Deutsche Altertumskunde

Einleitung.
Grundsätze und Geschichte der Forschung, Literatur, System und
Chronologie.
Das deutsche Volk der Gegenwart, das in männlicher Vollkraft sich
zu recken begonnen hat, steht unter dem segensvollen Einfluß einer langen
und glücklichen Kinderzeit.
Das ist das deutsche Altertum.
Für die Entwicklung des Einzelmenschen sind die Jahre, die er in der
engen Welt seiner Kinderstube verträumt, und die Jahre, da der jugendliche
Taten- und Wandertrieb erwacht, der den Burschen aus dem Elternhaus
ins Freie und in die Fremde treibt, von entscheidender Bedeutung. So
hat auch das deutsche Volk in seinen Jugend- und Wanderjahren die Keime
seiner Volksnatur empfangen und zum Nationalcharakter entwickelt. Wollen
wir also des deutschen Volkes Gegenwart verstehen und seine Zukunft erahnen,
so müssen wir gleich dem Biographen eines seiner Helden in die
Jahre der Kindheit und der Jugend der Nation zurückkehren. Wir müssen
mit anderen Worten das deutsche Altertum erforschen.
Der Vergleich des deutschen Altertums mit der Kinderstube hat einen
tieferen Sinn, als es zunächst scheinen könnte. Ist es doch einer der
Fundamentalsätze der modernen Geschichtswissenschaft, daß das einzelne
Individuum in seinen Wachstumsperioden die Entwicklungsstufen seiner
Gattung wiederholt, um sie günstigenfalls um ein winziges Teilchen zu
erhöhen.
Unsere Kinder stellen das ganze Volk im Ausschnitt seiner Kindheit
dar: das Altertum kehrt vor unsern Augen wieder. Um es zu begreifen,
lerne man die Welt des Kindes zu verstehen. Darum raten wir, die Altertumsforschung
mit der jetzt von der Wissenschaft lebhaft ergriffenen Psycho-
logie des Kindes zu beginnen. So ist auch W. Wundt in seiner Völker-
psychologie, dem neuesten Hauptwerk der theoretischen Ahertumsforschung,
verfahren. Aus dumpfen Dämmerzuständen erhoben sich die Volksstämme
zu geschichtlichem Wirken. So verrät auch das Kind um die Wende des
ersten und zweiten Lebensjahres durch lebhaftere Bewegung, daß des
Menschen Grundkraft, daß Phantasie in ihm wachgeworden ist und daß
es innerhalb seines phantasiemäßigen Vorstellungskreises zu wirken begonnen
hat. Der wichtigste Ausdruck hierfür ist die Sprache des Kindes.
Allmählich gesellt sich zu den primitiven Ausdrucksbewegungen der Gebärden
und der Rede die weit reichere Welt des kindlichen Spiels, die von
dem Grundgesetz des Rhythmus beherrscht wird und noch heutigentags
die Überbleibsel einer längst entschwundenen Epoche in den Tanzreigen
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. V, Teil 1. 1