Dezember 2005/Jänner 2006 (PDF) - an.schläge
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hen. Sie entdeckte und ermunterte Todora<br />
Radeva, junge Mutter von drei Kindern,<br />
ihre Geschichten zu veröffentlichen.„Ich<br />
setzte sie unter Druck, weil ich<br />
f<strong>an</strong>d, dass es wichtig war, das Buch zu<br />
veröffentlichen“, lacht Iv<strong>an</strong>ova. Der Einsatz<br />
lohnte sich. Radevas Figuren zeigen<br />
Ambivalenzen im weiblichen Alltag auf,<br />
entlarven Mythen und Klischees und erfinden<br />
Rituale: Eine Frau, die in Deutschl<strong>an</strong>d<br />
als Prostituierte arbeitete, versucht,<br />
nach Bulgarien zurückgekehrt, einen l<strong>an</strong>gersehnten<br />
Heirats<strong>an</strong>trag innerlich zu<br />
verarbeiten. Der M<strong>an</strong>n weiß nichts von<br />
ihrer Sexarbeit. Die Frau baut sich eine<br />
traditionelle jap<strong>an</strong>ische Puppe namens<br />
„Daruma“ aus ihren Tagebuchblättern,<br />
der sie nur ein Auge malt, denn das zweite<br />
würde bereits einen erfüllten Wunsch<br />
symbolisieren. Der Ausg<strong>an</strong>g der Geschichte<br />
bleibt offen, Radeva lässt viel<br />
Platz in ihren Erzählungen. Eine <strong>an</strong>dere<br />
weibliche Figur geht einem Plakat auf<br />
den Leim, das Einzigartigkeit und Anbetung<br />
von Frauen in der Liebe verspricht.<br />
Doch die erhoffte Mystifizierung wird<br />
schnell entlarvt: Andere Frauen sind<br />
ebenfalls dem Klischee des „Flieder im<br />
Herbst“ auf den Leim geg<strong>an</strong>gen und sitzen<br />
nach einer mysteriösen Busfahrt in<br />
einem Vorort von Sofia fest.„Es geht um<br />
den Versuch ehrlich zu sein. Zumindest<br />
zu sich selbst. Und zu akzeptieren, wer<br />
m<strong>an</strong> ist und was m<strong>an</strong> get<strong>an</strong> hat. Es ist<br />
schwer, von nicht enden wollenden Träumen<br />
Abschied zu nehmen“, seufzt Radeva<br />
unter ihrer pinkfarbenen Kappe. Todora<br />
Radeva ortet aber nach dem Abschied<br />
von Wünschen, die das Selbst zerstören<br />
können, auch freiwerdende<br />
Energie und freie Sicht auf wirkliche Unterstützung<br />
und Stärke.„Meine Mutter<br />
hat uns Kindern immer Gedichte auf Fotos<br />
geschrieben. Ich will meinen Kindern<br />
ebenfalls das Gefühl mitgeben, dass sie<br />
geliebt werden. In diese Sicherheit k<strong>an</strong>n<br />
m<strong>an</strong> später zurückkehren. Das ist sehr<br />
wichtig in der heutigen Zeit“, sagt sie. Bei<br />
ihr sind es Schals und keine Fotos, doch<br />
auch dieses Ritual des Beschriftens und<br />
Tragens und inzwischen Zeichen einer<br />
Bewegung soll Kraft geben.„In meinem<br />
Buch gibt es nicht viele soziale Momente,<br />
die meisten der Geschichten h<strong>an</strong>deln<br />
von unserem Leben im Gefühl, im Kampf.<br />
Auf der <strong>an</strong>deren Seite stimmt das nicht,<br />
denn unser Gefühl ist ja direkt verbunden<br />
mit dem sozialen Leben.Wie k<strong>an</strong>n<br />
z.B. eine Frau, die sich schuldig fühlt, dass<br />
ihr M<strong>an</strong>n säuft und sie schlägt, dieses<br />
falsche Gefühl der Schuld los werden?<br />
M<strong>an</strong>chmal k<strong>an</strong>n eine symbolische Suche<br />
helfen, denn nicht nur die Aktion auf der<br />
Straße oder das, was wir tun, macht<br />
Frauen zu Subjekten“, betont Radeva. Viele<br />
Frauen ihrer Generation, wie z.B. Maria<br />
St<strong>an</strong>kova oder Kristin Dimitrova, schrieben<br />
auf diese Art, die nach der Wende<br />
1990 entst<strong>an</strong>d und ein komplett neuer<br />
Stil war – sehr nah am Leben der Frauen<br />
dr<strong>an</strong>, aber doch auf eine bessere Zukunft<br />
ausgerichtet.<br />
Vorsichtsmaßnahmen. In Sofia sitzen in der<br />
Straßenbahn Frauen mit tausend<br />
Sackerln in der einen H<strong>an</strong>d und einem<br />
Buch in der <strong>an</strong>deren. Es wird viel gelesen.<br />
„Ich betrete den theoretischen<br />
Raum des Feminismus in meinen Erzählungen“,<br />
erklärt Rumj<strong>an</strong>a Zacharieva, eine<br />
energiegeladene, humorvolle Schrifstellerin,<br />
die mit 20 Jahren wegen einer<br />
Liebe nach Deutschl<strong>an</strong>d zog, schw<strong>an</strong>kend<br />
in der Straßenbahn. „Nach dem<br />
bulgarischen Feminismus, den ich in<br />
Gänsefüßchen setzen würde, war ich in<br />
Deutschl<strong>an</strong>d sehr erstaunt, dass dort<br />
Frauen für bestimmte Dinge kämpften,<br />
die in Bulgarien selbstverständlich waren.<br />
Obwohl eben diese Art des Feminismus,<br />
wie z.B. berufliche Anerkennung,<br />
Vollbeschäftigung und gleicher Lohn, in<br />
Bulgarien ein Staatsauftrag war. In<br />
Deutschl<strong>an</strong>d reduzierte sich die Debatte<br />
in meinen Augen als Migr<strong>an</strong>tin auf<br />
die reale Vari<strong>an</strong>te: M<strong>an</strong>n macht Dreck.<br />
Frau macht Dreck weg.“<br />
In Wien, beim Literatur-Festival der<br />
Alten Schmiede im Theater Odeon, wird<br />
Rumj<strong>an</strong>a Zacharieva, die ihre Jugend in<br />
der Geburtsstadt von Elias C<strong>an</strong>etti verbrachte,<br />
eingebremst. „Seien Sie nicht<br />
nervös“, befiehlt Alte-Schmiede Chef<br />
Walter Famler. Zacharieva, mit schwarzem<br />
Hut und einer Art Charlie Chaplin<br />
Hose, zieht trotzdem ihre Show ab. Den<br />
aufbr<strong>an</strong>denden Beifall winkt sie lässig<br />
ab. „Als mir mein Vater noch von gut<br />
und böse erzählte, wurde das Volk König<br />
und die Beamten des Volkes wollten sehen,<br />
was gut und böse ist. D<strong>an</strong>n kamen<br />
die Bösen <strong>an</strong> die Macht und sperrten<br />
die ein, die sich für die Guten hielten.<br />
Beschwerden aus dem Volk wurden vorgelesen.<br />
M<strong>an</strong> stellte alle Bösen, die gut<br />
waren <strong>an</strong> eine W<strong>an</strong>d. Und alle Bösen,<br />
die wirklich böse waren, <strong>an</strong> die <strong>an</strong>dere.“<br />
Die kleine Tochter kennt sich nicht mehr<br />
aus. „So l<strong>an</strong>ge es Gute und Böse gibt,<br />
wird es immer gute Böse und böse Gute<br />
geben. Das ist ja wohl klar“, sagt der Vater.<br />
„Natürlich“, <strong>an</strong>twortet das Mädchen:<br />
„Aber was ist d<strong>an</strong>n gut?“ Wie die kleine,<br />
quirlige Schriftstellerin das bringt, ist<br />
mit den Mitteln eines Textes schwer<br />
wieder zu geben. Auch die nächste Erzählung,<br />
die Parodie auf ein Ehepaar,<br />
das zum Essen eingeladen ist, lebt von<br />
der beinahe kabarettistischen Darbietung.<br />
Der M<strong>an</strong>n steht im Anzug <strong>an</strong> der<br />
Türe, den Schlüssel in der H<strong>an</strong>d. „Ich<br />
warte im Auto!“ ruft er drohend. „Ich<br />
aber nicht, mein Schatz!“ flötet die Frau,<br />
während sie sich „Du k<strong>an</strong>nst warten!“<br />
denkt und ihm nicht verrät, dass er<br />
noch seine Hausschuhe trägt. Eine weitere<br />
Geschichte über den gleichen Helden,<br />
der sich Herr der Umstände wähnt,<br />
ist ebenso gekennzeichnet von einer<br />
nur scheinbaren Unterwerfung. Für<br />
ominöse „Vorsichtsmaßnahmen“ muss<br />
die Frau ohne Angabe von Gründen<br />
nasse H<strong>an</strong>dtücher her<strong>an</strong> schleppen.<br />
Brav, aber voller Hass, spielt die Frau<br />
mit. „Solltest du einmal widerstehen<br />
können, musst du unbedingt Vorsichtsmaßnahmen<br />
ergreifen“, sagt er. „Ich vergesse<br />
solche Sachen“, meint sie entschuldigend.<br />
„Ich weiß, dass du Dinge<br />
vergisst. Das ist ja das Einfachste, Dinge<br />
zu vergessen“, sagt er boshaft. Zwei<br />
Leute, eine Welt. „Du hast immer nur<br />
gegen mich gelebt“, resümiert er noch<br />
schnell. Die Frau kriegt Hunger. Es geht<br />
nicht um Sex, sondern ums Fondue essen<br />
– im Bad, wegen der notwendigen<br />
Vorsichtsmaßnahmen.<br />
Im Anschluss folgt eine Art Sprechgedicht<br />
über die <strong>an</strong>gebliche Steigerung<br />
von „Ich fühl mich ausl<strong>an</strong>d, ausländer,<br />
zu Hause – denn d<strong>an</strong>n klopfen sie schon<br />
<strong>an</strong> deine Tür: Du musst nach Hause!“<br />
„Wer k<strong>an</strong>n schon deutsch?“ fragt Zacharieva.<br />
„Je mehr du liest, wirst du die<br />
Sprache los. Sprachlos, sprachloser... und<br />
der Superlativ ist d<strong>an</strong>n Schriftstellerin.<br />
Denn nur so vermeidest du es als Ausländerin<br />
nur eine Leserin zu werden, die<br />
ihre eigene Sprache verliert. Nur so<br />
bleibt dir das Los der Leserin erspart, für<br />
die Reinigungsprozesse <strong>an</strong>derer Menschen<br />
auch noch Geld auszugeben. Die<br />
Ausländerin, die zur Schriftstellerin im<br />
fremden L<strong>an</strong>d wird, macht den genialsten<br />
aller Schachzüge: Nicht in die Falle<br />
des <strong>an</strong>geblichen Analphabetinnentums,<br />
sondern selber Literatin!“ ❚<br />
literaturbulgarien<br />
dezember jänner <strong>2005</strong> <strong>2006</strong><strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> 15