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konzerte04-pressemappe.pdf - Berliner Festspiele

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Enno Poppe: Holz - Knochen - Öl<br />

Nehmen Sie einen Spaten, gehen Sie in den Wald, suchen Sie sich ein schattiges Plätzchen und fangen<br />

Sie an zu graben. Mit etwas Glück stoßen Sie bald auf einen Gegenstand: auf ein Stück Holz, auf<br />

einen Knochen oder – unwahrscheinlicher, aber nicht undenkbar – auf Öl. Materialien wie Holz, Knochen<br />

und Öl sind geschichtslose Konstanten der Natur, die uns jederzeit als Gleiches und Ähnliches<br />

begegnen. Hätte Beethoven an derselben Stelle seinen Spaten angesetzt, er wäre auf die gleichen<br />

Gegenstände gestoßen.<br />

Ähnliches gilt für das Material der Musik. Attacke und Nachklang einer schwingenden Saite, die<br />

Intervallstruktur des Obertonspektrums: all das sind Eigenschaften, denen Komponisten schon vor<br />

zweihundert Jahren Rechnung zu tragen hatten und getragen haben. Material ist also Natur.<br />

Aber das Material ist natürlich auch etwas Überliefertes und sich im Lauf der Geschichte Entwickelndes.<br />

Die auf ein Stück Holz applizierten Techniken wie Sägen, Schnitzen und Schleifen gehören zum<br />

Holz wie die Subdominante zur tonalen Musik. Material ist, mit anderen Worten, auch Geschichte.<br />

Beide Positionen wurden in der Musik nach 1945 vertreten und bisweilen radikalisiert. Die Serialisten<br />

waren Jünger des Fortschritts. Ihre Musik lässt sich anders als eine aus der freien Atonalität und der<br />

Dodekaphonie Schönbergs hervorgegangene nicht Denken. Die Spektralisten wiederum orientierten<br />

sich an zeitlosen akustischen Eigenschaften des Klangs, die sie kompositorisch veredelten.<br />

In den Werken von Enno Poppe fallen die Verfahren der Serialisten und der Spektralisten und also<br />

auch zwei unterschiedliche Materialbegriffe ineins. Einerseits gibt sich Poppe geschichtsbewusst:<br />

traditionslos könne er sich nicht vorstellen und seine Ensemblestücke stellt er wie selbstverständlich<br />

in eine Gattungstradition, die Schönberg 1906 mit seiner Kammersinfonie ins Leben gerufen hat. Andererseits<br />

behauptet Poppe sich als Phänomenologe, dessen musikalische Phantasie sich am Klang<br />

und seinen akustischen Eigenschaften entzündet.<br />

Bereits in den Titeln Holz – Knochen – Öl wird das Material als Thema der Trilogie angesprochen.<br />

Poppe selbst bezeichnet sie als „Chiffren des Organischen“. Und bis zu einem gewissen Grade lässt<br />

sich die Konsistenz der Werke auch damit in Verbindung bringen: die biegsame Stabilität der verfaserten<br />

Stimmverläufe in Holz, die sprichwörtlich trockene Härte des „Martellatissimo“ und des „Secco“<br />

in Knochen und der zähe aber energische Strom ineinander fl ießender Linien in Öl.<br />

Aber wie und wo fallen Natur und Geschichte darin zusammen? Zu den Verfahren, die Poppe auf diese<br />

drei Werke appliziert, gehören Modelle organischen Wachstums. Die Verästelung von Zweigen z.<br />

B. lässt sich mathematisch erfassen und als Proporz auf Tonhöhen- und Dauernverhältnisse übertragen.<br />

Die Bearbeitung der Motive unterliegt dabei einem gewissen Kalkül; Zahlenverhältnisse spielen<br />

in diesen Werken durchaus eine entscheidende Rolle. Aber der Blick auf die Gestalt eines Baumes<br />

verrät, dass in der Natur Kräfte am Werke sind, die Symmetrien und Regelmäßigkeiten bestenfalls<br />

andeuten, dass allerorts Knoten und Unwuchten entstehen, für die die mathematische Logik keinen<br />

Platz hat.<br />

Nehmen wir den Anfang von Holz. Die Klarinette stellt ein viertöniges Motiv vor, dessen Physiognomie:<br />

kurz-kurz-lang-lang und auf-auf-ab, dem gesamten Stück sein Profi l verleiht.

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