionären Positionen filhren. In dem<br />
Maße, wie die Obe rJappung »linker« Stereotypen mit »rechten«<br />
Stereotypen, di e klare antisemitische Züge tragen, zunimmt, und<br />
sie Ressentiments gegen jüdische Menschen und den israelischen<br />
Staat auch nur impli zit verdoppeln helfen, erhalten auch die Stereotypen<br />
der Linken einen qualitativ neuen Stellenwert. Di e<br />
anhand des Israel-Palästina-Konfliktes konkretjsierten linken politi<br />
schen Positionen müssen sich also daran messen lassen, inwiefern<br />
ihr »Ticket« zur Konformität mit jenen antisemitisch-hegemonialen<br />
Denkmustern beit rägt und damit zur diskursiven Stärkung vo n<br />
Standpunkten, denen prinzipiell eine antisemitische Tendenz<br />
inkorporiert ist.<br />
Ein auf »Ti cket«-Denken beruhender, verkürzter und fast ausschließli<br />
ch funktionaler Faschismu sbegriff, sein »Out-of-Area«-<br />
" ,
11 4<br />
größter BedeutlLng, denn er begreift den Zionism.us alsJremde Idee,<br />
die, weil auJ Palästina übertragen, Jür ihn konkrete Leidensgeschichte<br />
darstellt" (5/\11) J98J , 69f.). Ideen wie der Zionismus gehören<br />
histo risch-k ri tisch auf zweierl ei Weisen unters ucht. Genealogisch<br />
(in bezug au f Herkunft und Modus) sowie seine praktische Anwendung<br />
be i der Akkumulati on (hins ichtli ch HerrsclmfLs-, Landanspruch<br />
lind ideologischer Rechtferti gu ng) bzw. Verdrängung<br />
(bezügli ch anderer Völker, [decn und deren Legitimnt ionsmuster).<br />
Allerd ings wußle der Zionismus sowohl seine wesen tlichen ideologischen<br />
Charakte ri stika li nd di e historischen Voraussetzu ngen wie<br />
auch d ie politi sch-praktischen Aus wirku ngen und di e militant <br />
repressive n Di skriminierungen im Verh ältnis von Nicht-Juden<br />
gegenüber Juden zu verschleiern : .. Die politischen und kll.lw.rellen<br />
Gegenwartserscheinungen lnachen eine derartige Untersuchung<br />
außerordentlich schwierig, da sich die Wertigkeit des Zionismus im<br />
hochindustrialisierten <strong>Westen</strong> zu einer Jast unangreifbaren Vormachtsstellung<br />
innerhalb des liberalen 'affirmativen' Diskurses verfestigt<br />
hat" ("xI.).<br />
Wir verstehen daher im folgenden Zionismus vor all em als eine<br />
Form nationaler Politik, di e sich imperialistischer Millel zur<br />
Durchsetwng ihrer [nteresscn bedient. Gleichze itig kön nen und<br />
wo ll en wir Zionismus vor dem Hintergrund seiner Roll e als jüdischer<br />
ldenlitätscntwurf nach 1945 aber nicht all ei n auf jene<br />
Dimension red uzieren. Zionismus bedeutet aus der Perspektive<br />
der Palästinenser einerseits Kolonialis mus, and ererseits hat er<br />
nach 1945, aus der Sicht der »Ko]on iali sntoren«, eine abweichende<br />
und wesentli ch ex istenti eliere Bedeutung gewonnen, di e der<br />
klassische Kolon iali smus für andere, nicht-jUdische Kolonial isationsprojekte<br />
nie besaß.<br />
Für die Beurteilung des Palästina-Israel-Konfl ik ts s tellt sich<br />
zunächst die Frage, ob die Vertreibung der PalUstinenser ori ginär<br />
dem Zionismus zuzuschreiben ist. Denn die Unt erdrückung der<br />
Pa lästin enser basiert tatsächlich auf dem nonnntiven Koord inatensystem<br />
des europäischen Kolonialismus über die verschiedenartige<br />
Wertigkei t von Menschen. Er schuf im Europa des 19. Jahrhunderts<br />
die Voraussetzung dafür, daß in Pahtstin a das j üd ische<br />
Sicdlungs projekl prinzipiell möglich wurde lind seinc internationale<br />
Anerkennung fand: " j ene Einheimischen wu,rden mit einem
variablen Klassijizierungsmuster gemessen, das grundsätzlich 'VOIt<br />
ihrer Unt.erlegenheit dem westlichen oder weißen Mann gegenüber<br />
ausging. Dieses Klassijizierungsschema wurde von Zionisten wie<br />
Herzt aufgegriffen, von der Folie des allgemeinen Kullurhinlergrundes<br />
abgezogen und auf die speziellen Bedürfnisse des sich entwickelnden<br />
jüdischen Nationali.smus zurechtgestutzt. Und noch<br />
einnwl muß gesagt werden. daß die Komponenten des Zionism,lLs,<br />
die den berechtigt.en jüdischen Traditionen zugute karnen - ich<br />
rneine d(Unit die Wiederherstellung eines nationa,len Zusam.menhangs<br />
wul die Bewahrung des jüdischen Volkes vor dem Schrecken<br />
der dauernden Heirnatlosigkeit und den Schrecken des Antisemitismus<br />
., gleichzeitig ,nit den Aspekten der dominierenden westlichen<br />
Kult ur kollaborierl,en (aus der der Zionismus als Institution ja auch<br />
hervorging), die es den Europäern ermöglichten, alle Nicht.<br />
Europlier als m,itulerwert.ig, marginal und unbedeutend zu. betracht.en"<br />
(clxl., 84).<br />
Di e zionistischen Siedlungsbestrebungen im ersten Drillei di eses<br />
Jahrhunderts waren also nie ausschließlich als ei n jüdisches<br />
ßefreiungsproj ekt vor dem Hintergrund eines erstarkenden Antisemiti<br />
smu s zu sehen, sondern trugen immer auch die Züge eines<br />
kolon ialen Siedlungsprojekts des imperi aJ isti schc ll Europa. Da<br />
Vertreibung, Verfolgung und Unterdrücku ng stets Elemente der<br />
koloni aler Prax is darstellen. war und ist di eses Vorgehen gegenober<br />
der palästinensischen Bevölkerung keine Besonderheit. Die<br />
laufend en Siedlungsprogramme in den besetzten Gebieten sind<br />
somit ein Relikt klassisch euro päisch-imperialisti sc her Politik im<br />
Na hen Osten.<br />
Ab 1933 ergab sich jedoch mit dem Nazi-Faschismus e ine<br />
hi storische Zäsur: Für viele (rniLLel)europäische Juden erwi es sich<br />
nunmehr Palästina als letzte Zufluchtsstätte. Di e zahlreichen<br />
Immigranten beschleunigten die mit den zionisti sc hen Siedlungsprogrammen<br />
verbundene Vertreibung der Paläslinenser und verschärften<br />
den Ko nflikl zwischen Juden und Arabern. <strong>Der</strong><br />
Holocaust relati vierte aber nicht nur aus der jüdischen Sicht den<br />
kolon ialen Aspekt der Migrati on gegenüber der Idee einer sicheren<br />
Heimstatt. Fortan bestand folge ndes Dilemma: ,.Die Juden<br />
sind davon ilberzeugt und haben mehrfach erkltlrt., daß die Welt -<br />
oder die Geschichte oder die Moral - ilmen eine lViederg lLLl1tachung<br />
11 5
••<br />
Damit ist für uns keine<br />
umstandslose Gleichsetzung<br />
von Rassismus und Z,onismus<br />
impliZIert. Denn nach $AID<br />
(198 1, 122 f .) ist der Begriff<br />
. Rassismus . zu ungenau, da<br />
er Hnicht die Leistungen l ür<br />
die eUtopäischen (n.) Juden"<br />
berOcksichtigt. Jedoch: .FOr<br />
die palästinenSlschen Araber,<br />
die die Verfahrensweisen des<br />
Zionismus Olm eigenen Leib<br />
zu sparen bekamen und dl'r<br />
Mechanismen gewahr wur·<br />
den, stellte sich die lage<br />
weitaus heikler und difiNenzierter<br />
dar, aber durchaus<br />
nicht verworren oder unklar.<br />
(. n) <strong>Der</strong> Palästinenser<br />
begreift. ohne ihn vielleicht<br />
WIrksam ändern zu können,<br />
den intellektuellen Prozeß,<br />
bei dem seine vertetzte Men·<br />
schenwOrde heimlich, still<br />
und leise in lobpreisungen<br />
der ideologie transformiert<br />
wurde, die ihn selbst zers tört<br />
hat. <strong>Der</strong> Begriff 'Rassismus'<br />
ist zu ungenau - Zionismus<br />
ist Zionismus. Fur den arabi·<br />
schen Paläsllnenser !filft<br />
diese Tautologie den Sach·<br />
verhalt aufs genauesIe;<br />
116<br />
Jilr das zweitausend jährige Unrecht schuldet und insbesondere eine<br />
Ent.'Ichlidigung Jar die Katastrophe der europtlischen ludenheit,<br />
welche ihrer Ansicht flach nicht bloß ein Verbrechen Nazi-Deutschlands,<br />
sondem ein Verbrechen der ganzen zivilisierten Welt darstellt.<br />
Die Araber halten andererseits dagegen, daß ein zweifaches Unrecht<br />
kein Recht ergibt und daß 'kein Moralkodex der Verfolgung eines<br />
Volkes als Versuch rechtfertigen kann, dadurch die Verfolgung eines<br />
anderen Volkes aufzuheben'. AuJ derlei Argumente laßt sich keine<br />
AntwortJinden. Beide Ansprüche sind nationalistisch, weil sie nur<br />
im. Rahmen. des eigenen Volkes und im engen Kontext dessen eigener<br />
Geschichte Sinn ergeben, beide Ansprüche sind legalistisch, weit sie<br />
'von den konkreten Faktoren der Situation absehen" (A Il EN DT 1918, 48).<br />
Ober das Scheitern (Auschwitz!) des judisch-europäischen<br />
Assimi lalionsprojekts erlangte der Zionismus unter den Juden<br />
seine dominante Bedeutung und erreichte mit der israelischen<br />
Nationalstaatsgrundung im lahr 1948 in Palästina sein Ziel. Seit<br />
her ist di e Pol itik Israels gegenüber den Palästinensern durch<br />
Unterdrückung, Verfolgung und Rassismus 60 gezeichnet.<br />
Im kollektiven Bewußtsein der Palästinenser und<br />
Israelis spiege1t sich jewei ls die eigene Rolle als Opfer<br />
wider. Für die israelisc he Seile verm iltell der Imperiali<br />
smus uber Militarismus, Nationalismus und Unterdrückung<br />
insbesondere jene Stärke, di e einerseits<br />
Di stanz zum Holocaus t aufhaut, aber andererseits gerade<br />
daher auch eine Abwendung vo n seiner kolonialistischen<br />
Struktur lind imperiali stischer Politik ungemein<br />
erschwert (vgl. SAm 198 In., 90 r.). Miulerweil e trifft zu, daß<br />
sowohl di e Israelis als auch die PalUstinenser kollekti ve<br />
Verletzungen erfuhren, die sich einer Aufrechnullg oder<br />
einem Vergleich en tziehen und in ihrer traumatischen<br />
Wirkung ei nen auf gerechten Interesscnsausgleich<br />
bas ierend en Fri eden zwischen heiden sehr erschweren.<br />
<strong>Der</strong> Konflikt zwischen Is raeli s und Palästinensern heute<br />
"ist kein eindeutiger Ka.mpJ von Gut, und Böse, kein eindeutiges<br />
Kolonialverhältnis von Kolonialherren und<br />
UlLterdrilckten, sondern ein komplexes Verhältnis in der<br />
KonJrontation zweier legitimer Rechte" (CL/\USS J::N 19ß6, 241).<br />
sie 15\ aber die Umkehrung<br />
dessen, was die Juden damit<br />
verbinden", Wenn wir von<br />
Rassismus im Zusammen·<br />
hang von Zionismus reden,<br />
so in der von SAIO gelaßten<br />
Form.
Staat und Nation busieren, darf di e Linke in der ßundesrcpublik<br />
nur die Auswirkunge n der Machl und der ihr zugehörigen strukturellen<br />
Merkmale israeli scher Politik kritisieren. Die Kriti k am<br />
Zioni smus muß sich also auf seine Ausprägung als repressive<br />
nationalistische Pol itik und den diskrimi nierenden strukturellen<br />
Ant eil der (Verfassungs-)Stru ktur des israeli schen Stantes<br />
beschränken.<br />
Aus antiilllperialisti scher Si cht verschli eßen sich jedoch<br />
1I0SENKÖyrEI1 II.U. (SB) immer noch der Anerkennung des Ex istcnzrechts<br />
für Israel, da " der Staat Israel auf rassistischer UlI.terdrli.ckung<br />
und Vertreibung, al/I kolonialer Besied/.nng wut<br />
miliUirischer Expansion (beruht), er von diesen StrlLkturen nicht zu.<br />
trennen (ist)". Bloß, für welchen Staat trifft eine derartige Argumenl<br />
ion ni cht zu? Das Gros der Staaten der europäischen »Metropole«<br />
und ihrer »Peripherie« ließen sich ohne Schwieri gkeit in<br />
verschi ed c;:nen hi storischen Etappen ebenso anführen. Denn weiches<br />
»Volk « hat VO ll welcher Instanz je einen Staat nach rechtli <br />
chen Gesichts punkten zuerkannt bekommen? Hinter dem<br />
Geschwätz vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« verbirgt<br />
sich ni chts anderes als daß sich jeder Staat auf Vertreibung lind<br />
Gewalt gründet. Doch warum wird diese generell e und abstrakte<br />
Kritik von Bu ndesdeut schen ausgerechnet an Israel - und nicht an<br />
der Bundesrepub li k! - ko nkretisiert? Darüber hinaus unterschlägt<br />
di ese Argumentation offensichtlich immer noch di e hi stori sche<br />
ZUsur dcs HoJocausL und die Tatsache, daß di e Existenz Israels<br />
Zcugni s vom gescheiterten Assimilationsprojekt der europäischen<br />
luden ablegt. An der Existenz Israels zu rütlein , heißt zugleich die<br />
Bedeutung der histori schen Zäsur Auschwitz zu negieren. Di ese<br />
ist jedoch fakt isch, infolgedessen auch die Existenz Israels. Insbesondere<br />
gilt: " Die Etablierung des Staates Israel als eines selbständigen<br />
Staates kann als Unrecht bezeichnet werden. (. .. ) Aber dieses<br />
Unrecht kann nicht gutgemacht werden durch ein zweites und<br />
größeres Unrecht. <strong>Der</strong> Staat ist da und die Verständigung ,nit der<br />
ilunfeincllichen Umwelt muß gefunden werden: das ist die einzige<br />
Lösung" (Herbert Marcuse: Für eine geme insame Front , 1%7. Zit . u.<br />
KLOKE.67) . Seine Existenz in Frage zu stellen ignoriert zudem, "daß<br />
im imperiaUstischen Zeitall.er der Mensch gar nichts, der Stcwtsbiirger<br />
aber immerhin etwas gilt" (DOKUME:NTATION, 37) oder in den Wor-<br />
121
122<br />
ten von AnEN I}T (1955, 4(6): " <strong>Der</strong> Verlust der nationalen flechte hat in<br />
allen Fällen den Verlust der Rechte nach sich gezogen, die seit dem<br />
achtzehnten Jahrhundert zu den Menschenrechten gezahlt 1vurden,<br />
und diese haben, wie das ßeisp/:el der luden und des Staates Israel<br />
zeigt, bisher nur durch die Etablierung nationaler flechte wiederhergestellt<br />
werden können. <strong>Der</strong> Begriff der Menschenrechte brach<br />
( ... ) in der Tat in dem Augenblick ZltSallUnen, wo Menschen sich<br />
wirklich nur noch auf sie und keine national garantierten Rechte<br />
berufen konnten".<br />
We nn dem Staal Israel, der rü r die jüd ische Bevölke rung eine<br />
Schut7.funkLi oll besit 7.t, di e Ex islenzbe rechtigu ng abges proc hen,<br />
also fakli sch vo n seiner »N icht-Ex istel1 7.« ausgegangen wird, fäJlt<br />
ei ne an ihn ge ri chtete Kritik bezugli ch seiner »7. ionis ti schell «<br />
Pol iti k auch auf di e gesell scha ftli che Ebene, dns he ißt auf den<br />
Identi lätsenl wurf de r jüd ischen Menschen, zu rück. Di e Kritik<br />
erhult dam it eine Doppeldeutigkeit und haI Indi ffe rcll7. gege niJ ber<br />
Anti semili sme n zur Folge. Die Abgrenzung eines »ant izion isti <br />
schen Anti im peri ali smus« von anti semiti schen Stim ula läß t sich<br />
ab diesem Pu nkt immer wen iger vornehmen.<br />
Die Krit ik an israel ischen Ve rhältn issen muß deshalb aber<br />
nicht zwangsläufig antisemi tisch se in oder we rden, wie es manche<br />
Kri tike r der Pa lUstina-So lida rität liebend gern zu sugge ri eren versuchen.
Opfer mit den Tätern geworden. Die Nachfolger der genwrde/.en<br />
Juden werden in der Pha.nta.sie eins mit ihren Mördern - luornit,<br />
schließlich wul endlich, in einer zeit- wul raunlübergrei/enden Perspektive<br />
die Juden einmal nwhr Sclw.ld a.n ihrem Schicksal sind"<br />
(ßIlUMLl K 1986, 159). Abgesehen davon, daß es äußerst fraglich ist, ob<br />
di e Art der Herangehensweise an die Geschichte des Nazi-Faschi smuS<br />
durch »Iin ke« Indi viduen in der Ve rgangenhei t tatsächlich<br />
vo rwiegend auf di e von B1WM LlK be hauptete Weise erfolgte (noch ni e<br />
wurd e dieser Zeitraum so oft thematisie rt wie in de n letzt.en zwa nzig<br />
Jahren), gibt es fUr die Linke als Bewegung - also hi ns ichtli ch<br />
ihres programmatische n Anspruchs - uberhuupt keinen einsehbaren<br />
Grund, warum s ie in bezug auf den Nazi-Faschismus Sc lnd d<br />
ve rdrängen sollte oder projizieren mU ßte. Im Gegenteil, ei n wese ntli<br />
cher Te il ihrer polit ischen Ide ntität fußt a uf der AuseinamICl'setzu<br />
ng mit dem Nazi-Faschismus, wie verkürzt s ie auch immer ausgefall<br />
en sein mag. Di ese "lclenliWt hat s ich wesentl ich über in te rsubjektive<br />
Zusammenhänge entwickelt, die sich ei ne r sozialpsychologischen<br />
Interpretation zwar nicht verschließen. jedoch ihre<br />
ErklHrung wei tgehend wil lkürlich beläßt. Insbesondere ullterwirft<br />
die pauschale Anwendung von derartigen Interpretationsmuste rn<br />
jegli ches emanzipatori sche Strebe n besagten Schuld versch iebungsmechfl<br />
nislllcn. Da letzt ere n ein Qatenter) Anti semitisill us beigemessen<br />
wird, ist alsbald der Punkt überschritte n. ab dem kriti <br />
sche Vernunft gegen sich selbst gewendet we rd en kann. Di e I
62<br />
FOr eine prinzipielle Kritik<br />
der neodogmatischen Lesarl<br />
des ISF '191. die im Artikel<br />
H Vom Elend der Ideologiekri.<br />
tik . Wie durch theoretische<br />
Überheblichkeit Diskussion<br />
verhindert wird " von eCKE<br />
vorgebrachten Einwände.<br />
Unserer Einschätzung nach ist davon auszugehen, daß für Teile<br />
der Linken, vo r all em in der jetzigen und j Ungsten Generation,<br />
ents prechende Vergleiche weniger über Schuldmechanismen<br />
bezügli ch der Naz i-Vergangenheit, sondel'l1 eher über di e durch<br />
d ie Ticket-Mcntal ität produzierte Tndifferenz zu Antisemitismus<br />
zu erklären s ind. Die psychologisierendcn ErklUrungs lTIu ster<br />
mögen auf einzelne Subj ekte und soziale Gru ppen (auch innerhalb<br />
der Linken) durchaus Anwendung find en können. Doch halten wir<br />
es nach wie vor für geboten, zwischen politi schen Bewegungen<br />
und ihren Subj ekt en zu unterscheide n. Es kann durchaus sein,<br />
duß ein zeln e di eser Subjekte latent anti scmiti sch motivieL'I sind,<br />
doch fUr di e Beurteilung einer Anfälligkeit der Theorie politi scher<br />
Bewegungen denselben gege nUber bcsagen diese psychologis ierenden<br />
Deutungen wenig lind dafür, wie derlei Te ndenzen im Verhäl<br />
tn is von Theori e und Praxis entgegengewirkt werden kann, gar<br />
ni chts.<br />
Projektionitis<br />
und Ableitungs-<br />
126<br />
marxisten<br />
Die notwendige Krit ik an denjeni gen Linken, di e<br />
aufgrund ih rer verkürzten Positionen di e rndifferenz<br />
gegenüber dem Antisemitismus beförd erten,<br />
kehrte s ich aber mit dem Konstrukt einer Schuldkompensation<br />
lind -projektion in das Gegenteil ihrer behaupteten aufklärenden<br />
Stoßri chLung um . Hi er ist vo r allem di e s ich um ßlW HN (1988, 39)<br />
gruppierende F'reiburger »Initiative Sozial isti sches Forum« (ISF)<br />
zu erwähne n, di e di e Schärfe des Antiselllili smus-Vorwurfs im<br />
Kri egstreiberdiskurs an die Linke schon Ende der 80er Jahre vorwegnahm<br />
. Sie versucht, Hassismus lind Antisemiti smu s aus der<br />
Verfaßtheit des bürgerlichen Subj ekts in der kapitali sierten nationa<br />
len Gesell schaft über die Marxsche Wertformanalyse »abzuleiten.<br />
« Um in ei ner neodogmatischeIl Weise (ä hnli ch dem Vorgehen<br />
der Marxistischen Gruppe) vermittels der » F'etischismus«-Theorie<br />
und unter Zuhilfenahme von Arbeiten POSTONES (u .a. 1991) besagte<br />
»Ableitung« des Ant isemiti smus vornehmen zu können, versehen<br />
sie jegliches bürgerliches Subj ekt mit ei nem notwendig falschen<br />
Bew ußtsein, um zwingend zu den oben beschriebenen<br />
proj ekti ven Ausprägungen eines (latenten) Anti semitismus<br />
zu gelangen. 62 Di esem reduktionis ti schcn Ansatz
ehen Standard beispiele einen " Gesa.rlJ,lantiimperiaÜst(en)" (JOWE,<br />
114). um in maßlos uberzogener Weise zu behaupten: " <strong>Der</strong> AnLi<br />
ImperiaÜsmu,s vollzieht mit der PLO als ProjektionsjZuche seiner<br />
eigenen Begeisterung für Volk und I-1eil1wt nur nach. was ihm die<br />
bürgerliche Friedensbe'wegung am Beispiel Pershing vorexerzierte.<br />
Hier darf m.(Ut. wieder vom Volk reden und som.it endlich ztun<br />
Eigentlichen kom.men" (nnUIlN 1988,41). Gewiß ve rs lehen sich viele<br />
»Palästin a-SolidariUits-Ko milees« als Sprachrohr der PLO lind<br />
ve rgessen hierüber jegliche Differenz zw ischem bundesrepublikani<br />
schen lind palästin ens ischen VerhülL ni ssen. Doch ist diese<br />
Imli lTerenz noch kein Indiz für di e von BH UllN suggcl'iCrlc »ß llI l«und<br />
»Bodcll «- l'deologie, sondern höchstens für d ie latente Gefa hr<br />
einer Vereinnahmung durch solcherl ei moti vierte po li tische Interessen.<br />
Ober den Gewillerwolken des Antisemi ti smus wührencl seines<br />
theoretischen »Höhenflugs« angelangt, hat OHUIIN schließli ch<br />
nicht nur den Boden unter den Füßen, sondern jegli chen ß lickkontakt<br />
zu den realen Verhält nissen verloren und weiß nun. "daß<br />
es dieser Sorte von 'Antifaschismus' überhaupt nicht wn Solidarität<br />
mit den Pallistinellsern geht. Ihr Kampf ist den Antizionisten bloßer<br />
Vorwand und bloße Gelegenheit zur Propaganda. Darwn geht es<br />
auch nicht /Un. die aktuelle Lage in Paliistina oder wn die<br />
Geschichte des jetzt eskalierenden Konfliktes, sondern tun die Ideologiekritik<br />
dessen. was deutsch gcwordene Linke in diesen Kam.pf<br />
und in diesen Konflikt hineinprojizieren" (chd., 40). Ist einmal d iese<br />
spekula ti ve Ebene der Moti vfo l'schung erreicht, sind VO I' dem Hintergrund<br />
der Schwäc hen und rndifferenzen eines auf nationale<br />
Befreiungsbewegungen sich hauptsächlich stUtzenden Antiimperial<br />
isllllls schnell Anti semiten, in di esem Falle »Antizionislen«,<br />
lIIit ein em abgeschlossenen Weltbild konstruiert. Hi erzu kann er<br />
sich ex tremer Beispiele bedienen, die s ich wegen der weilverbreileIen<br />
»Tickct«-Menlalität und trotz vielfacher Indifferenz gegenüber<br />
Anli semi ti smen a ls »linke« Politik auszugeben verlllochten.<br />
Hi erfür nimm t Cl' jegl iche Form anliimperialisti scher Polit ik in<br />
Sippenhaft und beginnt oh ne viel Federl esens die Identität vo n<br />
Antizion ismus und Antisemit ismus zu konstrui eren. Bei einem<br />
derarti gem Vorgehen läßt s ich kau m der Eindruck ve rmeiden,<br />
.. daß die A ufarbeitung des linken Antisemit.isnws in Form von (auch<br />
129
130<br />
noch schlecht inszenierter) Denunziation wul unreflektiertem Anti<br />
An.tizionismus zu einer Modeerscheinung verkommen ist, wofür das<br />
Thema aLLerdings zu wichtig ist!" (AK 34 1, 8.4. <strong>1992</strong>, 34).<br />
Mi t der fü r ßIW HN und seine Anhilngerlnnen aus der ISF typische<br />
n Mischung a us Hal bwa hrheiten und a historischen Reduktioni<br />
sme n sowie unte r der von ihne n spekulativ angenommenen und<br />
imme r wieder pauschal behaupteten IdentiHit von An ti -Zjoni smus<br />
und Anti semiti smus versuche n sie d ie wohl auch von ihnen gesehene<br />
Indifferenz als eine »subjektivistische« Kategori e zu de nunzie<br />
re n: "Nach der Seite der Gesellschaft hin betrachtet sind<br />
Antisem,itismus und AntizionisTnus ideologiekrüisch nur zu brechen<br />
wul praktisch zu krüisieren, wenn der geseLLschaftliche Gehalt der<br />
antisem,itisch-antizionistischen Agitation nicht subjekl.ivistisch<br />
reduziert und durch die 'gute Absicht' entschuldigt oeLer relativiert<br />
wird. Nur Einzelpersonen gegenüber kann - privat - angenommen<br />
werden, daß nicht das ge,neintwurde, was zum Ausdruck kwn, mag<br />
es auch widerlich genug sein; dem Agitator dagegen muß, als<br />
öffentlicher Person, das Gesagte als wirklich Ge,neintes au! den<br />
Kopf zugesagt werden" (ISr, 39). Abgesehen davon, daß hi erbei<br />
Indiffe re nz zu und Ide ntität mit hegemoni alem Anti semit ismus<br />
unzulHssigerweise in e inen Topf geworfe n werden, bleibt die<br />
Frage, welche Im pli kationen das anscheine nd de rzeit in Freiburg<br />
tagende hohe Gericht des »Gemei nte n« mit di eser de n notwendigen<br />
Kampf gegen anti semitische Ste reotype n instrumentali siere nde<br />
n Verfahre nsweise selbst produzie rt. Di e ISF-Pos iti on nimmt<br />
bewußt in Kuuf, daß sie mit ihrer "offensiven Tabuisiewng von Kritik,<br />
der vollständigen Verselbsländigung des An.tisemitismus- Vorwurfs"<br />
(K INC/CÖRC/SCHA RPINC, 35) das Wort rede n. Ob damit dem<br />
Antisemitis mus tatsächli ch beizukommen ist, steht dann doch in<br />
Zweifel.<br />
Wir de nke n aber, daß es ihnen darum a uch gar ni cht gehl.<br />
Vielme hr steht bei ihnen d ie Pfl ege der eigenen Sache, nämlich<br />
des »negativen Nationalismus« im Mittelpunkt: Im Garten »Haute<br />
Culture« hegen sie das Pflänzchen »A ntinationaler Dis kurs«<br />
(s. lI.), der Hest wird als anti semitisches »U nkra ut « nach dem<br />
Motto »Besser zuviel als zu we nig( gerupft und sogleich ist eine<br />
- paradoxererweise typisch deutsche - Rei nstkultur angelegt. Ei ne<br />
Kritik an linker Indi fferenz und die hieraus mögliche ß eförderung
gesamtgescJlschaftJi che l' anti semiti scher Tendenzen ist nötiger<br />
denn je. Doch vc rfe hlt sie ihre Aufgabe, wenn sie in ihrer Konkretion<br />
leichtfertig pauschalisierend und damit gleichmachend analog<br />
dem ))Ti cket«-Denken in um kehrter Form der Linken<br />
ubergestülpt wi rd. Da "man durchaus eine afttizionistische Politik<br />
betreibe" (kann), die nicht mit der unter der bundesdeutschen Linken<br />
weit verbreiteten I.ie! em.otionellen Abwehr gegenüber dem IVo rt<br />
Zionismu.s behaftet ist" (POSTONE <strong>1992</strong>), bleibt, wie nun zu zeigen ist,<br />
von der zu En de gedachten puristischen Frciburger ISF-Position<br />
kuu m mehr übrig Il.ls das sum pfige Terrain fUr di e Zwischenlandung<br />
beim »negativcn Nationali smus«.<br />
Als Wu nderwaffe gcgen deutschen Antisemitismus und seine<br />
angebli ch antiimperiali stische Fraktion setzt die (SF auf eine pseudo-antinationale<br />
Politik, die sich gegen jegliche Form von staatli <br />
cher Vergesellschaftung richtet. Doch damit nähern sie sich den<br />
Positionen. die di e Existenz des Staates Israel gerade deswegen<br />
nicht anerkennen wo llen, wei l sie jegliches staatliches Existenzrecht<br />
als Zumutung begreifen. Das auch von ihnen in der jetzigen<br />
staatlichen und nationalen Verfaßtheit der Welt als unabdingbar<br />
angesehene Ex istenzrecht Israels zieht fUr die anderen Dimensionen<br />
ihrer »antinationalen« Kri ti k einige theoretische Probleme<br />
nach s ich. Denn wenn jegli che staatliche Form vo n Na tion<br />
grundsätzlich negativ stigmatisiert und jeder Staal als destruktiollswOrdig<br />
befunden wird, so gilt dies auch für Israel. Es entsteht<br />
somit die Gefahr der Indiffe renz den aus anti semitischen Motiven<br />
gespeisten Angriffen auf Israel gegenüber. Diese läßt sich nur aufheben,<br />
wenn entweder di e ri gorose Form der »ant i-nationalen Kritik<br />
« fallen gelassen, das heißt ei ne qualitative Nivellierung der Kriti<br />
k an Staat und Nation vorgenommen wird oder: Es muß die qualitati<br />
ve Verschiedenhei t des Staates Is rael aus derTheori e selbst hervorgehen.<br />
Letzteren Ansatz verfo lgen in einer stereotypen Form vor<br />
allem UR UHN und di e ISF: " <strong>Der</strong> Nationalstaat 'widerspricht der Idee<br />
der lreien A.ssoziation' (Kant) prinzipiell - aber nnter den Nat.ionalstaaten<br />
ist Israel der einzige nach Lage der Dinge und dem Zustand<br />
der Geschichte verniLnftige: ein Widerspruch. der ( .. .) 'ausgehalten'<br />
werden muß" (UIWHN 1991a, 135) . Die E inzigartigkeit der Verschiedenheit<br />
Israels von anderen Staaten defini eren sie Uber die historische<br />
Si ngularität von Auschwit z. In ei ner solch zugespitzen Form<br />
131
132<br />
erscheinen Auschwitz und Israel als die Kehrsei ten ein und derselben<br />
Medaille: Das Existenzrecht Israels wird fäl schlicherweise<br />
(s.o.) ausschl ießlich aus Auschwitz abgeleitet. In di eser Verkiirzung<br />
erscheint Israel als zu einem unfaßbaren Punkt oh ne innere<br />
Differenzierung auf der Landkarte der gesellschaftli chen Strukturen<br />
zusammengezogen. Israel als alleiniges Resultat von Auschwitz<br />
verliert seine inneren Widersprüche und kann infolgedessen aus<br />
der Ferne nur über eine Identifikation VOll Gesellschafl mit Staat<br />
begriffen werden. Insbesondere müssen "die Ju.den als ethnische<br />
und kulturelle Gemeinschaft mit einern Staatsapparat identifiziert<br />
(werden), der nichts weiter als die ju,risf,ische Form, der Herrschaft<br />
eines Teils der Gesellschaft über den anderen und gleichzeitig der<br />
Verteidigung von ganz bestimmten SonderinLeressen gegel/.liber<br />
anderen Sonderinteressen anderer Staaten" (CEOFFHO Y) ist. Aus der<br />
BHuuNsc hen Sichtweise zieht somit jede Kritik an der Polilik des<br />
Staates Jsrael gleichsam ei nen allumfassenden Angriff auf die jüdische<br />
Identität der israelischen Gesellschaft nach sich.<br />
Durch diese sterotype Verkilrzung des Zusammenhangs von<br />
Auschwitz und Israel ilber ihren Anti-Antizioni smus produzieren<br />
ßH UHN und di e ISF di e ihnen eigene Indifferenz gegenüber dem<br />
Philosemitismus. Sie redu7.ieren auf di ese Weise die Mögli chkeit<br />
einer Kritik an israelischer Politik auf ein " Dtirnonisieren" oder<br />
"Anhimmeln" (ßIlUHN 199 1a, 135) . Damit produzieren sie selbst die<br />
stereotypen d.ichotomen Raster, um sie später der Linken vorwerfen<br />
zu können: Philosernitismus oder Anti semitismu s. Und um<br />
gegell lelzteren anzugehen, bl eibt in der Freiburger }} Paralogik«<br />
auch ihnen selbst nur di e philosemitische Alternative. Während<br />
des Go lfkrieges brachten s ie es folgendermaßen auf den Punkt:<br />
" Die Interessen der USA und ihrer Verbündeten mögel1 daher so<br />
imperialistisch sein, wie sie es auf jeden Fall sind - solange ",nd<br />
insoweit diese Interessen die Verteidigung gegen Angriffe mit deutsehern<br />
Giftgas beileul.en, stehen sie außerhalb jeder Kritik ( .. .). Daß<br />
die Forderung nach Sicherheit /ar Israel w ut die nach sofortiger<br />
Beendigung des Krieges sich ausschließen, ist so skandalös wie<br />
wahr. Solang diese Alternative nicht alljhörl, ist es obzön, das Wort<br />
Frieden in den Mund zu nehmen" (cbd., 136) . We r derartigen zwa nghaft<br />
en Verkürzungen und stereotypen Verzerrungen widersprach,
136<br />
(latent en) Antisemiti smen wie der Philosemiti slllUs, beide jeweils<br />
auf ihre Art, darum bemüht, eille "Entsorgu,ng der Vergange1lheit"<br />
von de n Nazigre ueln vorzunehmen. Auch der Philosernitisl1lus<br />
beruht a uf dem Motiv eine r Rehabilitierung des de utschen Na tionalis<br />
mus. Er zielt auf ein politisches Klima, das d iesen neu und<br />
posi ti v rekonstruieren soll. Wie das restaurati ve Inte resse sowie die<br />
bundesdeutsche Wes tintegrati on wesentli che Antrieuslllomente des<br />
Philosemitismus s ind , zeigen zahlreiche historische Beispiele gerade<br />
a uch in Bezug auf dns bundesrepublikanisch-israelische Verlütltnis.<br />
Vor dem Hinte rgru nd de r »HaJlstein «-Doktrin (1955) ist<br />
daran zu erinnern , daß die diplomatische Anerkennung Israels seite<br />
ns de r ßundesrepublik durchaus keine SeJbslve rsHtndli chkeit<br />
war. Um eine inte rnatio nale Isoli erung der DDR zu e rreichen, sah<br />
di ese Doktrin vor, diplomatische Beziehungen mit denjenigen Staatcn<br />
(nußer dcr UdSSR) für den Fa ll abzu brechen, daß di ese die<br />
DDR anerkenne n sollte n. Als Nasser 1956 in di esem Zusamme nhang<br />
drohte, einen s ich anbahnenden Botscha fl e rausta usch zwische<br />
n de r Bundesre publik und Israel mit de r Anerkenllung der<br />
DDR zu beantworten, erteilte die ßundesre publik de r israe lische n<br />
Regierung kurzerhand eine »A bfuhr«. Hi ervon unbe rührt fand weiterhin<br />
eine waffenlechnologische Zusammenarbeit zwischen israel<br />
und der ßundesrepublik statt. Innen- und a ußenpolitisch dienten<br />
di e» Wi ede rgulmachungs«-Zahlungen an Israel stets auch der Entled<br />
igung einer mit Ko nseque nzen verbunde ne n » A ufarbei tu ng« de r<br />
nazi-deut sche n Ve rga ngenhe it , um , davon befrei t, das politische<br />
Proj ekt der Ad enauer-Restauralion voran treibe n zu könllen. Di e<br />
ni chtjOdi schen Opfe r (z.B. die Sinti und Roma) des Nazi- Faschismus<br />
kümpfe n demgegenü ber bis heute um ihre Re habilitati on. Insbesondere<br />
geri et über di e hauptsächli ch monetäre }>Entsorgung«<br />
der Nazivergangenheit die notwendige grundlegende Auseinandersetzu<br />
ng mit der Naziideologie ins I-lintertreffe n. So bli eben bei<br />
einem sich schleichend auf der Ebene der zwischenstaatliche n<br />
Beziehungen e ntwickelnden Phi losemiti slllus gleichzeit ig antisemitische<br />
und rassistische Fragmente konstitutiere nde Bestandteile<br />
der bunclesdeutschen politische n Kultur.<br />
Schritt fUr Schritt wurde di e Epoche de r Entkoloni alisierung<br />
im Nahe n Oste n wä hre nd des kalle n Krieges dem ste reotype n<br />
Muster des Ost-West-Konfliktes unterworfe n: » Freier Weste n«
ve rsus »Bedrohender Kommunismus«. [srael ge ri et zum Stell vertreter<br />
westlicher Interessen. Die arabische Welt erfuhr somit Israel<br />
als einen im Na hen Osten li egenden geostrategischen und<br />
kulturellen Vorposten des <strong>Westen</strong>s. War der Antikommunismus bis<br />
vo r weni ge n Jahren noch ein tragfähi ger, die Okzidentale Ideologie<br />
verhüllender Resonanzboden fü r Antiarabismen, so treten<br />
diese heute nach dem Ende des Ost-\Vest-Konflikts wieder augenscheinlicher<br />
und ve rschärfter zutage. Denn "der Nahost-Konflikt<br />
ist. nicht das Produkt des systembedingten Ost-West-Gegensatzes.<br />
(. .. ) Er ist zn einem. SYlltbol des okzidental-orientierten Ost- 1Vest<br />
Gegensatzes, zn einern Symbol des Konflikts zwischen der westlichen<br />
nlld der islamischen Welt geworden" (MASSAHltAT 1991, 14). Diesen<br />
Zusammenhang hervorzuheben, entspricht auch den Interessen<br />
der herrschenden israelischen Politik. In offenster Weise demonstriert<br />
das der Leiter der Forschungsabteil ung des Diaspora<br />
Museums in Tel Aviv, wenn er im allgemeinen »Kulturkrieg gegen<br />
die Araber« di e Bedeutung Israels »als Speerspitze des <strong>Westen</strong>s«<br />
betont. So sinnen di ese seit ihrer Vertreibung aus Europa durch<br />
Kreuzzüge und Inqui sition im 8. Jahrhundert nach Rache, lind<br />
dafür müsse der <strong>Westen</strong> endli ch die Augen öffn en (1.it. 11 . KOULE n, 16).<br />
Die Reichweite der Okzidentalen Ideologie steckt ein intellektueller<br />
Kopf wie J. AME ilY ab, dessen Befürchtung, die USA könnten<br />
sich einmal von Israel. abwenden, die Araber in einem Bild als<br />
menschenfressende Kannibalen konstruierte: "Wer garantiert, daß<br />
nicht einmal eine Regieru.ng der Vereinigten Staaten zum großen<br />
Versöhnungsjest den l uden dem Neger zum fraß hinwirft?"<br />
Bisher vermochte der alles überlagernde Ost-West-Konflikt<br />
diese der Okzidentalen Ideologie entspringenden Moti ve für di e<br />
Solidarität mit Israel in den Hintergrund drängen. Doch ganz ver·<br />
decken ließen sie sich nie. Die aggressive Politik Israels erweckte<br />
zu m Beispiel spätestens seit dem dritten Krieg von 1967 bundesdeutsche<br />
Sympathien, die sich vor allem in einer euphorischen<br />
Berichterstattung uber die militärischen Erfolge Israels in der bürgerli<br />
chen Presse äußerten: "Nicht die Erkenntnis der Menschlichkeit<br />
der i nden, sondern die Härte ihrer Kriegsjührnng, nicht die<br />
Anerkennung ihrer Rechte als Mitbürger, sondern die Anwendung<br />
von Napalm, nicht die Einsicht in die eigenen Verbrechen, sondern<br />
der israelische Blitzkrieg, die Solidarisierung mit der Brutalilttt,<br />
137
138<br />
der Vertreibung, der Eroberung, jührte zu fragwürdiger Versöhnung"<br />
(MEINHOF, 61).<br />
Die gemeinsamen Interessen Israels und der Bundesrepublik<br />
konnten nie darüber hinwegtäuschen, daß es hi erzulande weiterhin<br />
anti semiti sche Ressentiments und Ausschrei tungen gab, die immer<br />
dann auf der Tagesordnung standen, wenn es um » \Viedergutmachung«,<br />
die Verjährung von Naziverbrechen oder jüdische Kritik an<br />
nazistischen Kontinuitälen der Bundesrepublik ging (vgl. ELSÄSSEH<br />
1991a,28). <strong>Der</strong> Philosemitismus ve rnebelte allerdings die Antisemiti <br />
schen Tendenzen und legitimierte gleichzeitig über seine Instrumentalisierung<br />
der Nazivergangenheit anti arabische Segmente.<br />
Bundesrepublikani scher Philosemitismus heißt in der Mehrzahl<br />
der Fälle nicht direkte und solidarische Verbundenheit mit jüdischen<br />
Menschen in Israel, sondern ei n schilJ erndes Wechselspiel<br />
von Antiarabismen und Anlisemitismen. Je nach aktueller Interessenlage<br />
lag das argumentati ve Schwergewicht auf ersterem oder<br />
letzterem. Vor dem Hintergrund der Okzidentalen Ideologie<br />
erscheint im Mittleren Oslen momentan der Philosemitismus im<br />
Gewande des Anliarabismus, ohne daß hi erbei Anti semitismen<br />
ausgeschlossen werden können: "Wenn der Araber daher genügend<br />
RalUn jür die Aufmerksamkeit hergibt, geschieht es als negativer<br />
Wert. Er wird als derjenige gesehen. der die Existenz Israels oder des<br />
<strong>Westen</strong>s stört. oder in einer anderen Sichtweise desselben, als ein<br />
übel1vindbares Hindernisjür die Gründung Israels im Jahre 1948.<br />
Insofern diese Araber irgendeine Geschichte besitzen, ist. sie ein Teil<br />
der ihnen durch die orientalische Traditi.on wul spiiter zionist.ische<br />
Tradition gegebenen Geschichte. (. .. ) So wird der Araber heule als ein<br />
Schatten verstanden, der die Juden bedrängt. In diesem Schatten <br />
weil Araber und Juden orientalische Semiten sind - kann alles, was<br />
auch imm.er traditionelles, latentes Mißtrauen bei den Bewohnern<br />
des lflestens gegenüber dem Orientalen erregt, plaziert werden. Denn<br />
der Jude aus dem Europa vor der Nazizeit hat sich gespalten: was wir<br />
nun besitzen, ist ein jüdischer Held (.,,) und seinen schleichenden,<br />
mysteriös furchtsamen Schatten, den arabischen Orientalen. Von<br />
allen isoliert., außer von seiner Velgangenheit, die durch eine orientalische<br />
Polemik jür ihn geschaffen wurde, ist der Araber an sein<br />
Schicksal gebunden, das ihn fixiert und zu einer Reihe von Reaktionen<br />
verdammt, die periodisch durch das gezüclu.igt werden, /ar das
Barbara Tuchmann den theologischen Namen 'Israels fürchterlich<br />
schnelles Schwert ' gegeben hat" (5/\ 10 1981b, 321 f.). Für den bürge rlichhegemonialen<br />
Philoscmitismus bietct der •• Schatten des Orientalen«<br />
den negativen Wertmaßstab, mit Hilfe dessen er eine positive<br />
Ausstrahlung des »Philosemitismus« erschwindelt und Differenz<br />
zum An tisemitismus vorgi bt (vgl. a. ELSÄSSE H 1991n, 28) . In dem Maße,<br />
wie das bundesdeutsche Verhältni s zu Israel durch ein Wec hselspi<br />
el von Hassismen und An li sernitisrnen, wovon Philosemitismus<br />
ein möglicher Ausdruck ist, bestimmt wird, dient eine proklamierte<br />
Solidarität mit Israel ni cht jüdischen Menschen, sondern<br />
schreibt in Form und Inhalt letl tlich ihre Ausgrcnzu ng in der hiesigen<br />
Gesellschaft fes t.<br />
Analog zu den Indifferenzen gegenüber Antisemitismen innerhalb<br />
der radikalen Link en machte sich unter manchen seiner linken<br />
Kritiker eine Spielart vo n Philosemitismus als Pendant breit.<br />
<strong>Der</strong> Einbruch des Philosemitismus auf der einen und die wachsende<br />
Indifferenz gegenüber Antisemiti smen auf der anderen Se ite<br />
zeit igte fatale Konsequenze n. So wurde die stereotype proarabische<br />
Agitation VO ll Teilen der Linken seit den 70er Jahren von<br />
ei ner linken Kritik begleitet, die zwischen proisraeli schen und<br />
antiarabischen Facetten oszillierte. Aufgrund des verstärkt offenen<br />
Dissenses in den SOer l ahren und der Eskalation der israelischen<br />
Repression gegen die Palästinenser konnte di ese Kritik sich<br />
immer wen iger der gesamtgesell schaftlichen anti arabischen Ressentiments<br />
erwehren und erlag schli eßlich ihrer Indifferenz gegenüber<br />
dem burgerli chen Philosemitismus. Vermochte di e Linke sich<br />
bi s Ende der 60er l ahre noch wirksam vom Philosemitis mus der<br />
reaktionären po li ti schen Klassen in der Bundesrepublik abzugrenzen,<br />
so erga b sich im Laufe der Zeit und durch di e Wirkung von<br />
lndifferenzen gegenüber Antisemitismen in Fri edensbewegung,<br />
An tiimperiali smus und Antifaschismus eine zunehmende Vel'wischung<br />
der Unterschi ede zwischen »linker« und »rechter« Positionen<br />
im gesamten Feld des lsrael-Palästina-Konflikts.<br />
Philosemitismus diente in diesem Kontext im allgemeinen jedoch<br />
weniger einem »deutschen Interesse«, sondern vielmehr der<br />
Abgrenzung eigener Positionen in innerlinken Mach t- lind<br />
Schaukämpfen: "Daß das 'Existenzrecht Israels' mit dem Verdikt<br />
gegen jede kritische Differenzierung zum moralischen Falschgeld<br />
139
140<br />
im ideologischen Kampf umgemünzt wurde und schließlich alle diejenigen<br />
dem Antisemitismusverdacht anheimfielen, die sich dem<br />
nicht fügen wollten, bedeutete die schlichte Umkehr c1I."allzipatorischer<br />
Kritik. Diese SelbstzerstiJrung der Kritik war freilich schofl<br />
darin angelegt, daß AntisemitisfnlLs schon lUnger immer mehr zu<br />
eiTlem bloß noch ideologischen, von materialer Gesellschaftlichkeit,<br />
Herrschaft und Ausbeutung abgehobenen Begriff verdünnt wurde"<br />
(I-IIHSC H 1991b, 36).<br />
Die Indifferenz wie der Philosemiti smu s der Linken führte zu<br />
einem lähmenden gegenseitigen Schlagabtausch vo n Antisemiti smus-<br />
lind Phi losemiti smusvorwürfen und reali ter zu Positionen,<br />
di e beiderl ei Tendenzen beförderten, und die ni cht jene einer<br />
umfassend emanzipatorischen Bewegung sein können. Die bUIldesdeutsche<br />
Rezeption des Palästina-Isracl-Konflikts in den letzten<br />
zwei Jahrzehntcn macht deutlich, wie schwierig es für die<br />
Linke ist, in politischer Theorie und Praxis weder Indifferenz<br />
gegenüber einem nachfaschistischen Antisemitismus noch gegenüber<br />
herrschenden Rassismen zu produzieren. Die anlizionistisehen<br />
wie die antiarabistischen bzw. philosemitischen Linken<br />
nahmen und nehmen den Palästina-lsrael-Konnikt oftmals nur als<br />
Vorwand zur I"orcierung des jewe ils eigenen Steckenpferdes. Verstärkt<br />
wurde dieses Problem durch die auf »Ti cket«- Mentalität<br />
beru henden Grabenkämpfe innerhalb der Linken, d ie mitunter die<br />
ernste Thematik zu m eigenen »show-business-as-usual« instrumentali<br />
sierten. Darüber verlor linke Poli tik ihr Hauptanli egen, die<br />
Ve ränderung gesellschaftl icher Zustände, d ie Rassismen und<br />
Antisemitismen hervorbringen und befördern, weitgehend aus den<br />
Augen.<br />
Das sollte die günstigsten Voraussetzungen fUr den Erfolg des<br />
Kri egstreiberdis kurses abgeben :"In der problematischen Stellung<br />
vieler Deutscher, auch nicht weniger Linker, ZU.t1l real existierenden<br />
Staat Israel schlägt erstens der anau/gearbeitete Antisemitismus in<br />
einen Rassismus mit positivem Vorzeichen um, der nahezu jedes<br />
Menschenrechtsverbrechefl, wenn es nur israelisch ist, duldet,<br />
manchmal auch gutheißt. Zweitens klinkt sich ein komplemenULres<br />
NiclH-Anerkennen von Menschenwürde und Selbstbestünmungsrecht<br />
der Palästinenser ein in das antiarabische Segment des allgemeinen<br />
bundesdeutschen und westlichen Feindbildsyndroms, worin im
I Die falschen<br />
»Freunde<br />
142<br />
Israels«<br />
"Mir ging es jedoch darum., zu sa,gen, daß es Israel<br />
selbst ist, das ohne Not den /laß des ganzen arabischen<br />
Volkes provoziert, darum. nie Frieclenfindet,<br />
l"'tel eines Tages, wenn es diesen Kurs beibehält, luuergehen wird.<br />
Das ist sclunerzlich. Darum. hasse ich alle die vermeintlichen Freunde<br />
Israels, 'welche die Vernichtung näherbringen" (J. SUI-IL <strong>1992</strong>b,21).<br />
Das Wesentliche zum Israel-Palästi na-Konflikt war in all en politischen<br />
Bereichen der Linken schon Ende der 80er Jahre gesagt,<br />
die Stellungen bezogen, die eigen tli chen Ziele der Linken dabei<br />
all erdings vielerorts außer Sicht geraten. Mit dem Beginn des<br />
zweiten Golfkriegs wurde der festgefahren e Dissens in zeitgeraff<br />
M<br />
ter Form und in seinen verschiedensten Facetlen im Kriegstreiber<br />
di skurs noch einmal goutiert. Di e gängige politische Praxis wußte<br />
einem Härtetest wie dem Golfk rieg allerd ings nichts entgegenzusetzen.<br />
Dadurch gelang es dem Kriegstreiberdiskurs, nicht nur den<br />
M moralischen Impetus ei ner in der I"riedens und AnLikriegsbewegung<br />
verbreiteten antifaschistischen Grundhaltung gegen diese<br />
selbst zu richten, sondern er bewirkte auch noch die vollständige<br />
Lahml egung der kritisch-oppositionell en Kräfte der bundesdeulsehen<br />
Gesellschaft. Hierzu bediente er sich der in einige n Städten<br />
geb ildeten Kreise der »Freunde Israels« . Di ese wiesen ZUIll einen<br />
auf die Ungeheuerlichkeit bundesdeutscher Ri.lstungsex porle hin,<br />
zum anderen aber selzten sie die heutige Situation lsraels mit der<br />
Bedrohung durch die Nazis gleich und bezichtigten a ll jene des<br />
M<br />
Anti semiti smus, di e nicht in die Marschmus ik des Krieges eill<br />
sti mmen wollten. Hier schaffte der Kri egstreiberdiskurs den<br />
Durchbruch. Er vermochte di e »Historische Verantwortung« zur<br />
Rechtfertigung der Bombardierung des Irak biw. zur Niederschlagung<br />
der palästinensischen Intifada zu instl'umenLalisieren. Die<br />
Opfer können das selbst nicht mehl' zurückweisen: "Meine Mutter<br />
ist nicht ins Gas von Allschwitz-Birkerutlt gegangen. damit ein. Scha.mir<br />
hellte seine Rechtspolitik mit ihrem Tode rechtfertigen kann. Meine<br />
Großmutter hat mit über 70 Jahren nicht ihren Koffer gepackt, um<br />
nach 71l.eresienstadt zufahren und nicht wiederzukommen, damit sie<br />
heute 'verwertet' werden kann/lir die Kumpanei deutscher imperialistischer<br />
Politiker mit der aggressiven Politik Israels. Meine Tante
Institutionen antisemitische Auswüchse in der ßundesrepublik kriti<br />
sieren. Neu daran wa r der GleichschriLt von bisher kritischen<br />
Intellektuellen, Wissenschaftlern und den deutschnationalen Protagoni<br />
sten des Rassismus.<br />
In diesem konkreten Fall finden sich vo r dem Hintergrund der<br />
ausgeprägten Okzidentalen Ideologie selbst in der Empörung über<br />
»deutsches Giftgas« Spuren jenes· Rassismus, den der Einsatz von<br />
Giftgas in Auschwitz mit zur Voraussetzung hatte. Ri chti g ist:<br />
»<strong>Der</strong> Tod ist ein Meister aus Deutschland «, und di e Meisterdenker,<br />
Meisterphysiker gehören mit zu dieser deutschen Misere, die<br />
sich aber offensichtlich ni cht nur auf die Krämerseelen der Meisterexporteure<br />
reduzieren läßt. Ungeheuerlich ist es jedoch, so zu<br />
tun, als ob nur Giftgas, das Israelis bedroht, verbrecherisch sei.<br />
<strong>Der</strong> Rassismus unserer »Freunde Israels« besteht darin, daß der<br />
Giftgaseinsatz gegen Iraner und Kurden seitens des Irak sowie<br />
auch seine Billigung gegenüber der irakischen Zivilbevölkerung<br />
bei der Zerstörung entsprechender Produktionsstätten durch alliierte<br />
Bomber im Golfkrieg kein Thema war. Tn ei ner solchen Frage<br />
kann sich ni emand auf ei ne besondere »Historische Verantwortung«<br />
hinausreden. In einer irn ... itzigen Simplizität wurde von den<br />
»Freunden Israels« eingefordert, für die gar ni cht gefährdete Existenz<br />
Is raels unter der Prämisse des Massakers an den Irakis einzutreten.<br />
Die dahinter steckende Logik der \Vahl zwischen zwei<br />
I)Ü beln « bringt ABENDT auf den Punkt: " Wenn man mit zwei Obeln<br />
konfrontiert wurde, so lautete das Argument. dann sei man verpflichtet,<br />
das kleinere von beiden zu wählen, wohingegen es unverantwortlich<br />
sei, die Wahl rundweg abzulehnen. ( ... ) Politisch<br />
betrachtet bestand die Schwäche des ( .. .) Arguments schon immer<br />
darin, daß diejenigen, die das 'kleinere Obel' wählen, rasch vergessen,<br />
daß sie sichfil,r ein Übel entscheiden" (ARENDT 1964.26 f.).<br />
Das dem Lamento fo lgende jetzige Schweigen der »Freunde<br />
Israels« in Bezug auf di e Auswirkungen des Golfkrieges ist eine<br />
Bestätigung für ihr Vergessen. Unter Beobachtung des »<strong>freie</strong>n<br />
<strong>Westen</strong>s« und mit tatkräftiger Hilfe der turkischen Regierung ging<br />
und geht die Halz gegen Kurden weiter und hat im März <strong>1992</strong> mit<br />
bürgerkriegsähnlichen Zuständen und dem Einsatz von Waffen aus<br />
dem bundesdeutschen Ausverkauf ehemaliger NVA-Arsenale<br />
einen weiteren Höhepunkt gefunden. Di e politische Praxis zeigt<br />
145
146<br />
auf, in welcher Weise die von Bundeswirt sc haftsminister MöllelIlann<br />
angestrengten Modifikationen in Sachen RUstungsexport zu<br />
verstehen sind. Seit dem Ende des Golfkri eges ist aus den angekilndigten<br />
einschränkenden Geselzen gegen den »illegalen« Rüstungsexport<br />
noch immer nichts geworden (ElS ÄSS ER 1991 b, 10).<br />
Mittlerweile hat das Verteidigungsministerium Einsicht und<br />
zieht »legal« als »Händler des Todes« nach, um Zeugnis abzulegen,<br />
"wie die Kritik an den vergangenen l'laffenexporlen in den Irak<br />
instrumentalisiert worden ist/fir die Legitimierung der Reorganisation<br />
deutscher WafJenexporte in die Türkei, nach Israel usf"<br />
( I'HIELEN <strong>1992</strong>u, 13) . <strong>Der</strong> Nahe Osten ist im letzten Jahrzehnt zum<br />
Eldorado der Waffenexporteure geword en, an dem wi e zuvor alle<br />
verdienen wollen: "Sieben Jahre lang schürten alle miteinander<br />
das Kriegsfeuer. 53 Länder aus Ost und West schickten Waffen in<br />
das Kriegsgebiet, darunter 28 Länder gleichzeitig an beide Kriegsgegner.<br />
950 Milliarden Mark, die Sachschaden nicht mitgerechnet,<br />
mußten fran er und Irakis ausgeben, damit ihre Länder mit modernen<br />
Waffen in Schutt und Asche gelegt werden. (. .. ) Sieben Jahre<br />
lang wurde aber diesen Krieg nicht geschrieben, kaum jemand redete<br />
aber die Millionen Toten, Verletzten. VerstiLmmelten, Vertriebenen.<br />
Solange der Krieg sich im Zaum halten ließ. den Transport von<br />
Waren, Waffen und Öl nichts beeinträchtigte. schienen allen AlIßenstehenden<br />
die Folgen des Krieges ltnerheblich. Erst als der Krieg<br />
sich auf den Golf ausbreitete, wurde zum. Frieden geladen" (N IIW<br />
MAND). <strong>Der</strong> Frieden des ersten Golfkrieges zwischen Iran und lrak<br />
erscheint im Nachhinein nur wie eine Pause vor dem zweiten<br />
»chirurgisch sauberen« und mit ca. 50 Milliarden relativ »billigen«<br />
Waffengang des »Freien <strong>Westen</strong>s« , in dessen Augen mit den<br />
Völkerrechtsverletzungen des Irak und der Besetzung Kuwaits das<br />
»Zaumzeug « nunmehr gerissen schien. Die Produzenten der vorgefUhrten<br />
Waffensysteme haben Hochkonjunktur. In di eser Hinsicht<br />
hat sich im Nahen Osten nicht viel geändert, außer den<br />
Adressaten der \Vaffenlieferungen. <strong>Der</strong> Jahresberi cht "The Military<br />
Balance 1991-<strong>1992</strong>" des International Institute for Strategie<br />
Studies (IISS) belegt das (DAMJA NDV). Gegen wen sich dieses Verni<br />
chtungspotential in Zukunft richten wird, steht noch offen,<br />
Obwohl derartige Waffendeals offensichtlich zu den exogenen<br />
Parametern der Konfliktregion Miu.lerer Ostcn zu rechnen sind,
schweigen hi erzu unsere »Freunde Israels« nach wie vor hartnäcki<br />
g. Vermutlich sind sie mittl erweile selbst davon überzeugt,<br />
daß sie arbeitsteilig ihren Part zur Zufriedenh eit aller erfüllt<br />
haben.<br />
Ziehen wir die Bil anz dessen, was der Kriegstreiberdisku rs als<br />
die »Historische Verantwo rtung der Deutschen« ausgegeben hat,<br />
so degenerierte dari n di e Solidarität mit Israel zu einem<br />
Ablaßhandel. Es ist mehr als fraglich, ob das, was hier als ve rantwortliches<br />
Handeln propagiert wurde, tätsächli ch das Ergebnis<br />
eines Lernprozesses aus der deutschen Geschichte war. Vor dem<br />
Hintergrund anhaltender bundesdeutscher Ressentiments gegen<br />
Sinti und Roma, die bisher keine )) Wiedergutmachung« für di e<br />
Ausrottung von drei Vierteln ihrer Population während des Nazi<br />
Faschismus erhielten oder den fo rtgesetzten Versuchen, die deutsche<br />
Geschi chte von der Nazizeit zu »ent sorgen«, verstärkt sich<br />
die Befürchtung, daß es sich bei der bundesdeutschen Solidarität<br />
mit [srael gar nicht um eine Konsequenz aus Au schwitz handelte.<br />
Am Ende stellt sich vielleicht heraus, daß diese Solidarität mit<br />
Israel auch ni chts anderes war als das Ergebnis des anhaltenden<br />
Rassismus dieser Gesellschaft, den auch Auschwitz als eine Voraussetzung<br />
hatte. Das Mitgefühl für bedrohte Israelis galt nicht<br />
vo rrangig den entkommenen potentiellen Naziopfern , sondern war<br />
Ausdruck des Entsetzens .darübe r, daß Menschen »dritter Klasse«<br />
Menschen »erster Klasse« - und damit auch sie selbst - angreifen<br />
können. Die real zu Zehntausenden abgeschlachteten Irakis hingegen<br />
wußten kein vergleichbares MitgefUhl zu erwecken und<br />
interessierten nicht.<br />
147
I Dle )Historische<br />
Verantwortung«( Was heißt also heute »Historische Verantworund<br />
die Linken tung der Deutschen «? FUr die Linke gilt vorrangig,<br />
"Denken und Handeln so einzurichten,<br />
daß Auschwitz nicht siclt wiederhole, nichts Ähnliches geschehe"<br />
(ADORNO 1982,358), also Verhältnisse zu schaffen, die Rassismus und<br />
insbesondere Antisemitismus, Nationalismus und Faschismus ein<br />
fUr a llemal den Boden entziehen. Di e » Histori sche Verantwortung«<br />
bedeutet für ein linkes politisches Projekt zun Hchst einmal, hierwlande<br />
wirklich demokratische und gerechte (und damit die Voraussetzungen<br />
fUr entsprechende Strukturen auch im Trikont) menschenwürdige<br />
Verhältnisse zu schaffen. Denn an Auschwi tz wird<br />
bundesdeutsche Politik - auch die der Linken - noch jahrzehntelang<br />
gemessen werden. Die Erinnerung an Auschwill muß Ausgangspunkt<br />
und konstitutiver Bestandteil einer jeden emanzipatorischen<br />
und demokratischen politischen Praxis in di esem Land<br />
sein . Da aber Auschwilz erst vor dem Hintergrund eines Krieges<br />
möglich gewesen ist, gehört es, solange hierzulande die Staatsform<br />
bürgerl ich-kapitalistisch verfaßt ist, zur ersten Aufgabe, dieses<br />
Land strukturell kriegsunfähigzu machen. »Historische Verantwortung«<br />
bedeut.et demnach fUr die Linke, vor allem sicherzustellen,<br />
daß nie wieder Kri eg von deutschem Boden ausgehen kanll, also<br />
ga nz praktisch eine Politik durchzusetzen, die Riistungsproduktion<br />
und Rüstungsexport unmöglich macht. Das heißt, vor Ort alle Anstrengungen<br />
zu unternehmen, daß ni chts blei bt wie es ist.<br />
GegenUber den Juden und hins ichtlich des Verhältnisses zwischen<br />
der Bundesrepublik und Israel ist hierzulande auf der Eins<br />
icht zu bestehen: "Wenn eine Person einer anderen ein Unrecht<br />
zu.gefagt hat, muß sie wissen. daß sie in Znkwift mit Ratschliigen<br />
vorsichtig sein Inuß. fliiu[ig erteilt sie dcum am besten gar keine"<br />
(J'UCENOHAT). Aber die uneingeschränkte Solidarität mit Israel als<br />
PrUfstein für existenten oder nicht-existenten Antisemitismus zu<br />
nehmen, halten wir hingegen fUr außerordenllich fragwürdig: ,,Auf<br />
der anderen Seite kann jedoch die zweite person auch nicht von der<br />
ersten verlangen. daß sie nun alles tu,n solle, was sie, die zweite,<br />
wolle. Allemal- und das scheint mir das wichtigste zu sein - muß<br />
die erste Person in Ton und Form behutsam, sein; einfach insofern,<br />
als deutlich werden muß. daß sie sich uber ihre Schuld nicht hinwegsetzt"<br />
(elld.). Ob jemand (latent) antisemitisch ist, zeigt sich<br />
148
IV.<br />
Geschichtsrevision<br />
und Mitten in di e Nachwehen der deutschen Verei ni <br />
Negativer gung und der damit anstehe nde n Diskussion<br />
Nationalismus über die Frage eines »neu erfunde ne n Nationalgefühls«<br />
platzte der zwe ite Golfkrieg, ohne daß<br />
die Linke in de r erweite rten Bundesrepublik die Zeit gefunde n<br />
hätte, sich nunmehr ihrer Rolle als "Opposition in einer Großmacht"<br />
(POSTO NF.:) bewußt zu we rd en. <strong>Der</strong> "Goljkrieg (stellte) eine<br />
eminente l1eransforderung an die politische Urteilskraft der Linken"<br />
(HEEMTSI\IA 1991) dar, der sie nicht gerecht wurde. Die veränderten<br />
Bedingungen nach dem Zusammenbruch der DDR hätten eigentli<br />
ch eine li efergehende Auseinandersetzung mit den neuen gesellschaftl<br />
iche n Realitäten bedurft. Die Linke kam j edoch übe r<br />
Negativen Nationalismus und »Wiedervereinigungs«-H u1'l'ageschrei<br />
(.,letzt wichst zusammen .,. H) nicht hinaus. Die Reaktione n<br />
der »Belii zisten« auf die Drohungen Saddams, Giftgas gegen Israel<br />
ein zusetzen, spi egeILen di esen Mangel refl exarti g lind oftmals<br />
völlig abwegig (s.o.) artikuliert wider. Letztendlich lassen sie sich<br />
nur nachvollziehen, we nn berücksichti gt wird, daß "der zweite<br />
Golfkrieg mit diesem Ereignis (der deutsch-deutschen Vereinigung,<br />
d. v. ) verbundene Gefithle symbolisch theTnatisiert und die Träger<br />
dieser Gefühle dazu gebracht (hat), sie auf bizarre Weise auszuagieren"<br />
(ehJ.).<br />
Bei der Gleichsetzu ng »Saddam = Hitler« im Gefolge der Okzidentalen<br />
Ideologie sowie der lnstrllmenlalisierung der »Histori <br />
sehen Verantwortung der Deutschen « auf Seiten des Kriegstreiberdiskurses<br />
ging es nie um im wissenschaftlichen Sinne hi storisch<br />
»ric htige« Analogieschl üsse. Di eselbe n waren vielmehr immer als<br />
Kampfhegriffe zur »Gleichschaltung« der öffentlichen Meinung<br />
gedacht. Ih re Hauptaufg.be bestand darin , di e Gegner des Krieges<br />
mittels einer Argllmentationsfigur aus ihrem ureigenen Feld, dem<br />
Antifaschismus, mundtot zu machen und zugleich den Ausstieg aus<br />
der eigenen, linken Geschichte ideologisch abzusichern : " In diesem<br />
realen Zusammenhang sind die verblendeten VOIWül!e 'linker<br />
Anti-Amerikanismus' und 'linker Antisemitismus'für einige ehemals<br />
Linke die Hundemarken, womit sie andere zu stigmatisieren trachten,<br />
umflir ihre Integration in die psychologische Kriegsführung der<br />
kapitalistischen Verwertungsgemeins chaft den Anspruch der Aufkliirung<br />
zu erschleichen und den guten Namen Kritik zerstörerisch zu<br />
152
m.ißbrauchen" (J'HIELEN <strong>1992</strong>u, 39 r.). Sie formuli erten im Zusammenhang<br />
mit der »Histori schen Verantwortung« ein e neue Sozialfascbismus-ldeologie<br />
64 gegenüber Pazifisten und Antiimperiali sten,<br />
di e die Spaltung und Auflösung der Linken weiter vorantrieb.<br />
Für den Erfolg des von Linken dominierten Kriegstreiberdiskurses<br />
spielte eine wesentliche Rolle, daß die mit ibm verbundene<br />
Propaganda ni cht mehr nur von der üblichen Sorte<br />
war. Seine Protagonisten bezogen sich nun auch auf die<br />
linke widerständige Arguillentationstradition, wie den<br />
antifaschistischen Diskurs der 60er und 70er Jahre.<br />
64<br />
Ihre historische Version be<br />
inhaltet die verhängnisvolle<br />
Behauptung und Praxis der<br />
stalinisierten Weimarer KPD,<br />
daß die Sozialdemokratie als<br />
Dadurch gelang es, Verwi rrung zu stiften: "Ihre sUirkste Hauptfeind noch vor den<br />
Nazis zu bek.'lmpfen sei.<br />
Wirkung entfalteten sie da, wo sie erst links antäuschten,<br />
um dann ganz rechts einzuspuren ". Wir erlebten eine linke<br />
Geschichtsrevision, der wir zum Zeitpunkt des Krieges wenig Substantielles<br />
und .,noch seltener inhaltlich-offensiv etwas entgegensetzen<br />
konnten" (L.u.r.u.s. 1991b, 32). Mitunter muß selbstkritisch<br />
eingeräumt werden, daß das auch eine Folge der ./ehlende(n) Auseinandersetzung<br />
mit den Gefahren des gewöhnlichen Anti-lmperialis11ws,<br />
nämlich dem Hang zu verschwörungstheoretischen und<br />
vereinfachten ökonomistischen Argwnentationen" wal' (KIND, 30), die<br />
dazu .fü hrlen, daß einige Parolen der AnLikriegsbewegung sich<br />
-scheinbar kaum mehl' von denen der Neonazis unterschieden,<br />
obwohl sie etwas grundsätzli ch anderes meinten.<br />
Verwirrung stifteten auch jene Kri egsbefürworler, die aus einer<br />
angeblich radikalen »N ie-wieder-Deutschland«-Position heraus<br />
nun jedes Agieren und Reagieren der vergrößerten Bundesrepublik<br />
(ihrer Regierung wie ihrer Staatsangehörigen) als Ausreißversuch<br />
der wiedererstarkten Großmacht interpreti erten und dabei<br />
ein Opfer ihres "Negativen Nationalismus" (Geprge Orwell: Notes<br />
on Nationalism, 1945) wurden_ Denn die Behauptung GREM LIZAS, daß<br />
"das neue deutsche Reich" sich durch seine angebliche Nicht<br />
Beteiligung am Golfkrieg "zum, ersten Mal offen als Konkurrent"<br />
(STREITGESPRÄC H, II u. 15) der USA profiliere, ist dann doch ei n etwas<br />
zu weit gehender Unfug. Er verkehrte diese aus der Weltmarktkonkurrenz<br />
resultierende unterschwellige Tendenz und Absicht zur<br />
Rea"litäl. Kurzerhand erklärte er di e Bundesl'epublik zur Kriegspartei<br />
an der Seite des Irak: "Und so habe ich in der dentschen<br />
Friedensbewegung nicht primär eine Bewegung erkannt, die den<br />
153
154<br />
Krieg am. Golf be- oder verhindern wollte, sondern eine deutschnati01w,le<br />
Bewegung, die im Einklang mil den politisch und gesellschaftlich<br />
Herrschenden den Golfkrieg da,zu, nutzen wollte, dem.<br />
neuen Deu'/'schlarul größeren außenpolitischen Spielraum. zu ver·<br />
schaffen" (C BF:MLlZA 199 Ic.31). Oder ähnli ch: " In seltener EinmiUig·<br />
keil. gleichsam konverg ierend, wirkten Regierung, Opposition und<br />
Friedensbewegung zusammen" (DINER 199 1a, 143). Mag das für grüne<br />
»Vol'denker« wie Vdo Knapp (taz, 11 .8. 1990) und B. ULfH CH auch<br />
zutreffen, so ist derlei für di e Antikriegsbewegung insgesamt<br />
schlichtweg Unsinn. Außerdem: im Seplember 1990 wo ll te GBEM <br />
LI %J\ noch "keine GründeJür·eine US-(Unerikanische Iltlervention"<br />
erkennen, die "gleichzeitigJür eine deutsche Beteilignng sprlichen"<br />
(1990u), und auch noch im Januar 1991 haUe der »Konkret«- I-Ierausgeber<br />
angemerkt, er könne den Krieg der USA nicht unterstützen,<br />
da " die P"rtei ( .. .) des George Bush ( .. .) ebell auch HelnULl<br />
Kohls Partei und also die großdeutsche" sei (C RE!'tILlZA 199 111). Auch<br />
Staatsphi losoph DINE" (1991b. 60) verkündete, daß "der Krieg am Golf<br />
auch ein deutscher Krieg war".<br />
Aber di e anfängliche Zurückha ltung der Medien läßt sich<br />
nicht dahingehend umbi egen, daß von seilen der Regierung regelrecht<br />
"Stimmung gegen diesen Krieg und gegen eine deutsche<br />
Kriegsbeteiligungl< gemacht worden sei (G HE!'tILlZA, STIl EITGESPHÄCH).<br />
Di e ßundesrepublik selbst hielt sich zwar mili tü risch weitgehend<br />
bedeckt. Statt dessen dominierte aber di e Mobilmachung für den<br />
Kri eg in den Köpfen. <strong>Der</strong> Kri egstreiberdis kurs macht als Probelauf<br />
der Okzidentalen ldeogogie gegen di e künftigen " Feinde des<br />
Menschengeschlechts" (ENZENSDE RCEB) am meisten Sinn: " <strong>Der</strong> Golf·<br />
krieg kann. vielleicht als erstes Anzeichen dessen begriJJelL werdelt,<br />
daß uns diese Außenseiter /lUft in gewissem Sinne zu belagern beginnen"<br />
(ENZENSßEIlCEH 199I b). Die Attacken gegen die Friedensbewe·<br />
gung und ihren oftm als hilflosen Pazifismus wollten di esmal noch<br />
ni cht eine direkte deutsche militärische Beteiligung erreichen, sie<br />
beschränkten sich auf das Erreichen einer I-Iegemon iefähigkeil<br />
von Militarismus und Kri egsgeschrei in der (ve l'}öffen tlich(t}en<br />
Meinung: "Und diesmal stehen die Deutschen auf der richtigen<br />
Seite, dür/en aber nicht richtig mitmachen, weil sie ja noch eine alte<br />
Schuld haben. Daraus konstituieren die Medien einen herzzerreißenden<br />
Widerspruch, Israel schützen zu wollen, aber nicht zu dürfen.
Dabei geht es am allerwenigsten wn Israel, sondern um die Rolle<br />
der BRD als Großmacht, die endlich international militärisch eingreifen<br />
k6nnen will. Diese Mobilmachung muß zwangsläufig eine<br />
Voraussetzung er fallen: sie muß sich der deutschen Geschichte entledigen,<br />
und aller Konsequenzen, die daraus hätten gezogen werden<br />
müssen U (AUSCHWITZ.KOMITEE).<br />
Im übri gen stimmt es einfach ni cht, daß »Deutschland « keine<br />
»Kriegspartei« an der Seite der Alliierten gewesen ist. fm Golfkrieg<br />
wa r die Bundesrepublik die wichtigste logistische Basis für die US<br />
Anny. Ein ßlick aur die Leitartikel und Kommentare eine Woche<br />
nach Kriegs beginn belehrt zudem schnell eines Besseren. ]m übrigen<br />
dankte Anfang Juni 1991 in Erlangen der US-Vizeprüsident<br />
Dan Quayle der Bundesregierung und der deutschen Bevölkerung<br />
für ihre Unterstützung im Golfkrieg. Es ist zwar richtig, daß die<br />
Bundesregierung die USA nicht drängte, diesen Kri eg zu beginnen<br />
und es soll auch ga r nicht in Abrede gestellt werden, daß die herrschenden<br />
Klassen der ßunclesrepublik während des Krieges eigene<br />
Ziele verfolgten, doch läßt sich daraus noch lange kein<br />
"Abschied vom <strong>Westen</strong>" (D1NER, I99lb.54) konstruieren. Denn trotz der<br />
widersprüchlichen »Nah-Ost«-Interessen zwischen der imperialisti<br />
schen Zent ren (EC, Japan und USA) kann nach wie vor ein ideelles<br />
imperiali stisches Gesamtinteresse (FOLßEIlTli 1991) dieser Länder<br />
zugrunde gelegt werden: "Es gibt keinen Krieg nach dem, Zweiten<br />
Weltkrieg, der so übereinstimmend von Europa und den USA gemeinsam<br />
vorbereitet und durchgeführt wurde und wird wie dieser Krieg<br />
der Ersten Welt gegen den Rest der Welt. Es gibt keinen Krieg seit<br />
1945, der so deutlich und offen zeigt, wie nahtlos die HerrschaJtsinteressen<br />
Europas und der USA (und Jap
6S<br />
Vgl. den ßeitrag von THIELEN<br />
(<strong>1992</strong>c) sowie die kritischen<br />
Reaktionen von KtND und<br />
BERGMANN (<strong>1992</strong>) auf ROTH<br />
und seinen Versuch. den<br />
Go1!lmeg mit Hilfe eines<br />
tradtioneUen Begriffs von<br />
Imperialismus zu erklären.<br />
156<br />
pllischen Willens gebmucht'" sieht. Die Bereitschaft , Kri eg zu fuhren,<br />
ist demzufolge nicht hauptsächlich in den besonderen ökonomischen<br />
interessen der USA zu suchen, sondern liegt eher im europäischen<br />
Slabililälskalkül in der Golfregion begründet. Gemäß dieser<br />
Sichtweise wurde der Krieg vo n den USA in der .. Hoffnung auf<br />
ZngesUiTlllnisse" seitens Europas und Japans betrieben (KIND, 33). 65<br />
Es sei an di eser Stelle nochmals hetont. daß auch die<br />
De nkfa ulheit de r Linken (» Ti c ke t«- De nkc n) und e in<br />
allzu platter Antiimperialismus es dem Kriegstreiberdi<br />
skurs sehr ei nfach machte, hegemonial zu werden. In<br />
diesem Zusammenhang wären einige Defizite lin ksradikaler<br />
SolidarilüLs- und UnterstUl zungsarbcit zu ne nne n,<br />
wie es nun auch seitens der REVOLUTIONt\HEN ZE LLEN oder<br />
bei nOSl-:NKOn ER u.a. geschieht. Welche Konsequenzen daraus für<br />
ein anti imperiali sti sches und weltrevolutionäres Projekt zu ziehen<br />
wären, kann hi er nicht weiter ausgefUhrt werden.<br />
In die Nähe von politischem Aberglauben geraten aber di e aus<br />
einem Negative n Nationalis mus gespeisten anhaltenden Versuche,<br />
die Gefährl ichkeit des "Neuen Deutschlands« aus seiner Nichtteilnahme<br />
am Golfkrieg ableiten zu wollen. Es war viell eicht der<br />
einzige Erfolg der Antikriegsbewegung, diesmal eine direkte<br />
militärische Beteiligung noch verhindert zu haben. Nicht so der<br />
»Atl antiker« U1 NEH (199I b, 39), ein Verfec hte !' der These vo m »Sonde<br />
l'weg« der politischen Kultur der Deutschen oder der »unbelehrbare«<br />
CBEMLIZA: Beide zeigen s ich zwar von der anh all enden<br />
Gefährlichkeit eines deutschen Militari smu s überzeugt, doch<br />
erscheint ihnen paradoxcrweise das Bestreben, die Fesseln der<br />
noch beschränkten bundesdeutschen militärischen SouverUni tät<br />
abzul egen, weniger bekämpfenswe l'L. Eher im Gegenteil. Sie fordern<br />
ausdrückli ch bis implizit ei ne aktive Mitwirku ng der Bundeswehr<br />
an Kriegshandlungen wie jenen am Golf. DI NER, auf dem<br />
Sprung vo rn Staatsphilosph zum Staatsrath: " Eher ist zu. befürchten,<br />
daß durch/ongesetzte Distanzierungen vom <strong>Westen</strong> und Absagen an<br />
ein rnultinationales Vorgehen bei etwaigen Konflikten ein Weg eingeschlagen<br />
werden könnte, der nolens volens zu eigenständigem<br />
politischen Handelnfahrt. Paradox genug, aber derartige Abstinenzen<br />
dürften in/erner Zukunft in eine hegemoniale Rolle Deutsch-
im Golfkrieg erstmals als militärischer Faktor im imperialistisch<br />
en Machtgefü ge anzudienen. Insbesondere Israel und di e<br />
»Historische Verantwortung« geri eten dabei zum "innenpolitisch<br />
und außenpolitisch einsetzbaren Joker im deutschen Spiel um. die<br />
lVeltrnachtrolle" ( roLM EIN, 21). Folglich ist alles zu tun, um den herrschend<br />
en Klassen in der Bundesrepublik jegliches militärisches<br />
Agieren zukünfti g strukturell zu verunmöglichen.<br />
Unabhängig davon steht eine national-traditionelle Mitteleuropaslrategie<br />
der Bundesrepublik, also ein Imperiali smus au f eigene<br />
Faust, ni cht auf der Tagesordnung. Die Bundesrepublik ist nämli<br />
ch all ein auch ni cht in der Lage, die politischen und sozialen<br />
Konsequenzen der kapitalisti schen Durchdringung Osteuropas<br />
ohne Partner zu bewältigen. Di e Gefährdung der gesamten Reproduktion<br />
der Hegemonialstruktur - Japan, USA, Europa und insbesondere<br />
der BRD (vor dem Hintergrund drohender ökonomischer<br />
Zusammenbrüche eines der kapitalisti schen Zentren oder des<br />
Alleinganges eines derselben) - beschränkt derzeit die Handlungsfähigkeit<br />
eines auf di e Integrat ion in di e WEU oder in die<br />
NATO verzichtenden deu tschen Militarismus (FAN IZADE HILEPPEB.36).<br />
Wenn dem so ist, dann ist das Starren auf das ange blich drohende<br />
» [Y. Re ich « völlig daneben und di e Forderung nach militärischer<br />
Einbindung dysfunktional, da es der eigentl ich Einha lt zu ge bi etenden<br />
Entwicklu ng Vorschub leistet. Im übrigen sollte noch ein<br />
Bli ck auf di e Erscheinungsform des gegenwärtig hegemoni alen<br />
deut schen Na ti onalismus geworfen werden, da di e internationalen<br />
Verfl echtungen zugleich veränderte Au sgangsbedingunge n für<br />
nationalstaatliches Handeln auch in der Bundesrepublik bedinge<br />
n.<br />
Unsere Problemati sierung des Negati ve n Nationalismus bedeut<br />
et keineswegs die Apologie von »nationaler Identität« (vgl.<br />
ROMMELSPACHEIl, 103 ff.), sondern weist darauf hin, daß di e antideutsche<br />
Weltanschauung (die moralisch verdienstvoll sein mag)<br />
die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit in der Bundesrepublik<br />
nur mehr unzureichend kritisiert und zu falschen Schlüssen<br />
verfü hrt: Es "hilft au.ch nichts, das ganze deutsche Volk als<br />
dumm und stwnpfsinnig darzustellen. Das ist provozierend undfur<br />
den politischen Kampf untauglich. Sich zu schämen, Deutscher zu<br />
sein, kann ich gefühlsmäßig nachvollziehen, aber es ist kein politi-<br />
159
160<br />
scher Standpllnkt" (POSTONE). Unseres Erachtens führt der verengende<br />
Bli ck auf historische klassisch-faschistische Strömungen<br />
weg von ei ner realistischen Einschätzung der jetzi gen Situation.<br />
Die Bundesrepublik ist - trotz zahlreicher Kontinuitäten und nach<br />
allem was sich derzeit abschätzen läßt - ni cht faschistisch und<br />
auch nicht auf dem Weg dorthin. Zum Ausbau und zur Legitimierung<br />
des gegenwärtigen Repressionsapparates bedarf es dessen<br />
nicht.<br />
Etwas weniger aufgeregt diskutiert daher die britische Linke<br />
die jüngste Entwicklung von der einst bereits für das Nachkriegsdeut.schland<br />
ausgerufenen »postnationalen Gesellschaft« zur<br />
gegenwärti gen Version eines DM -Nationalismus im Gefolge der<br />
»Wi edervereinigung«, R.J. EVANS sieht (unter relativ günstigen ökonomischen<br />
Bedingungen) bereits eine aktuell viel größere Bedrohung<br />
für di e Immigranten und Flüchtlinge innerhalb der Grenzen<br />
der vergrößerten Bundesrepublik, als die Gefahr einer nach außen<br />
gerichteten militärischen Expansion seitens eines wiederauflebenden<br />
deutschen Nationalismus. Die bundesdeutschen Reaktionen<br />
auf den Golfkrieg und der neue . Deutsche Herbst. im Jahr 1991<br />
bestätigten diese Analyse im wesentlichen (eine andere Frage ist<br />
selbstverständlich, welche Gestalt ein solcher DM-Nationalismus<br />
unter ökonomisch kri sen haften Verhältnissen annehmen kann).<br />
Nach dem Scheitern einer i.lber di e Stationierung von Alpha<br />
Jet-Düsenjägern hinausgehenden militärischen Beteiligung am<br />
Golfkrieg gibt es gegenwärtig keine Anzeichen für den Durchbruch<br />
und die Hegemonie einer expansiven, auf militärische<br />
Abenteuer ausgerichteten nationalistischen Bewegung. Das enorme<br />
Anschwellen der Kriegsdienstverweigererzahlen im Zuge des<br />
Golfkrieges, das Lamento über die mangelnde Kriegsbereitschaft<br />
der Wehrpflichti gen zeigt, daß nach Abenteuern derzeit kaum<br />
jemand zumute ist. Selbst die nationalistische Homogeni sierung<br />
»Wir sind ei n Volk « stößt in der alten Bundesrepublik - da sie an<br />
den Geldbeutel geht - auf wenig Gegenliebe. <strong>Der</strong> DM-Nationalismus<br />
kann als Massenbewegung für Menschen ohne bundesdeu tschen<br />
Paß oder anderer Hautfarbe nach wie vor überaus<br />
lebensbedrohli che Ausmaße annehmen und ist deshalb mit aUen<br />
Anstrengungen"zu bekämpfen. Er ist aber trotz allem im Vergleich<br />
zu fruheren deutschen Nationali smen eine relativ »domestizierte«
Version . Was nicht heißt, daß hierzulande nicht Geltungsbedürfnis<br />
oder Großmachtstreben existieren, nur daß sie sich auf andere,<br />
vermitteltere Weise artikulieren.<br />
Die Verwendungsmöglichkeiten der ))Sonderweg« -These in<br />
diesem Zusammenhang sind vielfältig. Die ))Nie-wieder-Deulschland<br />
«-Slrömung in der Radikalen Linken zielt vor allem darauf ab,<br />
den deutschen Imperialismus gegenüber dem US-amerikanischen<br />
zu schwächen. Dagegen wäre im Grunde nichts einzuwenden,<br />
wenn am Ende nur die Festschreibung der imperialistischen<br />
Fuhrungsrolle der USA stünde. Doch dieses Zusammenspiel von<br />
Negativem Nationali smus und Okzidentaler Ideologie bedingt die<br />
Apologie des Imperialismus: "Es kommt dabei gar nicht darauf an,<br />
ob die sich entlang dieser Linie zwischen ursprünglicher und nachholender<br />
Entwicklung agierenden Konjliktparteien auch unter<br />
einem gemeinsamen Dach oder Namen auftreten. Zu zeigen ist nur,<br />
daß es aufgrund der inneren Struktur vor allem im Verhältnis von<br />
Stn.at und Gesellschaft, besonders in den arabischen Staaten, den<br />
meisten europäischen (v.a. im Osten), und vielen anderen, Homologien<br />
gibt, die aus sich selbst heraus zu einer Vereinheitlichung,<br />
unter welchen Vorzeichen auch immer, drängen. So viel kann zur<br />
Erscheinu.ngs/onn dieser Vereinheit.lichung aber schon jetzt gesagt<br />
werden: sie wird eine eindeutige AGgrenzung vorn liberalkapitalistischen<br />
Modell vor allein der USA beinhalten. Und daß Deutschland<br />
un(.er diesen Staaten eine hervorragende RoUe spielen wird, dürfte<br />
sich von selbst verstehen" (DAHLMANN, 68). <strong>Der</strong>art gefaßt wandelt sich<br />
der Imperialismus zum »supranationalen« oder gar »universalistischen«<br />
quasi emanzipatorischen Menschheitsprojekt. Mit der<br />
»Sonderweg(-These läßt sich jede oppositionelle Position gegenüber<br />
dem Imperiali smus als nationalistisch denunzieren. Unter<br />
dem Vorwand des notwendigen Abgleitens von internationalistischer<br />
Politik ins nationalistische Fahrwasser soll nun jede politische<br />
Praxis, die nicht nur den deutschen Imperialismus, sondern<br />
auch andere Erscheinungsweisen dieser Herrschaftsform kritisiert<br />
und bekämpft, für obsolet erklärt werden.<br />
Darum nimmt diese Form der antinationalen Orientierung, die<br />
"nur die affektive Gegenseite des herrschenden Nationalismus darstellt"<br />
(BF:DAKTJON DISKU S, 15), paradoxerweise eine zutiefst nationalistische<br />
Wendung vor. Zum einen als Negati ver Nationali smus, zum<br />
161
162<br />
anderen, weil das hi erüber begründete Tabu, imperialistische<br />
Politik zu kritisieren (da antiamerikanisch), ei ne indirekten Stärkung<br />
von jeglichem Imperialismus bedingt. Da diese Herrschaftsform<br />
jedoch eine strukturelle Voraussetzung der gegenwärtigen<br />
ßundesl'epublik ist, legitimie rt diese Arglimenlationsfi gul' implizit<br />
auch die weitere Steigerung ihres gesamtgesellschaftli chen Reichtums<br />
auf Kosten des Trikonls und trägt somit (ungewollt?) zu dem<br />
Projekt des gegenwärtigen und künftigen deutschen Imperialismus<br />
sein Scherflein bei. Da über die Einbindllng des deutschen Militarismus<br />
in ein e europäische Militärmacht der Instrumentalisierung<br />
derselben für deut sche Kapitalinteressen das Wort geredet wird<br />
bzw. di ese der weiteren Stärkung eines deutschen Imperialismu s<br />
unter europäischer Flagge dienen wird , kann dergleichen wohl<br />
nicht der Weisheit letzter Schluß sein.<br />
Etwas absurd mut et es darüber hinaus an, wenn Leute wie<br />
GREMUZA (STR EITGESPR i\CH) und OIN EH (,. Wiederaufnahme der Kontinuit.ätsftiden<br />
nationaler Geschichte'" 1991 b, 54) im Ernst meinen, s ie<br />
müßten die mangelnde Bereit schaft von Teilen der Bevölk erung,<br />
an diesem Krieg aktiv teil zunehmen oder Partei für die USA zu<br />
ergreifen, unter Bezugnahme auf die hi stori sche Anti-Hitle r<br />
Koalition zum Hauptproblem der deutschen Mi sere erheben. Di e<br />
Frage, warum denn schließlich großdeutscher Na lionalismu s und<br />
Chauvinismus ausgerechnet bei denjeni gen zu verorten sei, di e<br />
sich auch nach dem Zusammenbruch der Fri edensbewegung<br />
imm er noch als Kriegsgegner verstanden, blieb dann auch unbeantwortet.<br />
Es gehört zu den wenigen - von der Linken miterkämpften<br />
- positiven Errungenschaften der Bundesrepublik, daß<br />
immerhin einige Menschen ihre hi storischen Kriegserfahrungen<br />
bej Bedarf gegen neue Kriege massenhaft reak ti vieren können.<br />
Wenn sie für Krieg ni cht noch einmal zur Verfügung stehen bzw.<br />
derlei ni cht mehr erleben wollen, läßt sich daraus nicht der<br />
Schluß ziehen, darin zeige sich di e Affinnalion der Verhältnisse,<br />
di e diese Erfahrungen verschuldet hatten.<br />
KELLEHSHOHN (43 ff.) hat inzwischen das Lavieren GREM LI ZAS zwischen<br />
den beiden Behauptungen (Nationalismu s bei Kriegsbeteili<br />
gung und ebenso bei Weigerung) anschaulich vo rgeführt: " Was<br />
eben 'deutsch' und 'antideutsch' iÜ, bestimmt Gremliza selbst, nach<br />
Lust und Laune urulje nach Lage der Dinge" (KE LLEnSHOHN, -19) . Die
Voraussetzungen eines solchen Negativen Na ti onali slllus hat er<br />
gleichfalls (chcl., tJ.1 ) benannt: " <strong>Der</strong> system(z,tische Irrt um, dem, die<br />
Kampagne 'Nie wieder Deutschland' (N WD) von Anfang an unterlag,<br />
besteht darin, die nationalen Fetische, deren sich die Pulitik<br />
beelient, Jür ettvas Substantielles zu erachten, anstalt das, was ihnen<br />
von den verschiedensten Seiten unterschoben wird, in die zugmndeliegenden<br />
Interessenkonstellationen aufzulösen. Das Nationale wird<br />
ehen nicht als Projektionsfläche begriffen, sondern in seiner verkehrt.en,<br />
ideologischen Form/ür bare Münze genommen und dann <br />
im Gegensatz ZlUn gewöhnlichen Nationalismus - mit einer negat.iven<br />
Codierung versehen. Politische Analysen, die (lrtrchaus empirisch<br />
gehaltvoll sein mögen, dienen im Rahmen dieser Konstruktion<br />
im 1Qesentlichen dazu, eine nationale Identität 'der Deutschen' zu<br />
fixieren, von der man sich - als dem gewissermaßen 'heiligen Rest'<br />
der Menschheit - mit besonderer HeJtigkeit distanzieren kann".<br />
Dal'an anzuschließen ist di e Kritik eines verdeckten, eben Negat iven<br />
Na tionali smus, der überhaupt nur dann Sinn macht, "wenn<br />
man intellektuell wie geJilhlsrnüßig eine einheitliche und kontinuierliche<br />
Tradition der Deutschen annimmt. Ohne den Appell an ein<br />
solches 'deutsches' NationalgeJühl macht diese Erwartung keinen<br />
Sinn. Gerade um der Schuld willen wird 'LlLeh die gefühlsml1ßige<br />
(natürlich negative) Identifikation mit dem Nationalsozialismus<br />
verlangt. Das alles ist ein ge Jährlicher Tanz auf der Messerklinge<br />
einer Denk- und CeJahlsparadox.ie: eine Streife an der nationalen<br />
Identität ist nur Jür denjenigen eine, bei dem. sie hinreichend stark<br />
ausgeprägt ist" (HEESE·SCHÄFEB. 1J6) . Erschwerend kommt hinzu, daß,<br />
wer jegli che »politische Kultur« in der Bundesrepublik nur in der<br />
nazi-faschist ischen Kontinuität sehen will , zwei gravierende<br />
rehleI' begeht. Da der Nachweis, daß di e Entwicklung der Bundesrepublik<br />
einen anderen Verlauf genommen hat, als in der Kontinuitätsthese<br />
nahegelegt nach 1968, relati v einfach zu erbringen<br />
ist, bagatellisiert s ie zum einen di e Nazivel'brechen, zum anderen<br />
verh armlos t. und entschuldi gt sie di e elenden gegenwärtigen Verhältni<br />
sse. Sie nimmt s ich selbst tendenziell di e Mögli chkeit, di e<br />
bi sweil en ungeheuerlichen aktuellen Erscheinungen grundlegend<br />
zu kritisieren, da es immer schon etwas schlimmeres<br />
gegeben hat. 68 Vor Auschwitz verblaßt jegliches vor-<br />
..<br />
vgl. a. die Kriegsre
lik zu einem gesamtdeutschen nationalistischen Reflex, bei dem<br />
es aufgrund eines ominösen koll ektiven Bew ußtseins zu einer<br />
großen Koalition gegen den Rest des <strong>Westen</strong>s gekommen sein soll<br />
und der Golfkrieg angeblich auch zu ei nem .. dentschen Krieg"<br />
gegen den »Okzident« muti erte: .,Die Einigung Deutschlands und<br />
der Go/jkrieg stellen im Prozeß der Entwestlichung des wildes also<br />
durchaus komplementäre Erscheinungen dar" (DI NEH 1991 a, 143). Mit<br />
Kontinuitälsthesen spekulieren ist eine Sache, di e Realität nicht<br />
wahrhaben wollen aber nochmal eine andere. In keinem anderen<br />
westlichen Land wurde die ßedrohung Israels derart thematisie rt<br />
(bei DINEH, ebd., eine .. nachholende Reaktion gedrUckter Besorgtheit. CI)<br />
wie in de r Bundesrepublik. Und die hysterischen Reaktionen samt<br />
Hausdurchsuchungen auf die Desertions8ufrufe an amerikanische<br />
und bundesdeutsche Soldaten sind wa hrscheinlich auch Ausdruck<br />
einer Parteinahme gegen die westliche Kriegskoalition? Auch eine<br />
relativ stark e Antikriegsbewegung kann nicht darüber hinwegtä uschen,<br />
daß sehr bald nach Kriegsbeginn Regierung, Medien und<br />
einstige Oppositionelle mit vereinter Kraft auf erstere einschlugen.<br />
Immerhin begrüßte di e Mehrheit clen US-ame rikanischen Kriegskurs<br />
und e ntrichtet nun geduldig ihren Obulus. Die Bundesrepublik<br />
als ganz lind gar neutrale und antiwestliche Kraft zu konstruie<br />
ren, hat nichts mit den wirklichen Verhältnissen zu tun. Außerdem<br />
ist nochmals auf die Beschränkthe it eines Verfahrens zu verweisen,<br />
das als "politische 'Tiefenpsychologie' j( (Ft\ NIZA DEH/LEPPEH.<br />
34) daherk ommt und ni chts weiter als »inne re Befindlichkeite n«<br />
zum Ausgangspunkt der Analyse von soziale n Bewegungen macht<br />
(vgl. Exkurse I u. 11 , Kap. 3).<br />
Die in der Kontinuitätsannahme umsta ndslos a.llen politischen<br />
Fraktionen unterstellten Ressentiments dUrften auf nicht we nige<br />
deutschnationale und insbesondere neonazistische Motive zutre ffe<br />
n. Darüber hinuus wolle n DINE R und die ISi" (1991, SO) a ber di e hi esige<br />
linke antiimperialistische Kritik e benso als Folge deutsche r<br />
Kontinuität vorfUhren und di skreditiere n. Nun verhält es s ich<br />
tatsächli ch so, daß angesichts ihres derzeitigen Zustandes a uch<br />
innerhalb der Linken sich immer eine Gruppierung fi ndet, auf die<br />
eine solche ß eschreibung annähernd passen wird. Dies lüßt sich<br />
kaum in Abrede stellen, ist aber gar nicht das eigentl iche Problem<br />
fUr den Kri egstreiberdisk urs. Letztli ch gilt es nur zu beweisen,<br />
165
166<br />
daß jegl iche r Antiimperialismus genetisch faschistische Züge in<br />
sich trägt: .,Es sind nun einmal die USA, die mehr noch als andere<br />
westliche Gemeinwesen die Werte und Doktrinen vertreten, mit<br />
denen der Abstraktion des Weltmarktes ent.sprochen wird. Dies mag<br />
wohlfeil als Imperialismus abgetan werden,. aber ei.n derartig weltanschaulich<br />
gefaßtes Ressentiment einer zi'uilisatorischen Leistung<br />
gegenüber ist weniger Ausdruck bedachter Kritik, als daß zentrale<br />
Tradit ionsbestilnde nationalistischen und aut.arkistischen Ordnungsdenkens<br />
indiziert werden, dessen faschistische Anklange Ultüberltörbar<br />
sind. <strong>Der</strong> Antiimperialisfnus als Denkfigur, der manche<br />
gar zum. gewalt/örrnigen Handeln anregte, ist von jener Tradtion<br />
stiLrker affiziert, als übereifrige Claqueure es s,:ch vorzustellen verm.ögen"<br />
(DINEH 1991u, 147). So läßL sich natürli ch a uch mit Fakte n<br />
ve rfahren. We nn wir nun die Verfassungswirklichkeit, nämlich den<br />
Völkermord an den amerikan ischen Ureinwohnern , die Sk laverei<br />
oder die immer noch praktizi erte Todesstrafe. de r vieJgepriesenen<br />
ame rikanischen Verfassungsprogrammatik gegenüberstellen, sind<br />
wir schon unter dem Etikett »Antiamerikani slllus « und »5chmittianer«<br />
(s.o.) verbucht.<br />
Während IJI NE H auf der eine n Seile den angeb liche n Anachronismus<br />
und Ta rncharakte r de r Imperiali smustheori e de r Li nken<br />
hervorhebt, bedient er s ich ihrer dort, wo sie ihm gerade nutzbringend<br />
erscheint , völlig unbeschwert (F'AN IZADEH/LEPPEH.36). Die »5011de<br />
rw eg«- und Kon tinuitätsthese ist mechani stisch lind determi <br />
nisti sch. F'Ur »die De utschen« und dami t auch für d ie Linkenunler<br />
ihne n, gibt es kein Entrinnen: " Deutschlanelnun spielte im, Golfkrieg<br />
die Rolle, elie es historisch immer gespielt hat und elie sich aus<br />
eler Besonderheit seines historischen Weges zn einern staatlich<br />
gelenkten und elas produktionstechnische Niveau der USA ein- oder<br />
gar überholt habenden Kapitalismus bestimmt. Die deutschen Politiker<br />
werden auch künftig gar nicht anders können. Was sie auch tun,<br />
sie tun, was dieser Rolle entspricht" (DAHLMANN, 68).<br />
Annahmen wie di e »50nderweg«- und Kont inuitäts thesen verlieren<br />
ih re begrenzte Erkläl'U ngskraft in dem Mome nt, da sie quasi<br />
als Wunderwaffe lind ahistori sch gegen jegliche Form von politischer<br />
(U n-)Kultur in De utschland eingesetzt werden. In Bezug auf<br />
die Anlikriegsbewegu ng krankt dieses Interpretame nt hauptsächlich<br />
darall, daß es nicht zu erk lären ve rm ag, warum im Ve rlauf de r
)Erbschaft<br />
dieser Zeitee Bei GHEMLIZA. POI-IHT, ISFIßIWHN und teilweise auch<br />
bei TOLMEINIZUM WINKEL (die sich allerdings energisch<br />
von POHHT abgrenzen) 72 drängt sich nebenbei der Verdacht<br />
auf. daß es ihnen nicht nur um die inhaltliche Richtigkeit von<br />
Argumenten, sondern vielmehr um die vermeintliche Orginalität<br />
einer pseudoradikalen Position geht. Sie hatten es während des<br />
Golfkrieges aber nur nicht richtig mitgekriegt, daß<br />
72<br />
o . TOLMEIN i!>t zudem<br />
uber die Pro-Kriegshallung bereits ein Stimmungsumschwung eingetreten war und<br />
von GREMUZA aus der sie nun in einvernehmlicher Volksgemeinschaft mit<br />
»Konk rel« -Redaktion<br />
ausgeschieden. Regierung, Medien und all dieser Ansammlung deut-<br />
scher Peinlichkeiten auf den verbliebenen Rest der<br />
Antikriegsbewegung eindroschen. Das, und nicht die Offensichtlichkeit<br />
der DÜlftigkeit ihrer Thesen, dürfte sie am meisten geärge<br />
rt haben. Die einstmaligen linksradikalen Schalführer entpuppten<br />
sich während des Golfkrieges immer mehr als intellektuelle<br />
Scharfrichter, deren Vernichtungsphantasien wiederum (in ihrem<br />
Bezugssystem) deutlich deutschen Ursprungs sind.<br />
Die Positionen von DINER, ßHUMLIK und CLAUSSEN (Vgl. THIELEN<br />
<strong>1992</strong>b, 178 f.) sind vom Abschied VOll der eigenen. linken Geschichte<br />
motiviert. Insgesamt läßt sich ihre Argumentation wie folgt qualifzieren<br />
"Das Resultat ist heute die staatsmännisch vorgetragene<br />
Propaganda des vermeintlich geringeren Übels, wohlwissend, die<br />
A uswirku.ngen dieses Übels nie selbst ertragen ZIL m.üssen; eine Politik,<br />
die Leid ILnd Elend lediglich ZIL begrenzen sucht, im Zweifelsfall<br />
sich aber um so härter gegen jene rebellische Subjektivität wendet,<br />
die sich ,nil ihm. nicht abfinden kann und es aus der Welt schaffen<br />
will" (REDA KT ION DISKUS, 15 f.) . Am klarsten und zynischsten fonnuliert<br />
die Kon sequenzen wiederum ENZENSBEHGER (1991h): "Wohlmeinende<br />
Leute sagen, laßt uns teilen. aber das ist einfacher gesagt<br />
denn getan, und darum ist es in der Politik noch nie gegangen. Ich<br />
denke, daß Marx Recht hat, ke ine herrschende Klasse wird au/grund<br />
einer plötzlichen Eingebung ihres moralischen Gewissens<br />
freiwillig abtreten. " Di ese »neue« Weltordnung gleicht offenbar<br />
schon von Beginn an "eine{r) blutrünstige{n) Utopie, die unter dem<br />
Deckmantel des Realismus von denen vertreten wird. die, einst Teil<br />
der Protestbewegung, nun die Propheten der bestehenden Gesellschaftsordnung<br />
geworden sind" (GEOFFROY). Angesichts der Umstände<br />
des Richtungswechsels zahlreicher Kritiker der herrschenden<br />
170
174<br />
Amery, Jean: <strong>Der</strong> ehrbare Antisemitismus. In: Amery, Jean: Widersprüche.<br />
Stuttgart 1975.<br />
Arendt. Hannah (1943): Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?<br />
In: Arendt. Hannah: Israel. Palästina und der Antisemitismus.<br />
Aufsätze. Hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin 1991.<br />
Arendt, Hannah (1945): Antisemitismus und faschistische Internationale.<br />
In: Arendt. Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus.<br />
Aufsätze. Hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann . Berlin 1991.<br />
Arendt, Hannah (1948): Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?<br />
In: Arendt. Hannah : Israel, Palästina und der Antisemitismus.<br />
Aufsätze. Hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin 1991.<br />
Arendt. Hannah (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.<br />
MünchenlZürich 19912.<br />
Arendt, Hannah (1964): Persönliche Verantwortung in der Diktatur. In:<br />
Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsät<br />
ze. Hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann . Berlin 1991.<br />
Arendt, Hannah (1974): Über Revolution. München 1974.<br />
Arkoun, Mohammed: Von der Schwierigkeit des Dialogs. Die arabische und<br />
die westliche Welt nach dem Golfkrieg. In: Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung, ZO.I. <strong>1992</strong>.<br />
Auernheimer, Georg: Die unausweichliche welthistorische Konfrontation.<br />
Schol1-Latours Islam-Bild. In: Das Argument 186/1991, S. 190- 193.<br />
Augstein, Rudolf: Kein Hitler. In: DER SPIEGEL 10/1991, 4.3. 1991 .<br />
Auschwitz-Komitee: Gegen die Revision der Geschichte. Offener Brief des<br />
Auschwitz-Komitees zur Diskussion um deutsche Verantwortung .<br />
In: Radikale Linke-Rundbrief 2/AprillMai 199 1.<br />
Bahadir, Sefik Alp: Die intellektuelle Kriegshetze. Bierm ann und Enzensber<br />
ger über den Golfkrieg. In: taz, 15.2. 1991.<br />
Baier, Lothar: Hitler vergessen. In: Luchterhand Flugschrift: »Ich will reden<br />
von der Angst meines Herzens. Autorinnen und Autoren zum<br />
Golfkrieg . frankfurt 1991 , S. 5-9.<br />
Baumann, »Bommi«: Wie alles anfing. München 1980.<br />
Bell, Diane: Krieg, Frauen und Neue Weltordnung. In: Informationsdienst<br />
Wissenschaft und frieden 10 (<strong>1992</strong>)1, 5.18-23.<br />
Bergmann, Willi: Replik zu Kar! Heinz Roth, "Their Wonderful War"<br />
(1991, Heft 3/1991, S. 96- 111 ). In: 1999 - Zeitschrift für Sozial<br />
geschichte des 20. und Z 1. Jahrhunderts 7 (<strong>1992</strong>) I , S. 176-179).<br />
Biermann, Wolf: Kriegshetze - Friedenshetze. In: DIE ZEIT 6/1991, 1.2. 1991 .
176<br />
Brumlik, Micha (1983): Sabra und Shatila. In: Wetzel,Dietrich (Hg): Die Ver·<br />
längerung von Geschichte. Deutsche, Juden und der Palästinakonflikt.<br />
frankfurt a.M. 1983, 5. 15-24.<br />
Brumlik, Micha (1984): Antisemitismus in der Friedensbewegung?lln: zei<br />
chen, Nr. 1, 3/1984. 5.28 f.<br />
Brumlik, Micha (1986): Die Angst vor dem Vater. Judenfeindliche Tendenzen<br />
im Umkreis neuer sozialer Bewegungen. In: Silbermann,<br />
Alphons/Schoeps, Julius H. (Hg.): Antisemitismus nach dem Holocaust.<br />
Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutsch<br />
sprachigen Ländern. Köln 1986,5. 133-162.<br />
ßrumlik, Micha (1991 a): Wüsten sturm. Das Weltsystem als Risikogesellschaft.<br />
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