September 2000 (PDF) - an.schläge
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<strong>an</strong>.sage<br />
Drehladen und Babyklappen<br />
Die Historikerin Verena Pawlowsky und die oberösterreichische<br />
SP-Gesundheitsl<strong>an</strong>desrätin Silvia Stöger über eine neue/alte Idee.<br />
Verena Pawlowsky<br />
Babyklappe – eine neues Wort ist kreiert. Ein Hamburger Verein ist<br />
sein Erfinder und erster Betreiber der dahinter stehenden Idee: einer<br />
mit allen Raffinessen einer modernen High-Tech-Einrichtung ausgestatteten<br />
<strong>an</strong>onymen Abgabestelle für ungewollte Neugeborene. Das Wort<br />
mag neu sein, die damit ben<strong>an</strong>nte Einrichtung ist es jedoch nicht. Ihre hölzerne,<br />
mit einem Glöckchen versehene Vorläuferin gab es in Europa seit dem<br />
Mittelalter <strong>an</strong> jedem Findelhaus. Wien hatte nie eine Drehlade (von Drehlade<br />
sprach m<strong>an</strong> im 18. und 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum), dafür<br />
aber eines der größten Findelhäuser der Welt. Joseph II. eröffnete es 1784<br />
und sicherte den Frauen Anonymität auf <strong>an</strong>dere Weise zu: Sie durften nicht<br />
nach ihrem Namen gefragt werden. Als Gegenleistung wurde ihnen die<br />
Entbindung auf der Gebärhausklinik abverl<strong>an</strong>gt: ein – nebenbei bemerkt –<br />
für die Entwicklung der weltberühmten Wiener geburtshilflichen Schule<br />
nicht unbedeutender Tauschh<strong>an</strong>del, hatten die Ärzte doch Zugriff auf mehrere<br />
tausend Frauen pro Jahr. Die meisten von ihnen: ledige Dienstbotinnen.<br />
Die Kindsväter: mittellose Gesellen. Kinder hatten da keinen Platz.<br />
Drehladen damals – Babyklappen und -nester heute: Kindesaussetzung<br />
provoziert Emotionen und Kontroversen. Die Argumente blieben die gleichen.<br />
Schon die BefürworterInnen der Findelhäuser führten den Schutz des<br />
Kindes vor Kindsmord und den der Mutter vor Strafverfolgung ins Treffen.<br />
Die GegnerInnen verwiesen auf die Unmenschlichkeit der Kindesweglegung<br />
und die Gefahr, daß Frauen zur leichtfertigen Kindesaussetzung ermuntert<br />
werden könnten. Der Hamburger Verein argumentiert, daß sein Angebot eine<br />
Versorgungslücke schließt. Die Babyklappe ist eine Einrichtung für g<strong>an</strong>z<br />
spezielle und wohl sehr seltene Notlagen, in denen traditionelle sozialpolitische<br />
Angebote nicht greifen. Für Frauen, die nicht in der Lage sind, sich Hilfe<br />
zu verschaffen, die ihre Schw<strong>an</strong>gerschaft möglicherweise vor sich selbst<br />
nicht eingestehen können und von der Geburt überrascht werden, für Frauen<br />
in Extremsituationen also, ist das niederschwellige Hilfs<strong>an</strong>gebot einer<br />
<strong>an</strong>onymen Kinderabgabestelle tatsächlich sinnvoll.<br />
Nicht gegen die neue/alte Idee soll hier argumentiert werden, sondern<br />
gegen eine Diskussion, die sich dem spektakulären Charakter der Baby<br />
-klappe verschreibt und die alltäglichen Probleme von Frauen mit Kindern<br />
vergessen läßt. Väter, die ihre Ver<strong>an</strong>twortung wahrnehmen, flächendeckende<br />
und billige Kinderbetreuung, ein Karenzgeld, das zum Leben reicht, mehr<br />
Hilfe für alleinerziehende Mütter sowie der Ausbau – und nicht die<br />
budgetäre Aushungerung – von Fraueneinrichtungen müßten die Inhalte<br />
dieser Debatte sein .❚<br />
Der Artikel erschien in ungekürzter Form am 8.8. <strong>2000</strong> in „Der St<strong>an</strong>dard“, nachzulesen in: http://www.derst<strong>an</strong>dard.at.<br />
24 <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong>september <strong>2000</strong><br />
Silvia Stöger<br />
St<strong>an</strong>dpunkte und<br />
Kommentare müssen nicht<br />
mit der Redaktionsmeinung<br />
übereinstimmen.<br />
Es soll nicht mehr passieren, daß ein Neugeborenes<br />
einfach irgendwo ungeschützt weggelegt wird, weil<br />
die Mutter in einer persönlichen Notsituation nicht<br />
mehr ein noch aus weiß. Daher habe ich ver<strong>an</strong>laßt, daß in<br />
Oberösterreich nun ein umfassendes Schutz- und Hilfsnetz<br />
geschaffen wird, wobei ein wichtiger Teil die Einrichtung<br />
von „Babynestern“ ist. Dort können Neugeborene <strong>an</strong>onym<br />
und straflos abgegeben werden. Diese auch Babyklappen<br />
gen<strong>an</strong>nten Einrichtungen sollen im AKH Linz und in einem<br />
weiteren Spital außerhalb des oberösterreichischen<br />
Zentralraumes situiert werden. Wenn sich die Mutter nach<br />
einer bestimmten Überlegungsfrist nicht mehr meldet,<br />
werden diese Babys zur Adoption freigegeben.<br />
Das gilt auch für den Fall einer sogen<strong>an</strong>nten „<strong>an</strong>onymen<br />
Geburt“. Dabei soll es Frauen ermöglicht werden,<br />
ohne Namensnennung in einem Kr<strong>an</strong>kenhaus ein Kind<br />
zur Welt zu bringen. Das ist für Frauen in persönlichen<br />
Notsituationen eine noch bessere Alternative als das<br />
Babynest, weil schon vor und während der Geburt Mutter<br />
und Kind medizinisch bestens versorgt sind. Überdies<br />
k<strong>an</strong>n es durch diese Beratungs- und Betreuungssituation<br />
auch leichter gelingen, daß die Mutter ihr Baby vielleicht<br />
doch behält, weil ihr bei der Bewältigung ihrer Krise<br />
geholfen wird.<br />
Auf meinen Antrag hin hat daher die oberösterreichische<br />
L<strong>an</strong>desregierung nicht nur den Grundsatzbeschluß<br />
für Babynester und die <strong>an</strong>onyme Entbindung gefaßt, sondern<br />
auch eine Informationsoffensive über Beratungs- und<br />
Hilfsmöglichkeiten für werdende Mütter in Notsituationen<br />
und verstärkte Aufklärungskampagnen für Mädchen<br />
beschlossen.<br />
Ich trete vehement dafür ein, daß eine Mutter, die das<br />
Babynest nutzt oder sich zu einer <strong>an</strong>onymen Geburt entschließt,<br />
um ihr Neugeborenes gut versorgt zu wissen,<br />
nicht mehr nach dem Strafgesetzbuch wegen Verlassens<br />
eines Unmündigen bestraft werden soll. Der Schutz des Lebens<br />
von Mutter und Kind muß in diesen persönlichen<br />
Notsituationen wichtiger sein als staatliche Rechtsprinzipien<br />
wie jenes der Identitätskenntnis der Eltern. .❚