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Sand im Getriebe 38 - Attac Berlin

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echtens, wenn es niemand Unrecht nennt.<br />

Wer sollte das tun?<br />

Die internationale Gemeinschaft. Sie hat den<br />

»Schutzwall« verurteilt. Aber sonst? Israel<br />

verletzt Hunderte von UN-Resolutionen,<br />

begeht laufend Kriegsverbrechen...<br />

Zum Beispiel?<br />

In den besetzen Gebieten. Es ist ein Kriegsverbrechen,<br />

eine 1000-Kilo-Bombe über einer<br />

dicht bevölkerten Gegend abzuwerfen – um<br />

einen Menschen zu töten, von dem man<br />

ann<strong>im</strong>mt, er sei ein Terrorist. Klarer Bruch der<br />

Haager Konvention. Oder: Es werden<br />

Menschen ohne Gerichtsurteil hingerichtet.<br />

Ein Verbrechen schlechthin. Ebenso die<br />

Tatsache, eine ganze Bevölkerung ein- bzw.<br />

auszusperren. Ungezählt sind die Fälle der<br />

Zivilgewalt.<br />

Warum das selbstherrliche Agieren?<br />

Leistet die heutige US-Politik Israel einen<br />

schlechten Dienst?<br />

Große Teile der israelischen Bevölkerung sind<br />

zufrieden mit Bush. Weil man kurzsichtig ist.<br />

Erstmals in seiner Geschichte bekommt Israel<br />

grünes Licht aus Washington für alles.<br />

Vordem gab es <strong>im</strong>mer gewisse Beschränkungen.<br />

Weil die vormaligen USA-<br />

Regierungen nicht wollten, dass Israel die<br />

ganze Region destabilisiert. Wir waren für die<br />

USA so etwas wie ein kleiner Bruder, der<br />

manchmal ungezogen ist, es zu weit treibt und<br />

ermahnt werden muss. Heute ist das total<br />

anders. Wir haben völlig freie Hand. Und wir<br />

füttern Bushs Politik des globalen Präventivkrieges.<br />

Wir führen seit 1948 Krieg.<br />

Was tun? Oslo ist gescheitert. Wird es die<br />

Road Map richten?<br />

Oslo is finished. Kann nicht wieder belebt<br />

werden. Die Road Map ist nur ein Stück<br />

Papier. Was wir jetzt brauchen, steht noch<br />

nicht auf der Agenda: eine starke kritische<br />

internationale Öffentlichkeit und Einmischung,<br />

um alle Aggressionen zu stoppen, das<br />

Morden, die Besetzung, die Siedlungspolitik.<br />

Problem: Wer Israel kritisiert, wird schnell<br />

Antisemit genannt.<br />

Antisemitismus und Kritik an Israel sind zwei<br />

unterschiedliche Paar Schuhe. Wer die Politik<br />

der israelischen Regierung nicht kritisiert, der<br />

schadet Israel.<br />

Ein Beispiel: Die israelischen Soldaten, die<br />

nach drei/vier Jahren von ihrem Dienst an der<br />

Grenze oder in den besetzten Gebieten<br />

zurückkehren, bringen die Gewalt, die ihnen<br />

dort befohlen worden war, mit in die He<strong>im</strong>at,<br />

in die Familien, in den Alltag. 18 bis 22 Jahre<br />

junge Männer und Frauen sind unfähig, sich<br />

<strong>im</strong> normalem Leben zurechtzufinden, sich zu<br />

rezivilisieren. Die Kr<strong>im</strong>inalitätsrate in Israel<br />

steigt. Man kann Gewalt nicht an den Grenzen<br />

stoppen. Um die zunehmende Gewalt<br />

innerhalb der israelischen Gesellschaft zu<br />

stoppen, muss man die Gewalt in den<br />

besetzten Gebieten beenden.<br />

In jüngster Zeit haben sich Proteste in der<br />

Armee gemehrt...<br />

Das ist nicht neu. Es gibt seit 1982, seit der<br />

Invasion in Libanon, eine mächtige Friedens-<br />

bewegung in Israel. Ich war damals einer der<br />

Gründer der Soldiers Movement. Israelische<br />

Frauen gehen an die Checkpoints, junge<br />

Israelis sind nach Ramallah gegangen, als<br />

Scharon dort Arafat festsetzen ließ, <strong>im</strong>mer<br />

mehr junge Leute verweigern den Wehrdienst.<br />

Unglücklicherweise sind wir weit davon<br />

entfernt, eine Hunderttausende umfassende<br />

Bewegung zu sein. Sie ist nicht neu, sie ist<br />

Teil der alten und wieder nicht, zugleich<br />

etwas Neues.<br />

Der Abbruch des Osloer Prozesses hat der<br />

Friedensbewegung einen Hieb versetzt,<br />

nicht wahr?<br />

In der Tat hat die Mehrheit der israelischen<br />

Gesellschaft diesen unterstützt. Aber sie hat<br />

dann den Lügen der Regierenden geglaubt:<br />

»Arafat hat die gnadenvollen Offerten<br />

schnöde abgelehnt, er will uns ins Meer<br />

treiben.« Nix da. Baraks Vorschläge waren<br />

nicht von Gnade diktiert. Aber der Trick<br />

funktionierte. Die Israelis, die für einen<br />

Kompromiss waren, wurden paralysiert:<br />

»Vielleicht lagen wir falsch, waren naiv?<br />

Vielleicht ist Arafat noch schl<strong>im</strong>mer als die<br />

Hamas?« Die Hypnose gelang, bevor der erste<br />

Schuss fiel, vor der Intifada.<br />

Arafat kann man voll glauben?<br />

Es ist sehr postmodern, zu behaupten: »Ja,<br />

was der sagt, sind nur leere Worte.« Man kann<br />

doch sagen: »O.k., lasst uns sehen, ob er es<br />

ernst meint.« Netanjahu, Barak, Scharon<br />

haben <strong>im</strong>mer alles richtig gemacht, nur Arafat<br />

soll der Schuldige sein. Das ist doch Unsinn!<br />

Scharon gilt in eigenen Kreisen schon als<br />

Verräter. Ist er einer? Oder ist er ein<br />

Pragmatiker?<br />

Scharon hat einen Plan: Die Kolonisation von<br />

ganz Palästina. Und er ist einer der sehr<br />

wenigen Politiker, die sagen, was sie denken:<br />

»Der Krieg von 1948 ist noch nicht beendet.<br />

Wir können die Grenzen jetzt noch nicht<br />

festlegen.« Dass er bereit ist, Gaza aus seiner<br />

Kontrolle zu lassen, ist Teil des Plans.<br />

Insofern ist er ein Pragmatiker. Um Raum zu<br />

erobern, muss man manchmal eine Stellung<br />

räumen. Für jene, die alles wollen, ist er ein<br />

Verräter. Ich zweifle, dass er sich ganz aus<br />

Gaza zurückzieht, er wird den totalen Bruch<br />

nicht riskieren.<br />

Wie unterscheiden Sie Antisemitismus und<br />

Antizionismus? Hier zu Lande oft in einen<br />

Topf geworfen.<br />

Was ist der Unterschied zwischen einem<br />

Antikommunisten und einem Vegetarier? Das<br />

ist doch nicht vergleichbar. Antisemitismus ist<br />

ein Ausdruck von Rassismus, negiert das<br />

Recht des Anderen auf Leben, ob Jude, Roma<br />

oder Schwarzer. Antizionismus ist eine<br />

Philosophie, die man unterstützen oder<br />

ablehnen kann. Die meisten europäischen<br />

Juden waren vor Hitler Antizionisten. Ein<br />

Antizionist muss kein Antisemit sein. Da kann<br />

man auch sagen: Ich esse kein Fleisch, weil<br />

ich gegen Schwarze bin.<br />

Wer steht Ihnen näher: Theodor Herzl<br />

oder Martin Buber?<br />

Auch da liegen Welten dazwischen. Da<br />

könnte man auch Joschka Fischer und Karl<br />

<strong>Sand</strong> <strong>im</strong> <strong>Getriebe</strong> Nr.<strong>38</strong> Seite 22<br />

Marx vergleichen. Herzl war ein wenig<br />

erfolgreicher Schriftsteller und ein schlechter<br />

Journalist. Martin Buber war ein großer und<br />

interessanter Philosoph und ein Humanist. Er<br />

sah den Menschen, nicht den Juden, den<br />

Deutschen, den Araber. Er sagte: »Lasst uns<br />

mit den Arabern leben. Nicht sie sind an<br />

unserem Unglück schuld, sondern die<br />

Europäer, die uns fortgejagt haben.« Herzl<br />

und die anderen Zionisten sagten: »Ich habe<br />

meine Probleme zu lösen und kann mich nicht<br />

um die anderer kümmern. Sorry.« Manche<br />

sagen noch nicht einmal »sorry«.<br />

Nein, ich kann und darf meine Probleme<br />

niemals auf Kosten anderer lösen. Wenn wir<br />

sagen: »Ihr seid uns <strong>im</strong> Weg, fort mit euch«,<br />

dann begeben wir uns auf den mörderischen<br />

Pfad der ethnischen Säuberung. Das kann ich<br />

angesichts der Geschichte meines Volkes und<br />

meiner Familie nicht mitmachen.<br />

Ihrer Familie?<br />

Die Familie meines Vaters wurde von den<br />

Nazis in Polen ermordet.<br />

Mir ist aufgefallen, dass Sie nie das Wort<br />

Holocaust benutzen.<br />

Holocaust meint ein heiliges Ritual, ein<br />

Brandopfer. Die Juden waren keine Kühe und<br />

sind nicht für Gott geopfert worden. Warum<br />

Begriffe aus der religiösen Welt nehmen, um<br />

den Genozid zu beschreiben?<br />

Ein US-Fernsehfilm hat den Euphemismus<br />

zur Mode erhoben.<br />

Als ich Kind war, sprachen wir von<br />

Vertreibung, Deportation, Mord. Shoah oder<br />

Holocaust stehen für eine neue, postmoderne<br />

Ansicht. Man könne nicht verstehen und<br />

begreifen, es sei nicht erklärbar, phänomenal,<br />

irrational. Natürlich hat jeder Rassismus etwas<br />

Irrationales an sich. Aber der Genozid an den<br />

europäischen Juden erfolgte nicht außerhalb<br />

der europäischen Geschichte, wurzelt in einer<br />

über zweitausendjährigen Verfolgung der<br />

Juden als Antichristen.<br />

Und arabischer Antisemitismus? Sie<br />

können ihn nicht negieren.<br />

Doch, das kann und tue ich. In der arabischen<br />

Hemisphäre sind die Juden niemals so<br />

verfolgt und massakriert worden wie in der<br />

europäischen. Sie wurden mehr oder weniger<br />

unterdrückt, waren mitunter akzeptiert und<br />

respektiert, aber auch nicht gleichberechtigt.<br />

Gleichberechtigung für Minoritäten kennen<br />

selbst die amerikanische Unabhängigkeitserklärung<br />

und die Menschenrechtsdeklaration<br />

der Französischen Revolution nicht. Ich<br />

wünschte, die sechs Millionen Juden <strong>im</strong><br />

Europa vor Hitler hätten in arabischen<br />

Ländern gelebt. Die Araber sind nicht<br />

antisemitisch. Antisemitismus predigen die<br />

Theologen; sie schüren Ressent<strong>im</strong>ents und<br />

Hass mit ihren antijüdischen Statements. Und<br />

dies, obwohl es in den arabischen Ländern<br />

kaum mehr Juden gibt. Sie mussten diese nach<br />

den jeweiligen Kriegen, die Israel gegen seine<br />

arabischen Nachbarn geführt hatte, verlassen.<br />

Anderes Thema: Warum hat Israel keine<br />

Verfassung?<br />

Weil sich das nicht vereint mit dem Anspruch<br />

»Jüdischer Staat«.

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