September 2000 (PDF) - an.schläge

September 2000 (PDF) - an.schläge September 2000 (PDF) - an.schläge

29.06.2013 Aufrufe

Fo t o s : Eva We i s s e n b e rg e r, A rc h i v politikinternationaljapan Die High Tech Gesellschaft mit Jahrtausende alter Tradition stellt hohe Ansprüche an Japans Frauen von heute. 14 an.schlägeseptember 2000 In Japan werden – wie in allen kapitalistischen Gesellschaften – mit menschlichen Gefühlen und Bedürfnissen Geschäfte gemacht. So auch mit dem schlechten Gewissen von Frauen, die abgetrieben haben. Diese können einen sogenannten Mizuko kaufen, eine Steinstatue. Sie wird zum „Obon“, dem Fest der Toten, das etwa unserem Allerheiligen vergleichbar ist, mit Babykleidern angezogen und mit Spielzeug und Nahrung beschenkt. Übersetzt heißt Mizuko „Wasserkind“ und meint ein noch ungeborenes Kind im Fruchtwasser der Mutter. Eine Frühform des Mizuko gab es bereits im 13. Jahrhundert: einfache Statuetten aus zwei übereinander gelegten Steinen,„Ojizoosama“ genannt. Wie auch in Europa lebte zu dieser Zeit die q Embryoland Japanerinnen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, betreiben einen Totenkult für ihre ungeborenen Kinder. – Um diese Tatsache nicht eurozentristisch mißzuverstehen, bedarf es Wissens um kulturelle Hintergründe. Von Barbara Fröhlich Bevölkerung Japans mehrheitlich in bäuerlichem Milieu und in großer Armut. Neugeborene zu töten, um das ökonomische Überleben der ganzen Familie zu sichern, und auch Abtreibungen waren nicht ungewöhnlich. Im buddhistischen Glauben gibt es das sogenannte „Kuyoo“: einen Ritus, um die Seele von Verstorbenen zu beruhigen – auch für die Seelen von Ungeborenen, denen dazu Ojizoosama-Statuen errichtet wurden. Im Buddhismus gilt Abtreibung nicht als Schuld im religiösen Sinn, wie etwa im christlichen Glauben. Aber es gab und gibt so etwas wie ein gesellschaftliches Tabu. So durften diese Ojizoosama nicht in den offiziellen Friedhöfen stehen, sondern nur am Rande von Dörfern, beziehungsweise außerhalb der Friedhöfe. – Heute existieren sogar spezielle Mizuko Tempel. Und in den meisten buddhistischen Tempeln gibt es einen eigenen Platz für eine Mizuko Statue, vor der Gläubige ihre Andacht halten können. Wertewandel. „Am Anfang war die Sonne“: Dieses 1911 von der Pionierin der japanischen Frauenbewegung Hiratsuka Raicho veröffentliche Gedicht in der Zeitschrift Seitou (Blaustrumpf ) spielt nicht auf die Sonnengöttin Amaterasu aus der Schinto-Mythologie an, sondern vielmehr auf die Sozialstruktur der japanischen Frühgeschichte und die von Frauen bestimmte Kultur der Heian Zeit (794-1192). Durch das neo-konfuzianische Gesellschafts- und Bildungsideal der Tokugawa-Epoche (1600-1868) ist die japanische Frau in allen Ständen zum

lassen Abglanz ihres eigenen einstigen Selbst geworden. Das Familiensystem der japanischen Frühzeit beruhte auf der sogenannten Besuchsehe mit matrilokalem Wohnsitz und Erbfolgerecht der Kinder. In den einfachen Volksschichten oblag Fischfang und Jagd den Männern, Ackerbau den Frauen. Mit der Teilnahme des Mannes an der Landwirtschaft kam der Wandel zur patriarchalischen Gesellschaftsform in Gang.Weitere Ursachen, die zur Unterordnung der Frau beitrugen, waren militärische Auseinandersetzungen, Bürgerkriege, die Stärkung des Bewußtseins von Privateigentum, auf der ethisch-religiösen Ebene begleitet von einer Überlagerung des ursprünglichen Schintoismus durch Einflüsse aus China. Schmuckkästchen. Hayashi Razan, Berater der Tokugawa Shougune in Fragen der Staatsethik, verkündete als den „himmlischen Weg im menschlichen Leben“ die Beachtung der „fünf Beziehungen“: Untertan-Herrscher, Kind-Eltern, Frau- Mann, jüngere-ältere Geschwister, Freund-Freund. Durch ein solches Denken, das die bestehende Sozialordnung als naturgegeben sanktioniert, soll der jeweils untergeordnete Teil eines solchen hierarchischen Verhältnisses daran gehindert werden, seine Stellung als veränderbar aufzufassen. Damit wurden Frauen aller Stände auf eine gehorsam dienende Funktion festgelegt. Das sogenannte „onna daigaku takarabako“ (Schmuckkästchen der Hohen Schule für die Frau) von 1716, eine Fibel zur Erziehung der Mädchen, gibt in 20 Punkten die wichtigsten Gesichtspunkte zur Erziehung von Töchtern an. Hier einige Kostproben daraus: „Töchter sollen mehr zur Selbstlosigkeit erzogen werden als Söhne, denn ihre Bestimmung ist es, durch Heirat Mitglied einer anderen Familie zur werden und den Schwiegereltern zu Diensten zu sein. Werden sie durch eine zu nachsichtige Erziehung unfähig zu die- ser Unterwerfung, so sind die Eltern und nicht die Schwiegereltern verantwortlich, wenn die junge Frau aus dem Hause des Ehemannes verstoßen wird.“ „Außer ihrem Mann hat eine Frau keinen Herrn. Die größte lebenslange Pflicht einer Frau ist Gehorsam. Sie soll ihrem Mann höflich, demütig und versöhnlich begegnen. Eine Frau möge auf ihren Mann schauen, als wäre er der Himmel.“ „Die Frau muß sich ohne Empörung der Kritik stellen und in Geduld und Demut ihr Gewissen erforschen. Dann wird ihre Ehe dauerhaft sein.“ Mit derartigen Vorstellungen über die Pflichten der Frauen haben die Japanerinnen zuweilen noch heute zu rechnen. Der besondere Typus japanischer Weiblichkeit, wie er in aller Welt – vor allem aber bei den Männern – Berühmtheit erlangte, ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Erziehung zur Unterordnung, die in der Tokugawa Zeit ihren Höhepunkt erreichte. Bis in die Meiji-Zeit (1868-1912) blieb dies die vorherrschende Konzeption von Mädchenbildung. Dann allerdings wurde sie Punkt für Punkt kritischer Revision unterzogen und eine erste Welle – wenn auch begrenzter – Emanzipation der Frauen Japans fand statt. Traum vom Glück. Nicht zuletzt aufgrund der historischen Erziehungsideale ist in Japan auch heute die Kluft zwischen Mann und Frau noch verhältnismäßig groß. Fremdheit zwischen den Geschlechtern zieht sich durch alle Bereiche, vom äußeren, der Berufswelt, bis hin zum intimsten, der Sexualität. Diese Fremdheit hängt vor allem mit der Verdrängung von Sexualität sowie jedes erotischen Moments zusammen. Erotik wird praktisch nur Männern zugestanden, und auch ihnen nur in bestimmten Nischen des sozialen Lebens: in „Vergnügungsvierteln“ etwa oder als Pornografie-Konsum. Das Tabu, das auf allem Sexuellen und insbesondere der Erotik liegt, hat Japan hat die höchste Abtreibungsrate der Welt und eine boomende Abtreibungs- Industrie. starke historische Wurzeln im traditionellen Familiensystem, in dem Sexualität nicht als Bestandteil von Liebe toleriert wurde. Dieses Tabu wirkt bis heute nach. Allein zu leben, war für japanische Frauen der älteren Generation keine Alternative zur Ehe. Sie hatten geringe Schulbildung; ökonomischer und sozialer Druck machten die Heirat zur fast einzigen Möglichkeit der Existenzsicherung. Heute jedoch wagen immer mehr Frauen den Versuch, sich eine selbständige Existenz aufzubauen und allein zu leben. Immer mehr Frauen streben auch danach, ihre Sexualität nicht als eheliche Pflicht, sondern als Ausdruck von Liebe auszuleben. Auch Ergebnisse sexualwissenschaftlicher Studien belegen, daß außerehelicher Sex in Japan immer mehr Verbreitung findet. Die veränderten Einstellungen und Verhaltensweisen führen dazu, daß viele Frauen plötzlich vor der Realität einer ungewollten Schwangerschaft stehen, denn bis vor kurzem war es für Japanerinnen kaum möglich zu verhüten: Die Verwendung von Kondomen bedingt Abhängigkeit vom guten Willen der Männer und die „Pille“ war bis zum Jahr 1999 verboten. Auch nach der Legalisierung stehen ihr die Japanerinnen noch äußerst skeptisch gegenüber. Japan erreicht mit 22,4 Abtreibungen pro hundert Schwangerschaften die höchste Abtreibungsrate der Welt. Obwohl der Schwangerschaftsabbruch so gängig ist, wird den Frauen, vor allem wenn sie unverheiratet sind, ein enorm schlechtes Gewissen eingeimpft, wenn sie ihn durchführen lassen. Viele Frauen versuchen, diese negativen Gefühle zu besänftigen, indem sie den abgetriebenen Föten (Mizuko) durch ein traditionelles Totenritual ihre Anteilnahme bezeugen. Gesellschaftliche Tabus – und Abtreibung ist eines davon – gibt es in allen Kulturen. Mit den Ojizoosama bzw. Mizuko haben die Frauen eine Möglichkeit, den moralischen Druck der Gesellschaft, der ihnen Schuldgefühle aufzwingt, zumindest auf religiöser Ebene abzufangen. ❚ japaninternationalpolitik september 2000an.schläge 15

Fo t o s : Eva We i s s e n b e rg e r, A rc h i v<br />

politikinternationaljap<strong>an</strong><br />

Die High Tech Gesellschaft mit<br />

Jahrtausende alter Tradition<br />

stellt hohe Ansprüche <strong>an</strong> Jap<strong>an</strong>s<br />

Frauen von heute.<br />

14 <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong>september <strong>2000</strong><br />

In Jap<strong>an</strong> werden – wie in allen<br />

kapitalistischen Gesellschaften –<br />

mit menschlichen Gefühlen und<br />

Bedürfnissen Geschäfte gemacht.<br />

So auch mit dem<br />

schlechten Gewissen von Frauen, die abgetrieben<br />

haben. Diese können einen sogen<strong>an</strong>nten<br />

Mizuko kaufen, eine Steinstatue.<br />

Sie wird zum „Obon“, dem Fest der<br />

Toten, das etwa unserem Allerheiligen<br />

vergleichbar ist, mit Babykleidern <strong>an</strong>gezogen<br />

und mit Spielzeug und Nahrung<br />

beschenkt. Übersetzt heißt Mizuko „Wasserkind“<br />

und meint ein noch ungeborenes<br />

Kind im Fruchtwasser der Mutter.<br />

Eine Frühform des Mizuko gab es<br />

bereits im 13. Jahrhundert: einfache Statuetten<br />

aus zwei überein<strong>an</strong>der gelegten<br />

Steinen,„Ojizoosama“ gen<strong>an</strong>nt. Wie<br />

auch in Europa lebte zu dieser Zeit die<br />

q<br />

Embryol<strong>an</strong>d<br />

Jap<strong>an</strong>erinnen, die einen Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruch vornehmen lassen, betreiben einen<br />

Totenkult für ihre ungeborenen Kinder. – Um diese Tatsache nicht eurozentristisch<br />

mißzuverstehen, bedarf es Wissens um kulturelle Hintergründe. Von Barbara Fröhlich<br />

Bevölkerung Jap<strong>an</strong>s mehrheitlich in bäuerlichem<br />

Milieu und in großer Armut.<br />

Neugeborene zu töten, um das ökonomische<br />

Überleben der g<strong>an</strong>zen Familie zu<br />

sichern, und auch Abtreibungen waren<br />

nicht ungewöhnlich. Im buddhistischen<br />

Glauben gibt es das sogen<strong>an</strong>nte „Kuyoo“:<br />

einen Ritus, um die Seele von Verstorbenen<br />

zu beruhigen – auch für die Seelen<br />

von Ungeborenen, denen dazu Ojizoosama-Statuen<br />

errichtet wurden.<br />

Im Buddhismus gilt Abtreibung<br />

nicht als Schuld im religiösen Sinn, wie<br />

etwa im christlichen Glauben. Aber es<br />

gab und gibt so etwas wie ein gesellschaftliches<br />

Tabu. So durften diese<br />

Ojizoosama nicht in den offiziellen<br />

Friedhöfen stehen, sondern nur am<br />

R<strong>an</strong>de von Dörfern, beziehungsweise<br />

außerhalb der Friedhöfe. – Heute<br />

existieren sogar spezielle Mizuko Tempel.<br />

Und in den meisten buddhistischen<br />

Tempeln gibt es einen eigenen Platz für<br />

eine Mizuko Statue, vor der Gläubige ihre<br />

Andacht halten können.<br />

Wertew<strong>an</strong>del. „Am Anf<strong>an</strong>g war die Sonne“:<br />

Dieses 1911 von der Pionierin der jap<strong>an</strong>ischen<br />

Frauenbewegung Hiratsuka<br />

Raicho veröffentliche Gedicht in der<br />

Zeitschrift Seitou (Blaustrumpf ) spielt<br />

nicht auf die Sonnengöttin Amaterasu<br />

aus der Schinto-Mythologie <strong>an</strong>, sondern<br />

vielmehr auf die Sozialstruktur der jap<strong>an</strong>ischen<br />

Frühgeschichte und die von<br />

Frauen bestimmte Kultur der Hei<strong>an</strong> Zeit<br />

(794-1192). Durch das neo-konfuzi<strong>an</strong>ische<br />

Gesellschafts- und Bildungsideal der Tokugawa-Epoche<br />

(1600-1868) ist die jap<strong>an</strong>ische<br />

Frau in allen Ständen zum

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!