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konzerte04-pressemappe.pdf - Berliner Festspiele

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Notenbeispiel<br />

Enno Poppe Holz Klarinettenstimme Takt 1<br />

Das Motiv wird im weiteren gedehnt und gestaucht, entfächert und zersetzt, bis daraus am Ende<br />

der Exposition ein dichtes Stimmengefl echt geworden ist. Nun wäre es ein leichtes gewesen, die<br />

Verästelungen, die die Biologie beschreibt, umstandslos auf dieses Motiv anzuwenden. Aber eben<br />

hier rebelliert Poppes kompositorisches Bewusstsein. Poppe misstraut dem Dünkel der Konsequenz,<br />

die oft genug zu bloßen musikalischen Tautologien führt. Andererseits ist ihm Spontaneität suspekt.<br />

Um also einerseits unter der Herrschaft der Systemlogik nicht zum „Sklave seiner selbst“ zu werden<br />

und andererseits nicht der Willkür zu verfallen , ist Poppe bemüht, „subversiv gegen meine eigenen<br />

Vorgaben anzugehen, ohne die gestellten Regeln zu verletzen – als Wechselspiel zwischen Technik<br />

und Freiheit.“<br />

Geschichtsorientiert ist dieser Ansatz, weil mathematische Verfahren – ganz in der Tradition des<br />

Serialismus – zu musikalischen Verfahren umgedeutet werden. Naturorientiert ist er nicht so sehr des<br />

organischen Wachstumsmodells wegen, sondern weil Poppe sich nicht mit dem reibungslosen Ablauf<br />

eines Systems abgeben will und die Unregelmäßigkeiten, die vermeintlichen Pathologien des<br />

Systems exponiert.<br />

Ein anderes Beispiel. Zu den markantesten Ereignissen, die sich durch die gesamte „Material“-Trilogie<br />

von Enno Poppe ziehen, gehören gravitationsschwere, trübe Akkorde, die die sonst rege Faktur<br />

durchzersetzen.<br />

Dem gesamten Zyklus Holz – Knochen – Öl liegt eine ungewöhnliche harmonische Architektur zugrunde,<br />

die eng mit einem Verfahren der elektronischen Musik verwandt ist: der Ringmodulation. Bei<br />

der Ringmodulation werden die Frequenzen zweier Töne addiert und substrahiert. Dadurch entstehen<br />

zwei neue Tonhöhen, die meist außerhalb der zwölf temperierten Töne liegen.<br />

Ein Beispiel für Ungläubige und Zahlenliebhaber: ein zweigestrichens Fis schwingt mit 740 Herz, ein<br />

zweigestrichenes A mit 880 Herz. Die Summe der beiden Töne beträgt 1620 Herz, irgendwo zwischen<br />

dem dreigestrichenen G (1568 Hz) und Gis (1661 Hz). Die Differenz von 140 Herz liegt ganz knapp<br />

über dem großen Cis (139 Hz). Im einfachsten Falle entstehen bei Poppe derartige<br />

Vierklänge: ein temperiertes Intervall in der Mitte, der Differenz- und der Summationston unterhalb<br />

respektive oberhalb davon. Üblicherweise entstehen Intervalle als proportionales Verhältnis,<br />

eine Quinte z. B. schwingt im Verhältnis 2:3. Poppes Intervallen hingegen liegt ein arithmetisches<br />

Verhältnis zugrunde.<br />

Summations- und Differenztöne sind verstimmte Töne, aber, und das verleiht diesem Verfahren seinen<br />

Reiz, sie klingen nicht falsch oder dissonant. Aufgrund der Verwandtschaft unter den Intervallen<br />

leuchten sie stattdessen wie ein Naturereignis, verleihen sie Akkorden eine raue, vibrierende Farbe,<br />

öffnen sie harmonische Zwischenräume jenseits der klassischen Tonalität.<br />

In Knochen, das im Frühjahr 2000 als erstes, und in Öl, das im Herbst 2001 als letztes Stück der<br />

Trilogie entstand, notiert Poppe die mikrotonal gefärbten Bläserakkorde sorgfältig aus – ohne elektroakustische<br />

Hilfsmittel. In Holz wiederum präzisiert Poppe die Harmonik, indem er einen

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