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Dezember 2005/Jänner 2006 (PDF) - an.schläge

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Code: lila Veilchen<br />

Im Berlin Ende der 1920er entdeckte und erf<strong>an</strong>d eine Generation von<br />

Lesben ihre Sexualität und Identität. Katharina Nagele hat die<br />

Dissertation über die Zeitschriften der lesbischen Berlinerinnen gelesen.<br />

Mit den Roaring Twenties in<br />

Berlin assoziiert frau Marlene<br />

Dietrich, Drogen und den<br />

Charleston, durch den rhythmisches<br />

Hüpfen erstmals Teil<br />

westlicher Clubkultur wurde. Ja, diese<br />

Dekade erlebt die Geburt modernen<br />

Ausgehens überhaupt, nachdem das<br />

Jahrhundert der Bälle, auf denen Mädchen<br />

unter den ausschweifungstötenden<br />

Augen ihrer Familien ein Debut<br />

t<strong>an</strong>zen mussten, auch kulturell ausklingt.<br />

Denn verglichen mit den Gepflogenheiten<br />

nächtlichen Vergnügens<br />

des 19. Jahrhunderts werden<br />

Frauen erstmals als eigenständige<br />

Kundinnen von den diversen Lokalitäten<br />

umworben und sind nicht nur Begleiterinnen<br />

oder Personal für männliche<br />

Nachtschwärmer.<br />

Die „neue Frau“ änderte ihr Äußeres<br />

wie ihr Inneres und es wurde möglich,<br />

die zum alten Frauenbild gehörige<br />

Heterosexualität gleich mit in Frage zu<br />

stellen. So kam es zu dem Phänomen,<br />

dass homosexuellen Frauen im Berlin<br />

der 1920er Jahre eine nie wieder erreichte<br />

Anzahl <strong>an</strong> Clubs, Bars, Dielen<br />

und Cafés zur Verfügung st<strong>an</strong>d. Natürlich<br />

war dieser W<strong>an</strong>del der Ökonomie<br />

der kapitalistischen Gesellschaft geschuldet,<br />

in der junge Frauen familienunabhängige<br />

Arbeitsplätze und Einkommen<br />

in der <strong>an</strong>onymen Großstadt<br />

vorf<strong>an</strong>den. Zwar waren die Zeiten alles<br />

<strong>an</strong>dere als rosig. Lesben und Schwule<br />

wurden bei der Arbeit und von Gesetzes<br />

wegen diskriminiert und je geringer<br />

das Einkommen, desto stärker der<br />

soziale Anpassungsdruck. Aber es gab<br />

Lokale, die selbst für schlecht verdienende<br />

Angestellte und Arbeiterinnen<br />

leistbar waren und es entst<strong>an</strong>d eine lebendige<br />

Subkultur, in der lesbische Sexualität,<br />

Begehren und Erotik diskutiert<br />

und konstruiert wurden und in<br />

der das lila Veilchen zum Erkennungszeichen<br />

wurde.<br />

Die Autorin Heike Schader, die Geschichte,<br />

Soziologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte<br />

studierte, bereitet<br />

in „Virile, Vamps und wilde Veilchen“<br />

die historischen Zeugnisse dieses Prozesses<br />

der Konstruktion weiblicher<br />

Homosexualität, die Zeitschriften homosexueller<br />

Frauen im Berlin der<br />

1920er auf. In den Zeitschriften wurden<br />

einerseits (pseudo-)wissenschaftliche<br />

Artikel über Homosexualität von<br />

AutorInnen ungeachtet ihres Geschlechts<br />

publiziert, <strong>an</strong>dererseits Erzählungen,<br />

zumeist Liebesgeschichten,<br />

die von homosexuellen Frauen<br />

h<strong>an</strong>delten und ausschließlich von diesen<br />

geschrieben wurden. Dabei wurden<br />

lesbische Liebes-, Beziehungs-,<br />

und Begehrens-Modelle formuliert.<br />

Sp<strong>an</strong>nend auch die Diskussionen via<br />

Leserinnenbriefe, in denen es um, zumeist<br />

von den Redakteurinnen vorgegebene<br />

Themen ging, z.B. um Beziehungen<br />

zu verheirateten Frauen, die<br />

etwa die materielle Sicherheit nicht<br />

aufgeben konnten oder ihre Kinder<br />

nicht im Stich lassen wollten. Hier<br />

kam tatsächlich Erlebtes zur Sprache.<br />

Ein Ringen um das Ideal weiblicher<br />

Homosexualität f<strong>an</strong>d statt. Scha-<br />

der: „Während zum einen die Frage<br />

nach der gleichgeschlechtlichen sexuellen<br />

Betätigung von Relev<strong>an</strong>z ist, wird<br />

auf der <strong>an</strong>deren Seite zu Recht eine<br />

weiter greifende Interpretation weiblich-homosexueller<br />

Lebensweisen und<br />

Konzepte eingefordert und beschrieben.“<br />

So wurden zwar in Anlehnung<br />

<strong>an</strong> heterosexuelle Beziehungs- und<br />

Begehrenskonzepte Rollen, wie die der<br />

virilen oder femininen Homosexuellen<br />

übernommen, jedoch sollten Beziehungen<br />

zwischen zwei Frauen <strong>an</strong>ders<br />

verlaufen als heterosexuelle.<br />

Auffällig ist, dass es im Gegensatz<br />

zu Homosexuelleninitiativen dieser<br />

Tage wenig um Politik ging. Dennoch<br />

wäre es verfehlt, die Berliner<br />

„Bubis“ und „Mädis“ als reine Life-Style-Lesben<br />

zu sehen, wie Gudrun Hauer<br />

viele unpolitische Lesben heute<br />

sieht: „Lesbisch zu sein wird als Privatsache<br />

verst<strong>an</strong>den, als bloße sexuelle<br />

Orientierung oder als Lifestyle,<br />

nicht als eine radikale politische Ansage...“.<br />

1 Waren doch homosexuelle<br />

Frauen im Berlin der 1920er Jahre einerseits<br />

einem höheren gesellschaftlichen<br />

Druck ausgesetzt als heute<br />

und <strong>an</strong>dererseits Pionierinnen, die<br />

dem Lesbisch-Sein erstmals unabhängig<br />

von männlichem Voyerismus öffentlich<br />

Gestalt zu geben versuchten.<br />

Das ist auch das Schöne <strong>an</strong> Heike<br />

Schaders Buch: Dass trotz aller Wissenschaftlichkeit<br />

die Frauen selbst zu<br />

Wort kommen und nicht zu Objekten<br />

unter dem Mikroskop unpersönlicher<br />

Forschung werden. ❚<br />

lese.zeichen<br />

1 Gurdrun Hauer in<br />

Lamd<strong>an</strong>achrichten 1/<strong>2005</strong>,<br />

Heike Schader: Virile, Vamps und<br />

wilde Veilchen. Sexualität, Begehren<br />

und Erotik in den Zeitschriften<br />

homosexueller Frauen im Berlin<br />

der 1920er Jahre.<br />

Ulrike Helmer Verlag, 2004<br />

24,95 Euro<br />

dezember jänner <strong>2005</strong> <strong>2006</strong><strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> 39

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