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<strong>an</strong>.sage<br />

Drehladen und Babyklappen<br />

Die Historikerin Verena Pawlowsky und die oberösterreichische<br />

SP-Gesundheitsl<strong>an</strong>desrätin Silvia Stöger über eine neue/alte Idee.<br />

Verena Pawlowsky<br />

Babyklappe – eine neues Wort ist kreiert. Ein Hamburger Verein ist<br />

sein Erfinder und erster Betreiber der dahinter stehenden Idee: einer<br />

mit allen Raffinessen einer modernen High-Tech-Einrichtung ausgestatteten<br />

<strong>an</strong>onymen Abgabestelle für ungewollte Neugeborene. Das Wort<br />

mag neu sein, die damit ben<strong>an</strong>nte Einrichtung ist es jedoch nicht. Ihre hölzerne,<br />

mit einem Glöckchen versehene Vorläuferin gab es in Europa seit dem<br />

Mittelalter <strong>an</strong> jedem Findelhaus. Wien hatte nie eine Drehlade (von Drehlade<br />

sprach m<strong>an</strong> im 18. und 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum), dafür<br />

aber eines der größten Findelhäuser der Welt. Joseph II. eröffnete es 1784<br />

und sicherte den Frauen Anonymität auf <strong>an</strong>dere Weise zu: Sie durften nicht<br />

nach ihrem Namen gefragt werden. Als Gegenleistung wurde ihnen die<br />

Entbindung auf der Gebärhausklinik abverl<strong>an</strong>gt: ein – nebenbei bemerkt –<br />

für die Entwicklung der weltberühmten Wiener geburtshilflichen Schule<br />

nicht unbedeutender Tauschh<strong>an</strong>del, hatten die Ärzte doch Zugriff auf mehrere<br />

tausend Frauen pro Jahr. Die meisten von ihnen: ledige Dienstbotinnen.<br />

Die Kindsväter: mittellose Gesellen. Kinder hatten da keinen Platz.<br />

Drehladen damals – Babyklappen und -nester heute: Kindesaussetzung<br />

provoziert Emotionen und Kontroversen. Die Argumente blieben die gleichen.<br />

Schon die BefürworterInnen der Findelhäuser führten den Schutz des<br />

Kindes vor Kindsmord und den der Mutter vor Strafverfolgung ins Treffen.<br />

Die GegnerInnen verwiesen auf die Unmenschlichkeit der Kindesweglegung<br />

und die Gefahr, daß Frauen zur leichtfertigen Kindesaussetzung ermuntert<br />

werden könnten. Der Hamburger Verein argumentiert, daß sein Angebot eine<br />

Versorgungslücke schließt. Die Babyklappe ist eine Einrichtung für g<strong>an</strong>z<br />

spezielle und wohl sehr seltene Notlagen, in denen traditionelle sozialpolitische<br />

Angebote nicht greifen. Für Frauen, die nicht in der Lage sind, sich Hilfe<br />

zu verschaffen, die ihre Schw<strong>an</strong>gerschaft möglicherweise vor sich selbst<br />

nicht eingestehen können und von der Geburt überrascht werden, für Frauen<br />

in Extremsituationen also, ist das niederschwellige Hilfs<strong>an</strong>gebot einer<br />

<strong>an</strong>onymen Kinderabgabestelle tatsächlich sinnvoll.<br />

Nicht gegen die neue/alte Idee soll hier argumentiert werden, sondern<br />

gegen eine Diskussion, die sich dem spektakulären Charakter der Baby<br />

-klappe verschreibt und die alltäglichen Probleme von Frauen mit Kindern<br />

vergessen läßt. Väter, die ihre Ver<strong>an</strong>twortung wahrnehmen, flächendeckende<br />

und billige Kinderbetreuung, ein Karenzgeld, das zum Leben reicht, mehr<br />

Hilfe für alleinerziehende Mütter sowie der Ausbau – und nicht die<br />

budgetäre Aushungerung – von Fraueneinrichtungen müßten die Inhalte<br />

dieser Debatte sein .❚<br />

Der Artikel erschien in ungekürzter Form am 8.8. <strong>2000</strong> in „Der St<strong>an</strong>dard“, nachzulesen in: http://www.derst<strong>an</strong>dard.at.<br />

24 <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong>september <strong>2000</strong><br />

Silvia Stöger<br />

St<strong>an</strong>dpunkte und<br />

Kommentare müssen nicht<br />

mit der Redaktionsmeinung<br />

übereinstimmen.<br />

Es soll nicht mehr passieren, daß ein Neugeborenes<br />

einfach irgendwo ungeschützt weggelegt wird, weil<br />

die Mutter in einer persönlichen Notsituation nicht<br />

mehr ein noch aus weiß. Daher habe ich ver<strong>an</strong>laßt, daß in<br />

Oberösterreich nun ein umfassendes Schutz- und Hilfsnetz<br />

geschaffen wird, wobei ein wichtiger Teil die Einrichtung<br />

von „Babynestern“ ist. Dort können Neugeborene <strong>an</strong>onym<br />

und straflos abgegeben werden. Diese auch Babyklappen<br />

gen<strong>an</strong>nten Einrichtungen sollen im AKH Linz und in einem<br />

weiteren Spital außerhalb des oberösterreichischen<br />

Zentralraumes situiert werden. Wenn sich die Mutter nach<br />

einer bestimmten Überlegungsfrist nicht mehr meldet,<br />

werden diese Babys zur Adoption freigegeben.<br />

Das gilt auch für den Fall einer sogen<strong>an</strong>nten „<strong>an</strong>onymen<br />

Geburt“. Dabei soll es Frauen ermöglicht werden,<br />

ohne Namensnennung in einem Kr<strong>an</strong>kenhaus ein Kind<br />

zur Welt zu bringen. Das ist für Frauen in persönlichen<br />

Notsituationen eine noch bessere Alternative als das<br />

Babynest, weil schon vor und während der Geburt Mutter<br />

und Kind medizinisch bestens versorgt sind. Überdies<br />

k<strong>an</strong>n es durch diese Beratungs- und Betreuungssituation<br />

auch leichter gelingen, daß die Mutter ihr Baby vielleicht<br />

doch behält, weil ihr bei der Bewältigung ihrer Krise<br />

geholfen wird.<br />

Auf meinen Antrag hin hat daher die oberösterreichische<br />

L<strong>an</strong>desregierung nicht nur den Grundsatzbeschluß<br />

für Babynester und die <strong>an</strong>onyme Entbindung gefaßt, sondern<br />

auch eine Informationsoffensive über Beratungs- und<br />

Hilfsmöglichkeiten für werdende Mütter in Notsituationen<br />

und verstärkte Aufklärungskampagnen für Mädchen<br />

beschlossen.<br />

Ich trete vehement dafür ein, daß eine Mutter, die das<br />

Babynest nutzt oder sich zu einer <strong>an</strong>onymen Geburt entschließt,<br />

um ihr Neugeborenes gut versorgt zu wissen,<br />

nicht mehr nach dem Strafgesetzbuch wegen Verlassens<br />

eines Unmündigen bestraft werden soll. Der Schutz des Lebens<br />

von Mutter und Kind muß in diesen persönlichen<br />

Notsituationen wichtiger sein als staatliche Rechtsprinzipien<br />

wie jenes der Identitätskenntnis der Eltern. .❚

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