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<strong>2.</strong> Band. Heft 1<br />

Juli <strong>1907</strong>.<br />

Verlag M. Lehmann,<br />

Berlin, »rendenerstr. 88=89.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge über sämtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar-künstlerische Erkenntnisse<br />

des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmässiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Postsendung,<br />

in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Hell.,<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die<br />

Redaktion der ^<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong> 44<br />

sind zu richten an Pierre<br />

Ramus, 146 Great Titchfield Street, London W. (England).<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche<br />

Mitteilungen sind zu richten an den Verlag: M. Lehmann,<br />

Dresdenerstr. 88|89, Berlin 5.<br />

Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen :<br />

Der Wohlstand für Alle<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

Preis nur 1,50 MR.<br />

Die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint regelmassig am 15. jeden Monats.<br />

Bei nicht pünktlicher Zustellung wende man sich an den Verlag.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Schriftleitung: Pierre Ramus.<br />

II. Band.<br />

Juli <strong>1907</strong>—Juni 1908.<br />

Verlag: H. Mertins, Berlin, Werftstr. <strong>2.</strong> Druck: C. Kielmeyer, SO. 26.


Inhalts - Verzeichnis.<br />

(Die Ziffern bedeuten die Zahl der Hefte.)<br />

Bader, Alfred: Anarchismus und Gewerkschaftsbewegung. . . . 2<br />

Berth, Eduard: Eine französische Stimme über die deutsche Sozialdemokratie<br />

12<br />

Burke, Edmund: Eine Rechtfertigung d. natürlich. Gesellschaft 2, 5, 12<br />

Cafiero, Carlo: Anarchismus und Kommunismus 3<br />

Cahn, Berthold: Gegenwart und Zukunft (Gedicht) 9<br />

Carpenter, Edward: Die einzige Grundlage 2<br />

— Moral und freiheitlicher Sozialismus 6—8<br />

Ferrer-Guardia, F.: Meine Beziehungen zu Mateo Morral . . . 10<br />

Flax: Jules Guesde . 11<br />

Grave, Jean: Die Grenzen des Syndikalismus 3<br />

Heer mann, Theo.: Im Talnebel (Gedicht) 5<br />

— Die Kommune (Gedicht) 9<br />

Joris, Eduard: Ein Wort an die Oeffentlichkeit 11<br />

Kanfer, M.: Kultur und Anarchismus 1<br />

Landauer, Gustav: Die Monarchomachen und Etienne de la Boëtie 3, 4<br />

— Lernt nicht Esperanto 5<br />

M.: Die Höhlendruckerei auf dem Gute des Zaren 12<br />

Mackay, John, Henry: Bericht über die Anbringung einer Gedenktafel<br />

an dem Geburtshause Max Stirners in Bayreuth . 2<br />

Marsolleau, Louis: Der Störenfried (Schluß) 1<br />

Mesnil, Jacques: Theoretische und praktische Fragen des Antimilitarismus<br />

1<br />

Munjitsch, Peter: Die soziale Lage und Bewegung in Serbien . 3<br />

Nadja: Variationen der Liebe (Gedicht) 2<br />

Nettlau, Max: Begründung eines internationalen Bulletins . . , 5<br />

Nieuwenhuis, Domela: Sozialdemokratischer und anarchistischer<br />

Antimilitarismus . . . . 1<br />

10<br />

Proudhon, J. P.: Die öffentliche Ordnung 5<br />

— Charakteristische Lesefrüchte aus Pierre Joseph Proudhons<br />

Werken und Briefen 12<br />

Ramus, Pierre: Zum zweiten Waffengange 1<br />

— Eugen Dühring, der philiströse Anarchist 1<br />

— Zum internationalen Kongreß in Amsterdam 2<br />

— Von Stuttgart nach Amsterdam . . . , 3<br />

— Die anarchistische Bewegung in Wien 4<br />

— Aus dem Tagebuch eines Propagandisten 4—6<br />

— Lernt Esperanto . . . , 5<br />

— Antimilitarismus und Hochverrat 6<br />

— Zur Kritik und Würdigung des Syndikalismus 9 — 10<br />

— Nachträgliche 1. Mai-Gedanken . . . . 11<br />

— Pablo Iglesias und die Anarchisten . . . . . . . 12


Rita: Meine Liebe (Gedicht) 2<br />

Russische Revolution (Drei historische Dokumente) 4<br />

Saul: Der Anfang der sozial-revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

in Deutschland 9<br />

Schermershorn, N. J. C.: Zweck des Lebens 6—8, 9<br />

Schouteten, P.: Empor!. (Gedicht) 4<br />

Skall, Julius: Philosophie und Kultur 6—8<br />

— Philosophische Grundprinzipien des Anarchismus . . . . 11<br />

Thaumazo, F.: Kultur und Fortschritt 9—10<br />

Vallina, Pedro: Das sozialistische Spanien. . . . . 2<br />

Vesta, Hertha: Vom Frauenstandpunkt . . . . . . . 11<br />

Wedekind, Frank: Der Anarchist . . . . . . . . . 1<br />

Ein Scheidegruß . . . . . 12<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Uebersicht der hauptsächlichsten Artikel in der anarchistischen Presse.<br />

Deutsch: Anarchist 1, 3, 5. Einigkeit 5. Erkenntnis 3,5. Freiheit<br />

1,"3, 5. <strong>Freie</strong> Wort 5. <strong>Freie</strong> Arbeiter 3, 5. Grobe Michel 1. Polis<br />

1, 3, 5, Revolutionär 1, 5. Vorbote 1, 3, 5. Weckruf 1. — Französisch:<br />

Le Reveil-Il Risveglio 1, 3, 5. L'Ere Nouvelle 1. Le Mouvement<br />

Socialiste 1, 3, 5. La Guerre Sociale 1, 3, 5. La Revue Intellectuelle<br />

1, 3, 5. La Voix du Peuple 1, 3, 5. Regeneration 1, 3. Le Temps<br />

Nouveaux 1, 3, 5. Le Libertaire 1, 3, 5. L'Anarchie 1, 3, 5, 9. Bulletin<br />

de Linternationale Libertaire 3. Le Communiste 5. La Société<br />

Nouveaux 5. — Spanisch- Portugisisch: Tierra y Libertad 3, 5.<br />

El Hambriento 3. A Luta 5. Los Parias 5. A Terra Livre 5. —<br />

Englisch: Liberty 5. The Herold of Revolt 5. The Industrial<br />

Union Bulletin 5. Freedom 5. Mother Earth 5. — Italienisch:<br />

Il Pensiero 3, 5. — Holländisch: De vrije Communiste 5. De<br />

vrije Sozialist 5. — Im jüdischen Jargon: Germmal 3. Brot<br />

und Freiheit 1. — Tschechisch: Volne Listy 1, 3. — Russisch:<br />

Listky Chleb y Wolja 1.<br />

Bibliographie.<br />

Deutsch: Achelis 1. Bojsen 1. Carpenter 1. Damaschke 1. Gaulke 1.<br />

Katscher 1. Michels 1, 5. Pappritz 1. Buber 4. Küster 4. Bergfeld 4.<br />

Levetzow 4. Most 5. Thorsch 5. Adler 5. Forel 5. Krapotkin 5.<br />

Kirill 5. Nowurusky 11. Zoccoli 11. Comenius 11. Brinsoff 11. van<br />

Hulzen 11. Der Sieg bei Jena 11. — Englisch: Pyburn 5. Tolstoi 5.<br />

Das Manifest 5. Nieuwenhuis 5. Sanftleben 5. — Portugiesisch-<br />

Spanisch: Gegen die Einwanderung 1. Nakens 4. Krapotkin 4.<br />

Proudhon 4. Gori 4. Galiano 4. Luinones 4. Merlino 4. Ristori 5.<br />

Lorenzo 5. Bruyssel 5. Humanidad Nueva 1. — Französisch: Bakunins<br />

Werke 4. Tallichet 4. Dorian 4. Die menschliche Freiheit 4.<br />

Hamon 4. Robin 4. Armand 5. Raillon 5. Bourgin 5. Lorulot 5.


Seilhac 5. Vavasseur 5. Fried 5. Vernet 5. Odeballe 5. Hirsch 5.<br />

Guillaume 5. Heubner 5. Karmin 5. Chapelin 5. Rutgers 5. Bonzon 5.<br />

Armand und Mauricius 5. Hervé 5. Fourniere 5. — Holländisch:<br />

Stirner 1. Manifest an die Arbeiter 5. — Italienisch: Podrecco 5.<br />

Zavattero 5. — Bulgarisch: Krapotkin 1. Mesnil 1. Dal 1. Grave 1.<br />

Rumänisch: Krapotkin 5. — Esperanto: An die Frauen 1.<br />

Notizen.<br />

Aufruf zur Gründung einer Monatsschrift „Der Menschenspiegel" 1. —<br />

Friedensmarseillaise 1. — Die Erkenntnis 1. — Mutterschutz u. Liebesfreiheit<br />

1, 9. — Die Zukunft und die Gewerkschaften 1. — Der Kommunist<br />

3. — Das anarchistische Manifest 3. — Polis 3, 10. — Regeneration<br />

3. — Die Bedeutung des Bauernstandes für Staat und Gesellschaft<br />

3. — Dictionnaire de Sociologie 4. -- Eine anarchistische Bibel 4.<br />

— Jahrbuch des internationalen Lebens 4. — Marx und Engel als Plagiatoren<br />

von P. R. Ins Serbische übersetzt von Peter Munjitsch 4. —<br />

Internationaler anarchistischer Kongreß zu Amsterdam 5. — R. Fred<br />

Geyer (Esperanto) 5. -- Justice (Gerechtigkeit) „Patriotismus, Militarismus<br />

u. Ethik" 5. — Artikel in „Mutter Erde" von A. Jsaak 9. —<br />

Christien Cornelissen 9. — Jacques Mesnil eine Studie über Stirner<br />

Nietzsche und der Anarchismus 10. — Jean Grave über „Die Karabinieri<br />

des Syndikalismus" 10. — „Lebet die Propaganda der Tat" von Louis<br />

Virieux 10. — Domela Nieuwenhuis über Charles Fourier 10. — Bulletin<br />

der anarchistischen Internationale 10. — Gustav Hervé (Der soziale<br />

Krieg) 10. — Hubert Lagardelle über Michael Bakunin 10. — Theodor<br />

Schröder, eine Persönlichkeit 10. — Moses Harman (The American<br />

Journal of Eugenics) 11. — Broschüre von Viktor Robinson 1<strong>2.</strong> —<br />

Benj. B. Tuckers (Liberty) 1<strong>2.</strong> — Francisco Ferrer, L'Ecole Renoveé 1<strong>2.</strong><br />

Diversa.<br />

An die Leser 4, 5, 6—8, 9, 10. — Max Lehmann gegen S. N.<br />

1, <strong>2.</strong> — An die Genossen und Gesinnungsfreunde 9, 10. — An die<br />

Leser in England 11. — Zur Beachtung 9, 10. — Briefkasten 2<br />

3, 4, 9, 11, 1<strong>2.</strong>


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band 2 Juli <strong>1907</strong> Heft 1<br />

Der Anarchist*)<br />

Von Frank Wedekind.<br />

Reicht mir die Hand in der Todesstunde,<br />

Nicht in Gnaden den Pokal!<br />

Von des Weibes heissem Munde<br />

Lasst mich trinken noch einmal!<br />

Mögt ihr sinnlos euch berauschen,<br />

Wenn mein Blut verrinnt im Sand.<br />

Meinen Kuss mag sie nicht tauschen<br />

Auch für Brot aus Henkershand.<br />

Einen Sohn wird sie gebären,<br />

Dem mein Kreuz im Herzen steht,<br />

Der für seiner Mutter Zähren<br />

Eurer Kinder Häupter mäht.<br />

*) Aus „Die vier Jahreszeiten", Gedichte. Verlag Albert Langen.<br />

München 1905.


2<br />

Zum zweiten Waffengange!<br />

„Ich habe nie viel auf mich gehalten, ich habe mich immer recht<br />

unerträglich gefunden und mich daher lieber mit anderen beschäftigt.<br />

Aber es kam ein Jahr, wo ward, was ich lange erstrebt, wo ich<br />

den Genius über mir schweben hatte, der alles Wasser aufrührt"<br />

— mit diesen Worten Anzengrubers begrüss' ich heute das erste<br />

Heft des zweiten Jahrganges unserer Zeitschrift und dies bei dem<br />

Gedanken an ihre Gründung, an den Juli 1906, an die Wochen,<br />

Monate mühseliger Vorbereitungsarbeit, die ihr vorausgingen.<br />

Es war der Genius der Freiheit, der über den Wenigen<br />

schwebte, die sich zusammenschaarten zur grossen Tat der<br />

Schöpfung! Mehr als es sonst ohnedies der Fall zu sein pflegt.<br />

Denn ist auch jede Gründung anarchistischer Blätter mit grossen<br />

Opfern und selbstlosen Darbringungen aller Beteiligten verbunden,<br />

so war es mit der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" in weit erhöhtem Masse<br />

der Fall. Jene können eindringen in die Masse, in das Gewühl<br />

der Menge, sie knüpfen an an alten Anschauungen, und es handelt<br />

sich fast stets nur darum, den Menschen einen Ruck nach vorwärts<br />

auf einer ihnen klaren taktischen Bahn und Wegeaktion<br />

zu geben. Die Vergeblichkeit bisherigen Wirkens, die Hohlheit<br />

parteioffizieller Anmassungen, kurz die nun offensichtlich zutage<br />

tretende Schwäche der Sozialdemokratie, sie machen es selbstverständlich<br />

für den Anarchismus, dass seine Kampfesbewegung<br />

wächst, wachsen muss. An diese neuen, jungen Elemente radikaler<br />

sozialdemokratischer Tendenz muss unsere Kampfes- und Bewegungspresse<br />

sich halten und je gründlicher, je geistig gereifter<br />

ihre Kritik an der bestehenden Partei des demokratischen Sozialismus<br />

geübt wird, desto gewisser ist sie ihres Erfolges, sowohl in<br />

ideeller als auch praktisch-materieller Beziehung. Ganz anders<br />

verhält es sich mit einem Organ, wie die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>",<br />

die als theoretisches Organ der Weltanschauung des Anarchismus<br />

auftritt. Sie hat es bedeutend schwieriger, denn sie kann<br />

nur anknüpfen an dem schon gereiften und idealen Sinn der Wissbegier<br />

und der Aufklärungssehnsucht im sozialistischen Arbeiter der<br />

Hand oder des Geistes. Und wir wollen uns nicht täuschen:<br />

Wie viel Menschen gibt es, selbst in der, anarchistisch-sozialistischen<br />

Bewegung, die solche Wünsche der individuellen Vertiefung<br />

und der kraftvolleren Erkenntnis ihrer Weltanschauung der Freiheit<br />

hegen? Es spricht Bände dafür, wie wenige solcher Charaktere<br />

es gibt, wenn wir wissen, dass die sozialdemokratische Dreimillionenpartei,<br />

die da vorgibt, ihre Anhänger auf den Marxismus<br />

einzuschwören, für ihr wissenschaftliches Organ „Die neue Zeit"<br />

kaum 8000 Leser aufzubringen vermag! Gewiss steht diese Tatsache<br />

in einem ursächlichen Zusammenhang mit der totalen Verwässerung<br />

der Prinzipien dieser Partei, die ja längst nicht einmal<br />

mehr marxistisch konsequent geblieben ist.


3<br />

Die Begründung der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" erfolgte, weil einige<br />

Anarchisten, die mit der Begeisterung für ihre Idee auch einen<br />

klaren Blick für die Erfordernisse derselben besitzen, es verstanden,<br />

dass es in einer Periode reissenden Aufstiegs und erfreulichster<br />

Zunahme das wichtigste Moment unserer Bewegung ist, den herbeiströmenden<br />

Massen nicht nur die Kritik der Sozialdemokratie zu<br />

bieten, sondern auch und vornehmlich das Aufbauende, Schöpferische<br />

unserer Ideenfolge vorweisen zu können. Keiner der Begründer<br />

gab sich Illusionen hin, wir wussten, dass wir nicht die gleichen<br />

Möglichkeiten des materiellen oder numerischen Erfolges haben<br />

könnten, wie manche unserer Waffengefährten in und ausserhalb<br />

Deutschlands. Aber, dass wir noch existieren, wir, die wir mit<br />

knapp so viel Geld die Herausgabe der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" anfingen,<br />

als die Druckkosten der ersten Nummer betrugen, das<br />

spricht für zwei wichtige, wesentliche Tatsachen: erstens, dass<br />

der Sinn für das wirklich Tiefe, Bleibende und Läuternde in der<br />

Flucht unserer Begriffe und Anschauungen bei uns, in unseren<br />

Genossen, unendlich höher und, proportionell gesprochen, ausgedehnter<br />

entwickelt ist, als bei den Sozialdemokraten, zweitens — mit<br />

bescheidener Schüchternheit glauben wir auch dies anführen zu<br />

sollen —, dass es unter uns Genossen gibt, die sich wirklich so<br />

edel durchgerungen haben durch das Gestrüpp, die Fallstricke der<br />

modernen Unkultur, um willens und fähig dazu zu sein, für ihre<br />

Idee nicht nur ideell, sondern auch materiell zu wirken und solidarisch<br />

zu opfern. Nur dieser letztere feste, unerschütterliche<br />

Wille, die Entschlossenheit, eine gluthelle Fackel anarchistischer<br />

Weltanschauung unter allen Umständen vor dem Verlöschen zu<br />

bewahren, hat, trotz Unverständnis und Perfide, einigen Wenigen<br />

die Kraft verliehen, Werke der Solidarität und Hingebung für<br />

unsere Zeitschrift, für ihre Existenz darzubringen, welche niedere<br />

Phäakenignoranz freilich nie würdigen kann, noch — glücklicherweise<br />

— soll. Belohnt haben wir uns für unsere Anstrengungen<br />

dadurch gesehen, dass der Leserkreis der Zeitschrift langsam aber<br />

stetig zunahm, ferner dass alle diejenigen, die sich - als Mitarbeiter<br />

der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" betrachten können, Gelegenheit hatten,<br />

es wahrzunehmen, wie zunehmend der geistige Einfluss der Zeitschrift<br />

in der anarchistischen Gedankenwelt wurde, der direkt<br />

oder indirekt in ihr waltete.<br />

Die Kämpfer unserer Bewegung, die Suchenden nach Licht<br />

und wahrer Freiheit im idealen Reichtum unserer anarchistischen<br />

Weltanschauung zu stählen — darin erblicken wir unsere Aufgabe,<br />

der wir im ersten Jahrgang gerecht zu werden wussten,<br />

der wir in allen weiteren Jahrgängen der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>",<br />

mit hoffentlich gesteigerten Mitteln, mit zahlreicheren Geisteswaffen<br />

gerecht zu sein bestrebt sein wollen. Wie notwendig dies ist, das<br />

begreift jeder, der sich im Menschen und der Zeitperiode des<br />

Kapitalismus, der Autorität auskennt. Wollen wir diese bestehende


4<br />

Gesellschaftsordnung je überwinden, dann kann dies nur geschehen,<br />

indem wir Kämpfer mit klarem Blick, mit reinem Zukunftsblick,<br />

mit Liebe für ihr klar geschautes Ideal der Freiheit erziehen, uns<br />

gegenseitig lehren und stützen in der Bezwingung der alten<br />

Traditionswelt in und um uns, welche ja schliesslich in der Tat<br />

den festesten Grund für den Bestand der Unterjochungsinstitutionen<br />

der Vergangenheit bildete, der Gegenwart bildet. Und dies<br />

können wir erfolgreich nur tun, wenn wir den Innenmenschen,<br />

den Geistesmenschen im menschlichen Wesen der dominierenden<br />

Ordnung wecken, wenn wir ihn dazu bewegen können, geistig<br />

und psychisch mit allem Aberglauben an soziale Gewalten zu<br />

brechen, ihn von der Herrschgier befreien können, sich an die<br />

Stelle einer gestürzten Autorität setzen zu wollen.<br />

Wir sind Sozialisten, weil wir die allgemeinen gesellschaftlichen,<br />

materiellen Möglichkeiten für eine Umwälzung unseres ökonomischen<br />

Lebens, sich vollziehend auf der Grundlage des Kommunismus,<br />

vollständig anerkennen, sie sogar gegenwärtig bereits vollkommen<br />

erblicken. Doch höher als jedes rein wirtschaftliche<br />

Ideal steht uns der Mensch, das Individuum selbst, welches doch<br />

schliesslich das wirtschaftlichste Instrument alles sozialen Lebens<br />

ist. Und dieser Mensch, dieses höchste Produktionsmittel, kann<br />

sich nur dann mit seinen Mitmenschen — ich meine nicht die<br />

Kapitalisten, ich meine die Proletarier! — auseinandersetzen, um<br />

den Bestand einer zukünftigen Welt des Antimonopolismus und<br />

der Antiautorität zu verbürgen, wenn er wenigstens in der einen<br />

Hinsicht seine Natur so verändert, dass er das Ideal der Freiheit<br />

und der Solidarität in schroffsten Gegensatz zum Bestehenden, in<br />

allen seinen Lebenshandlungen zum Ausdruck bringt. Dazu bedarf<br />

es einer anderen Ethik, einer anderen Geisteswertung, eines<br />

anderen Wirkens, als wir sie bislang gesehen — kurz, dazu<br />

bedarf es der anarchistischen Weltanschauung!<br />

Sich gehemmt und bedrückt zu fühlen von allem Gegenwärtigen<br />

unseres Gesellschaftslebens und hinauszustreben zu neuer Kultur<br />

und Geisteshöhe, alles, was sich harmonisch eint mit den Bestrebungen<br />

der Anarchie zu sammeln, um die Leser an diesem Schönen<br />

reifen, alles, was wie ein Schlaglicht einen blendenden Schein<br />

wirft auf unser ganzes Wesen und seinen historischen Prozess, zu.<br />

verarbeiten und aufzuweisen, um die Leser ihre Erkenntnis und<br />

Verständnis ihr stärken, schärfen und mehren zu lassen, darin bestand<br />

die unermüdliche Tätigkeit der erschienenen zwölf Hefte,<br />

die, wie ein Blick auf das dieser Nummer beigegebene Inhaltsverzeichnis<br />

genügend beweist, nicht nur besondere, deutschen<br />

Lesern zum Teil gänzlich unbekannt gewesene Geistesmaterien<br />

dargeboten haben, auch, ohne je in das Gehege unserer Kampfesblätter<br />

störend einzugreifen, sehr, sehr viel ans Licht des Tages,<br />

vor das kritische Forum des Anarchismus brachte, das diese nicht<br />

getan, nicht gebracht haben.


5<br />

Im Gefühl eines reinen Stolzes, unser Bestes und Bleibendstes<br />

für das Ideal der Anarchie geboten zu haben, treten wir, den<br />

Freunden dankend für ihre Teilnahme und Ermahnungen, erbärmlichste<br />

Impotenz und Gemeinheit, die sich uns, unserer idealen<br />

Sache hemmend in den Weg stellen will, kalt und verächtlich<br />

überschreitend, ein in den neuen, zweiten Jahrgang, in den zweiten<br />

Waffengang mit allen Stützen und Apologeten der bestehenden<br />

Gesellschaft. Unser Ziel ist die Anarchie aller menschheitlichen<br />

Beziehungen, der Solidaritätsbund aller Enterbten des Lebens<br />

und der Kultur wider Heute, wider unseren Tag. In schmucker,<br />

schönerer Ausstattung treten wir ein in den zweiten Waffengang,<br />

wie um zu symbolisieren unser jauchzendes Grossgefühl der zukünftigen<br />

Siegeszuversicht! Denn uns ergeht es wie Camille<br />

Desmoulins; trotz allen Widerstandes und aller Hindernisse,<br />

trotz grausamer Enttäuschungen durch Menschen und Dinge fühlen<br />

wir uns dennoch gestählter und frohgemuter im heissen Empfinden<br />

dieser Worte: „Ich glaube, dass die Freiheit die<br />

Gerechtigkeit, ich glaube, dass die Freiheit<br />

die Menschheit, ich glaube, dass die Freiheit<br />

grossmütig ist."<br />

London, Anfang Juli.<br />

P. R.<br />

Theoretische und praktische fragen der antimilitaristischen<br />

Propaganda. (Schluss.)<br />

Diese praktische und doch ideale Bewegung, deren Bahnbrecher<br />

Frankreich ist und deren Ausbreitung in den meisten<br />

anderen europäischen Ländern gleichen Schritt hält mit den abscheulichen<br />

Kriegen, welche geführt werden, den gefährlichen<br />

diplomatischen Zwistigkeiten, welche stattfinden, musste logischerweise<br />

den Gedanken an eine internationale Uebereinkunft der<br />

Antimilitaristen aller Länder ins Leben rufen. Leider hat die<br />

„Internationale antimilitaristische Assoziation",<br />

welche am 25., 26. und 27. Juni 1904 in Amsterdam gegründet<br />

wurde, nicht jene Bedeutung erlangt, welche ihr angesichts der<br />

besonders günstigen Verhältnisse gebührt hätte. Ihre Bolle und<br />

ihr Einfluss sind bis heute mit wenigen Ausnahmen sehr gering<br />

gewesen, und in diesem Sinne, darf man sagen, hat das Unternehmen<br />

fast Schiffbruch gelitten. Die Ursachen für dieses Misslingen<br />

liegen, so scheint es, zunächst an den unzureichenden<br />

Mitteln aller Gründer und dann an ihrem Mangel an praktischem<br />

Geiste. Anstatt danach zu streben, den Anschluss aller Organi-


6<br />

sationen zu erzielen, die ehrlich und ohne Vorbehalt den Militarismus<br />

als Institution bekämpfen, ungeachtet ihrer besonderen moralischen<br />

und sozialen Ueberzeugungen, schlossen sie diejenigen aus,<br />

die nicht genau so dachten wie sie, sei es nun im Hinblick auf<br />

prinzipielle Gedanken oder praktische Arbeit.<br />

Cornelissen sagte sehr richtig : „Entweder ist die Assoziation<br />

ausschliesslich antimilitaristisch : dann muss sie alle antimilitaristischen<br />

Kräfte vereinigen; oder sie ist allgemein freiheitlich<br />

: dann kann sie ihre Arbeit nicht auf die antimilitaristische<br />

Taktik beschränken." Diesen Sätzen gegenüber gibt es kein Entrinnen.<br />

Besonders unrichtig war die Haltung der intransigenten<br />

Revolutionäre zu den christlichen Anarchisten, den Tolstoianern,<br />

den Vertretern des passiven Widerstandes. Man kann nicht gut<br />

demjenigen den Namen eines aufrichtigen Antimilitaristen absprechen,<br />

der lieber bereit ist, ins Gefängnis zu gehen, als Waffen,<br />

zu tragen. Es ist ein Irrtum Domela Nieuwenhuis',<br />

wenn er erklärt, sie hätten eine antirevolutionäre Resolution<br />

eingebracht.<br />

Die Resolution von E. Armand betreffend die Frage<br />

„Der Antimilitarismus und die persönliche^<br />

Dienstverweigerung" lautet:<br />

„Der antimilitaristische Kongress zu Amsterdam erkennt die bedeutende<br />

revolutionäre Kraft der militaristischen Dienstverweigerung, an, sei sie persönliche<br />

oder kollektive Aktion. Er erteilt dem Komitee der „L antim. A."<br />

den Auffrag, jeder solchen Bewegung individueller oder kollektiver Propaganda<br />

und Aktion in diesem Sinne (allgemeiner Kriegsdienstverweigerung<br />

etc., gleichviel welchen religiösen und moralischen Motiven sie entspringen<br />

möge) seine Unterstützung zu gewähren. Er entsendet seine Grüsse an Jan<br />

Terwey, Adrianus Ris, Taselaar, Graber, Tschaga, die<br />

gegenwärtig gefangen sind wegen Dienstverweigerung, und hofft, dass sie in<br />

allen anderen Ländern Nachahmung finden mögen, da die Vermehrung solcher<br />

Aktionen die Abschaffung des Militarismus zur Folge haben würde."<br />

Ich las den Text einmal, ich las ihn abermals; und dennoch<br />

glückte es mir nicht, den Grund zu entdecken, der den Revolutionären<br />

Veranlassung gegeben hatte, die Resolution, abzulehnen ;<br />

besonders deshalb glückte es mir nicht, da wir doch keine Sektierer<br />

sind, für welche irgend eine Gegenrede schon eine Beleidigung<br />

bedeutet. Dennoch bin auch ich Gegner des Christentums in<br />

jeder Form, bin überzeugt von der Notwendigkeit der sozialen<br />

Revolution.<br />

Stellen wir der obigen Resolution jene der Revolutionäre<br />

entgegen, welche der Kongress schliesslich annahm. Sie lautet:<br />

„Der Amsterdamer Kongress, als Gründer der <strong>2.</strong> internationalem Vereinigung,<br />

beruft sich auf das revolutionäre Prinzip und verwirftauf das energischste<br />

die Lehrsätze der Resignation, welche dem christlichen Geiste entspringen.<br />

Es ist die Gewalt, welche er proklamiert, die Gewalt als Kind der Vernunft<br />

und der Revolte. Die letztere ist ihm aktiv, nicht passiv ; ihre passive Form


7<br />

ist eine Negation der Tätigkeit, für welche wir vereinigt sind. Er weist entschieden<br />

amorphe Theorien christlicher Tendenzen zurück, welche eine unheilvolle<br />

Doppelsinnigkeit in die Assoziation hineintragen könnten."<br />

Ist es möglich, diese grossspurige Demagogie weiter zu treiben<br />

? Diese lächerliche Uebertreibung der Sprache, diese schwülstigen<br />

Redensarten finden ihre Entschuldigung in Perioden heftiger<br />

Erregung, inmitten einer Revolution. Doch in diesem Augenblicke,<br />

da gar kein Grund vorhanden, erscheinen sie geradezu als grotesk.<br />

— Man beachte wohl, dass diese Resolution nicht angenommen<br />

wurde gegen jene von Armand. Diese wurde zurückgezogen.<br />

Sie wurde angenommen gegen eine Resolution von Samson, die<br />

noch weniger geeignet war, von den Vertretern des aktiven Widerstandes<br />

verdaut zu werden und die nur vage Sympathie mit j^nen<br />

ausdrückte, welche den Kriegsdienst verweigerten; auch anratend,<br />

sich zu enthalten der Empfehlung der Dienstverweigerung.<br />

Das Drolligste ist jedenfalls, dass die angenommene obige<br />

Resolution eigentlich gar keine Beantwortung der auf der Tagesordnung<br />

gestandenen Frage bildet! Man fragt den Kongress, was<br />

er über die Dienstverweigerung denke; und er antwortet damit,<br />

dass er die Lehrsätze der christlichen, antimilitaristischen Dienstverweigerung<br />

verwirft, die Gewalt als Prinzip annimmt!! Es ist<br />

ungereimt und wird noch ungereimter, wenn man bedenkt, dass<br />

die Dienstverweigerung von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet<br />

werden kann. Sie besteht z. B. nicht unbedingt in der<br />

Weigerung der Dienstpflichtigen, Waffen in die Hand zu nehmen,<br />

weil ihr Gewissen den Gebrauch von Waffen verbietet. Sie kann<br />

gelegentlich sein und in einer Gehorsamsverweigerung von<br />

einem bestimmten Augenblick an bestehen, wie etwa anlässlich<br />

von Streiks oder eines Krieges. Das Vorbild von zwei oder drei<br />

Personen kann dann ansteckend wirken und andere mit sich ziehen.<br />

Die Desertion ist auch eine Art von Dienstverweigerung.<br />

Das Praktische, das der Kongress schuf, ist so klein, dass<br />

man es kaum beachten kann. Beschlossen wurde, auf eine Kriegserklärung<br />

von zwei bürgerlichen Staaten mit einem Generalstreik<br />

zu antworten. Aber diese Idee ist weit entfernt davon, neu zu<br />

sein.*) Ihre Verwirklichung kann schon durch eine ansehnliche<br />

Ausbreitung der Gewerkschaftsbewegung ermöglicht werden.<br />

Sicherlich ist es in Erziehungsfragen sehr wichtig, den Kindern<br />

nicht mehr Säbel, Trompete und Trommel als Spielzeug zu geben,<br />

handelt es sich auch nur um das Trommelfell der Eltern. Aber<br />

es ist eine grosse Selbsttäuschung, von dieser Handlungsweise<br />

grosse Erfolge zu erwarten. Das Kind, welches in seiner Entwicklung<br />

diejenige der Gattung widerspiegelt, macht immer eine<br />

*) 1868, auf dem Brüsseler Kongress der Internationalen Arbeiter-<br />

Assoziation, wurde sie in einer dem entsprechenden Resolution geäussert. (Vergl.<br />

in deutscher Sprache „Nach 40 Jahren" von Pierre Ramus.)


8<br />

kriegslustige Periode durch, in der es sich aus Stöcken Waffen<br />

macht, selbst dann, wenn man sie ihm nicht gibt. Allerdings<br />

darf man diesem stets hervorbrechenden Verlangen der Kinder<br />

nicht in die Hände arbeiten, sondern versuchen, es zu beseitigen.<br />

Der Kongress beschäftigte sich mit der Desertion insofern,<br />

als ein Teil des einlaufenden Geldes zur Unterstützung der Deserteure<br />

verwendet werden sollte, dass sich lokale Komitees bilden<br />

sollten, um den Deserteuren Arbeit zu verschaffen. Mich dünkt,<br />

diese Frage hätte verdient, einer besonderen Beachtung unterworfen<br />

zu werden. Meiner Ansicht gemäss sollte eine planmässige Einrichtung<br />

der Desertion eine der hauptsächlichsten antimilitaristischen<br />

Massregeln sein. Alljährlich sollten Männer von Land<br />

zu Land diejenigen jungen Leute herausfinden, welche willens<br />

sind, zu desertieren. Die lokalen Komitees sollten die Deserteure<br />

unterstützen. Auf diese Weise würden die Flüchtlinge auch mit<br />

den Ihrigen in Verbindung bleiben, sie über Sachlage und Gesinnung<br />

informieren können. Die Arbeiter könnten neue, drückende<br />

Lasten ersparen. Auf der anderen Seite würden viele Leute entkommen<br />

können und der traurigen Verpflichtung entgehen, verschiedene<br />

ihrer schönsten Jahre dem niederdrückendsten Kasernenleben<br />

auszusetzen ; auf der anderen Seite böte dies eine prächtige<br />

Gelegenheit zur Ausbreitung des Internationalismus. Eine tiefere<br />

Gemeinschaft entstände zwischen den einzelnen Völkern, Sprachkenntnisse<br />

verbreiteten sich, und die zwischen einzelnen Völkerschaften<br />

leider noch bestehende Feindschaft — eine Feindschaft,<br />

welche die Bourgeoisie schürt und aufrecht zu erhalten trachtet<br />

— würde allmählich verschwinden. Eine solche Uebereinkunft,<br />

die mit den Gewerkschaften gepflogen werden sollte, würde nicht<br />

allzu grosse Ausgaben verursachen, die eigentlich hohen Kosten<br />

würden die Auswanderungskosten sein. Und diese haben mit dem<br />

immer mehr um sich greifenden Verkehr die Tendenz, in ihren<br />

Tarifsätzen niederer zu werden. Dabei würde es der Bourgeoisie<br />

sehr grosse Mühe bereiten, diesen Schlag abzuwehren; es ist<br />

heutigen Tages unmöglich, die Arbeiter zu zwingen, im eigenen<br />

Lande zu arbeiten. Dies stünde im strikten Gegensatz zum<br />

Kapitalismus, laut welchem die Freizügigkeit nicht vernichtet wird<br />

und dem Arbeiter die Berufswahl frei steht.<br />

Eine Einrichtung, dass alle, die ein Land bewohnen, in<br />

diesem Militärdienst tun müssen, ganz abgesehen davon, welcher<br />

Nationalität sie angehören, wäre gleichbedeutend mit der Durchlöcherung<br />

der Prinzipien des Bourgeoisregimes und seiner Vaterlandsbegriffe.**)<br />

Jacques Mesnil.<br />

**) Wir haben unseren gegenteiligen Standpunkt zu diesen letzten<br />

Aeusserungen des Genossen M. in Nr. 12 der „Fr. Gen." präzisiert, Anm. d. R.


9<br />

Kultur und Anarchismus.<br />

II.<br />

Dies alles trägt- dazu bei, die Philosophie wieder in den<br />

Vordergrund zu rücken.<br />

Die Philosophie hat schon längst aufgehört, ein Aschenbrödel<br />

zu sein, sie lächelt über die seichten Argumente des Materialismus<br />

und ist im vollen Zuge, die Alleinherrschaft wieder zu ergreifen.<br />

Was sie aber bedeutet, und wo ihre Grenzen zu suchen sind,<br />

darüber ist man in der Gelehrtengilde uneinig. Da behaupten<br />

welche, dass Philosophie dazu berufen ist, die Endergebnisse der<br />

speziellen Fachwissenschaften zu summieren. Synthetische Philosophie<br />

hat sie darum Herbert Spencer benannt.<br />

Das bornierte Spezialistentum hat schon feste Wurzeln im<br />

Geistesleben geschlagen. Ein Mensch, der sich sein Leben lang<br />

mit den Knöcheln der Säugetiere beschäftigt hat, weiss keinen<br />

Bescheid, wenn er die Grenzpfähle seines Fachstudiums verlässt.<br />

Aber alle speziellen Gesetze in der Natur lassen sich auf allgemeine<br />

zurückführen, die sich wieder auf ein Urgesetz reduzieren<br />

lassen müssen. Darum sind die verschiedenen Wissenschaften<br />

eng miteinander verknüpft, darum führen sie zu denselben Endresultaten.<br />

Die Philosophie knüpft diese verschiedenen Resultate<br />

in ein einziges System zusammen und nur insofern soll man ihre<br />

Berechtigung anerkennen. Man soll aber auf der Hut sein und<br />

der Philosophie vorsichtig auf die Finger schauen, weil sie ein<br />

eitles Ding ist und die absolute, souveräne Herrschsucht nicht<br />

aufgegeben hat. Darum treiben wir, Brüder, selbst Philosophie, und<br />

und darum schlagen wir jedem Laien, jedem Feuergeist, jedem<br />

mutigen Drauflosgeher die Tür vor der Nase zu ! Diesen Facheigendünkel<br />

der Gelehrtenkaste, diese protzige Selbstüberhebung<br />

der Anatomen, Physiologen, Histologen gegenüber der Philosophie<br />

herrschte einige Dezennien und gehört zum Glück schon der Vergangenheit<br />

an. Wie ich den Leser schon früher darauf aufmerksam<br />

gemacht habe, ist in der Gelehrtenzunft selbst ein Kampf<br />

um die Berechtigung der Metaphysik entbrannt. Hier steht der<br />

Neovitalismus, da die mechanistische Welterklärung, hier Teleologie,<br />

da Materialismus, der sich bescheiden jetzt Monismus nennt.<br />

Aber auch in den speziellen Fachwissenschaften spuckt es noch<br />

immer gewaltig metaphysisch. Hat man schon gänzlich aus dem<br />

wissenschaftlichen Wörterbuche Wörter wie Kraft und Materie,<br />

Stoff und Geist, Atom, Bewusstsein, Natur eliminiert und ist sich<br />

jeder Gelehrte bewusst, welcher Inhalt diesen Formeln entspricht?<br />

Zwar will Mach mit der Metaphysik gänzlich aufräumen und<br />

löst die Welt in verschiedene Empfindungskomplexe auf und begegnet<br />

auf diesem Wege dem F. Avenarius, der schon in den<br />

siebziger Jahren erschienenen „Philosophie als Denken<br />

der Welt nach dem Prinzipe des kleinsten Kraft-


10<br />

masses" auf reine Erfahrung losgeht; dabei müssen wir aber<br />

wieder auf die Philosophie stossen, wenn sie auf die Frage, auf<br />

welche Weise kommt unser Wissen von der Welt zustande, Antwort<br />

finden wollen. Was ist überhaupt unser Wissen von der Welt, wie<br />

und wozu kann und soll man reine Erfahrung treiben? Da stehen<br />

wir wieder im Mittelpunkt der philosophischen Diskussionen und<br />

müssen in den gothischen Bau eintreten, wie Schopenhauer<br />

Kants Philosophie nannte, instinktiv den Gegensatz zu der klassischen<br />

Architektonik der hellenischen Philosophie herausfühlend.<br />

Bevor man diese erkenntniss-theoretische Frage beantwortet, die<br />

klar zu präzisieren das unsterbliche Verdienst Kants bleiben wird,<br />

kann man überhaupt von einem menschlichen Wissen nicht sprechen.<br />

Dieses Wissen vom Wissen ist eine Festung, in die sich immer<br />

die Philosophie zurückziehen kann, wenn sie das Geplätscher des<br />

seichten Materialismus zu bedrohen beginnt. Hiermit erscheint<br />

die Philosophie als Fundamentalbasis der Wissenschaft, als Ausgangspunkt<br />

und Zentralfeuer aller Abzweigungen der menschlichen<br />

Wissenschaft. Aber das erschöpft noch nicht die Philosophie.<br />

Die Philosophie hat ein viel weiteres Gebiet, eine viel grössere<br />

Aufgabe, als es der zünftige Philosophe sich träumen lässt. „Das<br />

ich aber der Weisheit gut bin und oft zu gut, das macht, sie erinnert<br />

mich gar sehr an das Leben" — meint Nietzsche.<br />

Denn jeder grosse Philosoph liebt im Grunde genommen nur<br />

das Leben, und dann erst die Weisheit nur darum, weil sie dem<br />

Leben so ähnlich ist, „Sie hat ihr Auge, ihr Lachen, sogar ihr<br />

goldenes Angesichtchen". Beide: das Leben und die Weisheit sind<br />

abgrundtief, beiden auf den Grund zu kommen, ist der grosse,<br />

der einzige Ehrgeiz des Philosophen. Jeder grosse Philosoph<br />

lehrt und verkündet die Ehrfurcht vor dem Leben, jeder grosse<br />

Philosoph ist ein Erzieher. Die Systeme vergehen, die Gedankenkombinationen<br />

verschwinden, der Gedankenbau fällt zusammen,<br />

aber dieses Ewige bleibt dahinterstecken: Der Mensch, die grosse<br />

Persönlichkeit, der grösste Segen der Menschheit, wie Goethe<br />

meint. Wie meint doch Nietzsche über Plato : „Das System ist<br />

widerlegt und tot, die Person, die dahinter, ist unwiderlegbar, ist<br />

nicht tot zu machen."<br />

Schopenhauer bemerkt in seinem „Parerga und Paralipomena",<br />

dass jede Religion in eine Philosophie, jede Philosophie<br />

in eine Religion umgewandelt werden kann, denn nach Schopenhauer<br />

ist das einzige Kennzeichen der Religionen, nicht ob sie<br />

monoteistisch, poli-panteistisch sind, sondern wie sie sich dem Leben<br />

gegenüber verhalten, ob sie pessimistisch oder optimistisch<br />

sind. Die Philosophie regelt das Verhältnis des Menschen zum<br />

Leben für eine kleine Schar der Auserkorenen, während die Religion<br />

dies für „das Volk tut". Dieser Schopenhauersche Gedanke<br />

hat viel Richtiges für sich, wenn man dahingestellt sein lässt, ob<br />

es nützlich ist, dass nur die Religion das Verhältnis des Volkes


11<br />

zum Leben regeln soll. Richtig ist, dass jede Philosophie in eine<br />

Ethik ausmündet, dass der grösste Philosoph der Neuzeit, Kant,<br />

das grösste ethische Genie der Neuzeit, unserer Zeit ist. Sogar<br />

der Materialismus hat seine Ethik des Determinismus, während,<br />

die kritische Philosophie uns die autonome, freie Ethik geschenkt<br />

hat. Dies macht die Philosophie zum wichtigen Bestandteil der<br />

Kultur. Ohne Philosophie keine Kultur.<br />

Gesegnet sind die Künstler, diejenigen, denen die Kunst die<br />

Gabe verleiht, die Zeit zu bannen, aus dem bunten Reigen der<br />

Erscheinungen auszutreten und nur der Ewigkeit zu leben. „Denn<br />

sie reisst das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Strome<br />

des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich und dieses Einzelne,<br />

was in jenem Strome ein verschwindend kleiner Teil war, wird<br />

ihr ein Repräsentant des Ganzen, ein Aequivalent des in Raum<br />

und Zeit unendlich Vielen: sie bleibt daher bei diesem Einzelnen<br />

stehen. Die Relationen verschwinden ihr, nur das Wesentliche, die<br />

Idee ist ihr „objekt" schreibt Schopenhauer. Beide, die Philosophie<br />

und die Kunst sind eng miteinander verbunden, beide gehen auf<br />

dasselbe Ziel los: die Ergründung und Ueberwindung des Lebens.<br />

Der Philosoph nähert sich diesem Urgrund des Daseins auf „den<br />

endlosen Serpentinenwegen der sich selbst stetig überholenden Abstraktionen,<br />

während das Herz des Künstlers intuitiv auf ihn<br />

trifft" wie Max Messer in seiner „Modernen Seele"<br />

meint. Aber im Inneren des Menschen herrschen dieselben Gesetze,<br />

wie im Universum; wenn also der Dichter intuitiv die Gesetze<br />

des eigenen Lebens herausfühlt, so haben seine mystischen<br />

Offenbarungen, seine geheimnisvollen Ausflüge in den brausenden<br />

Ozean des Lebens den Wert der streng logischen philosophischen<br />

Deduktionen. Ist es nicht interessant genug, dass seit P1ato,<br />

Giordano Bruno, jeder Dichter ein tiefer Philosoph, jeder<br />

geniale Philosoph ein gewaltiger Dichter ist. der mit der Weltkugel<br />

wie mit einem Kinderballe spielt, der Welten niederreisst,<br />

um sie wieder aufzubauen. Was für ein grosser Philosoph ist z.<br />

B. Shakespeare, der in seinem „Julius Caesar" die Umwandlung<br />

der Lebensformen ahnt, Goethe, der der tiefste Panteist ist,<br />

Victor Hugo, der jedes kleinste Insekt mit Pietät betrachtet,<br />

weil er in ihm die Erhabenheit des Daseins wiederfindet! Wie<br />

der Philosoph, so sieht auch der Dichter in der körperlichen Erscheinungswelt<br />

nur Symbole einer inneren Wahrheit, nur sucht sie<br />

der Philosoph, auf dem Wege des abstrakten Gedankenganges,<br />

während sie dem Künstler eine unmittelbare Gegenwart, eine lebendige<br />

Erfahrung ist. Jeder grosse Dichter ist eine tief religiöse<br />

Natur, wenn die Ehrfurcht, wie Schleier mache r meint, der<br />

wichtigste Bestandteil einer religiösen Weltanschauung ist. Das<br />

grösste religiöse Genie der letzten Jahrhunderte, ein Franz v.<br />

Arsis, hat kurz vor seinem Tode eine Hymne verfasst, in der<br />

er die Erde Brüder, Schwestern, Mutter, Sonne, Wind und Feuer,


12<br />

Mond, Sterne und Wasser nennt. Und die Kunst schlägt auch eine<br />

Brücke vom Vorübergehenden zum Ewigen, vereinigt auch den<br />

Menschen mit der Natur, erweitert seine Seele, räumt die Mauer<br />

vor seinem Ich auf und lässt dasselbe zum Allich heranwachsen.<br />

"Denn die schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers — meint<br />

Nietzsche — ist die Darstellung des Gleichbleibenden, in sich<br />

Ruhenden, Hohen, Einfachen, von Einzelreiz weit Absehenden".<br />

Die Kunst macht aber auch den Menschen frei, weil sie zeitlos<br />

ist. Lachen muss ich, wenn ich höre, dass ein Dichter, ein<br />

genialer Künstler von seiner Zeit missverstanden worden ist.<br />

Als ob einmal die Zeit des Genies kommen wird, als ob die grosse<br />

Masse, ihrem Wesen nach, genialisch werden kann.<br />

Das Genie jeder Epoche wird immer missverstanden werden,<br />

denn vielfach kommt es vor, dass auch die, die es verstehen, es<br />

schlecht verstehen! Durch die Kunst „treten wir aus der Umgebung<br />

des Leiblichen in die Gegenwart des Zeitlosen" (Chamberlain)<br />

und darum unterliegt sie nicht dem Leben, sondern ist Gestalterin<br />

und Schöpferin desselben. Da die Kunst die Freiheit,<br />

so werden wir durch die Kunst frei. Denn Kunst ist nur Kunst<br />

der Genies ! (Kant). Kunst verlangt von ihren Adepten den vollen<br />

Einsatz der Persönlichkeit, der Individualität und darum befreit<br />

sie unsere Individualität von den Schlacken des Autoritätswahnsinns,<br />

des überlieferten Althergebrachten. Und darin gesellt<br />

sich die grosse Kunst der Philosophie bei, denn beide steuern auf<br />

die vollkommene Befreiung des Menschen los !<br />

M. Kanfer.<br />

Eugen Dühring der philiströse Anarchist.<br />

„Carthago, die du dich priesest: „ich bin die Schönste unter allen, die<br />

da prangen am Meer," wenn nur dem Haupt meines Bruders nicht auch<br />

deine Türme nachsinken und deine Purgurgewande nicht nach allen Winden<br />

zerflattern!"<br />

Ch. D. Grabbe: „Hannibal"<br />

Wenn. uns Eugen Dühring in seinem vorliegenden<br />

Werke*) einen Epilog geben wollte, dann muss dieser unzweifelhaft<br />

ein trauriger genannt werden. Ferne sei es von uns, die<br />

bekannten Anschauungen des greisen Denkers über die Judenfrage<br />

in unsere Kritik hineinspielen zu lassen, ihn darum abfällig zu<br />

beurteilen. Auch sehr bedeutende Leute reiten Spezial-Steckenpferde<br />

auf theoretischem Gebiete ; und auch der Antisemit kann<br />

*) Dr. E. Dühring, „Waffen, Kapital, Arbeit". Verlag von Theod.<br />

Thomas, Leipzig.


13<br />

ein auf anderer Seite sehr eminenter Kopf sein. .Den besten Beweis<br />

dafür liefern die Namen wie Feuerbach, Kant, Wagner, Bakunin.<br />

Nicht dies ist es, was in dem von uns zu besprechenden Buche<br />

Dührings störend auffällt. Es ist etwas ganz anderes, etwas, das<br />

einem Kenner der Werke dieses Mannes unmöglich entgehen kann<br />

und einem solchen Leser fast physisch empfindenden Schmerz bereitet<br />

: es ist ein Abstieg in geistiger Hinsicht, der sich uns offenbart,<br />

es ist das beinahe fast gänzliche Fehlen von originellen<br />

Gedankengängen und Ideen, das in im verhüllbarer Nacktheit zutage<br />

tritt.<br />

Dühring ist uns mehr als ein Name. Er ist ein geistiger<br />

Markstein auf der Entwicklungsbahn des deutschen Anarchismus,<br />

des anarchistischen Sozialismus. Mit ihm setzt eine Kritik des<br />

Marxismus ein, die in volkswirtschaftlicher wie auch moralischethischer<br />

Hinsicht bis heute unübertroffen dasteht. Es war Dühring,<br />

der dies ausführte, sowohl destruktiv als auch konstruktiv. Sein<br />

„sozietäres System", seine „Wirtschaftskommunen", seine Zergliederung<br />

der Staatstheorie, der marxistischen Dogmatik und überhaupt<br />

sein erstes Flaggehissen gegen das Autoritäre und das<br />

Staatssozialistische der deutschen Sozialdemokratie werden uns<br />

diesen grossen Geist aus historischer Perspektive immer achtungsvoll<br />

sehen lassen. Und dass er klar sah, d. h. theoretisch-wissenschaftlich<br />

alles Hohle des Staatssozialismus durchschaute, geht schon<br />

daraus hervor, dass zu jener Zeit auch die Liebknecht-Bebelsche<br />

Richtung den deutschen Sozialismus mit marxistischen Thesen im<br />

Namen der Freiheit gegenüber den damaligen Lassalleanern hochhielt,<br />

die das autoritäre Disziplinwesen unverhohlen bewahrten, im<br />

Gegensatz zu der schlaueren marxistischen Richtung, die schon<br />

damals mit Phrasen um sich warf, in Wahrheit aber einen Staat<br />

im Staate darstellte.<br />

Seinem durchdringenden, scharfen und wissenschaftlich-anarchistischen<br />

Anschlage konnte der dicke Wall der Parteischablone<br />

nicht Stand halten. Seine „Kritische Geschichte der Nationalökonomie<br />

und des Sozialismus", so unzulänglich sie auch in ihrer<br />

ersten, 1871 erschienenen Auflage vorkommen mag, war damals ein<br />

Ereignis. Daran reihen sich die meisten seiner philosophischen<br />

Werke, in sozialitärer Hinsicht aber ganz ausnehmend der "Kursus<br />

der National- und Sozialökonomie". Was in allen diesen Werken<br />

so ungemein vorteilhaft berührt, das ist die auch dem Arbeiter<br />

durchaus verständliche, einfache, klare Sprache, in der sie verfasst<br />

sind und .noch besonders die eine Zierde, die sie mit recht<br />

wenigen Werken der Publizistik gemein haben: die strenge, absolut<br />

unbeugsame Konsequenz des Denkens, die Kraft, die abstrakte<br />

Idee konkret auszudrücken und sinnfällig darzustellen.<br />

Vornehmlich zwei waren es, die von ihm gefesselt wurden<br />

und in seinen geistigen Bann gerieten: John Most und Ed.<br />

Bernstein. Des ersteren Memoiren sind noch nicht bis zu


jenem Teile erschienen, der uns von diesem wenig bekannten Einfluss<br />

zu erzählen hat, den der Verstorbene aber mündlich oftmals<br />

konstatierte; der letztere weilt gegenwärtig praktisch wieder im Fahrwasser<br />

Dührings, legt, ganz im Sinne des Philosophen, grosses<br />

Gewicht auf die ökonomischen Koalitionen und Assoziationen des<br />

Proletariats, behält aber doch noch die taktische Hauptformel des<br />

Marxismus: Eroberung der Staatsgewalt, bei.<br />

Dührings Einfluss auf diese beiden Persönlichkeiten war in<br />

den ersten Jahren der deutschen Sozialdemokratie in ständigem<br />

Wachsen begriffen. In einer Artikelserie zu einer Neuauflage der<br />

Engeischen Schrift „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft",<br />

in der „Neuen Zeit"*) gesteht Bernstein diesen wachsenden<br />

Einfluss selbst zu, wenn auch nur im üblen Sinne. Jedenfalls<br />

war es der freiheitliche Sozialismus, der hier zum ersten Male<br />

energisch sein Haupt erhob, einen Agitator von der Bedeutung<br />

Mosts sofort für sich gewann. Freilich war dieser Sozialismus<br />

noch nicht namentlich der anarchistische, wohl aber durchaus<br />

wesentlich; seine Hauptargumente richteten sich gegen die Herrschaft,<br />

die Demokratie, den ökonomischen „Kaub und Diebstahl",<br />

die „politische Gewalt". Auf Mösts empfängliches Gemüt wirkten<br />

sie wie ein Blitzstrahl. Seine Ansichten über die Theorien Eugen<br />

Dührings fasste er in einem Artikel zusammen, welcher betitelt<br />

war „Ein neuer Philosoph des Sozialismus". Der Artikel erlitt<br />

ein merkwürdiges Geschick und mag — natürlich sehr unfreiwillig<br />

— der direkte Anstoss zur Abfassung der bekannten Engelsschen<br />

Schmähschrift gewesen sein. Ursprünglich für den „Volksstaat"<br />

bestimmt, sandte ihn dessen Redaktion, repräsentiert durch Liebknecht,<br />

nach London, zu Engels, damit derselbe ein Urteil über<br />

den Wert oder Unwert desselben fälle. Engels war diese ganze<br />

Dühringbewegung innerhalb der Sozialdemokratie ein Dorn im<br />

Auge, denn da er Dühring als strikten Gegner — und als geistig<br />

schliesslich nicht zu bestreitend bedeutenden — kannte, veranlasste<br />

er das Nichterscheinen des Artikels von Most. Da aber<br />

wurde er erst gewahr, eine wie grosse Ausbreitung diese Drachensaat<br />

von den Marx ungünstigen Gedanken bereits gefunden hatte<br />

und, angeregt von Marx, entstand aus Engels Feder ganz das<br />

gleiche Pasquill, wie es Marx früher ebenfalls gegen Proudhon<br />

verfasst hatte.<br />

Dührings Einfluss auf Most blieb auch sprachlich ein nachhaltiger.<br />

Wenn man es ungefähr so sagen darf — seine Natur<br />

wurde erst von Dühring geweckt. Und diese geistige Wegweisung<br />

und Direktive war es, welche Most den Uebergang zum reinen<br />

Anarchismus leicht machen liess ; sie war es auch, die ihn vorerst<br />

kollektivistischen Anarchist sein liess, bevor er kommunistischer<br />

wurde.<br />

*) Vergl. Generalregister.<br />

14


15<br />

Was die deutsche Sozialdemokratie an Gemeinheit, Verleumdung<br />

und Entstellung gegen Dühring verübte, mag Uneingeweihten<br />

als horrend erscheinen; unsereins kann davon nicht überrascht<br />

werden, denn Dühring war schliesslich nicht das einzige Opfer<br />

dieser Kirche, deren Existenzfortbestand sich nur durch den<br />

zähesten Konservatismus gegenüber den einmal verlautbarten Dogmen-<br />

und Glaubenssätzen gesichert wähnt. Ueberdies gibt es ein<br />

treffliches Schriftchen*) von Dr. Benedikt Friedländer,<br />

das gerade diese Seite im Leben des Denkers eingehend berührt;<br />

empfehlenswerter ist aber ein erst seit mehreren Jahren vollendetes<br />

Werk†) von Friedländer, um sich über Dühring umfassend zu<br />

informieren.<br />

Und doch ist es gerade diese Seite, die am lebendigsten<br />

wird bei der Lektüre von „Waffen, Kapital, Arbeit", dem Werke<br />

eines heute etwa Fünfundsiebzigjährigen; die Seite der Verunglimpfungen,<br />

die Engels gegen Dühring ausfüllte. Denn wenn<br />

wir bereits in jeder Neuauflage der früher angeführten Werke des<br />

Philosophen Gelegenheit zu beobachten haben, dass er die integralsten<br />

Bestandteile seiner sozialitären Anschauungen, wie das<br />

kommunale Gruppenwesen mit seinem logisch ausgeführten Produktions-<br />

und Verteilungs, resp. Austauschprozess, seine Ansichten<br />

über das Privateigentum an Grund und Boden usw. ändert, fallen<br />

lässt, sie auslässt ohne aufs Neue konstruktiv zu wirken — wenn<br />

wir Gelegenheit haben, dies schon an allen älteren Werken zu<br />

beobachten, so ist das vorliegende ein klassisches Beispiel dafür ;<br />

denn während es eine Umarbeitung eines älteren Werkes bieten<br />

soll, ist es ein neues, doch nicht besseres Buch als das alte, lässt<br />

es nicht nur den ganzen ehemaligen Dühring endgültig fallen<br />

sondern bietet sich überhaupt dar als ein Buch, das uns lehrt<br />

wie das Buch eines objektiv prüfenden Gelehrten nicht sein dar!<br />

Welcher Philister räsonniert nicht gerne? Alle treffen sich<br />

gerne auf dem Jahrmarkt der Kannegiesserei; sie wettern, zetern<br />

und schreien dorten, so viel sie nur können. Und doch sind sie<br />

nur Schildbürger, die da wirklich meinen, recht klug zu sein<br />

wenn sie Luft, Licht und Sonne in Säcken fangen zu können<br />

glauben. Ihre konstruktive Kraft ist eben gleich null. Wollen sie,<br />

will der Philister einmal konstruktiv sein, dann wird er immer<br />

läppisch. Polternd griesgrämige Bemerkungen/negierende Stellungnahme<br />

ist ja recht einfach und bequem ; schwierig ist nur die aus<br />

der Kritik zu erwachsende Konstruktion, Neugestaltung. Ohne<br />

die letztere ist jede Kritik — eine Nörgelei; und der Philister<br />

kann nie Kritiker sein, in ihm steckt nur der Nörgler, der Prozentmensch.<br />

der Kleinmensch.<br />

*) „Der freiheitliche Sozialismus im Gegensatz zum Staatsknechttum der<br />

Marxisten". Otto Lehmann, Schmargendorf-Berlin.<br />

†) „Die vier Hauptrichtungen der sozialen Bewegung". Verl. Calvary<br />

Berlin.


16<br />

Es tut weh, es konstatieren zu müssen: Dühring scheint mit<br />

seinem letzten Buch bezweckt zu haben, alle- nörgelnde Schmähung<br />

des toten Engels zu rechtfertigen. Für diesen wäre es ein Hochgenuss<br />

der Schadenfreude, dessen letztes Buch lesen zu können.*)<br />

In ihm wird Dühring das, was man ihm am letzten hätte<br />

zutrauen sollen: ein Philister. Das heisst, nicht ganz, denn<br />

etwas von dem gewaltig Energischen, Grosszügigen dieses spürenden,<br />

scharfen, aber nicht mehr schöpferischen oder scharflogisch<br />

konstruktiven Geistes, ein letzter Hauch davon ist auch in „Waffen,.<br />

Kapital, Arbeit" enthalten. Aber eben nur ein Hauch, eine leise<br />

Erinnerung. Sonst ist es nichts als das Produkt eines philiströsen<br />

Anarchisten — leider kann es auch solche geben. Dass Dühring<br />

Anarchist, bedarf keiner weitem Beweisführung als dieser, dass<br />

er den Staat verwirft. Aber er ist auch Philister, denn nach all<br />

seinen langen und nicht mehr logisch aneinandergereihten Räsonnements<br />

gibt er nur zaghaft die unbedingten Schlussfolgerungen seines<br />

Denkens an. Ein freier Geist versteht ihn wohl, kann ihn aber<br />

nicht mehr hochschätzend würdigen; denn nicht nur, dass Dühring<br />

die Offenheit der Sprache verloren, auch seine Mittel sind immer<br />

nur Mittelchen, seine Vorschläge so philiströs, dass vor der gewaltigen<br />

Masse von Philistertum das bischen Radikalismus, das<br />

ihn noch auszeichnet, fast vollständig verschwindet.<br />

Kein einziges Kapitel, in dem dies nicht zutage träte. Alle<br />

sind Halbheiten durch und durch. Er stellt z. B. die Lehre des<br />

Personalismus auf. Sehr gut, wie gerne würde ich ihm<br />

folgen, denn die Wahrung jeder Persönlichkeitsnuance ist ja der<br />

Wesensinhalt des Anarchismus. Leider vergisst Dühring seinen<br />

Personalismus hinreichend zu begründen, zu verteidigen. Er leidet<br />

an Durchfall ein halbes Dutzendmal, genau betrachtet steht vor<br />

uns die Persönlichkeit des Philisters mit durchwegs primitiven,<br />

aber in allem Wesentlichen im modernen Leben wurzelnden Institutionen.<br />

Das ist kein Personalismus. Um konsequent zu sein,<br />

müssen wir die Persönlichkeit des Individuums von allem bestehenden<br />

Zwang der Gesellschafts-Assoziation befreien, wie Stirner es<br />

so vorzüglich tat. Die freie Persönlichkeit wird sich auch wieder<br />

eigene, diesmal freiheitliche Lebensbedingungen und Assoziationsorganismen<br />

schaffen. Wäre der Personalismus Dührings ein echter,<br />

dann müsste er vor allem das Bestehende nicht bloss von Grund<br />

aus negieren, er müsste sich konsequent auf die Seite der Auflehnung<br />

des Individuums stellen. Dühring gelangt hingegen zu<br />

*) Soeben liegt uns ein neues Buch von Dr. Dühring vor: „Soziale<br />

Rettung durch wirkliches Recht statt Raubpolitik und<br />

Knechtsjuristerei." Wir haben dasselbe gelesen und können nur<br />

konstatieren, dass es an der obigen Kritik nicht ein Wort verändert zu<br />

verändern geneigt ist; höchstens können wir es als einen doppelten Epilog<br />

von Eugen Dühring betrachten. Anm. d. R.


17<br />

solch absurden Anschauungen, dass er, der ehemalige Theoretiker<br />

des Gewerkschaftswesens, zu Aeusserungen wie den folgenden über<br />

Ausschreitungen in Streikfällen gelangen kann:<br />

„Derlei gegenüber (tätliche Einschüchterung eines Arbeitswilligen durch<br />

.Streiker) sind neue scharfe Zurückweisungen und gesetzliche Vorkehrungen<br />

am Orte. Die Strafen für Freiheitbeeinträchtigungen müssen<br />

der jedesmaligen Schwere der letzteren angemessen sein. Physische Angriffe,<br />

vielleicht gar mit letalen Körperangriffen verbunden, gehen denn doch noch<br />

weiter als bloss moralische Aechtungen. Der Terrorismus hat gar verschiedene<br />

Gestalten und Grade ; die blosse Drohung will von der wirklichen Tat<br />

unterschieden und diese wiederum nach Massgabe ihres Mehr oder Minder<br />

an Brutalität veranschlagt sein. Massenrohheit ist kein mildernder Umstand,<br />

wo es sich um Unrecht, zumal um Beeinträchtigung oder Vernichtung der<br />

persönlichen Freiheit handelt. Die strafgesetzlichen Reagenzen<br />

gegen die betreffenden Freiheitsverletzungen dürfen<br />

nicht derartig gelinde geraten, dass sie der Terrorist<br />

wie ein leichtes Nebenrisiko betrachten und wie eine<br />

Art Zusatzkosten seines Verhaltens auf sich nehmen<br />

kann,"<br />

Nach dieser trefflichen Vorwegnahme eines staatsanwaltlichen<br />

Playdoyers — wir schlagen als Strafe für den „Terroristen" diejenige<br />

des Köpfens vor, damit sie „nicht derartig gelinde gerate"<br />

— können wir nur verblüfft sein über das Fazit des Denkens beim<br />

Verfasser des „Kursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher<br />

Weltanschauung und Lebensgestaltung" ; diese wissenschaftliche<br />

Weltanschauung hat ihn wahrscheinlich dazu geführt, im Staate<br />

den Retter der Freiheit des Arbeitswilligen, in der Strafe als gemeine<br />

Rache gesellschaftlicher Uebermacht die Besserungsmethode<br />

des Personalismus zu erblicken. Wir bedanken uns schönstens<br />

dafür und können nur stille trauern . . . Nichtsdestoweniger verstehen<br />

wir seine Logik. Er ist nur Gegner des Gewalt- oder<br />

des Raub Staates. Nach ihm ist der theoretische Bestandteil des<br />

Staates nicht nur dies, sondern auch der Schutz gegen Verbrechen<br />

(Seite 149); und er sieht gar nicht das Lächerliche seiner Situation,<br />

dass damit der Staat unangetastet bestehen bleibt, weil doch<br />

jeder Staat seine moralische Begründung und Rechtfertigung in<br />

seiner angeblichen Schutzeigenschaft gegen Verbrechen aller Art<br />

sucht und findet. Würde Dühring jedoch tiefer blicken, so könnte<br />

er nie dazu gelangen, in dem Staat die Schutzwehr gegen das<br />

Verbrechen zu erblicken. Logisch müsste er sich fragen, was das<br />

Verbrechen sei und würde dann sehr bald erkennen, dass es<br />

wohl atavistische Neigungen im Gefühls- und Instinktleben Einzelner<br />

gibt, die aber durch gesellschaftliche Fürsorge entweder geheilt<br />

oder harmlos gemacht werden können; dass der spezifische<br />

Begriff „Verbrechen" aber nur die Terminologie einer staatlichen<br />

Kulturperiode ist, die Terminologie des Staates, der alles das, was


18<br />

ihm nicht nützlich, in Acht erklärt und das so Geächtete dann<br />

„Verbrechen" nennt. So lange der Staat, wird auch dieses „Verbrechen"<br />

existieren; und überdies akzeptiere man doch willig von<br />

dem Staate alle seine Gewalt, wenn man es nicht verschmäht,<br />

seine kleinen Scheinvorteile einheimsen zu wollen,<br />

Man glaube nicht, dass Dühring, der Antireligiöse und Antistaatliche,<br />

plötzlich ein Anhänger des Staates geworden. Nein,<br />

aus ihm spricht eine Art Griesgrämigkeit des Alters, eine innere<br />

Verbitterung, vielleicht nur allzu erklärlich, jedoch unausstehlich<br />

philiströs. Aus dem Personalist ist, ohne dass er es selbst weiss,<br />

ein Halbmensch geworden. Wir finden dies in der geradezu grotesken<br />

Sucht, alles und jedes herunterzureissen — Friedländer mag<br />

sich trösten: Dühring hat seine Unterlassungssünde endlich nachgeholt,<br />

er „kritisiert" Henry George, indem er ihn uns als „ursprünglich<br />

goldsucherisches New-Yorker Judenblut" vorstellt! — zu<br />

bekritteln und dabei an dessen Stelle nichts anderes als die ärmlichste<br />

und armseligste Philisterpalliative zu setzen, die selbst<br />

dort, wo sie einen radikalen Anlauf nimmt, knapp vor dem Sprunge<br />

stehen bleibt und das satte Ideal des Philistertums definitiv sanktioniert.<br />

Kein Kapitel bildet eine Ausnahme zu dieser Regel; sie<br />

alle sind polternd kritisch, albern in der Konstruktion und direkt<br />

abstossend in ihrer geradezu grossen wahnsinnigen Selbstgefälligkeit.<br />

Obwohl ich guten Grund habe, zu befürchten, dass Herr<br />

Dühring mich für diese meine Kritik unbarmherzig als „Judenblut"<br />

in Grund und Boden wettern wird, gebietet mir doch die Wahrheit<br />

meiner Erkenntnis dies ganz unverblümt zu konstatieren —<br />

vielleicht auch eine Sympathie, die man für jene hegt, deren<br />

Befruchtung des eigenen Geistesleben man dankend anerkennen<br />

muss, und welche unverändert selbst dann noch anzudauern pflegt,<br />

wenn man sich geistig längst von dem Betreffenden geschieden<br />

weiss. Um aber nicht des Unrechts geziehen werden zu können,<br />

will ich nur ein einziges Beispiel Dühringscher Kritik und Konstruktion<br />

in „Waffen, Kapital, Arbeit" dem Leser behufs eigener<br />

Begutachtung unterbreiten.<br />

Das 8. Kapitel betitelt sich „Rationeller Antimilitarismus".<br />

Gewiss, sehr interessant und die Unabhängigkeit<br />

des Denkers bekundend, ein solches Kapitel in den Geistesprozess<br />

seiner Philosophie aufgenommen zu haben. Unglücklicherweise<br />

geschieht dies in ebenso schiefer Weise, wie alles frühere in diesem<br />

Buche auch, und bei dieser Gelegenheit möchte ich bemerken,<br />

dass ein Hauptfehler Dührings sich auf einen Umstand zurückführen<br />

lässt: er scheint keine Ahnung davon zu haben, dass es<br />

dem Wesen eines wahren Personalismus in keiner Hinsicht widerspricht,<br />

anzuerkennen, dass alle Gedanken und Theorien der<br />

Sozialphilosophie ihren ersten Ausgangspunkt im sozialen<br />

Wirken der Massen, oder richtiger der sich zu sozialem<br />

Tatendrang durchringenden Volkesminoritäten nahmen, dass der


19<br />

Theoretiker scharf beobachten kann, nie aber diktieren darf. Die<br />

Theorie ist ja doch nichts anderes als das in abstrakten, geistigen<br />

Formeln sich ausdrückende reale Leben; nur insofern als sie<br />

wirklich treffend dieses Leben darstellt, besitzt die Theorie einen<br />

höheren oder niederen Grad der Richtigkeit oder Unfähigkeit in<br />

ihren geistigen Ausblicken.<br />

Seite 134 sagt Dühring nun:<br />

„Sich von einer besonderen Klasse dirigieren lassen, das ist die schon<br />

formell freiheitswidrige Seite in dieser Gebahrung. Wozu aber kommandieren?<br />

Dieses Wozu verschärft noch das Unheil. Der Krieg ist die Losung,<br />

soll der Ruhm sein und bleiben, und die Pariser Umstürzung der dortigen<br />

Siegessäule ist zwar eine Gegendemonstration gewesen ; es hat ihr aber praktisch<br />

und faktisch noch keine ernsthaftere Aenderung des Systems entsprochen.<br />

Der Chauvinismus ist obenauf geblieben, und was sich jetzt in Frankreich<br />

Antimilitarismus nennt, besteht in nichts als in<br />

ziemlich plumpen Plakatdemonstrationen.<br />

Also die Plakatdemonstrationen, die mit flammenden Worten<br />

die direkteste Volksaufklärung betreiben, sie sind ..plump". Was<br />

aber sagt Dühring: dass der Antimilitarismus in Frankreich den<br />

Chauvinismus im eigenen Lager noch nicht ausgerottet habe und<br />

sich in Plakatdemonstrationen erschöpfe ? Dies ist, wie ein Blick<br />

-auf die gesamte antimilitaristische Literatur genügt, die sich<br />

ganz nuverhohlen gegen den Vaterlands- resp. Patriotismusbegriff<br />

wendet, absolut unwahr. Was der französische Antimilitarismus<br />

— dessen Propagandamittel Dühring „Judenpfuscherei" nennt —<br />

wirklich bezweckt, bietet uns, ein Beispiel von vielen, die Resolution<br />

einer sozialistischen Bauerngewerkschaft des französischen<br />

Departements Yonne dar, die folgenden Inhaltes ist:<br />

„Wenn ein Krieg erklärt wird, werden die Liniensoldaten sofort desertieren<br />

und in ihre Heimatsorte zurückkehren. Die Landwehr und die<br />

Reservisten bleiben ruhig zu Hause und lassen die „Patrioten" zur Grenze<br />

marschieren. Sobald diese letzteren schon in gehöriger Zahl getötet sein<br />

werden, beginnen wir mit der Insurrektion im Innern, und wir werden umso<br />

leichter den Sieg davon tragen, weil es nicht mehr genug Soldaten geben<br />

wird, die sich uns entgegenstellen könnten."<br />

Man ist nun wirklich begierig zu erfahren, welches unerhört<br />

neue, noch nie angewandte Mittel Dühring uns als „rationellen<br />

Antimilitarismus" vorschlagen wird und will. Er erzählt uns,<br />

dass der Militarismus ein Krebs ist, den man aus dem Fleisch der<br />

Völker herausschneiden muss. Gar nicht so falsch; aber, da er<br />

die Mittel des französischen Antimilitarismus verwirft, sind wir<br />

wohl begierig, seine eigenen kennen zu lernen. Worin besteht<br />

das Universalmittel?<br />

Seite 147. „Worin liegt aber das Rationelle? In der Verweigerung<br />

aller inneren und äusseren Mittel, die dem Schaden an die Wurzel greifen.


20<br />

Da ist zum Beispiel der unbedingte Gehorsam ein Dogma, welches abgetreten<br />

werden muss. In technischen Dingen ist manchmal Schablonendisziplin<br />

erforderlich; allein wo es Handlungen gibt, die mit dem Gewissen zusammenhängen,<br />

da darf keinem Menschen zugemutet werden, sich belieb<br />

wie eine Maschine gebrauchen zu lassen. Soll er Henkersdienste verrichten,<br />

Hinrichtungs-Exekutionen besorgen s auf Leute schiessen, unter denen sich<br />

seine eigenen Angehörigen befinden, so ist auch beim Soldaten ein bischen<br />

Kritik und Gewissen am Platze. Er ist kein gedungener Soldknecht, sondern<br />

heute Bürger gegenüber gleichen Bürgern. Er hat sich also in kritischen<br />

Fällen zu fragen, wo das grösste Uebel liegt, ob in einer offenbaren Untat<br />

oder in einem Widerstand gegen die Zumutung ihrer Ausführung."<br />

Wiewohl wir Herrn Dühring gewiss sehr dankbar sind für<br />

dieses Bekenntnis seines Antimilitarismus, müssen wir ihn dennoch<br />

angesichts seines Eigendünkels ganz offenherzig fragen: Ist<br />

dies der ganze „rationelle" Antimilitarismus ? Falls ja, dann,<br />

Herr Dühring, können wir Ihnen versichern, dass sie uns nicht nur<br />

nichts Neues gesagt haben, eher etwas, was der Redakteur des einfachsten<br />

anarchistischen Blattes unentwegt und stets propagierte,<br />

längst vor dem Ersehe inenlhres Buches und sogar mit viel grösserer<br />

Konsequenz, denn der anarchistische Arbeiter als Schriftsteller<br />

hält nie und unter keinen Umständen „Schablonendisziplin" für<br />

erforderlich. Hier sehen wir den Philosophen, ganz wie das<br />

Zerrbild der Karrikatur ihn uns darstellen möchte: als einen, der<br />

da glaubt, vom Baum des Lebens zu pflücken, während ganz<br />

andere dies. tun. Es ist nicht das Grün des Lebens, das Dühring<br />

uns bietet, es ist etwas abgeschmackt Altes, für uns selbstverständlich,<br />

und ohne dass wir uns als Philosophen fühlen, können wir<br />

dennoch freimütig bekennen: wir Anarchisten haben unendlich<br />

mehr vom Born der Weisheit geschlürft in Fragen des Antimilitarismus,<br />

ohne dass wir es wagen würden, Kämpfer zu verkleinern<br />

an allem zu nörgeln und dann schliesslich zu guterletzt den kreisenden<br />

Berg ein Mäuschen gebären zu lassen.<br />

Letzteres tut Eugen Dühring durchweg in seinem Buche.<br />

Und damit wird es Zeit, von ihm Abschied zu nehmen; einen<br />

doppelten Abschied, von seinem Buch und von ihm, einen Abschied<br />

wahrscheinlich für immer. Dühring, der konstruktive, schöpferische<br />

Denker des deutschen Anarchismus, ist schon längst nur eine<br />

historische Gestalt; der Dühring, welcher übrig blieb, und den wir<br />

auch gegenwärtig noch vor uns haben, ist nur ein Schattenbild<br />

von jenem. Der Dühring vor etlichen dreissig Jahren war Anarchist,<br />

der Dühring der Gegenwart ist Philister oder, milder, ausgedrückt,<br />

ein philiströser Anarchist geworden.<br />

Pierre Ramus.


21<br />

Der Störenfried.<br />

(Mais quelqu'un troubla la fête.)<br />

Von Louis Marsolleau.<br />

Ein Akt in Versen.<br />

Aus dem Französischen von Fritz.<br />

(Fortsetzung uud Schluss.)<br />

4. Szene.<br />

Arbeiter (kurz angebunden): Gegrüsst!<br />

Kapitalist (ihn erkennend): Oho! Der Kerl kommt noch einmal!<br />

Richter : Die Frechheit!<br />

General (heftig): Fort! Hinaus!<br />

Bischof Verkleidet?! — Welch' Skandal!<br />

Kapitalist (zum Arbeiter, der an der Schwelle stehen geblieben<br />

ist) : Ist Fasching heut ?<br />

Arbeiter: Für uns sind Fasten 's ganze Jahr.<br />

Ich bin's — doch nicht derselbe, der ich war.<br />

Alle: Ah!<br />

Arbeiter: Trinkend, scherzend in Glückseligkeit,<br />

Scheint, Prassern, euch hier stillzustehn die Zeit,<br />

Ihr merkt nicht, dass sie rüstig vorwärts geht:<br />

Der Bauer war ich früh'r — heut' bin ich der Prolet.<br />

Richter: Es scheint, das Pack tritt ein, wo's ihm beliebt!<br />

Kapitalist: Was willst du?<br />

Arbeiter: Meinen Teil!<br />

Kapitalist: Von was ?<br />

Arbeiter: Von allem, was es gibt.<br />

Kapitalist: Zum Teufel!<br />

Arbeiter: Nicht mehr der Tropf, den man zurück<br />

Geschreckt mit „Benedicte vos!" und frommen Blick<br />

Bin ich - das macht mir alles nicht mehr bang.<br />

Vom lieben Gott, den alten Singesang,<br />

Plärrt Kindern vor! — Wo ist mein Tischgedecke,<br />

Mein Plätzchen in behaglich warmer Ecke ?<br />

Ich hass' die Uniform, ich pfeif auf den Talar.<br />

Gelesen hab' ich, und ich sehe klar,<br />

Dass ich, Geblendeter, von je geprellt<br />

Ward um mein Teil in dieser weiten Welt<br />

Und dass ich nur darum zu nichts gekommen,<br />

Weil man das Meine mir hat weggenommen.<br />

Dies Wissen macht, dass trotz gering'rer Plage,<br />

Je mehr mein Wohlstand sich gesteigert,<br />

Mein Unbehagen wuchs von Tag zu Tage:<br />

Ich kenn' heut meine Rechte, die ihr weigert!<br />

Als Sklave werde ich zur Welt gebracht,<br />

Als Sklave wachse mählich ich heran,


22<br />

Als Sklave leb' ich, schind 1<br />

mich, wie ich kann —<br />

Als Sklave sinke ich in Grabesnacht,<br />

Den Galgen über mir, das Joch auf meinen Nacken<br />

— Das Kapital, bemüht, das Brod mir abzuzwacken.<br />

In tausendfach verschied'nen Tätigkeiten<br />

Vergiess ich, Mag'rer, ohne Euh und Rast<br />

Den sauren Schweiss. — Wozu? — Um zu bereiten<br />

Für Rentners faulen Wanst die üppige Mast.<br />

Wenn auch mein Hals in Eisen eingeschnürt —<br />

Ich weiss, dass mir ein Platz an Tisch und Herd gebührt.<br />

General: Ich berste !<br />

Bischof (salbungsvoll): Das ist der Geist moderner Zeit,<br />

Der kritisch selbst das Heiligste nicht scheut.<br />

Arbeiter (einen Schritt vortretend, plump scherzend):<br />

Verengt, hochedle Gönner, eure Plätze,<br />

Damit ich schnell mich auch zur Tafel setze.<br />

Zugreifen will ich, dass ihr euch verwundert,<br />

Denn es hat lange Zähne mir gemacht<br />

Der Hunger, den ich litt durch manch Jahrhundert<br />

Und hier gibt's reichliches und gutes Essen. (Laut und drohend)<br />

Nun ?! — Wird noch immer mir kein Stuhl gebracht ?<br />

Buhlerin (sich erschreckt flüchtend): In meine Nähe nicht!<br />

Kapitalist: Er ist besessen !<br />

Richter: Ein Narr, der rast!<br />

Bischof: O nein, aus ihm spricht bloss<br />

Die Bestie im Menschen, zügellos.<br />

Buhlerin (die fast ohnmächtig war und gelabt werden musste) t<br />

Ein Gräu'l sind mir die Knechte!<br />

Arbeiter (zur Buhlerin, sehr ernst): Schwester, still!<br />

General (wütend): Dahin führt enre Nachsicht, doch — ich will<br />

Buhlerin (furchtbar verletzt): Ich — seine Schwester!<br />

Herzogin: Unerhört!<br />

Politiker (bei Seite): An mir<br />

Ist's, an dem Horn zu fassen diesen Stier. (Direkt auf den Arbeiter<br />

zugehend, sehr zutraulich) Mitbürger, kennst du mich ?<br />

Arbeiter: So wie man's nimmt,<br />

So viel steht fest: ich hab' für euch gestimmt.<br />

Politiker: So höre mich, den Mann, der dich vertritt:<br />

Die Sache schädigt dein verweg'ner Schritt,<br />

Die Zeche zahlst zum Schluss nur du . . .<br />

Arbeiter (der vortreten will): Ei schwatz'<br />

Du zu, ich hungre, und ich will essen. — Platz T<br />

Politiker (ihn zurückhaltend und etwas zurückdrängend) :<br />

Nein, nein! — auf keinen Fall! — ich duld' es nicht,<br />

Dein Wohl zu wahren ist mir heil'ge Pflicht. —<br />

Wie kannst du deinen Vorteil so verkennen?<br />

Was nützt das Drängen, Treiben, Hasten, Rennen?


23<br />

Es strauchelt, wer nicht vorgeht mit Bedacht;<br />

Gar schlüpfrig ist die Strasse, jede Spalte<br />

Birgt eine Falle, jede Bodenfalte<br />

Bringt den zum Sturz, der sich nicht nahm in Acht.<br />

Der Weg, der zur verschleierten Zukunft leitet,<br />

Wird nicht durcheilt auf weh'nden Sturmesflügeln,<br />

Den blinden Eifer, Freund, gilt es zu zügeln —<br />

Das Ziel erreicht, wer langsam vorwärts schreitet.<br />

Dem Führer folg', der willig an der Spitze<br />

Schlagfertig jeden Vorteil schnell erspäht,<br />

Den Wind erkundend, prüfend jede Ritze,<br />

Gefahr zerstreut, eh' ihr sie noch erseht;<br />

Dem weisen Führer, der den Weg ertrug,<br />

Die Felsenwand durchbohrt, die Furt entdeckt,<br />

Die Brücke über tosende Gewässer schlug<br />

Von keinem Hindernis zurückgeschreckt.<br />

Das Ziel, das wie ein Schatten vor dir schwebt,<br />

Vor seinen Augen leuchtet es und lebt,<br />

Und grad drauf zu führt er dich sich're Bahn. —<br />

Begangen hätt'st du bald in deinem Wahn<br />

Ne Torheit! — Sag' — vertraust du mir nicht mehr ?<br />

Arbeiter: Ja ja! — doch zweifl' ich, ob ich soll.<br />

Politiker: Dies Wort, mein Freund, ist schnöden Undanks voll!<br />

Wann hob ich nicht im Kampf für dich die Wehr ?<br />

Wann streckt' ich faul mich hin aufs Lotterbett? —<br />

In der Versammlung tobendem Gewühl,<br />

Auf der Tribun', im Gang, im Vestibül,<br />

In jeder Kommission; selbst am Buffett,<br />

Wann liess ich deine Sache je im Stich ?<br />

Iii jeder — jeder Sitzung hört man mich.<br />

Ein Antrag, eine Interpellation,<br />

Ein Zwischenruf — es spricht die Welt davon.<br />

War es mein Eifer nicht, der es verschuldet,<br />

Dass für die gute Sache ich geduldet?<br />

Erlitt ich nicht schon Strafen jeder Stufe ?<br />

Mich traf der Satzung Strenge zur Genüge,<br />

Wie oft die kleine und die grosse Rüge,<br />

Wie oft protokollierte Ordnungsrufe!<br />

Arbeiter : Das Resultat war : Null!<br />

Politiker: Allmählich nur<br />

Entstandenes besteht. Das ist Natur-<br />

Gesetz, „Entwicklung" und nicht meine Schuld.<br />

Uns Menschen ziemt. . .<br />

Arbeiter (ironisch): Entsagung?<br />

Politiker: Nein, Geduld.<br />

Arbeiter: Geduld?! — Wie lange noch?<br />

Politiker: Hör'! Im Vertraun,


24<br />

Rom war an einem Tage nicht zu baun.<br />

Verlass dich nur auf mich, der jederzeit<br />

Zu Rat und Tat und Hilfe gleich bereit.<br />

Empfehle ich dir denn gleich einem Narren<br />

Zwecklos auf nie Eintretendes zu harren ?<br />

Im Gegenteil! — Die Sache geht im Lauf,<br />

Im Riesenschritt — es fällt dir nur nicht auf. —<br />

Da's unmerklich geschieht, nicht offenbäh<br />

Wirst Du der günst'gen Wendung nicht gewahr.<br />

Bald — — heute — — jetzt zur Stunde ist vielleicht<br />

Zum Greifen nah das Ziel! — Es wird verscheucht<br />

Durch eine einz'ge heftige Bewegung ....<br />

Dies sei kein Vorwurf deiner früh'ren Regung . . .<br />

Arbeiter (besiegt): Nun denn — ich warte, gehe.<br />

Politiker (ihm auf die Schulter klopfend): Wack'rer Freund!<br />

Lass mir zum Abschied fest die Hand dir pressen.<br />

Arbeiter: Ich könnt' noch, eh' ich gehe, essen.<br />

Politiker: Das wirst du morgen tun.<br />

Arbeiter (halb für sich, in der Tür): Geprellt, wie's scheint,<br />

Werd' wieder ich.<br />

Politiker (die Hand zum Himmel hebend): Nie!<br />

Arbeiter: Es war' euch kein Gewinn.<br />

Wenn ich euch nicht mehr sage, wer ich bin,<br />

Dann wird es ernst! Gut Nacht! (ab)<br />

5. Szene.<br />

Politiker: Uf!<br />

Richter: Diese Rotte!<br />

General: Hirnloses Pack! Boshafte Don Quichotte !<br />

Man sollte diese Schädel, diese leeren,<br />

Mit etwas heissem Blei beschweren,<br />

Und bersten sie bei dieser Kur entzwei,<br />

So ist nicht schade drum. Ganz einerlei!<br />

Ich machte mir daraus nicht mehr Gewissen,<br />

Als einen tollen Hund zu schiessen.<br />

Politiker: Mit diesen Strolchen wird man schwer nur fertig.<br />

Auf jeden Fall will ich die Tür verschliessen (er tut es)<br />

Dies ew'ge Schrei'n nach Brod wird widerwärtig.<br />

(Gesprächspause)<br />

Bischof: Sind diese Kerle zahlreich auf den Strassen ?<br />

(Neuerliche Pause)<br />

Buhlerin: Man könnt' ihn immerhin die Brocken nehmen lassen.<br />

(Das Gespräch stockt vollständig. Ferner Donner.)<br />

Politiker: Es regnet.<br />

Herzogin : Wie es stürmt!<br />

General: Es blitzt.<br />

Bischof: Gebogen<br />

Sind wir zum Glück.


25<br />

Kapitalist (ziemlich erregt): Zum Teufel! Was für Sorgen ?<br />

Trinkt Herren! Zeig', Margot, wie du gedrechselt! —<br />

Da sitzt ihr kreidebleich, wie umgewechselt —<br />

Warum ? — Weil's regnet, blitzt und weil ihr saht,<br />

Dass das Gesindel nichts zu fressen hat ?!<br />

General (eine Flasche ergreifend):<br />

Ganz richtig! (zur Herzogin) Darf ich!<br />

Herzogin (das Glas hinhaltend): Bitte!<br />

Politiker (sich aus einer zweiten Flasche einschenkend):<br />

Bah! Uns schmerzt<br />

Der Hunger and'rer nicht.<br />

(Alle trinken und stossen an, Gläsergeklirr)<br />

Kapitalist (lachend auf den Richter zeigend): Der Richter bebt!<br />

Richter: Wer ? — Ich ? — Gewiss nicht! — Ich bin ganz beherzt!<br />

—<br />

Es halten sicher fest doch Schloss und Riegel?<br />

Politiker (leicht berauscht):<br />

Margot! Aus Mitleid komm' herangeschwebt!<br />

Ein Brocken Weiberfleisch an diesen Flügel!<br />

Der Richter ist ganz quittengelb. — Erbarmen!<br />

Lass' mich 'was rosig Blühendes umarmen!<br />

(Die Buhlerin. welche an der entgegengesetzten Seite der Tafel neben der<br />

Herzogin gesessen hat, steht auf und geht vorn an der Tafel vorbei, um zum<br />

Politiker zu gelangen.)<br />

Herzogin : Ein Einfall! Hört!<br />

Politiker: Den wollen wir begiessen!<br />

Herzogin : Mit Fluten, bis sie schäumend überfliessen.<br />

Alle : Ein Hoch dem Einfall!<br />

(Gläsergeklirr. — In diesem Augenblicke erscheint am Fenster des Hintergrundes<br />

das Gesicht des Unbekannten. Es ist von fahler Blässe, gespenstig<br />

und erscheint durch einen schwarzen, es ringsum einfassenden Mantel noch<br />

bleicher. Die übrigen Gäste, die ihm den Bücken drehen, können es nicht<br />

sehen, nur die Buhlerin, welche im Begriffe war, quer über die Bühne zu<br />

gehen, erblickt es und erschrickt. Sie lässt das Glas, da6 sie trug, fallen und<br />

schreit laut auf.)<br />

Buhlerin : Ah ! (Das Gesicht des Unbekannten verschwindet sofort.)<br />

Alle: Was ist geschehen?<br />

Buhlerin (die Hände an den Augen):<br />

Es war — es ist — ich hab's gesehn . . .<br />

Doch nein — 's war nichts - Ein Blitz hat mich geblendet . . .<br />

(Sie flüchtet sich an die Seite der Herzogin. Bis zum Ende der Szene nähert<br />

sich das Donnergerolle immer mehr und mehr.)<br />

Kapitalist (zur Buhlerin): Albernes Ding!<br />

Politiker (zur Herzogin): Wo bleibt der Einfall ?<br />

Herzogin (leicht berauscht, die Arme auf den Tisch legend, zum<br />

Bischof): Wendet,<br />

Hochwürd'ge Gnaden, ab euch, hört nicht hin


26<br />

Auf meinen Einfall; er ist göttlich zwar —<br />

Doch mehr im heidnischen, antiken Sinn.<br />

Alle (sehr lärmend): Ah ! Ah !<br />

Herzogin: Uns Erdengöttern soll die Zeit verfliessen<br />

In steter Heiterkeit, olympischem Geniessen;<br />

Nachdem des Nektars Schaum uns hoch ergötzt,<br />

Werd' unser Sinn in edler'n Rausch versetzt<br />

Durch schönsten Frauenleibes Herrlichkeit.<br />

(Den Arm um den Nacken der Buhlerin legend.)<br />

Warm ist es hier, spät ist es an der Zeit,<br />

Mög', um ein dringend Wünschen zu erfüllen,<br />

Hier unsre schöne Freundin sich enthüllen<br />

Und — Heiligkeit guckt weg — als Anadyomene<br />

Erstrahlen lassen nackten Leibes Schöne. —<br />

Kein Mann tritt nah! Weh dem, der sich vergisst!<br />

Der süsse Rosenmund bleibt ungeküsst.<br />

Von euren Seufzern, Wünschen rings umschwirrt,<br />

Umflattert, bleibt die Göttin unberührt,<br />

Bewundert nur als höchste Schöpfungs-Zierde. —<br />

So soll dies Spieles prickelndes Vergnügen<br />

Aesthetisches Geniessen zur Begierde<br />

Und scheu zu liebendem Verlangen fügen.<br />

Kapitalist (heiter): Der Teufel! — Wenn wir das nur gut vertragen!<br />

S'ist sonst nicht uns're Art, sich etwas zu versagen.<br />

(In diesem Augenblicke taucht das spähende Antlitz des Unbekannten<br />

wieder am Fenster auf. Es wird wieder von niemandem ausser der Buhlerin<br />

bemerkt, welche furchtbar erschrickt und laut aufschreit.)<br />

Buhlerin : Ah! Ah !<br />

(Tumult, das Antlitz am Fenster verschwindet, allgemeine Betroffenheit.)<br />

Politiker (die Buhlerin rüttelnd): Was hast Du?<br />

Buhlerin (ängstlich den Arm gegen das Fenster ausstreckend) :<br />

Da — der Mann . . .<br />

General: Wen sahst du ?<br />

Buhlerin (die Hand vor den Augen, wie abwesend): Den Mann:<br />

(Der General sperrt die Türe auf und geht hinaus um nachzusehen)<br />

Kapitalist (grob): Zum Henker! Welchen Mann, du Tropf?<br />

Herzogin (zärtlich): Du faselst wie ein Kind.<br />

Politiker: Der Wein stieg ihr zu Kopf.<br />

Kapitalist (der einstweilen zu den Fenstern hinausgesehen hat):<br />

S'ist nichts.<br />

General (wieder eintretend): Kein Mensch ist vor dem Tor.<br />

Richter (schlotternd): Go . . . Gott sei Dank! — Doch. . . schiebt<br />

den Riegel vor!<br />

(Während des Tumultes hat sich der Bischof der Herzogin genähert.)<br />

Bischof: Durchlaucht! So öffentlich sprecht ihr der Sitte Hohn?<br />

Welch ein Skandal! — Entblösst! — Nicht zu begreifen!<br />

Herzogin (schenkt sich ein und trinkt, dann sehr von oben herab)


27<br />

Von euch, Hochwürdigster, Absolution<br />

Hol' ich mir morgen, lasst drum heut das Keifen!<br />

Zum Bauernhaufen zähl' ich nicht, der dumm<br />

Und scheu, gewohnheitsmässig rückenkrumm<br />

Den Pfaffen, der ihn schilt, bestaunt;<br />

Auch bin ich nicht im mindesten gelaunt<br />

Zu beten oder für mein Seelenheil<br />

Zu hören pred'gen euch beim Becherklang.<br />

Des Volks Moral ist nichts als Vorurteil<br />

Und ungeziemend meinem hohen Bang.<br />

Erlaubt ist alles uns — nichts der Kanaille! —<br />

Wenns mich mein Hemd jetzt auszuziehn gelüstet,<br />

Ich tu's, ob ihr euch noch so sehr darob entrüstet. —<br />

Ihr wisst, wohin vor Jahren in Versailles,<br />

Als Louis der Vielgeliebte noch regierte,<br />

Prinzessinnen von allerhöchstem Blut<br />

Dasselbe heisse Blut anstachelnd führte:<br />

Vom Schlafgemach in frühster Morgenglut<br />

Zur Wache hin, der Schweizer, der Trabanten,<br />

Verfügten sich des heil'gen Ludwigs Enkel,<br />

Die — nicht vor Andacht just — im Innern brannten.<br />

Den Reifrock hochgenommen über'n Schenkel,<br />

Den Wulst, der wie ein Keuschheitsbollwerk ringsum<br />

Verborg'nen Reiz umgab, hoch aufgeschürzt,<br />

So haben sie mit — wer weiss ? — rechtsum, linksum<br />

Und — Pfeifenrauchen sich die Zeit gekürzt.<br />

(Sie wendet sich mit entschiedener Bewegung vom Bischof ab und der Buhlerin zu.)<br />

Komm'!<br />

(Ein unbestimmtes Unbehagen lasst sich trotz alledem in der Gesellschaft<br />

nicht unterdrücken. Ein plötzlicher Donnerschlag macht die Fenster erklirren.):<br />

Buhlerin (neben der Herzogin im Vordergrund stehend und das<br />

Gesicht an ihren Schultern bergend): Ach, ich furcht' mich so !<br />

Politiker : Welch Donnerschlag !<br />

General (die Beine bewegend): Nervös wird man!<br />

Buhlerin (furchtsam zur Herzogin): Wann wird es endlich Tag ?<br />

(Sie hebt das Haupt und erblickt, nach dem Hintergrunde sehend, plötzlich<br />

im Fenster das gleich wieder verschwindende Antlitz des Unbekannten<br />

Sie reisst sich aus den Armen der Herzogin los und schreit)<br />

Ah — da ! Der Mann !<br />

(Alle drehen sich schweigend um — und nichts ist zu sehen. Nach einer Pause.)<br />

Politiker : Sie ist verrückt!<br />

Buhlerin (aufgeregt): So bleich<br />

Das Antlitz, wie der Tod erscheint's und gleich<br />

Verschwindets wieder! . O, ich sah's bestimmt;!<br />

Herzogin (beschwichtigend):<br />

Ein Trugbild, das dir die Besinnung nimmt.<br />

Kapitalist: Einbildung ist nur — Hallucination.<br />

(Plötzlicher Donnerschlag.)


Richter: Wie's tobt!<br />

Bischof: Das Chaos!<br />

Politiker: Revolution!<br />

(Die Männer setzen sich wieder. Die Herzogin legt ihren Arm um die Taille<br />

und zieht sie etwas aus der Reihe der Trinkenden.)<br />

Herzogin : Komm', komm'! — Die nächtliche stille Stunde schlägt,<br />

Wo Wollust heisseii Fiebertraum erregt<br />

Des bebenden Veilangens. Komm' zu dir!<br />

Was fürchtest du? Bist du nicht sicher hier?<br />

Versammelt sind zum Schutz für deinen Reiz<br />

Gold, Schwert, Gesetz, die Macht, das Kreuz.<br />

Buhlerin (mit erstickter Stimme): Ja! — — Doch der Mann!...<br />

Herzogin: Vergiss den wüsten Traum!<br />

(Die Männer haben sich mittlerweile, des kommenden Schauspiels gewärtig,<br />

gesetzt. Die Gläser werde» aufs neue gefüllt. Links, wenige Schritte vor der<br />

Tafel, löst die Herzogin der Buhlerin das Haar auf.)<br />

Kapitalist: Entsteige, Venus, denn dem Meeresschaum!<br />

Dem Donner Trotz! Auf uns're Allmacht trinken<br />

Wir ! Hoch die Lust !<br />

(Die Männer stehen auf und stossen mit den Gläsern an. In diesem Augenblicke<br />

erscheint abermals, von niemand bemerkt, das Gesicht des Unbekanntten<br />

spähend am Fenster.)<br />

Politiker : Auf uns're Einigkeit!<br />

General: Auf uns're Herrschaft!<br />

Politiker: Nie wird sie versinken !<br />

(Die von der Herzogin aufgelösten Haare der Buhlerin fallen über deren<br />

Schultern herab.)<br />

Hoch aufgelöstes Haar und fallend Kleid ! (Das Glas hochhebend,<br />

mit erhobener Stimme): Die Mächte, denen diese Welt gehört!<br />

(Plötzliches Geräusch gebrochener Scheiben; durch das mit der Faust zertrümmerte<br />

Fenster tritt der Unbekannte ein. Durchs zerschlagene Fenster dringen<br />

Wind und Regen und verlöschen alle Lichter. Tiefe Finsternis. Furchtbarer<br />

Schrei tötlichen Entsetzens, gefolgt von einem alles erschütternden Donnerschlag<br />

mit Blitz. Wieder vollständige FinsterDis, aus welcher die erhobene<br />

Stimme des Unbekannten ertönt.)<br />

Der Unbekannte (unsichtbar):<br />

Doch Einer hat das Fest gestört!<br />

(Der Vorhang fällt.)<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Uebersicht der hauptsächlichsten<br />

Artikel i, d. anarch. Presse<br />

(Zwecks Orientierung über die Pablikationsorte<br />

der einzelnen Zeitschriften<br />

vergleiche man die diesbezügliche Auf­<br />

28<br />

stellung in den ersten vier Nummern<br />

der „Fr. Gen„.<br />

Freiheit. Die Mission der Zerstörer.<br />

Kaufer, Liberalismus und Anarchismus.<br />

Bekenntnisse eines Drohnenmenschen.<br />

Verwickelung des „wissenschaftlichen"


Sozialismus. Hans Vojt, Brief aus<br />

Australien. Das Carnegie-Institut. Gr.<br />

B., Die richterliche Gefahr. Kurt Hard,<br />

Etwas über die Autorität. M. B., Etwas<br />

über die Gewalt. Maienttäuschungen<br />

und Hoffnungen. Maurice Maeterlinck,<br />

Die soziale Revolution. G. B., Die<br />

Tradition.<br />

Vorbote. S. Kaff, Die Philosophie<br />

des Egoismus. M. Drescher, „Im Frührot",<br />

Schauspiel in einem Akt. Gesellschaft<br />

und Individuum. Dr. Otto Dornblüth,<br />

Die Frage der geschlechtlichen<br />

Hygiene der Jugend.<br />

Revolutionär. H. Drewes, Wahlbetrachtungen.<br />

Zum Fall Galliani-Mac.<br />

Queen-Grossmann. Die Kommune. Die<br />

V. Konferenz der deutschen Anarchisten<br />

und ihre Widersacher. H., Die Gegenwart<br />

des russischen Anarchismus. A.<br />

Kettenbach, Zum inneren Ausbau der<br />

anarchistischen Propagandaorganisation.<br />

Reissende und demütige Gesellschaf tstiere.<br />

M., Maigedanken. Kehre wieder<br />

über die Berge, Mutter der Freiheit,<br />

Revolution. Th. Hermann, Unsere Freiheit.<br />

Ludwigshafen: Morgenluft in<br />

Deutschland! Die anarchistische Bewegung<br />

in Russland. B. Lausink, Kindererziehung<br />

und Militarismus.<br />

Polis. R. Willy, Jean Marie Guyan.<br />

Dr. Friedeberg, Historischer Materialismus<br />

und Klassenkampf. Fritz Brupbacher.<br />

M. Bakunin als Schriftsteller.<br />

Emil Pouget. Ergebnisse der direkten<br />

Aktion. R. Willy, Kropotkin als Sozialreformer.<br />

U. W. Züricher, Ludwig Rütimeyer.<br />

Anarchist. Werner Daya, Die Grundidee<br />

des Anarchismus ; Zur Prinzipienerklärung<br />

; Das Fest des Proletariats.<br />

E. Mühsam, Zur Naturgeschichte der<br />

Wähler. S . . .c, Toleranz und Anarchie.<br />

Der Weckruf Es lebe die Rebellion!<br />

L. Bertoni, Rede über den Anarchismus.<br />

Aus M. Nettlau. „Solidarität und Verantwortlichkeit<br />

im sozialen Kampfe.<br />

Der grode Midie'. Johannes Gutzeit,<br />

Natur und Staat.<br />

Le Revei-Il Risveglio. Der Schweizer<br />

Generalstreik. L. Bertoni, Der Genfer<br />

Streik. Luigi Galleani, Giosue Carducci<br />

Anselmo Lorenzo, Der Generalstreik.<br />

J. W., Ausweisungen. Henry Bouraud,<br />

Meine antimilitar. Dienstverweigerung.<br />

Politik und Gewerkschaft. Anna de<br />

Gigli, An das Proletariat. Maimanifest<br />

29<br />

Ein Fragment aus Elie Reclus' Zeitung<br />

während der Kommune. G. H., Ein<br />

sozialistisches Programm — ein bürgerlich-radikales!<br />

Die blutige Maiwoche.<br />

Aurora Geuzati, Kommunismus und<br />

Kollektivismus. J. W,, Ausweisungen.<br />

L'Ere Nouvelle. E. Armand, Sexualfreiheit.<br />

F. Domela Nieuvenhuis, Rittinghausen<br />

über das parlamentarische<br />

Repräsentivsystem. Jules Combarieu,<br />

Die Musik als Kunst des Denkens mittels<br />

des Tones. Notizen über kommunistische<br />

und freiheitliche Experimente<br />

von Armand. Dr. AI. Skarvan, Meine<br />

Weigerung vor Gericht zu erscheinen.<br />

Le Mouvement Socialiste. Hubert<br />

Lagardella, Die Intellektuellen und der<br />

Arbeitersozialismus. J. Eserky, Der<br />

Syndikalismus in Russland. Sergio Panunzio,<br />

Der intellektuelle Sozialismus<br />

nach dem Kongress zu Rom.<br />

La Guerre Sociale. Fern. Despres,<br />

Pobjedonostzeff. G. Hervé, Nieder mit<br />

der Republik! Ch. Desplanques, Die<br />

staatliche Verfolgung der Konföderation<br />

der Arbeit. Fred. Stackelberg, Syphilisund<br />

Prostitution, G. Hervé Das Ende<br />

einer Welt. Harmel, Sozialismus und<br />

Radikalismus. G. Hervé, Die Regierung<br />

der Regenten. Bebels alte Freude über<br />

den Militarismus.<br />

La Revue Intellectuelle. Rignac-Zelien,<br />

Oekonomische Wissenschaften. Jacques<br />

du Tensin, Die Historiker des 19. Jahrhundeits.<br />

Sidonelli. die Enthüllung des<br />

Lebens durch die Kunst.<br />

La Voix du Peuple. V. Griffuelhes,<br />

Der 1. Mai <strong>1907</strong>. Emile Pouget. Das<br />

Schweizer Beispiel. Griffuelhes, Merkwürdige<br />

Erklärungen des Sozialdemokraten<br />

Keufer in der bürgerlichen Presse.<br />

Der belgische Syndikalismus.<br />

Regeneration. P. R., Die Ehe der<br />

Degenerierten.<br />

Les Temps Nouveaux. André Girard,<br />

Sterbende Pädagogik. B. Pierrot, Der<br />

Anarchismus u. der revolutionäre Syndikalismus.<br />

A. Dunois. Das französische<br />

Beamtentum gegen die Autorität. Polemik<br />

zwischen Hubert Lagardelle und<br />

Pierrot über Syndikalismus und Anarchismus.<br />

Jean Grave, über anarchistische<br />

Gruppen. M. Pierrot, Der Syndikalismus.<br />

Luigi Fabbri, Die Internationale<br />

in Italien. R Orgueiani, Eine Bauernkommune<br />

in Georgia. P. Kropotkin,<br />

Die Anarchisten und der Syndikalismus.


Le Libertaire. Fortuné Henry, Die<br />

Kolonie von Aiglemont, Georges Paul,<br />

Der Anarchismus und die Arbeitslosen.<br />

Der Anarchist und Antimilit. Grandidier<br />

frei! G. Yvetot, Wie die Eltern,<br />

so die Kinder. Luigi Fabbri, Prof.<br />

Zoccolis neues Buch über die Anarchie.<br />

Madelaine Vernet, Meine Broschüre:<br />

„Die freie Liebe" vor dem französischen<br />

Senat. Georges Paul, Der Syndikalismus<br />

und die Legalität.<br />

L'Anarchie. Paul Guillaume, Die<br />

sexuelle Tyrannei. E. Armand, E. Harrault,<br />

Leon Mussy, Victor Elven über<br />

Kunst und Leben. A. Mahe und A.<br />

Libertad, Zum 3. Jahrgang. Lucienne<br />

Gervais. Die freie Liebe. Alb. Libertad,<br />

Die Freude am Leben. L'Ancien, Der<br />

Mensch oder die Gesellschaft. Emilie<br />

Lamotte, Anarchistische Erziehung? F.<br />

Paul, Der Krieg und die Anarchisten.<br />

L. A. Borieux, Die Gewerkschaftsassoziationen.<br />

E. Armand, Der Regenerat<br />

Clemenceau. Lucienne Gervais, Die<br />

freie Liebe.<br />

Volné Listy. Elisee Reclus, Ohne<br />

Herrschaft. Die Kirche und der Staat.<br />

S. Sch , Die soziale Frage (dass die soz.<br />

Frage den Schlüssel zu allen gesellschaftlichen<br />

Problemen bildet und ihre<br />

freiheitlich-kommunist. Lösung R um<br />

für die ethische und geistige Entwicklungsphase<br />

d. Menschheit. machen würde).<br />

L. Sch., Herrschaftslosigkeit. Okum, Die<br />

schwarze Gefahr in Amerika. J. Kuczera,<br />

Ausserhalb der Gesellschaft.<br />

Brot und Freiheit (im jüdischen<br />

Jargon). An unsere Leser, an die Arbeiter<br />

! (Ein eindringliches Mahnwort<br />

über gewisse Schäden der Jüdischen<br />

Bewegung in Amerika). B. Dubowsky,<br />

Unsere Stellung zur Gewerkschaftsbewegung.<br />

Listky Chleb y Wolja. Einige Fragen<br />

über die russische Revolution. Anarchistische<br />

Publikationen des In- und<br />

Auslandes. Flugblatt d. Minsker Gruppe:<br />

„Was wollen die Anarchisten und Kommunisten".<br />

P. Kropotkin, Die wahren<br />

Verteidiger der Selbstherrschaft.<br />

Notizen.<br />

Die Genossen G. Stine (Figaro),<br />

A. Isaak, Hans Koch, Louise Berg,<br />

Laura Weingarten veröffentlichen in<br />

der New-Yorker „Freiheit" einen Aufruf,<br />

der die beabsichtigte Gründung einer<br />

30<br />

Monatsschrift, betitelt „Der Menschenspiegel",<br />

ankündigt. Wir wünschen dem<br />

Blatte Glück auf seinem dornigen<br />

Kampfesweg und hoffen, dass es eine<br />

zweckmässige Ergänzung des bestehenden<br />

Organs bilden wird. Gelder und<br />

Abonnements sind zu richten an G. Stine,<br />

1480 Avenue A, New-York City.<br />

Im Verlag des „G'rode Michl" (St.<br />

Petersgasse 89, II. St., Graz, Oesterreich)<br />

ist eine „Friedensmarsellaise" erschienen,<br />

die von dem Tostoianer W.<br />

Tschertkoff verfasst und von Joh.<br />

Guttzeit, Leutn. a. D., aus dem Russischen<br />

übersetzt wurde. Es ist ziemlich<br />

lange her, seitdem die revolutionäre<br />

Sangeslyrik freiheitlicher Ideen um ein<br />

so vorzügliches Lied und Gedicht bereichert<br />

wurde. Freunden der Freiheit,<br />

insbesondere Antimilitaristen empfehlen<br />

wir diese Marsellaise, die als Flugblatt<br />

vom Verl. des „G. M." um ein Geringes<br />

— evenf. etwas mehr als Portokosten<br />

— bezogen werden kann.<br />

Als erfreuliches Zeichen für das Anwachsen<br />

der deutschen anarchistischen<br />

Bewegung können wir ihr energisches<br />

Vorgehen auch ausserhalb Berlins registrieren,<br />

als dessen vorzügliches Sympton<br />

wir die Herausgabe eines guten,<br />

Sozialrevolutionären Kampforganes in<br />

Mannheim, die „Erkenntnis" anzeigen<br />

dürfen. Gelder etc. sind an den Verleger<br />

und Redakteur, Otto Stegmann,<br />

zu senden.<br />

Wir begrüssen den neuen Waffengefährten<br />

aufs innigste.<br />

Als ein Sympton der unausgesetzt<br />

fortschreitenden und überhandnehmenden<br />

Haltlosigkeit unserer geschlechtlichen<br />

Verhältnisse und der ihnen zugrunde<br />

liegenden Gewohnheitsmoral,<br />

mögen die nachfolgenden Zeilen dienen,<br />

die von einem deutschen Missionar verfasst,<br />

aus einem seiner Briefe exerpiert<br />

sind und sich auf die kleine Schrift:<br />

„Mutterschutz und Liebesfreiheit"<br />

beziehen.. Es ist bezeichnend<br />

zugleich, beobachten zu können, wie<br />

selbst in solchen Kreisen es nachgerade<br />

unmöglich wird, sich der Erörterung<br />

solch brennender Fragen und Probleme<br />

des Lebens zu entschlagen. Angenehm,<br />

bei aller Verschiedenheit des Standpunktes,<br />

mutet der Ernst der folgenden<br />

Zeilen an, die das tapfere Interesse und<br />

die Ehrlichkeit der Ueberzeugung des


Briefschreibers in das schönste Licht<br />

rücken. Er schreibt:<br />

„. . .Endlich muss ich mich doch einmal<br />

zu einigen brieflichen Zeilen aufraffen,<br />

umsomehr, als mir hierzu Ihre<br />

dieser Tage erhaltene Sendung Veranlassung<br />

gibt. Lür die eigenartige, mit<br />

grossem Interesse gelesene Broschüre<br />

besten Dank. Sie werden sich vielleicht<br />

wundern, dass ich auch für so etwas<br />

Interesse haben kann; — warum nicht?<br />

Wenn ich auch auf einem anderen<br />

Standpunkt stehe und stehen muss, infolge<br />

meiner Ueberzeugung, so werde<br />

ich doch stets gegenteiligen, ruhigen und<br />

sachlichen Ausführungen Beachtung<br />

schenken, denn auch daraus kann man<br />

lernen. Sie haben da ein eigenartiges<br />

Thema angeschnitten, allerdings wichtig<br />

genug, um nach jeder Richtung hin erörtert<br />

zu werden. Gerade im Liebesund<br />

Eheleben gibt es so viele Individuen,<br />

die man gleichsam als Parias ansehen<br />

möchte, denen weder die eine noch<br />

die andere Form das gewährt, was<br />

ihrem — freilich nicht immer korrektem<br />

— Empfinden erstrebenswert erscheint.<br />

Es wird Ihnen komisch vorkommen,<br />

was ich jetzt schreibe: obwohl ganz auf<br />

kirchlichem Standpunkt stehend und<br />

nur die kirchliche Eheschliessung —<br />

als Sakrament — giltig ansehend, wobei<br />

ich mich jedoch auf den Institutionis<br />

S. Concilia Tridendini unterwerfe und<br />

besonders den Erlass Gregors XVI. für<br />

sehr heilsam halte, — sehe ich doch ein,<br />

dass dem menschlichen Gefühl abnormer<br />

Individuen schon deshalb Rechnung getragen<br />

werden muss, um grösseres<br />

Aergernis zu verhüten, ein Gefühl, gegen<br />

das selbst der so asketische Apostel<br />

Paulus mit der ganzen Kraft seines<br />

Charakters kämpfen musste. Ich halte<br />

es dennoch für notwendig, dass solchen<br />

— ich will mal sagen „freien" Individuen<br />

in Betätigung eines aussergewöhnlichen<br />

Liebes- und Geschlechtslebens<br />

voller gesetzlicher Schutz zuteil werde,<br />

sobald nicht öffentliches Aergernis vorliegt.<br />

Einer Polygamie oder dgl. möchte<br />

ich freilich nicht das Wort reden. Gerade<br />

die engen Grenzen, die unsere<br />

moderne Gesetzgebung gezogen hat,<br />

verschärfen ungewollt und unbewusst<br />

das Abnorme im Liebes- und Geschlechtsleben.<br />

Und dass dabei dem weiblichen<br />

Geschlecht jeder gesetzliche Schutz fehlt<br />

oder doch nicht hinreichend gegeben<br />

ist, liegt leider nur zu deutlich auf der<br />

31<br />

Hand. Ihr Schriftchen löst nicht ganz<br />

glücklich die schwierige Frage, aber es<br />

ist ein sehr beachtenswerter Beitrag<br />

dazu!"<br />

In einer sehr bemerkenswerten Artikelserie<br />

über „Die Zukunft und die<br />

Gewerkschaften", deren Anschauung in<br />

einzelnen Ausfällen wir übrigens nicht<br />

teilen, deren Zielpunkt aber ohne Zweifel<br />

von höchster Bedeutung für den Fortschritt<br />

des Anarchismus ist, wandte sich<br />

der Genosse Jean Grave in der „Temps<br />

Nouveaux" gegen die Auffassung, dass<br />

die Gewerkschaften das einzige Betätigungsgebiet<br />

für die Anarchisten bilden<br />

sollen, dass sie gewissermassen imstande,<br />

die Propaganda der Weltanschauung des<br />

Anarchismus überflüssig zu machen.<br />

Auch meint er, dass die ausschliessliche<br />

Beschäftigung mit den rein praktischen<br />

Tagesfragen des Gewerkschaftskampfes<br />

nachgerade zur Abstumpfung des idealen<br />

Sinnes im Menschen führe.<br />

Der deutschländische Anarchismus<br />

— für ihn freilich, haben diese Ausführungen<br />

nur beiläufigen Zweck. Denn<br />

naturgemäss muss es seine erste Gegenwartsaufgabe<br />

sein, das Proletariat ökonomisch<br />

revolutionär gesinnt zu machen.<br />

Aber die Ausführungen Graves sind und<br />

müssen uns eine Warnungstafel sein<br />

gegenüber der fast krankhaft zu nennenden<br />

Sucht so mancher Genossen, zu<br />

glauben, dass sich die ganze Bedeutung<br />

des Anarchismus in der Gewerkschaftsbewegung<br />

erschöpfe ; sie als einziges<br />

Agitations- und Zweckmittel zu bezeichnen,<br />

auf die Idee- und Lebensanschauung<br />

des Anarchismus geringschätzig herabzublicken<br />

...<br />

Wohlan, erleichtern wir den Gewerkschaften<br />

die Aufgabe, die ihnen<br />

innewohnt," meint Jean Grave sehr logisch,<br />

„aber vergessen wir niemals: die<br />

unsrige ist nicht weniger bedeutungsvoll!"<br />

Bibliographie.<br />

(Event. Besprechungen vorbehalten.)<br />

In deutscher Sprache.<br />

Adolf Damaschke, Die Bodenreform,<br />

Buchverl, der „Hilfe". Berlin-<br />

Schöneberg. M. 2,50.<br />

Edward Carpenter, Das Mittelgeschlecht.<br />

Eine Reihe von Abhandlungen<br />

über ein zeitgemässes Problem.<br />

Verl. Seitz und Schauer, München. 2,40.


Dr. Robert Michels, Patriotismus<br />

und Ethik. 50. Pfg.<br />

Anna Pappritz, Die Welt, von<br />

der man nicht spricht.<br />

Dr. Käthe Schirmacher, Die<br />

wirtschaftliche Reform der Ehe.<br />

Alfred H.Fried, Die Friedensbewegung,<br />

was sie will, und was sie erreicht<br />

hat.<br />

Leopold Katscher, Japanische<br />

Wirtschafts- und Sozialpolitik.<br />

— Die sog. „Sozial-Museen."<br />

Dr. Th. Achelis, Rechtsentstehung<br />

und Rechtsgeschichte.<br />

Johannes Gaulke, Die Prostitution.<br />

A. Bojsen, Verwirklichte Versuche<br />

der Vervollkommnung der Gesellschaft.<br />

" Sämtliche obgenannten Publikationen<br />

sind erschienen im Verlag Felix Dietrich,<br />

Leipzig.<br />

In portugiesischer Sprache.<br />

„Gegen die Einwanderung!',<br />

Herausgegeben von der Gruppe ,,La<br />

Battaglia", San Paolo.<br />

In Esperanto.<br />

An die Frauen! Antimilitaristische<br />

Broschüre. Verl. Internacia Socia Revuo,<br />

Paris.<br />

In bulgarischer Sprache.<br />

Peter Kropotkin, Die Anarchie,<br />

ihre Philosophie, ihr Ideal.<br />

J. Mesnil, Elisee Reclus.<br />

Dal, Sozialistische Dokumente.<br />

Jean Grave, Am Tage der sozialen<br />

Revolution.<br />

In holländischer Sprache.<br />

Max Stirner, Der Einzige und sein<br />

Eigentum. Uebersetzt und mit einem<br />

Vorwort versehen von Jaak Lansen.<br />

Verl. Druckerei Kersouwken, Antwerpen.<br />

In spanischer Sprache.<br />

„Humanidad Nueva", eine freiheitl<br />

iche, pädagogische Zeitschrift, welche<br />

in Valencia erscheint, die Ideen und Arbeit<br />

des Genossen Ferrer fortsetzt und<br />

fortentwickelt.<br />

Mit heute registrieren wir das abermalige<br />

Erscheinen des Schweiz. „Weckruf"<br />

(Brief- und Geldadresse: L. Bertoni,<br />

Rue des Savoises 6, Genf), dessen Neuaufleben<br />

seit dem 1. Mai d. J. datiert.<br />

Das Blatt macht einen merkwürdigen<br />

Eindruck: im sogenannten „freien"<br />

32<br />

Schweizer Ländle muss ein Blatt erscheinen,<br />

das nicht bloss seinem Inhalt<br />

gemäss — das ist selbstverständlich für<br />

jedes anarchistische Blatt —, sondern<br />

mehr noch in seinem Aussehen deutlich<br />

die Spuren eines revolutionären Kampfescharakters<br />

trägt. Die Flüchtigkeit der<br />

Herstellung lässt vermuten, dass unsere<br />

Kameraden in der Schweiz das Blatt<br />

unter denselben Verhältnissen herausgeben<br />

mussten, wie unsere russischen<br />

Kampfesbrüder ihre Zeitungen ... Das<br />

aber tut dem Blatt keinerlei Eintrag,<br />

es ist eine frische, herzerquickende<br />

Lektüre, die es gewährt, eine Lektüre,,<br />

die im Herzen und Kopf des Arbeiters<br />

haften zu bleiben geeignet ist. Wenn<br />

der „Weckruf" die Fehler des Bramarbasierens,<br />

wie sie ihm leider unmittelbar<br />

vor seiner gewaltsamen Unterdrückung<br />

eigen waren, vermeidet und<br />

das Blatt in dem revolutionären Sinne<br />

weiterführt, wie es nachher, bis zum<br />

Mai 1906 wurde, dann kann er für die<br />

Bewegung sehr viel bedeuten. Revolutionär<br />

ist man nicht durch Vitriolessenzen<br />

im Briefkasten, deren Anwendung<br />

man nachträglich vergisst, durch<br />

patologische Ratschläge an — Selbstmörder<br />

u. dgl. mehr; revolutionär ist<br />

man durch die zielbewußte Propaganda<br />

des Anarchismus und seiner taktischen<br />

Hauptmittel: Generalstreik und Antimilitarismus,<br />

mit welchen man die kraftvoll<br />

Lebenden bekannt zu machen hatf<br />

Hält der „W.", was er in der ersten<br />

Nummer verspricht, so begrüssen wir<br />

in ihm mit brüderlicher Solidarität einen<br />

Kampfesbruder, einen Waffengefährten!<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

Der Anarchist.<br />

Von Frank Wedekind<br />

Zum zweiten Waffengange P. R.<br />

Theoretische und praktische Fragen des<br />

Antimilitarismus.<br />

Von Jacqus Mesnil.<br />

Kultur und Anarchismus.<br />

Von M. Kanfer.<br />

Eugen Dühring, der philiströse Anarchist.<br />

Von Pierre Raraus<br />

Der Störenfried.<br />

Von Louis Marsolleau.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Gustav Lübeck, Berlin.


Am 15. Juli gelangte zur Ausgabe:<br />

Das anarchistische Manifest<br />

Von Pierre Ramus.<br />

„Das anarchistische Manifest" ist eine Propagandabroschüre<br />

im wahren Sinne des Wortes. In kurzen, aber allgemeinverständlichen<br />

Worten begründet und erläutert der Verfasser die<br />

Forderungen, welche wir Anarchisten an eine menschliche, für<br />

Alle glückliche Gesellschaft stellen.<br />

Preis 5 Pfennig.<br />

Um diese Broschüre aber auch hinsichtlich des Preises zu<br />

einer Agitationsbroschüre zu machen, geben wir dieselbe bei Bezug<br />

von 350 Exemplaren mit<br />

1 Pfennig pro Exemplar<br />

ab. 350 Exemplare kosten mit Porto 4 Mark.<br />

Wir bitten um umgehende Bestellung<br />

Der Verlag ,,Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

Einen Schurkenstreich<br />

begeht Herr Siegfried Nacht in der Nr. 7 des Skandalblattes<br />

„Direkte Aktion".<br />

Herr Siegfried Nacht — das Porträt dieses Helden<br />

findet man in der „Freiheit" (Jubiläumsnummer zu ihrem 25.<br />

Jahrgange) und seine auf Klosettpapier geschriebenen Reiseberichte<br />

sind in ,,Neues Leben" zu lesen — versucht dort das ,,Anarchistische<br />

Manifest" herunterzureissen. Ich stelle hiermit fest, dass Herr<br />

Siegfried Nacht die Broschüre noch nicht gesehen und<br />

noch keine Zeile derselben gelesen hat, und trotzdem fällt er<br />

schon sein Urteil. Diese erbärmliche Handlungsweise stelle ich<br />

hiermit gebührend an den Pranger.<br />

M. Lehmann.


Achtung! Achtung!<br />

Spätestens am 15. August gelangt zur Ausgabe:<br />

Der Generalstreik.<br />

Von Aristide Briand.<br />

Diese Broschüre ist die <strong>2.</strong> in unserer Serie und wird zu<br />

denselben Bedingungen wie „Das anarchistische Manifest" geliefert.<br />

Bestellungen nimmt schon jetzt entgegen<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen:<br />

Die Tragödie der<br />

Frauenemanzipation.<br />

von<br />

Emma Goldmann.<br />

Preis pro Heft 5 Pfg.<br />

Druck: Buchdruckerei M. Lehmann, Berlin.


<strong>2.</strong> Band. Heft 2<br />

August <strong>1907</strong>.<br />

Verlag M. Lehmann,<br />

Berlin, Dresdenerstr. 88-89.


<strong>2.</strong> Band. Heft 2<br />

August <strong>1907</strong>.<br />

Verlag M. Lehmann,<br />

Berlin, Dresdenerstr. 88-89.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge über sämtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar-künstlerische Erkenntnisse<br />

des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmässiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Postsendung,<br />

in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Hell.,<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England ;5 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die<br />

Redaktion der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre<br />

Ramus, 146 Great Titchfield Street, London W. (England).<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche<br />

Mitteilungen sind zu richten an den Verlag: M. Lehmann,<br />

Dresdenerstr. 88|89, Berlin 5.<br />

In London ist die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch<br />

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zu beziehen.<br />

Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen :<br />

Der Wohlstand für Alle<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

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Die „freie <strong>Generation</strong>" erscheint regelmässig am 15. jeden Monats.<br />

Bei nicht pünktlicher Zustellung wende man sich an den Perlag.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Wellanschauung des Anarchismus.<br />

Band 2 August <strong>1907</strong> Heft 2<br />

Zum internationalen Kongress in Amsterdam.<br />

Zwei Kongresse sind es, die im Monat August das Geistesleben<br />

der internationalen Welt des Sozialismus und überhaupt der<br />

Freiheitsidee bewegen werden: zuerst der internationale sozialdemokratische<br />

Kongress, der vom 18. bis 24. d. M. in Stuttgart<br />

stattfindet, zweitens der internationale anarchistische<br />

Kongress, der vom 25. bis 31. August in Amsterdam abgehalten<br />

wird.<br />

Es ist eine eigenartige Kontrastwirkung, die uns in d- n<br />

verschiedenen Tagesordnungen beider Kongresse entgegentritt; es<br />

ist eine Dumpfheit des Empfindens, eine bange Vorstellung von interner<br />

Zerklüftung, von besonderer Unvereinbarkeit zwischen Prinzip<br />

und Taktik, welche jene des sozialdemokratischen atmet. Wir<br />

sagen: des sozialdemokratischen, denn seit dem Londoner<br />

Kongress des Jahres 1896 haben diese Kongresse definitiv<br />

das Anrecht eingebüsst, sich — sozialistische Kongresse zu nennen.<br />

Sie sind vergrösserte Anhäufungen von auf ein ödes Programmtheorem<br />

eingeschworenen politischen Kirchensekten, die ihr<br />

Leben fristen aus der Ignoranz oder Loyalitätsgesinnung herrschender<br />

Kreise und die zusammenkommen, um nicht etwa die "in<br />

den verschiedenen Ländern variierende Taktik des Sozialismus<br />

mit revolutionärstem, entschiedensten Gehalte zu erfüllen,<br />

sondern die radikaleren Strömungen einiger Länder durch die<br />

staatsmännische Weisheit und Wissenschaftsdünkelei der deutschländischen<br />

Sozialdemokratie zu zügeln, über solche radikalere<br />

Strömungen ein Anathema zu verhängen. Tonangebend auf diesen<br />

Kongressen war bisher die deutsche Sozialdemokratie, denn<br />

in ihrer phrasenschwülstigen Selbstbeweihräucherung hat sie in<br />

der Tat fast allen Parteien des Auslandes den Lügenwahn eingeflösst,<br />

nicht nur die wenig rühmliche Ehre zu haben, die Mutter<br />

des marxistischen Sozialismus, vielmehr die Mutter des Sozialismus<br />

überhaupt zu sein. Dieses Verhältnis mag sich in den letzten<br />

zwei Jahren ein wenig geändert haben, dank den Nackenschlägen<br />

eines nicht hinwegzutäuschenden theoretischen und moralischen<br />

Bankrottes, den die Sozialdemokratie Deutschlands erlitten, wird<br />

sich aber wohl noch durchringen in seiner Hegemonie, wenigstens<br />

insofern, als es die Behauptung gegenüber den radikaleren Elementen<br />

Frankreichs, Italiens, Belgiens, der Schweiz etc. gilt.


2<br />

Mit Ausnahme des ersten Punktes über den Militarismus,<br />

des zweiten, der die mannigfach rissig gewordenen Beziehungen<br />

der sozialdemokratischen Parteien zu den ununterbrochen selbständiger<br />

werdenden Gewerkschaften erörtern soll, enthält die Tagesordnung<br />

dieses Kongresses noch weitere drei Punkte, die aber so<br />

unwesentlich, weil sie schon lange, lange definitiv klargestellt sind,<br />

dass man sich unwillkürlich fragen muss: Dazu einen Welt kongress?<br />

Wie in der Sozialdemokratie eben alles Schablone geworden<br />

ist, ist es auch dieser Kongress, der in der Tat ganz<br />

zwecklos wird, wenn man den wahren Zweck eines jeden Weltkongresses<br />

berücksichtigt. Es sei denn, die Sozialdemokraten betrachten<br />

als den Zweck dieses Kongresses, den Antimilitarismus<br />

und Antipatriotismus Hervés vollends und endgültig aufs Haupt<br />

schlagen zu können; was, angesichts der Tatsache, dass der Kongress<br />

in Stuttgart stattfindet, das Herz manch eines wackeren<br />

deutschen Staatsbürgers höher schlagen lassen wird vor Freude<br />

über die „weise Enthaltsamkeit", welche die sozialdemokratischen<br />

Schmöcke germanischer Abkunft sich auferlegen.<br />

Was ist überhaupt der Zweck eines internationalen Kongresses?<br />

In der Beantwortung dieser Frage findet der anarchistische Kongress,<br />

den man füglich den ersten nennen mag, seine glänzendste<br />

Rechtfertigung.<br />

Ein Kongress ist keine Tat; manche Genossen haben Recht,<br />

wenn sie dies behaupten. Ein Kongress des Anarchismus kann<br />

keine bindenden Beschlüsse fassen, da sein Grundprinzip die Wahrung<br />

der Autonomie jeder werktätigen anarchistischen Gruppierung<br />

sein muss. Das, was uns der Kongress bringen mag an Berichten<br />

und Referaten, hätte gerade so gut in der anarchistischen<br />

Presse publiziert werden können, wie es nachher auch geschehen<br />

wird; viel Geld, vielZeit und individuelle Mühe könnte erspart werden.<br />

Und ein Repräsentationssystem stellt uns dieser Kongress gleichfalls<br />

nicht dar, weil einerseits die Berichte die Aeusserungen von<br />

anarchistischen Gemeinschaften enthalten, weil andererseits die<br />

Referenten nur ihren eigenen, individuellen Standpunkt darbieten<br />

in allen Fragen, die der Behandlung unterworfen.<br />

Was also soll der anarchistische Kongress ?<br />

Alle die obigen Einwände, die von manchen Seiten gegen<br />

ihn erhoben'werden, fallen weg angesichts der einen fundamentalen<br />

Tatsache: Der internationale Anarchismus hat<br />

eine Epoche seiner Entwicklung überwunden,<br />

eine neue erschliesst sich ihm und wird von ihm<br />

erschlossen! Das ist die Bedeutung dieses Kongresses.<br />

Als eine Bewegung des proletarischen Klassenkampfes ist<br />

der Anarchismus noch jung; jung in dem Sinne, dass es erst<br />

rund ein Vierteljahrhundert ist, seitdem er klar geschaute Ziele,<br />

theoretische Bewegungsprinzipien und eine von der Sozialdemokratie<br />

verschiedene, aus mancherlei Umhüllungen herausgeschälte,


3<br />

prinzipielle Taktik besitzt. Das, was wir vor dem kommunistischen<br />

Anarchismus gehabt haben, war ohne Zweifel in vielen<br />

Punkten zutreffend und bot dem Volke, wie auch dem Proletariat<br />

insbesondere, wesentlich wichtige Zukunftsziele dar. Wer aber,<br />

der die Gedankengänge des Anarchismus historisch verfolgt hat,<br />

weiss es nicht, dass es zu völliger Klarheit der Idee und Tat<br />

nicht kam. Und wenn doch, so finden wir diese Klarheit stückweise,<br />

eklektisch verteilt in verschiedenen Systemen, in verschiedenen<br />

Personen dargeboten. Niemals als ein Ganzes oder sämtliche<br />

Fragen der Theorie und Taktik völlig und harmonisch beantwortend.<br />

Es war eben alles noch zu viel Theorie, keine oder<br />

wenig Praxis. Industriell bot das Gesamtbild der Technik nur<br />

Anfänge, wenig Entwickeltes dar. Der kapitalistische Industrialismus<br />

unserer Tage datiert auch erst seit den letzten dreissig Jahren.<br />

Und so waren die Vorstellungen der Proletarier, wie auch seiner<br />

wackersten Vorkämpfer, noch mannigfach befangen von den Systemen<br />

und Ideen des Sozialismus der Vergangenheit, eine unklare<br />

Kampfeszukunft lag vor allen. Darin macht keiner und keines<br />

eine Ausnahme. Und erst in den letzten fünfundzwanzig Jahren<br />

ist es der anarchistischen Bewegung gelungen, die meisten<br />

theoretischen Ansätze und Schlagworte zu wirklichen, durch die<br />

Erfahrung erprobte Grundsätze der Anschauung, zu taktisch sich<br />

bewährt habenden Methoden zu gestalten. In dieser Praxis, im<br />

Strome eigener Kampfesbetätigung hat sich. die Theorie, die Philosophie,<br />

die Taktik des Anarchismus herausgearbeitet, und alles,<br />

was seine grossen Denker und Vorkämpfer schufen, wie sie das<br />

Erbe unseres nur in seinem erhaben grossen Leben vollkommen<br />

zu würdigenden Heroencharakters und Vorkämpfers Michael<br />

Bakunins verwalteten, haben sie in den Essen des täglichen<br />

Kampfes geschmiedet und der selbständig geschauten Erfahrung<br />

und Erscheinung im proletarischen Emanzipationsstreben abgerungen.<br />

Indem der anarchistische Kongress den Abschluss von vielem<br />

Chaotischen und unendlich vielem des Neuen und dennoch schon<br />

Bewährten bedeutet, ist er eine historische Demonstration<br />

des Anarchismus. Ein jeder Kongress ist nichts<br />

als eine Demonstration und nur eine solche; dort und dann, wo<br />

es nichts zu demonstrieren gibt, ist jeder Kongress ein Unding<br />

und mehr denn zwecklos. Die Bedeutung unseres Kongre:ses,<br />

für den das internationale, revolutionäre und freiheitlich-sozialistische<br />

Proletariat rüstete, ist darin gelegen, dass er die Periode<br />

eines Vierteljahrhunderts innerster Gährung, innerster Klärung und<br />

Läuterung unserer Kampfesphase zum Abschluss bringt. Und es<br />

zeugt für die tiefgründliche Triftigkeit anarchistischer Philosophie,<br />

wenn wir auch nur ganz beiläufig beobachten, wie diese innere<br />

Klärung zustande kam. Da gab es keine mit allen infamen Zweckmitteln<br />

heilig gesprochene und jesuitisch geförderte Theorie oder<br />

Taktik; da gab es keinerlei Diktatur und Befehlshaberschaft


4<br />

irgend einer Körperschaft, die die übrigen zu ihren Zwecken<br />

presste und ausprägte; da gab es keine Unterdrückung der Minorität<br />

durch eine mit ihrer Gewalt arrogant sich spreizende Majorität.<br />

Nein, nichts von alledem! Dafür aber kam die Initiative, die<br />

freie Tat der Einzelnen zur Geltung und, je nachdem, wo die<br />

verschiedenen Anschauungen und Methoden des Geisteslebens die<br />

Anhänger der Freiheit beeinflussten, entwickelte sich die imposante<br />

Macht und urwüchsig unbesiegbare Kraft dieses oder jenes Zukunftsstrebens.<br />

Und heute nach Jahrzehnte langem Ringen und<br />

geistigem Wettkampfe, ist die anarchistische Bewegung eine in<br />

Theorie und Taktik gefestigte, fruchtbaren Boden unter den Füssen<br />

fühlende Weltanschauung des Proletariats und der gesamten Geistesmenschheit<br />

geworden, unter derem Ansturm eine alte Welt in<br />

allen ihren geborstenen Fugen kracht und dröhnt.<br />

Während die Sozialdemokratie ihren Kongress schablonenhaft<br />

einberief, aber tatsächlich für nichts demonstrieren will, es sei<br />

denn für ihre geistige Fossilität, ist der anarchistische Kongress<br />

spontan organisiert worden, wird er zustande kommen durch das<br />

vielstimmige Echo, das er in den Bebellen aller Länder, in deren<br />

initiativer Freudigkeit gefunden: und dass er zu demonstrieren<br />

hat, es zu würdigen weiss, dass ein Kongress stets und» immerdar<br />

eine Geistesdemonstration sein muss, nur eine solche<br />

sein kann, das beweisen die Probleme, welche auf ihm erörtert<br />

werden sollen, Probleme, welche nicht nur für die Zukunft des<br />

Anarchismus von eminentester Bedeutung, die auch zu den brennendsten<br />

Kulturfragen des proletarischen Bewusstseinlebens gehören.<br />

Wir lassen die bislang noch provisorische Tagesordnung folgen ;<br />

sie lautet:<br />

1. Anarchismus und Gewerkschaften. .Referenten: Pierre Monatte-Paris<br />

und John Turner-London.<br />

<strong>2.</strong> Der Generalstreik und der politische Massenstreik. Referenten:<br />

Enrico Malatesta-Italien*) und Dr. Friedeberg-Deutschland.<br />

3. Anarchismus und Organisation. Referenten: Amadée Dunois-Paris<br />

und Gg. Thonar-Lüttich.<br />

4. Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus. Referenten: L.<br />

Marmande-Paris, Pierre Ramus-London.<br />

5. Produktivgenossenschaften und Anarchismus. Referenten: Dr. F. v.<br />

Eeden-Holland, Em. Chapelier-Belgien, J. J. Samson-Holland.<br />

6. Die Lehren der russischen Revolution. (Referent noch unbestimmt.)<br />

7. Alkoholismus und Anarchismus. Referent: Prof. Dr. J. van Rees.<br />

8. Moderne Literatur und Anarchismus. Referent: Pierre Ramus.<br />

*) Laut dem „Il Pensiero" vom I.Juli ist unser an Charakter und<br />

Denkungsart so überaus edle Genosse Malatesta vom italienischen anarchistischen<br />

Kongress, der vom 16. bis 20. Juni in Rom vor sich ging, ganz insbesondere<br />

dazu auserlesen worden, die italienischen Genossen und ihre Bewegung<br />

in Amsterdam zu vertreten.


5<br />

9. Anarchistische Weltanschauung, Ethik und die Propaganda der<br />

Tat. Referent: Senna Hoy.<br />

10. Anarchismus und Religion. Referenten: Domela Nieuwenhuis und<br />

G. Rijnders.<br />

Diverse Vorschläge:<br />

1. Organisation einer freiheitlichen Internationale. Vorschlag der<br />

freiheitlich-kommunistischen Föderation der belgischen Genossen.<br />

<strong>2.</strong> Herausgabe einer kommunistisch-anarchistischen Prinzipienerklärung<br />

Vorschlag der anarchistischen Föderation Deutschlande.<br />

3. Herausgabe eines „Manifestes an die Arbeiter aller Länder!" (in<br />

allen Sprachen).<br />

4. Begründung eines internationalen Informationsbulletins. Vorschlag<br />

des brasilianischen Bruderblattes „Terra livre" und dessen Herausgebergruppe<br />

Man wird zugeben, dass es eine reiche Fülle von Ideengängen<br />

ist, die sich uns in der obigen Tagesordnung des Kongresses<br />

darbietet. Wir geben uns nicht der Hoffnung hin, dass er sie<br />

alle bewältigen wird. Dies ist auch keineswegs notwendig; noch<br />

manches muss länger ausreifen und Erfahrungsresultate aufweisen<br />

können, bevor eine definitive Aussprache darüber dringend nötig<br />

werden wird. Aber dass sich eine solche überraschende Menge<br />

von Themata darbietet, erbracht von den Genossen der verschiedensten<br />

Länder, ist ein Beweis für uns, dass dieser Kongress<br />

eine Notwendigkeit, dass er dem Fühlen und Streben vieler Tausende<br />

von Anarchisten und Kämpfern entspricht und entgegenkommt.<br />

Und wenn wir auch nur zwei Hauptmomente auf diesem<br />

Kongress festlegen werden — schön dadurch wird er die grandioseste,<br />

sich selbst ehrende Demonstration des Anarchismus bilden,<br />

wenn er die Fragen der Organisation und der Taktik für vorläufige<br />

Entwicklungsetappen beantwortet. Dieser Kongress böte<br />

die glorreichste Huldigung jener wackeren Jurassiern der alten<br />

Internationale, wenn er, wie es die von Sonvillier so herrlich klar<br />

anstrebten, eine freiheitliche Internationale ohne Generalrat<br />

uns brächte, verbunden in internationaler Brüderschaft nur durch<br />

die Gemeinsamkeit der Informationsquelle über das interne Gruppenwesen<br />

der Genossen aller Länder, über ihr Streben, ihre Tätigkeit.<br />

Und noch mehr: wir besässen dann zum ersten Male den uns<br />

heute mangelnden Ueberblick über die Möglichkeit eines international<br />

auf einmal einzusetzenden Generalstreiks, zuerst in den<br />

einzelnen, bestgruppierten Produktionszweigen, später als Initiator<br />

der sozialen Revolution! Durch dieses öffentliche Forum steter<br />

Kampfesrüstung und gegenseitiger Begeisterung und des solidarischen<br />

Entgegenkommens — was keineswegs die event. individuelle<br />

Aktion einiger Kameraden unterbinden wird! — würden wir ohne<br />

Zweifel sehr bald zur praktisch führenden Avantgarde des Proletariats<br />

werden und durch die Herausgabe eines internationalen<br />

Bezugsbulletins — und nur für die Bewegung bestimmt —, in


dem jede Meinung, jeder Zwist und Hader, jede individuelle Anklage<br />

und Verteidigung zu Worte kommen müssten, könnte manch<br />

trauriger Schädigung der Bewegung vorgebeugt werden, die heute<br />

einerseits dadurch entsteht, dass persönliche Gehässigkeit und Verleumdungsniedertracht<br />

in manchen unserer Blätter sich austoben,<br />

dieselben propagandistisch vollständig entwertend; anderseits ein<br />

oder das andere leider auch in unseren Reihen sich ereignende<br />

Unrecht vollständig unberührt belassend, weil es kein internationales<br />

Forum gibt, wo die solidarische Meinungsäusserung<br />

über die Handlungsweise dieses oder jenes Genossen, ohne Schädigung<br />

der Bewegung, zum Ausdruck gebracht werden könnte und er durch<br />

diese unzweideutige Belehrung über den Wesensinhalt unserer Prinzipien<br />

sich ganz selbständig eines Besseren bedenken würde, bedenken<br />

könnte. Geistig zur Freiheit herangereifte Menschen würden dann die<br />

Möglichkeit haben, die Fort schritte, die Vermeidung von Fehlern, die Art<br />

der Aktionen unserer Bruderbewegungen anderer Länder für sich, für<br />

die eigene Bewegung zu verwerten, eine geistige und gegenseitige<br />

Anfeuerung entstünde kurz; der internationale Zusammenschluss<br />

unserer Kampfeskolonnen bedeutet<br />

eine historische Demonstration ersten<br />

Ranges, die Beratungsresultate desKongresses<br />

über die Taktik, die Mittel und Wege sind der<br />

demonstrative Kriegs ruf des internationalen<br />

Anarchismus.<br />

So eilen denn die idealsten Wünsche und Hoffnungen aller<br />

Leser und Freunde der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" diesem grossartigen<br />

Ereignis im Bruderbund der anarchistischen Bewegung entgegen,<br />

diesem Kongress, der seine Schatten verheissungsvoll voraus wirft,<br />

dem ein sozialdemokratischer vorangeht. Mögen diese idealen<br />

Wünsche und Hoffnungen der Freiheitskämpfer aller Länder dasjenige<br />

Fundament bilden, auf dem der Geistesbau der Arbeit des<br />

Kongresses erstehen wird; mögen die Delegierten sich ihrer<br />

würdevollen Arbeit bewusst sein, mit den hohen und hehren Idealen<br />

ihres Lebensprinzips wachsen und in ihren Beratungen und<br />

Meinungsverschiedenheiten und Entschlüssen stets geleitet sein<br />

von einem Zukunftsbewusstsein edelster Begeisterung, vollständig<br />

enthalten in der Musik und Melodie des ewig anfeuernden Sanges<br />

Walt Whitmans, in des guten, grossen Bardens Worte:<br />

Das Vergangene lassen wir hinten,<br />

Gehen los auf eine neue, weit're, wechselreichere Welt;<br />

Frisch und stark ergreifen wir sie, Welt der Arbeit und des Marsches,.<br />

Pioniere, Pioniere!<br />

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />

Und wir fällen Urzeitforste;<br />

Dämmen, winden Ströme ; reissen in den Tiefen Minen auf;<br />

6


Messen weite Länderflächen ; furchen jungfräuliche Erde,<br />

Pioniere, Pioniere!<br />

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />

Vorwärts in geschlossenen Reihen!<br />

Immer neue Truppen folgen, schnell ersetzen sich die Toten —<br />

Schlachten durch und Niederlagen, immer vorwärts niemals haltend!<br />

Pioniere, Pioniere!<br />

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />

Hat die Nacht uns überrascht?<br />

War der Weg zuletzt so mühvoll, standen wir fast still entmutigt?<br />

Eine Stunde des Vergessens will ich euch am Wege gönnen!<br />

Pioniere, Pioniere!<br />

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />

Doch beim Rufe der Trompete,<br />

Lang, ach lang vor Tagesanbruch — horch! Wie hell und klar<br />

getragen !<br />

Auf! Und stellt euch an die Spitze ! — Auf an die gewohnten<br />

Plätze!<br />

Pioniere, Pioniere!<br />

Pierre Ramus.<br />

Das sozialistische Spanien.*)<br />

Die Epoche vor der Internationale, 1840 — 1868.<br />

IV.<br />

Die Gewerkschaften.<br />

In unseren früheren Darlegungen hatten wir Gelegenheit, das<br />

Ideal sozialer Gerechtigkeit, mehr oder weniger mystifiziert durch<br />

die republikanisch-demokratische Politik von Garrido und Sixto<br />

Camara zu sehen. Nach ihrem Triumph strebten die revoltierenden<br />

Arbeitermassen, deren verzweifelter Ingrimm sich in den<br />

vorgeführten Brandstiftungen entlud, die in Valencia, Saragossa,<br />

Valladolide stattfanden. Feurig und mutig, wie die andalusischen<br />

Arbeiter sind, hofften sie, dass ein siegreicher Aufstand ihnen gestatten<br />

würde, die Idee einer harmonischen Gesellschaft zu verwirklichen<br />

— ein Traum, der vielen von ihnen und ihren Freunden<br />

das heroische Leben kostete.<br />

Schon 1840, lange bevor Marx dies sagte, verstanden viele<br />

Tausende spanischer Arbeiter, dass die. Emanzipation der Proletarier<br />

*) Vergl. Bd. I, Hefte 3, 4, 8 der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>".<br />

7


8<br />

ihr Werk selbst sein muss. Infolge dessen organisierten sie<br />

Gewerkschaften (Syndikate) und Föderationen, die mit Politik nichts<br />

zu tun hatten. Letztere, die Politik, wurde als unheilbringend für<br />

die Arbeiter erklärt; der einzige Zweck der Arbeiter sollte sein<br />

der energische Widerstand wider das Kapital. (Vergl. das gross<br />

angelegte Werk von Magalhaes, Lima, ,,O Socialismo en Europe",<br />

Lissabon 189<strong>2.</strong>)<br />

Der Druck seitens der Behörden auf diese Widerstandsgesellschaften<br />

des Proletariats markiert für uns die Wucht und Kraft<br />

derselben, mit welcher sie gegen das Ausbeutertum ankämpften.<br />

„In Barcelona" führt Garrido aus („Histoire del reinado del<br />

ultimo Borbon en Espana", Band I, Kap. CXXK, Barcelona 1869)<br />

hatte in der Epoche, von der wir sprechen (1841), die glückliche<br />

und befreiende Idee der Assoziation bereits grosse Fortschritte<br />

gemacht. In wenigen Monaten organisierte sich eine grosse Arbeiterorganisation,<br />

welche viele Tausende von Arbeitern zählte,<br />

genügende Einkommen, genügende Fonds besass, um die Interessen<br />

der arbeitenden Klasse verteidigen, gegen die Anmassungen der<br />

Exploiteure auftreten zu können. Die Behörden, zweifellos den<br />

Wünschen der Fabrikanten nachgebend, entschlossen sich, diese<br />

Assoziation aufzulösen, welche zum grössten Teil aus Arbeitern<br />

der Algodoneraindustrie bestand. Und von da an erfolgten die<br />

Repressalien gegen die Arbeiter ohne Unterlass; natürlich erreichten<br />

sie nichts, als dass sie die Energien der braven Kämpfer<br />

anspornten. Darauf kam ein königlicher Erlass am 23. August<br />

1853, welcher die legale Organisationsform der Arbeiter verbot.<br />

1855 entwickelte der General Zapatero, ein Henker unseligen<br />

Angedenkens, seine Wut wider das, was er die letzten Reste jener<br />

Arbeiterorganisation von Katalonien glaubte, denn er wusste nicht,<br />

dass schon in jener Periode die Anzahl der Mitglieder 90 000<br />

betrug.<br />

Als Protest wider alle diese ränkesüchtigen Unterdrückungsmethoden<br />

der Regierung, und um ihr ihre eigene Ohnmacht, wie<br />

die des Generals zu beweisen, verliessen, ohne dass die Behörden<br />

den leisesten Argwohn hegten, an einem Tage plötzlich 50 000<br />

Arbeiter ihre Werkstätten.<br />

Dies war der erste Generalstreik Kataloniens, dies sein<br />

Grund, weshalb er ausbrach.<br />

* * *<br />

Am <strong>2.</strong> Juli 1855 verliessen in Barcelona, Gracia, Badalona,<br />

Cornela, San Andres, Sans usw. die Arbeiter ihre Fabriken um<br />

9 Uhr früh und begaben sich an den Streik.<br />

In Barcelona verlief der Generalstreik friedlich. Nicht so<br />

in Sans, wo durch einen Pistolenschuss ein Kortezdeputierter,<br />

Sol y Padris, niedergestreckt wurde. In Igualada kam es zu<br />

blutigen Szenen. In Vida gerieten die Fabrikanten wider einander,


9<br />

und es gab Verwundete. Kritischer wurde die Situation für die<br />

Behörden, vornehmlich für Barcelona, als die Streikbewegung mit<br />

einer Bewegung zusammenfiel, welche die Karlisten anhoben. In<br />

dieser schwierigen Lage riet der Gouverneur der Provinz und der<br />

Stadtrat den Arbeitermassen, Vorsicht zu üben und Ordnung zu<br />

bewahren. Er versprach ihnen, falls sie ihre Aktion einstellten,<br />

dass sie in ihren berechtigten Interessen nicht angegriffen werden<br />

würden.<br />

Am 3. Juli war die Zahl der Arbeiter, welche Zusammenrottungen<br />

auf der Strasse veranlasste, eine noch grössere. Auf<br />

einem steinernen Barrikadenhaufen pflanzte eine Gruppe ein rotes<br />

Banner, auf welchem weithin leuchtend die Worte „Assoziation<br />

oder Tod!" standen. Das revolutionäre Temperament beseelte die<br />

Barcelonaer Arbeiter. Viele, die parteilos waren, legten grossen<br />

Wagemut an den Tag, kamen in die Reihen der Streikenden und<br />

drängten sie auf den Weg der Revolution.<br />

Der Gouverneur verstand, dass es die Situation zu retten<br />

galt. In einem Aufruf appellierte er an die Oranungsliebe der<br />

Bevölkerung.<br />

„Arbeitsmänner, wohlgesinnte Proletarier" — flötete der Abwiegler —<br />

„ich gebiete Euch, auf der Hut zu sein vor den verbrecherischen Elementen<br />

und freiheitsmordenden Menschen, welche sich unter Euch mengen, um Eure<br />

Sache zu beschmutzen, dieselbe durch schreckliche Attentate verschlechtern.<br />

Begebt Euch deshalb zurück an die Arbeit und verschaffet Euch von dort<br />

aus in friedlicher Weise die Anerkennung Eurer Forderungen."<br />

Noch einmal gewann die Verführung die Oberhand über die<br />

rebellierenden Menschenmassen; die Majorität gehorchte dem<br />

Gouverneur, indem sie am 11. Juli in die Fabriken zurückkehrte,<br />

nachdem versprochen worden, das Prinzip der Assoziation zu<br />

respektieren, die Wünsche und Forderungen an die Arbeitgeber<br />

einem gemeinschaftlich zu erwählenden Schiedsgericht zu unterbreiten.<br />

Es kam wie gewöhnlich: Als die Arbeiter die Waffen niederlegten,<br />

wurden nicht nur die Versprechen nicht gehalten, sondern<br />

Verfolgungen, Verbannungen nach den Philippinen traten ein, wo<br />

viele Arbeiter den Tod fanden.<br />

Dabei bediente sich die Regierung der obigen Ereignisse,<br />

um sich des Kameraden Abdon Zerradas (vergl. unseren<br />

ersten Artikel in der „Fr. Gen.") definitiv zu entledigen. Er<br />

war einer von denen, die ihr Alles für den Erfolg der Volkssache<br />

einsetzen . . . Dem Schosse seiner Familie entrissen, alt und krank,<br />

wurde er nach Cadiz geführt und starb in Medina, Sidonia am<br />

1. Mai 1856. Tausende von Grausamkeiten geleiteten ihn in den<br />

Tod, bereiteten ihm sein Grab. — — —<br />

* * *


10<br />

Seit dem Generalstreik von Katalonien wurden die Clemenceaus<br />

der spanischen Politik von dem lebhaften Wunsch ergriffen,<br />

in sozialer Reformgesetzgebung „zu machen". Schiedsgerichte,<br />

Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Kreditinstitute etc. etc.<br />

wurden als Mittel angepriesen, um den Schmerz des Volkes zu<br />

lindern. Unnütz, es besonders zu betonen, dass in einigen Wochen<br />

alles vergessen wurde, die Unterdrückungsmassregeln aufs neue<br />

einsetzten.<br />

Infolge des Aufstandes von Loja richtete der Minister des<br />

Innern, Posada Herrera, ein Zirkular an die Gouverneure, in dem<br />

er Instruktionen erteilte zur Vermeidung von Störungen der öffentlichen<br />

Ordnung:<br />

„Die Vorfälle von Arahal und die jüngsten von Loja demonstrierten<br />

mit Beweiskraft die Frucht gewisser Lehren, die mit perversen Absichten<br />

unter die Land- und Fabrikbevölkerung verbreitet wurden. Sie beweisen,<br />

dass es nötig ist, gegen die Hartnäckigkeit, mit welcher die Gefühle der Religi<br />

n, der christlichen Moral entwurzelt werden sollen, durch welche eine Erwirkung<br />

der Abneigung gegen jede Autorität und jeden sozialen Rang herbeigeführt<br />

werden soll, dass gegen diesen dumpfen Kampf, der gegen die Gesetze<br />

und unter deren Schutze geführt wird, eine gute Verteidigung notwendig ist,<br />

welche die stets alarmierten Gemüter beruhigt, die öffentliche Ordnung sicherer<br />

machen wird, welche auf Vernunft und Gerechtigkeit erbaut ist."<br />

Nun folgt eine ganze Reihe von Repressalien in dem Zirkular<br />

— sämtliche natürlich von „Harmonie, christlicher Moral. Vernunft<br />

und Gerechtigkeit" diktiert. Die Vereinigungen der Arbeiter<br />

müssten beständig unter der Aufsicht der Regierung stehen.<br />

Diese allein sollte die Macht und das Recht haben, die Begründung<br />

von Assoziationen zu gestatten; sobald es den lokalen Herren<br />

genehm war, konnte sie die Organisation auflösen.<br />

* * *<br />

Fernando Garrido berichtet uns in seinem "La<br />

Espagne contemporaine" (Brüssel und Leipzig, 1862),<br />

in dem er die Hindernisse, die sich ihnen entgegen türmten, bespricht;<br />

sehr detailliert, welche Arbeitersyndikate er in jener Zeit<br />

vorfand :<br />

„Die -Regierung ist sehr gegen die arbeitenden Klassen und stets auf<br />

der Hut vor ihren Tendenzen. Sie konstruiert alle möglichen Massregeln. um<br />

ihre moralische und materielle Entwicklung zu hemmen. In einigen Ortschaften<br />

und besonders in einigen Berufen hat sie ihnen das Arbeitsbuch und<br />

den Arbeitsausweis auf gezwängt. Jeder gemeinschaftliche Beschluss. auf einen<br />

Streik für Lohnerhöhung auslaufend, für Verkürzung der Arbeitszeit eintretend,<br />

wird von strenger, gesetzlicher Strafe ereilt. Assoziationen, welche auch nur<br />

die Unterstützung der Arbeitslosen zum Zwecke haben, sind verboten. Diejenigen,<br />

welche sich darauf beschränken, Hilfe in Krankheitsfällen zu gewähren,<br />

müssen sich erst von der Behörde dazu autorisieren lassen. Sämtliche


11<br />

Bücher sind der Inspektion der Behörden unterworfen. Dabei ist die geschäftliche<br />

Gebahrung nur insofern gestattet, als sie in direktem Widerspruch<br />

zur Quintessenz jeder gegenseitigen Hilfe sich befindet, die doch darin besteht<br />

: infolge der sich stets vergrössernden Mitgliederzahl vermindert sich das<br />

Risiko des Einzelfalles. Jedoch gerade in Spanien dürfen solche Assoziationen<br />

nicht mehr als 500 Mitglieder zählen. Konsumgenossenschaften, welche die<br />

Lebensmittel zu faktischen Einkaufspreisen an die Mitglieder verkauften, sind<br />

durch die gesetzlichen Hemmnisse direkt unmöglich gemacht, man zwingt sie,<br />

ihre Bücher so zu halten, als waren sie Geschäftsunternehmungen zugunsten<br />

des Privatprofites irgend eines Unternehmers, da sie dann eine jede Seite<br />

der Geschäftsbücher behördlich gestempelt haben müssen. Schon der Preis<br />

des Stempels al ein genügte vollauf, ein fast unübersteigliches Hindernis für<br />

dia Bildung solcher Assoziationen zu sein."<br />

Um Garridos Angaben zu vervollständigen, geben wir in<br />

folgendem einen Teil der Vorschriften wieder, welche van den<br />

Barcelonaer Behörden im Juli 18G1 erlassen wurden:<br />

㤠7. Der Mitgliedsbeitrag einer jeden Assoziation muss von der<br />

Generalversammlung bestimmt werden. Das Maximum müssen vier Reales<br />

wöchentlich bilden. Sollten die Bedürfnisse der Gesellschaft einen höheren<br />

Beitrag erfordern, dann muss unsere Erlaubnis eingeholt werden.<br />

§ 8. Die zu bewilligenden Unterstützungen müssen im Anfang eines<br />

jeden Jahres in der Generalversammlung fixiert werden. Unterstützung kann<br />

nur im Krankheitsfalle bewilligt werden, auch wegen Arbeitsunfähigkeit durch<br />

Alter, unverschuldeten Arbeitsmangel. Die Behörde hat in zweifelhaften Fällen<br />

zu entscheiden, ob der vorherrschende Arbeitsmangel dem Betreffenden<br />

das Recht auf Unterstützung einräumt, wie sie sich auch stets von der Lage<br />

derjenigen vergewissern darf, die Unterstützung erhalten.<br />

§ 10. Jede Summe, die zwecks Erfüllung gesellschaftlicher Verpflichtungen<br />

erhoben wird, muss durch Kollektoren gesammelt werden, die von der<br />

Generalversammlung ernannt werden. Jede andere Kollekte wird als Betrag<br />

betrachtet und streng geahndet werden.<br />

§ 11. Nach Deckung der Unkosten jeder Woche, muss der Ueberschuss<br />

einer Sparkasse zugeführt werden, welche ein Konto der Gesellschaft einrichtet.<br />

§ 1<strong>2.</strong> In anderen Ortschaften sind Gelder an die Magistratskassen abzuliefern.^<br />

§ 13. Die Assoziationen können eine Generalversammlung einberufen,<br />

so oft sie es für notwendig erachten. Doch nur nach eingeholter Erlaubnis<br />

des Bürgermeisters, der die Abhaltung erlauben oder verbieten kann, welcher<br />

auch das Recht hat, persönlich oder in Vertretung zu präsidieren.<br />

§ 15. Gemeinschaftliche Versammlungen verschiedener Gewerkschaften<br />

und ihrer Direktoren sind untersagt. Die Assoziationen dürfen zu einander<br />

in keinerlei Verbindung treten, behufs Erklärung sozialer oder politischer<br />

Probleme. Uebertretungen wider die obige Vorschrift genügen, um die Gesellschaft<br />

sofort aufzulösen, da dieselbe dadurch gefährlich, für die öffentliche


12<br />

Sicherheit geworden. Schuldige werden vor die Gerichtsschranken gestellt,<br />

um dort nach Verdienst bestraft zu werden.<br />

S. Clansa Y. Esteve, Gouverneur von Barcelona.<br />

Es ist begreiflich, dass Männer mit Herz und Gewissen unter<br />

solchen Umständen die legale Form der Assoziation und die Gesetzlichkeit<br />

verwarfen und mit terroristischen Aktionen wider die<br />

Urheber dieser oben dargelegten Verkrüppelungen der Volksinitiative-<br />

und Bewegungen vorgingen.<br />

* *<br />

*<br />

Wir erkennen somit leicht, dass es die mannigfachen Verfolgungen<br />

der andalusischen und katatonischen Bauern und Arbeiter gewesen,<br />

die Deportationen der energischesten Kämpfer nach den Phillippinen,<br />

die Einschreibungen der Arbeitgeber in die Arbeitsbücher<br />

über das Betragen der Arbeiter waren, die noch überdies von den Behörden<br />

revidiert wurden — kurz, wir erkennen, dass die Schuld<br />

nicht an dem spanischen Proletariat gelegen, wenn es zur Zeit<br />

des Aufstandes der „Internationale" nicht ausserordentlich machtvoll<br />

und imposant in legal-organisatorischer Hinsicht dastand.<br />

Diese Periode überschreitet jedoch den ersten Teil unserer<br />

Darstellung, den wir hiermit zum Abschluss bringen. Das spanische<br />

Proletariat zur Zeit der „Internationale" — dies wird den<br />

zweiten Teil unserer Abhandlung, soll das Objekt unserer nächsten<br />

Untersuchung bilden. Pedro Vallina.<br />

Die einzige Grundlage.*)<br />

Nur jenes Volk kann gedeihen, welches sein Land liebt und<br />

schwört, es schön zu machen;<br />

Denn das Land (der Demos) ist das Grundelement des menschlichen<br />

Lebens, und wenn das allgemeine Verhältnis zu diesem<br />

umsomehr ist, ist alles andere unvermeidlich umsomehr und<br />

verkehrt.<br />

Wie kann eine Blume ihre eigenen Wurzeln verleugnen, oder<br />

ein Baum seinen Boden, dem er entspringt ?<br />

Und wie kann ein Volk fest dastehen unter der Sonne, ausser<br />

als Vermittler zwischen Erde und Himmel -<br />

Um die lieblichen Früchte des Bodens jeder göttlichen Verordnung<br />

zu weihen ?<br />

*) Uebersetzt aus dem Englischen von den Genossen Lilly Nadler<br />

und Ervin Batthyany aus dem noch unveröffentlichten Manuskript des<br />

vierten Bandes des Gesamtwerkes „Der Freiheit entgegen" von Ed.<br />

Carpenter, das im Herbst im Verlag M. Lehmann, Berlin, erscheinen<br />

wird. Anm. d. Rei.


13<br />

Denke daran —<br />

Reiches schönes Getreide anzubauen für menschliche Nahrung,<br />

und Blumen und Früchte das Auge und Herz zu erfreuen.<br />

Welch ein Vorrecht!<br />

Und doch ist dies heute eine Last und eine Erniedrigung,<br />

den Armen und Verachteten aufgebürdet.<br />

Der schottische Ackerknecht schreitet über das gepflügte<br />

Land, mit fürstlicher Hand das Brot von Tausenden ausstreuend ;<br />

Der italienische Bauer bindet seine Weinrebe an das Rohrspalier<br />

mit kleinen Ginsterzweigen, und das Frühlings Sonnenlicht<br />

glänzt und flimmert herauf auf der Zisterne gerade unter ihm ;<br />

Der dänische Bursche treibt die Heerden heim von dem<br />

tief liegenden Weideland in der süssen, klaren Luft des Abends;<br />

Und die Welt, welche auf der Arbeit von diesen erbaut ist,<br />

verleugnet sie, und sie selbst sinken zur Erde, erschöpft von unbeachteter<br />

Arbeit;<br />

Während der Politiker und der Kaufmann, welche auf Grund<br />

von Lügen üppig gedeihen, und der Menschen Ohren und Mund<br />

mit Spreu füllen, in der Oeffentlichkeit die höchsten Plätze einnehmen.<br />

Und die Erde rollt weiter, mit ihrer ganzen Bürde von<br />

Liebe unbeachtet,<br />

Und Traurigkeit senkt sich auf die Völker, die getrennt<br />

sind von der Brust, welche sie gerne ernähren würde.<br />

Denke daran —<br />

Eine Nation fest auf ihre eigene Grundlage zu stellen, ihr<br />

Volk weithin ausbreitend in geachteter nützlicher Arbeit auf dem<br />

Land,<br />

Allen Gebrauch und alle Möglichkeiten des Bodens aufbauend<br />

in das Leben der Massen,<br />

So dass die Reichtümer der Erde zuerst und vor allen jenen<br />

zukommen, welche sie erzeugen, und so weiter in dem ganzen<br />

Bau der Gesellschaft;<br />

Das Leben des Volkes rein und anmutsvoll zu gestalten,<br />

lebenskräftig vom Grund bis zur Spitze, und selbstbestimmend.<br />

Sich einfach auf sich selbst verlassend, und nicht auf Kliquen<br />

und Koterien von Spekulanten irgendwo ; und so unvermeidlich<br />

in wilde freie Formen von Liebe und Kameradschaft empor<br />

spriessend ;<br />

Die unkultivierten Plätze des Landes zu heiligen, die Bäche<br />

rein bewahrend, und neue Blüten an ihren Ufern pflanzend ; die<br />

die Luft krystallrein zu erhalten und ohne Mackel — auf dass<br />

die Sonne scheine, wo ehedem es dunkel war ;


14<br />

Die Waldungen und die hohen Gipfel mit neuen Bäumen und<br />

Büschen zu schmücken, und mit beflügelten und vierfüssigen Geschöpfen,<br />

Alle lebenden Wesen so weit als möglich zu schonen, lieber<br />

als sie zu vernichten;<br />

Welch eine Freude!<br />

AU dies in Herzenseinfalt zu tun, wäre wahrlich, Reichtümer<br />

der Menschheit träumen zu erschliessen, von welchen wenige<br />

So viel, so unendlich mehr, .als was jetzt Reichtum genannt<br />

wird.<br />

Aber heute ist das Land verunglimpft und eingezäunt mit<br />

Verboten; und jene, welche möchten, können nicht dazu gelangen,<br />

und jene, welche es besitzen, haben keine Freude daran<br />

— ausser solche Freude, wie ein Hund am Futtertrog haben mag.<br />

Und so, selbst heute, während ungezählte Reichtümer der<br />

Erde abgerungen werden, ist es eher ein Raub, wie sie erzeugt<br />

werden — ohne Freude oder Dankbarkeit, sondern in Kummer<br />

und Trübsal und Lügen und Habgier und Verzweiflung und<br />

Unglaube.<br />

Sag', sag', was würde jener Reichtum sein, wenn frei die<br />

Erde und ihre Liebe wären ?<br />

Doch alles, wartet. Und die Gewitterwolken dräuen in<br />

Schweigen über den Landen, sinnend der noch ungeformten Worte<br />

des Schicksals: und der Himmel strömt Licht auf die Myriaden<br />

Blätter und Gräser, unaufhaltsam jedes winzigste Ding erforschend,<br />

Und Unwissenheit erzeugt Furcht, und Furcht erzeugt Habgier,<br />

und Habgier jenen Geldreichtum, dessen Kehrseite Armut ist<br />

— und diese wieder erzeugen Streit und Furcht in endlosem<br />

Kreislauf;<br />

Aber Erfahrung (welche mit der Zeit zu allen kommen muss)<br />

erzeugt Mitgefühl, und Mitgefühl Verständnis, und Verständnis<br />

Liebe ;<br />

Und Liebe führt Hilfe an der Hand, die Pforten unbegrenzter<br />

Macht zu öffnen — für jenes neue Geschlecht, welches jetzt<br />

erscheint.<br />

Und die blaue See wartet unter dem Gürtel sonnbefranzter<br />

Ufer — und lispelt und lallt durch die. Jahrtausende — die noch<br />

ungeformten Worte stammelnd, welche der Mensch allein vollständig<br />

aussprechen kann;<br />

Und das Sonnenlicht umhüllt die Erdkugel — und tanzt und<br />

glitzert im Aether des menschlichen Herzens,<br />

Das wahrlich ein grosser und unbegrenzter Ozean ist, in<br />

welchem alle Dinge schweben . . . Edward Carpenter.


Anarchisten und Gewerkschaftsbewegung.*)<br />

15<br />

Der Anarchismus ist die Weltanschauung von der Freiheit<br />

des Individuums. Diese, die dadurch, dass sie nicht auf allgemein<br />

festgelegte Dogmen und Normen beruht, im schroffen Widerspruch<br />

zu allen anderen Richtungen proletarischer und bürgerlicher<br />

Systeme steht, lässt naturgemäss dem einzelnen Anhänger<br />

die Bahn zur Betätigung seiner Persönlichkeit frei. Deshalb<br />

muss es auch immer ein Nonsens bleiben, zu sagen: so und so<br />

muss ein Anarchist sein, und wenn jener dort und dort mittut,<br />

ist er keiner. Ueber die Zugehörigkeit zum Anarchismus kann<br />

jeder nur über sich selbst Rechenschaft abgeben. Das Abweichen<br />

in nebensächlichen Dingen von den Anschauungen des Andern oder<br />

gar der Mehrheit, kann niemals ausschlaggebend werden. Der<br />

Anarchismus saugt ja gerade seine besten Kräfte, seine Unbesiegbarkeit<br />

aus seinem einzig grundliegenden Prinzip, dem der persönlichen<br />

Freiheit und Selbständigkeit des Einzelnen. Nur innerhalb<br />

dieser Weltanschauung kann "jeder nach seiner Façon selig<br />

werden". — Die Herrschaftslosigkeit als Ideal unseres Endziels<br />

muss heute schon in unseren Reihen vorwirkend tätig seih als<br />

Zugeständnis an die einzelnen Genossen, über sich alleiniges<br />

Selbstbestimmungsrecht ausüben zu können. Dass ich deshalb die<br />

Diskussionen nicht als Mittel zur Aufoktroierung anderer Anschauungen<br />

verwerfen will, sondern sie als Mittel zur Klärung<br />

und zur Vereinheitlichung der Wege begrüsse, brauche ich wohl<br />

kaum zu betonen ; aber jeder Anarchist sollte sich auch bestrebt<br />

zeigen, die sachlichen Argumente ebenso abzuwägen, ohne sich<br />

durch persönlich entgegengesetzte Ansichten berechtigt zu glauben,<br />

sich als den „besseren" Genossen zu werten.<br />

Wie wenig die Zugehörigkeit zu einer Berufsvereinigung<br />

hierbei ausschlaggebend sein kann, möchte ich nun zeigen. Wie<br />

offenkundig, spreche ich nur von deutschen Verhältnissen.<br />

Eine Berufsorganisation, die nur mit den Waffen aus der<br />

Rüstkammer anarchistischer Geistesrichtungen Siege zu erringen<br />

sucht, gibt es in Deutschland noch nicht. Bis wir dazu und in allen<br />

Berufen dahin kommen, müssen die Ideen der Selbstherrlichkeit<br />

des Individuums und der Selbstverständlichkeit der Solidarität noch<br />

mächtige Fortschritte machen. Dazu muss vor allen Dingen die<br />

Presse ihr Teil Aufklärungsarbeit leisten; ebenso die Diskussionen<br />

in Werkstatt und Versammlungen, aber auch die Einzelnen innerhalb<br />

der Gruppenassoziationen, denen sie sich erstens mal nach<br />

Beruf und dann nach Neigung angeschlossen haben. Weil es aber<br />

Dieser Artikel ist, wie uns der Verfasser mitteilt, „die Frucht der Anschauungen",<br />

wie er sie nach einem Vortrage unseres deutschländischen Genossen<br />

Biester im Kreise der Anarchistischen Föderation gewann. Wir<br />

stellen den Aufsatz zur Diskussion. Anm. d. Red.


16<br />

noch keine Organisation gibt, die im Sinne des Anarchismus die<br />

wirtschaftliche Befreiung ihrer Angehörigen versucht, muss es jedem<br />

unbenommen bleiben, sich dort anzuschliessen, wo er für sich<br />

die wenigsten Nachteile — man kann auch lesen: die grössten<br />

Vorteile — vermutet.<br />

Mir gilt z. B. die berufliche Vereinigung als eine kommunistische<br />

Versicherung, bei der ich auf Grund bestimmt übernommener<br />

Pflichten auch ganz bestimmte Gegenforderungen zu<br />

stellen berechtigt bin, bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berufsstreitigkeiten<br />

etc. Die Differenzen der Organisationen untereinander<br />

kümmern mich wenig, da sie höchstens aus scharter<br />

quantitativer aber nicht qualitativer Natur bestehen. Die grassierenden<br />

Streiks partieller Natur sind aber nichts anderes als beim<br />

Soldatenspiel die Manöver, im Krieg sieht die Sache ganz anders<br />

aus. Trotzdem ist es ja gut, wenn man Gelegenheit hat, eine<br />

Waffe zu prüfen. — Durch unnötigen und oftmals fehlerhaften Gebrauch<br />

wird sie aber leicht untauglich für den Ernstfall. Der<br />

Streik ist auch eine solche Waffe, die bei falscher Anwendung<br />

leicht verhängnisvoll wirken kann. Ganz abgesehen davon, dass<br />

die vielen Streiks, die Arbeitgeber gelehrt haben, sich gleichfalls<br />

in kräftigen Organisationen zusammenzuschliessen, die, da nun mal<br />

heute zum Kriegführen immer noch erstens, zweitens und drittens<br />

Geld, gehört, dadurch erst zu nicht zu verachtenden Gegner<br />

wurden. Dann aber hat den materiellen Erfolg jeden Streiks<br />

immer noch das Proletariat selbst zahlen müssen. Eine Erhöhung<br />

der Arbeitslöhne hat immer noch eine baldige Erhöhung der Preise<br />

für die Arbeitsprodukte nach sich gezogen. Was so eine Kategorie<br />

von Arbeitern gewinnt, müssen alle anderen bezahlen. Da diese<br />

in der besten aller Wirtschaftsordnungen so schon zufrieden sein<br />

mussten, wenn sie ihre Bedürfnisse so weit gerade befriedigen<br />

konnten, um im besten Falle, was sie alles entbehren, zu merken,<br />

werden diese wieder zum Streik gedrängt. Und wieder dasselbe<br />

Bild. Bis sich der Kreis schliesst und damit die Entwertung des<br />

„stabilen" Wertmesser des Goldes oder des Geldesgetreten ist.<br />

Das einzige Ziel, wert, heute einen Streik zu inszenieren, ist die<br />

Verkürzung der Arbeitszeit. Dadurch kann und muss die Reservearmee<br />

beschäftigungsloser Arbeitsnehmer verringert werden. Diese<br />

ist aber in ihrer Grösse eine Gefahr für jeden Fortschritt. Man<br />

kann nie wissen, auf welche Seite sich diese unsicheren Elemente<br />

werfen werden. Zum Bewusstsein ihrer Lage kommen diese wohl<br />

selten und für das Judasgeschenk eines augenblicklichen Vorteils,<br />

könnte es doch wohl möglich sein, dass sie sich ihren Henkern<br />

verkauften,<br />

Der Klassenkampfstandpunkt sozialdemokratischer Gewerkschaften<br />

ist ja zum Teil auch in das Programm der proletarischen<br />

Klassenkämpfe anarchistischer Richtung aufgenommen worden.<br />

Ich will mit diesen nicht rechten. Umso weniger, als ich anerkenne,


17<br />

dass die Besitzenden ohne genügenden Grund ihre Privilegien<br />

und Besitztümer nicht aufgeben werden. Andrerseits warne<br />

ich aber vor dem Extrem, in das uns die Klassenkampftheorie<br />

in konsequenter Durchführung hineinreiten würde — die Unterdrückung<br />

der jetzt Herrschenden von den bis nun Regierten!!<br />

Dazu darf es aber nie kommen! Die werdende anarchistische<br />

Gesellschaft soll eine Vereinigung freier Menschen offenbaren,<br />

in der es weder Herren noch Diener, sondern nur gleichberechtigte<br />

<strong>Freie</strong> gibt! Im sozialdemokratischen Zukunftsstaat<br />

wird es im Gegensatz dazu, wohl nur Sklaven einer ganz<br />

imaginären Grösse, gesamt Majorität geben. Da heisst es also<br />

aufpassen, dass man nicht zu weit geht; im Klassenkampf kann<br />

ja nur eine Partei siegen und die andere muss unterliegen. Wir<br />

aber wollen in Wirklichkeit, und nicht nur nach dem Programm,<br />

gleichberechtigt und frei werden.<br />

Deshalb halte ich es für wünschenswert, dass wir von den<br />

..freien" zentralisierten Gewerkschaften abrücken. Marschieren sie<br />

auch auf parallelem Wege, so ist ihr Ziel doch ein ganz anderes.<br />

Hingegen scheinen mir in den Lokalorganisationen die Dinge<br />

etwas günstiger zu liegen, da dort jede Gruppe sich autonom verwaltet<br />

und die einzelnen Genossen deshalb dort eher die nötige<br />

Aufklärungsarbeit mit Erfolg anwenden dürften. Nicht schlechter<br />

als diese beiden sozialdemokratischen halte ich für meine nun<br />

ausgeführten Anschauungen die Deutschen Gewerkvereine. Wenn<br />

die einen auf dem Boden des Klassenkampfes, stehen die anderen<br />

auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft; während diese aber<br />

politisch — vollkommen neutral sind, verlangen jene nur Sozialdemokraten<br />

als Mitglieder!! Die Taktik ist in der Anwendung<br />

bei beiden die gleiche!! Tarifgemeinschaften, wenn angängig,<br />

und wenn nicht — Streik. Immer nur die Sucht nach Augenblickserfolgen,<br />

ohne je weitere Perspektive ahnen zu lassen.<br />

Wo sich bei solchen Zuständen der Einzelne anschliesst,<br />

muss ganz ihm überlassen bleiben. Allerdings sollte jeder versuchen,<br />

Berufsorganisationen freieren Hauches die Wege zu ebnen.<br />

Inzwischen aber genügt es, dass jeder weiss, dass auch seine Organisation<br />

nicht diejenige ist, welche . . ., sondern dass er ihr nur<br />

aus Gründen kommunistischer oder solidaritärer Möglichkeitsrücksichten<br />

angehört. Alfred Bader.<br />

Die Monarchomachen und Etienne de la Boëtie.*)<br />

Um zu verstehen, was neben vielen andern kleineren und<br />

grösseren Organisationen im Mittelalter von Staat da war, brauchen<br />

*) In der von Dr. Martin Buber im Verlag der Literarischen Anstalt<br />

Rütten & Loening in Frankfurt a. M. herausgegebenen Sammlung sozialpsychologischer<br />

Monographien erseheint in einigen Monaten der Band: „Die Revolution"<br />

von Gustav Landauer. Daraus ist das vorliegende Brochstück genommen.


18<br />

wir ein Wort, das Goethe geliebt hat: lässlich. Staat war etwas,<br />

was noch nicht feste Autorität, noch schwankend, unbestimmt, hin<br />

und her gehend in der Geltung war. Es gab vielerlei Obrigkeiten,<br />

aber nicht das heilige Prinzip weltlicher Obrigkeit. Es gab<br />

vielerlei Verhandlungen und Tage und Beschlüsse, aber es gab<br />

nicht eigentlich Gesetze in dem unverbrüchlichen Sinn, wie es<br />

sich für uns schon beinahe von selbst versteht. Im sogenannten<br />

Staatsleben der christlichen Zeit, in den Zusammenkünften der<br />

Stände, den Bitt- und Beschwörungsreisen der Kaiser, ja sogar<br />

in den Kriegszügen war etwas, wovon wir etwa ein Bild bekommen,<br />

wenn wir an die Natur der russischen Menschen denken, an solche<br />

Typen, wie sie uns Tolstoi in seinem russischen Adeligen, seinem<br />

Pierre, seinem Kutusow geschildert hat. Die Menschen des schöpferischen<br />

Wesens, die noch Chaos- und Mythoskraft in sich haben, haben<br />

nicht gar viel Logik, Konsequenz und Schärfe, und steht unsere<br />

Zeit unter dem Wort: es muss getan werden und: es ist verboten, so<br />

wäre eher das Motto solcher Zeiten oder Völker: es tut sich.<br />

Das kam nun anders : der moderne Staat kam mit seinen<br />

drei Tendenzen: absolute Fürstengewalt, absolute Gesetzlichkeit und<br />

Nationalismus.<br />

Die Revolution, die in den hussitischen und Bauernkriegen<br />

und verwandten Bewegungen für lange hin zum letzten Mal versucht<br />

hatte, das Leben, das ganze Leben, vor allem was man<br />

heute die wirtschaftlichen und sozialen Zustände nennt, zu wandeln,<br />

tritt jetzt eine tiefe Stufe hinunter: an die Stelle des christlichen<br />

Geistes tritt die Politik, auch wenn es sich um sogenannte Religionskämpfe<br />

handelt. Die nächste Zeit gehört den Staatskriegen<br />

nach aussen, den Staatskriegen im Innern, die man meistens Religionskriege<br />

nennt, und den politischen Revolutionen, die nicht in<br />

irgend abstrakter Reinheit auftreten, sondern mit Religionswirren,<br />

Kriegen, Streitigkeiten von Prätendenten und Kronenträgern untrennbar<br />

verbunden sind.<br />

Diese politische Revolution erhebt sich, in den Köpfen fast<br />

allenthalben zur selben Zeit, in den Völkern schnell hintereinander in<br />

den Ländern Westeuropas: den Niederlanden, Schottland, Frankreich,<br />

England. Zuerst aber erstand sie, noch bevor der Kirchenstreit<br />

und durch ihn die Steigerung der Fürstenmacht gekommen waren,<br />

in dem Lande, von dem die neuen Bewegungen, die immer im<br />

Geiste beginnen, bevor ihre äusseren Bedingungen sich schon deutlich<br />

gezeigt haben, jedes Mal ausgehen: im Lande Utopia. Das<br />

Buch Utopia des Engländers Thomas Morus, das 1518 herausgegeben<br />

wurde, ist das erste Auftreten des Neuen, das dann in der folgenden<br />

Zeit sich in gleicher Weise bei Protestanten und Katholiken<br />

erhob, vor allem aus dem französischen und allgemein romanischen<br />

Geist sich speiste, sich noch vielfach in die Sprache der Religion<br />

kleidete, aber doch mit grosser Schnelligkeit dem Weltlichen zuging.<br />

Dieses Neue war gewiss viel kleiner und enger als das,


19<br />

wovon wir bisher als dem christlichen Geiste gesprochen haben,<br />

es war zum grössten Teil Form des Verstandes und der haarscharfen,<br />

an der Antike neu belebten Logik und Gegenständlichkeit,<br />

aber es war doch mehr als das, es war auch nicht bloss<br />

Kritik, Negation, Aufruhr, etwas Schöpferisches war darin, und es<br />

war Geist, trotz seiner Begrenzung auf die Surrogatform des<br />

Mitlebens, den Staat. Wir nennen es den Geist der Republik,<br />

und die Männer, die ihn als Führer oder Sprecher der nun kommenden<br />

Staatsrevolutionen erzeugten und fortpflanzten, mögen den<br />

seit Barclay üblichen Namen der Monarchomachen haben.<br />

Thomas Morus hatte scharf und in gefühlvoller Verständigkeit<br />

an den Zuständen, die heraufgekommen waren, Kritik<br />

geübt und in seiner Utopia ein Land gezeigt, das in Frieden Arbeit,<br />

Wissenschaft und Künste pflegt, das keine Unterschiede der<br />

Stände mehr kennt, das aus Zweckmässigkeitsgründen einen Fürsten<br />

an der Spitze hat, der aber wie alle Beamten vom Volk erwählt<br />

wird, in dem vielerlei Bekenntnisse neben einander toleriert werden,<br />

da als Staatsreligion die sämtlichen Bürger nur eine Art Deismus<br />

eint: die öffentliche Verehrung der Gottheit; alle Sonderreligionen<br />

sind individuelle Privatsachen, da die Moral unabhängig von allen<br />

Glaubensvorstellungen ein rein weltliches Band zwischen den Bürgern<br />

ist. Man weiss, dass Thomas Morus später als Staatskanzler<br />

von Heinrich VIII. aufs Schaffot geschickt wurde, und im England<br />

Heinrichs VIII. sehen wir aufs schärfste und gewalttätigste das repräsentiert,<br />

was die europäische Staatsrevolution gegen sich hervorgerufen<br />

hat: die auf die neuen Lehren des Protestantismus gestützte<br />

Tyrannei absoluter Fürstengewalt. Wir können das Wort<br />

Tyrannei, das uns wohl abgenutzt und trivial klingen mag, hier<br />

nicht entbehren: denn das Wort Tyrann kam jetzt eben wieder<br />

auf als spezifische Bezeichnung des Fürsten, der die alten verbrieften<br />

Rechte missachtet und in Konflikt mit dem Willen des<br />

Volkes oder derer kommt, die ihre Tendenzen Volk nennen. Im<br />

Kampf gegen diese Tyrannen begannen die Monarchomachen die<br />

grosse europäische Staatsrevolution und, damit den Versuch, feste<br />

Staaten zu bauen, als ein freies und gedeihliches, verfassungs- und<br />

gesetzmässig gesichertes Mitleben der Menschen. Es mischten<br />

sich in diesem Versuch die Bestrebungen der Tradition, alte Einrichtungen<br />

der Föderation, der Stände und Parlamente, der Freibriefe<br />

und der beschworenen Verträge wiederherzustellen und<br />

auszubauen, und die Tendenzen der Vernunft, in freier Selbstherrlichkeit<br />

das Richtige, Gemässe, Natürliche herauszufinden und hinzustellen,<br />

das Schlechte, Ueberlebte, Anmassende und vor Vernunft<br />

und Natur Unberechtigte niederzureissen. Der Staat war, gestützt<br />

vom römischen Recht und den Lehren des Protestantismus, als<br />

Absolutismus und Fürstenmacht in die Welt gekommen, jetzt wo lte<br />

er, gestützt auf antiken Geist und die neugeborene individuelle<br />

Freiheitsliebe, einen Schritt weiter tun und eine umfassende politische<br />

Gemeinschaft der Nation werden.


20<br />

Das was als Geist gestorben ist, als Meinung oder Ueberzeugung<br />

oder Glaubensgebilde im Verstand der Individuen noch<br />

lange weiter lebt, verstehen wir, dass diese politische Revolution<br />

auch in ihren nahezu besten Köpfen religiöse Einkleidung fand.<br />

Es machte aber da katholische oder protestantische Konfession<br />

kaum einen Unterschied, und es ist ganz verkehrt, besonders radikale<br />

Richtungen als Kampf jesuitischer Verworfenheit gegen<br />

Fürsten deuten zu wollen. In dem Land, das der Mittelpunkt der<br />

ersten grossen Staatsrevolution ist, in Frankreich, sehen wir, wie<br />

Protestantismus und Katholizismus fast unentwirrbar durcheinander<br />

gehen, wie protestantische Monarchomachen die geistigen Führer<br />

einer katholischen revolutionären Volksbewegung sind, wie aber<br />

der Mann, der der grösste und stärkste Ausdruck dieser Revolution<br />

ist, jenseits jeglicher Konfession und des Christentums stellt,<br />

nur mit den Waffen der Logik, der Sachlichkeit, der Weltlichkeit und<br />

des Individualismus kämpft: Etienne de laBoëtie, der grössere Freund<br />

des berühmten Montaigne. Dieser weltlich-freie Geist in Frankreich,<br />

der in Rabelais schon sein grosses Vorspiel gehabt hatte, ist es,<br />

der in den nächsten Jahrhunderten Frankreich die Führung Europas<br />

gibt, nicht sein cäsarischer Zentralismus und seine siegreichen<br />

Könige.<br />

Im England Heinrichs VIII., in dem die Verbindung von<br />

Protestantismus und Fürstengewalt ihre äusserlichste und gewalttätigste<br />

Form gefunden hatte, in dem aber im übrigen das Leben<br />

noch am stärksten von lebendigem, verbindendem Geist erfüllt war,<br />

in dem sich noch die germanisch-romanischen Rechtseinrichtungen,<br />

das Recht und die öffentlichen Institutionen des christlichen Alters<br />

am lebendigsten hielten und am stärksten gegen das römische<br />

Recht wehrten, brach der Kampf für, den modernen Staat, die<br />

Republik — wir brauchen dieses Wort in seinem weiten Sinn<br />

zuerst aus. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Volksbewegungen<br />

und inneren Kriege in irgend welche Einzelheiten zu<br />

verfolgen ; es kann sich hier nur um ein Stück Geistesgeschichte<br />

handeln. Für diese Periode, die Zeit des Individualismus, ist es<br />

aber nötig, auf das Wirken einzelner Personen, die den neuen Geist<br />

im Staate verkörperten, hinzuweisen. Der in England dieses Neue<br />

zuerst aussprach und gleich alle die Fragen, um die es sich in<br />

folgenden Jahrhunderten handelte, in präzise Form brachte, war<br />

der Bischof John Poynet. Gustav Landaue r.<br />

(Fortsetzung folgt.)


Variationen der Liebe.<br />

Meine Liebe.<br />

Wenn sich die Sonne senkt<br />

in Purpur ganz gebadet,<br />

und ich die wilden roten Strahlen<br />

an meinen Wangen, in meinen Augen fühle<br />

— dann lieb ich sie!<br />

Wenn ich am Ufer streife,<br />

und hoch die Wellen gehen,<br />

Das Wasser blau und silbern schimmert<br />

und mich zur uferlosen Weite ruft<br />

— dann lieb ich es!<br />

Wenn ich im Walde liege :<br />

Die Bäume schaurig tief von Kraft und Kühnheit rauschen,<br />

ein süsses Flüstern durch alle Blätter geht,<br />

und ich des Lebens leisen Tönen lausche<br />

— Dann lieb ich es!<br />

Wenn Du mir, Mann des starken Wollens, nahst,<br />

und ich im hellen Glanz der dunklen Augen bade,<br />

der zu des Lebens Höhen ruft,<br />

und ich dir folge<br />

Dann lieb ich dich<br />

und küsse deine Hände ! Nadja.<br />

21<br />

Meine Liebe.<br />

Wenn heiss die Sonne lacht,<br />

Die Erde wild umarmend ;<br />

Und ich mich beugen muss vor ihrer Glut,<br />

Vor ihrer goldnen siegesreichen Schönheit,<br />

Dann lieb ich sie!<br />

Wenn Nachts der schwarze Sturm<br />

Mein Schiff wiegt in den Wellen,<br />

Und dunkle, kalte Ringe mich umschlingen,<br />

Der hohe Wall von seiner Kraft mir singt,<br />

Dann lieb ich ihn!<br />

Wenn ich in blauen Luft,<br />

Auf weissem Gipfel stehe,<br />

Zu meinen Füssen still die Wolken schwimmen,<br />

Aus märchenhafter Weite mir die Sterne winken,<br />

Dann lieb ich sie!


22<br />

Wenn stolze, kühne Schönheit<br />

Aus deiner Stirn mir leuchtet,<br />

Aus fernem Menschenmeer zu mir dein Weckruf halt;<br />

Dann fühle ich, weil ich ihn hab' gehört<br />

Und rufe: „Komm! Wir siegen um die Wette,<br />

Mit Sonne, Stürme, Wellen ! Rita<br />

Eine Rechtfertigung der natürlichen<br />

Gesellschaft. Fortsetzung.)<br />

Es ist ein Unglück, dass die natürliche Freiheit, eine natürliche<br />

Religion sich auf keinem Teile der Erde in ihrer Reinheit,<br />

frei von allen Beimischungen politischer Verfälschungen vorfindet<br />

und doch hat die Vorsehung Ideen, Axiome und Satzungen über<br />

dasjenige in uns gepflanzt, was uns als fromm, gerecht, billig,<br />

gilt; Anschauungen, die durch keinerlei politisches Gewerbe, gelehrten<br />

Sophismen sich aus unserer Brust reissen lassen. Nach<br />

ihnen beurteilen wir, und können nicht anders urteilen über die<br />

verschiedenen künstlichen Religions- und Gesellschaftsarten; ungleiche<br />

Verhältnis zur Nähe oder Entfernung derselben — mit<br />

diesem unserem Massstabe bestimmen wir ihre Qualität.<br />

Die einfachste Form der Regierung ist jene des Despotismus,<br />

unter welchem alle die niedereren Machtkreise durch<br />

den Willen des Allerhöchsten bewegt, alle die ihm unterworfen, in<br />

derselben Weise geleitet werden, also, durch den gelegentlichen<br />

Willensausdruck der Obrigkeit. Diese Regierungsform ist ebenso<br />

die einfachste, als auch die überaus allgemeinste. Kaum ein Teil<br />

der Welt, der von ihrer Macht verschont bliebe. Und selbst an<br />

jenen spärlichen Orten, wo die Menschen das gemessen, was sie<br />

Freiheit nennen, ist diese in einer fortwährend schwankenden<br />

Situation, die mit sich stetig vergrössernden Schritten jenem Abgrunde<br />

zueilt, der zuletzt jede Regierungsart verschlingt. Die<br />

Art des Herrschens, welche sich bloss durch den Willen des<br />

schwächsten — 'gewöhnlich auch des schlechtesten — Mannes<br />

äussert, wird die närrischeste und launenhafteste Sache, zugleich<br />

aber auch die schrecklichste und zerstörendste, welche man sich<br />

überhaupt vorstellen kann. Innerhalb des Despotismus findet die<br />

leitende Persönlichkeit, dass sie. ungeachtet dessen, dass die Not,<br />

das Elend, die Dürftigkeit der Untertanen sein mögen, was immer<br />

sie auch sind, dennoch von allem besitzen kann, um ihre uner-<br />

*) Vergl. Bd. I, Hefte 6, 7, 9, 10-


23<br />

sättlichsten Wünsche zu befriedigen. Der Despot tut noch mehr.<br />

Er findet, dass diese Befriedigungen sich im Verhältnis zur elenden<br />

Lage und Versklavung der Untertanen steigern. Ermutigt auf<br />

diese Weise sowohl durch Leidenschaft als auch durch Interesse,<br />

die öffentliche Wohlfahrt mit Füssen zu treten, erhaben dank<br />

seines Ranges über beides: über Scham und Furcht, wendet er<br />

sich den entsetzlichsten und haarsträubendsten Schandtaten der<br />

Menschheit zu. Ihre Sprösslinge fallen seinem Verdachte zum<br />

Opfer. Auf das geringste Missvergnügen steht die Todesstrafe;<br />

und eine unangenehme Darbietung der eigenen Person wird oftmals<br />

als gleichgrosses Verbrechen wie Hochverrat gewürdigt. Im<br />

Gerichte eines Neros wurde eine Persönlichkeit von Wissen, fraglosen<br />

Verdiensten, unverdächtigter Loyalität aus keinem anderen<br />

Grunde hingelichtet, als weil sie ein etwas pedantisches Aeusseres<br />

besass, das dem Kaiser missfiel. Und dieses Ungeheuer der<br />

Menschheit schien im Anfange seiner Regierungsperiode eine tugendhafte<br />

Person zu sein.<br />

Wie immer erniedrigt, bewahrt sich die Menschheit dennoch<br />

überall den Sinn des Gefühles. Zuletzt wird das Gewicht<br />

der Tyrannei unerträglich. Doch eine Besserung ist nicht so leicht:<br />

im Allgemeinen ist das einzige Heilmittel, womit<br />

man die Tyrannei zu heilen trachtet, der<br />

Wechsel der Tyrannen. Solches war und ist immer zum<br />

grössten Teil der Fall. Immerhin fanden sich in einigen Ländern<br />

Männer mit einem durchdringenden Blick, welche entdeckten, dass<br />

zu leben laut dem Willen eines Menschen, die Ursache des<br />

Elends aller Menschen sei." Sie änderten aus diesem Grunde ihre<br />

Methoden und, indem sie die Männer der verschiedenen Gemeinden<br />

einberiefen, die geachtetsten um ihre Kenntnisse und Reichtümer<br />

willen, vertrauten sie ihnen die Verwaltung der öffentlichen Wohlfahrt<br />

an. Sie bildeten ursprünglich das, was man Aristokratie<br />

nennt. Sie hofften inständig, dass es unmöglich für eine solche<br />

Anzahl sein würde, sich jemals zu irgend einem Plan gegen das<br />

Gemeinwohl zu verbinden ; und sie versprachen sich selbst eine<br />

ansehnliche Menge Sicherheit und Glück durch die vereinigten<br />

Katschläge von so vielen fähigen und erfahrenen Personen. Doch<br />

ist es nun klar geworden durch überwältigend zahlreiche Erfahrungssätze,<br />

dass eine Aristokratie und ein Despotismus<br />

sich nur im Namen unterscheiden; und dass ein Volk, welches im<br />

allgemeinen von jeder Teilnahme an der Gesetzgebung ausgeschlossen<br />

ist, in jeder Hinsicht aus denselben Sklaven besteht,<br />

mögen auch zwanzig von ihnen unabhängige Männer es beherrschen<br />

oder ein einziger dies tun. Die Tyrannei wird sogar noch fühlbarer,<br />

da jeder einzelne der Edelmänner den Hochmut eines Sultans<br />

besitzt, und das Volk ist scheinbar an der Grenze der Freiheit,<br />

von der es aber immer ferngehalten wurde, elender als<br />

bevor.


24<br />

Dieser täuschende Freiheitsgedanke, dieweil er den Untertanen<br />

einen kaum sichtbaren Glückschatten bietet, befestigt die<br />

Ketten ihrer Unterjochung noch stärker. Was ungetan verbleibt<br />

durch die natürliche Bosheit, den Stolz von denen, die über die<br />

übrigen hinausgehoben werden, wird vervollständigt durch ihren<br />

Verdacht, ihre bange Angst, eine Autorität einzubüssen, welche<br />

keine Stütze in dem allgemeinen Nützlichkeitsbegriff der Nation<br />

findet.<br />

Eine genuenser oder venezianische Republik ist ein verhüllter<br />

Despotismus, wo wir denselben Herrscherstolz, dieselbe niedere<br />

Unterjochung des Volkes — dieselben blutigen Maximen einer verdächtigen<br />

Politik finden. In einer Hinsicht ist die Aristokratie<br />

schlechter als der Despotismus. Eine politische Körperschaft<br />

verändert, während sie sich ihre Autorität wahrt, nie ihre Grundsätze<br />

; der Despotismus, der heute — durch die Kapriziösität, die<br />

dem menschlichen Herzen eigen —gemeingefährlich im höchsten Grade<br />

ist, kann morgen durch dieselbe, aber anders bewährte Kapriziösität<br />

ebenso liebenswürdig sein; in jeder Tronfolge ist es möglich,<br />

einige gute Herrscher aufzuzählen. Gab es Wesen wie Tiberius,<br />

Caligula, Nero, so gab es auch die helleren Tage von Vespasian,<br />

Titus und Antonius. Nie aber wird eine Körperschaft von Kaprizen<br />

oder Launen beeinflusst; in regelmässiger Weise setzt sie<br />

ihren Weg fort; ihre Reihenfolgen sind unempfindlich : und ein<br />

jeder Mann, der in sie eintritt, besitzt entweder schon oder gewinnt<br />

baldigst den Geist des Ganzen. Niemals jedoch erwies es<br />

sich, dass eine Aristokratie, die hochmütig und tyrannisch<br />

in einem Jahrhundert gewesen, gutmütig und milde im nächsten<br />

war. In der Tat ist das Joch dieser Regierungsart ein so erbitterndes,<br />

dass das Volk, so oft es nur die geringste Macht dazu<br />

besass, es in höchster Wut abschüttelte und eine volkstümlichere<br />

Form etablierte. Und hatte es nicht genügend Stärke, um sich<br />

selbst zu erhalten, so warf es sich lieber in die Arme eines<br />

Despotismus, als dem kleineren der zwei Uebel. Letzteres war<br />

der Fall in Dänemark, welches in der Gewalt willkürlicher<br />

Macht einen Ausweg gegenüber der Bedrückung durch seinen<br />

Adel suchte. Polen besitzt gegenwärtig den Namen einer<br />

Republik, es ist eine solche einer aristokratischen Form ; und es<br />

ist wohlbekannt, dass der kleine Finger dieses Staates schwerer<br />

wiegt, als die Banden der Selbstherrschaft in den meisten Ländern.<br />

Nicht nur politisch, sondern auch persönlich sind diese<br />

Menschen Sklaven und werden mit grösster Schimpfllichkeit behandelt.<br />

Etwas bescheidener ist die venezianische Republik;<br />

und dennoch ist auch hier das aristokratische Joch so<br />

schwer, dass der Adel, um sich zu erhalten, den Geist der Untertanen<br />

durch jede Art von Ausschweifung schwächen, verwirren<br />

musste. Er verweigerte ihnen die Gedankenfreiheit; und erteilte<br />

ihnen datür als eine Entschädigung das, was eine niedere Seele


25<br />

als wertvollere Freiheit betrachten wird, indem er ihnen, wenn<br />

auch nicht gestattete, sie doch dazu ermutigte, dass sie einander<br />

korrumpieren sollten in skandalöser Weise. Die Adeligen betrachten<br />

ihre Untertanen, wie der Bauer das Schwein, das er mästet, um<br />

es zu verzehren. Er hält es strenge im Schweinestall, erlaubt<br />

ihm aber, sich in seinem geliebten Schmutz und Frass zu wälzen,<br />

so lang es ihm gefällt. Einem so skandalös ausschweifendem<br />

Volke, wie es jenes von Venedig ist, kann man nirgendwo mehr<br />

begegnen. Hoch und niedrig, Männer und Frauen, Geistlichkeit<br />

und Weltlichkeit — sie alle sind einander gleich. Die herrschenden<br />

Aristokraten fürchten einer den anderen nicht weniger, als<br />

sie sämtlich das Volk fürchten; und entnerven aus diesem Grunde<br />

ihren Körper politisch durch denselben weibischen Luxus, durch<br />

welchen sie ihre Untertanen korrumpieren. Die letzteren werden<br />

verarmt mittels jedes nur erdenklichen Mittels, und in ewigem<br />

Schrecken vor den Gräßlichkeiten der Staatsinquisition .gehalten.<br />

Wir sehen hier ein Volk vor uns, das aller rationellen Freiheit<br />

beraubt ist und tyrannisiert wird von ungefähr 2000 Männern.<br />

Und dabei ist diese Masse von 2000 so unendlich weit von dem<br />

Genuss irgend welcher Freiheit — die der Unterjochung der<br />

übrigen erfliessen sollte — dass sie sich tatsächlich in einem bedeutend<br />

strengeren Zustand der Sklaverei befindet; sie selbst<br />

degenerieren sich, machen sich zu den Unglücklichsten der Menschheit<br />

und alles dies zu keinem anderen Zweck, als damit sie wirksamer<br />

beitragen können zum Elend der Gesamtnation. Kurz gesagt<br />

: das regelmässige und methodische Vorgehen einer Aristokratie<br />

ist unerträglicher, als die absoluten Ausschreitungen des Despotismus<br />

und im allgemeinen auch weiter entfeint von einer heilsamen<br />

Remedur.<br />

So, Mylord, haben wir die Aristokratie auf ihrem ganzen<br />

Wege und Vorwärtsschreiten verfolgt. Wir sehen die Samenkörner,<br />

das Wachstum, die Frucht. Sie konnte sich keiner der<br />

Vorzüge eines Despotismus rühmen, erbärmlich wie diese Vorzüge<br />

schon sind; und sie war überladen mit einer überfliessenden Fülle<br />

von Missetaten, die selbst dem Despotismus unbekannt waren.<br />

Praktisch ist die Herrschaft einer Aristokratie nicht mehr als eine<br />

untergeordnete Tyrannei. So kam es, dass diese Staatsform, selbst<br />

nicht in Gedanken, wenig Beifall finden konnte seitens jener, die<br />

logisch denken konnten, praktisch noch weniger ertragen werden<br />

konnte seitens jener, welche imstande waren, menschlich zu fühlen.<br />

Immerhin war damit die Fruchtbarkeit der Hinterlist im<br />

Menschen nicht erschöpft. Er besass noch ein Kerzenstümpchen,<br />

um die Mängel des Sonnenlichtes auszubessern. Eine dritte<br />

Form des Staates kam auf, bekanntunter politischen<br />

Schriftstellern unter dem Namen Demokratie.<br />

Das Volk führte die öffentlichen Angelegenheiten oder<br />

den grössten Teil derselben aus. Ihre Gesetze wurden von dem


26<br />

Volke selbst gemacht und im Falle irgend einer Pflichtvernachlässigung<br />

waren die Beamten dem Volke gegenüber Rechenschaft<br />

schuldig, ihm allein. Allem Anscheine nach hatten sie mit dieser<br />

Methode endlieh alle Vorteile der Ordnung und einer guten Regierung<br />

gewonnen, ohne mit ihrer Freiheit für den Kauf bezahlen<br />

zu müssen. Mylord, wir sind nun angelangt zu dem .Meisterstück<br />

griechischer Läuterung und römischer Solidität: dem Volksstaat.<br />

Die früheste und berühmteste Republik nach diesem Muster<br />

war Athen. Sie wurde von keinem geringeren Künstler aufgeführt<br />

als dem berühmten Dichter und Philosophen Solon. Doch<br />

kaum fuhr dieses politische Fahrzeug vom Stapel, da kippte es<br />

schon um, noch zu Lebzeiten des Erbauers. Eine Tyrannei war<br />

die augenblickliche Folge; nicht durch ausländische<br />

Waffengewalt, nicht durch einen Zufall, sondern<br />

durch die ureigene Natur und Konstruktion<br />

einer jeden Demokratie.<br />

Ein spitzfindiger Mann war im Volke beliebt geworden;<br />

das Volk, welches Macht besass, verlieh einen beträchtlichen Teil<br />

seiner Macht diesem Günstling des Volkes. Den einzigen Gebrauch<br />

den er von seiner Macht machte, war, dass er diejenigen, die sie<br />

ihm verliehen, in die Sklaverei stiess. Durch Zufall gewannen<br />

sie ihre Freiheit wieder, und dieser gute Glücksfall erzeugte<br />

Männer von ungewöhnlichen Fähigkeiten und Tugenden unter<br />

ihnen. Allein man litt es bloss, dass diese Fähigkeiten nur von<br />

geringem Wert sowohl für die Eigentümer, wie für den Staat<br />

sein durften. Einige dieser Männer, um deren willen allein wir<br />

die Geschichte dieses Volkes lesen, wurden in die Verbannung<br />

getan, andere ins Gefängnis gebracht; und sie alle behandelt mit<br />

der beschämenden Undankbarkeit verschiedenartiger Umstände.<br />

Republiken haben viele Institutionen, die den<br />

Geist der absoluten Monarchie atmen, von nichts<br />

aber mehr als von jener der Undankbarkeit. Ein glänzendes Verdienst<br />

wird stets gehasst oder verdächtigt in einer Volksversammlung,<br />

wie zu Hofe; und alle dem Staate geleisteten Verdienste<br />

werden als gefährlich betrachtet, sei es von Sultanen oder Senatoren.<br />

Der Ostrakismus*) Athens war auf diesem Prinzip begründet.<br />

Leichtsinnige Leute, welche wir nun beobachten, die sich<br />

erhaben fühlten durch einige Lichtstrahlen des Erfolges, den sie<br />

nichts weniger als ihren Verdiensten verdankten, begannen die ihnen<br />

Gleichen, welche sich mit ihnen vereinigt hatten für die gleiche<br />

*) Ostrakomis (griech. Scherbengericht), eine politische Massregelung.<br />

durch welche Bürger, von denen man glaubte, dass sie die demokratische<br />

Gleichheit, die Ruhe des Staates gefährdeten, auf gewisse Zei:en verbannt<br />

wurden. Benannt nach den Scherben, auf die man den Namen des zu Verbannenden<br />

schrieb. Anm. d. Red.


27<br />

Verteidigung, zu tyrannisieren. Mit der Abschwörung ihrer Klugheit,<br />

warfen sie auch jeden Schein von Gerechtigkeit von sich.<br />

Sie stürzten sich unüberlegt und mutwillig in Kriege. Waren sie<br />

nicht erfolgreich, so warfen sie die ganze Schuld an dem Misslingen<br />

— anstatt klüger zu werden durch ihr Unglück —, das die<br />

Folge ihres eigenen falschen Gebahrens war, auf ihre Repräsentanten,<br />

die ihnen geraten, auf ihre Generäle, die die Kriege geführt<br />

hatten; bis sie nach und nach alle von sich abgestossen<br />

hatten, die fähig waren, ihnen in den beratenden Körperschaften<br />

oder in den Kriegen zu dienen: hatten diese Kriege aber einen<br />

glücklichen Ausgang, dann war es nicht minder schwierig mit<br />

den Menschen auszukommen, auf Grund ihres Stolzes und ihrer<br />

Anmassung. Wütend im Falle des Missgeschickes, tyrannisch in<br />

ihren Erfolgen, gelangte ein Befehlshaber in eine schwierige Lage<br />

angesichts seiner Verteidigung vor dem Volke als auch durch die<br />

Operationspläne des Feldzuges. Es war unter dem schrecklichen<br />

Despotismus römischer Imperatoren gar nichts aussergewöhnliches<br />

für einen General, schlecht empfangen zu werden, im umgekehrten<br />

Verhältnis zur Grösse seiner Dienste. Agrikolo ist ein solches<br />

Beispiel. Keiner leistete Grösseres, noch mit ehrlicherem Streben.<br />

Und doch : als er nach Rom zurückkehrte, musste er in die Stadt<br />

einziehen mit all der Geheimhaltung eines Verbrechers. Nicht<br />

wie ein tugendhafter Befehlshaber, der die grössten Belohnungen<br />

verdiente und sie zu erlangen berechtigt war, ging er zum Palast,<br />

sondern wie ein Missetäter, der gekommen, um Vergebung für<br />

seine Vergehen zu erflehen. Trotzdem bildeten in dieser<br />

schlechtesten Saison, der schlechtesten monarchischen Tyrannei<br />

Bescheidenheit, Diskretion und Kaltblütigkeit einige Sicherheit<br />

selbst für das höchste Verdienst, Anders in Athen, wo das gewandteste<br />

und vorbedachteste Gebahren keine genügende Sicherheit<br />

bot für einen Mann von grosser Fähigkeit, Einige seiner tapfersten<br />

Befehlshaber mussten das Land flüchtend verlassen — um zum<br />

Teil lieber in die Dienste des Feindes zu treten, als sich einer<br />

öffentlichen Bestimmung über ihr Betragen zu unterwerfen, auf<br />

dass nicht, wie einer von ihnen sagte, der Leichtsinn des Volkes<br />

sie dazu veranlassen möge, dorten zu verdammen, wo sie entlassen<br />

wollen . . .<br />

Die Athener machten grosse, rasche Fortschritte auf der<br />

Bahn de Verderbnis; in enormem Massstabe. Keiner Selbstbeschränkung<br />

unterworfen, wurde das Volk bald liederlich, luxuriös<br />

und müssiggängerisch. Sie schworen jedweder Arbeit ab und fingen<br />

an, von den öffentlichen Steuereinkünften zu leben. Jeder Gedanke<br />

an gemeinschaftliche Ehre oder Sicherheit ging verloren,<br />

und sie konnten keinen Rat ertragen, der sie reformieren wollte.<br />

Es war um jene Zeit, dass die Wahrheit diesen Herren — dem<br />

Volke — als beleidigend erschien, als sehr gefährlich für den<br />

Sprecher. Die Rhetoren bestiegen überhaupt nur zu dem Zwecke


28<br />

die Rednerbühne, um das Volk noch mehr zu korrumpieren mit<br />

widerlichen Schmeicheleien. Alle Rhetoren waren bestochen durch<br />

ausländische Herrscher zugunsten der einen oder der anderen<br />

Seite. Und ausser den eigenen Parteien gab es in dieser Stadt<br />

auch noch Parteien, die nach eigenem Geständnis die Perser,<br />

Spartaner und Makedonier befürworteten, eine jede von diesen Richtungen<br />

von einem oder mehreren Demagogen unterstützt, welche<br />

pensioniert und bestochen waren für ihren schmachvollen Dienst.<br />

Und dieses alle Tugenden und jeden Gemeinsinn vergessende Volk,<br />

welches berauscht wurde von den Schmeichelworten der Demagogen<br />

— diese Höflinge der Republiken, ausgestattet mit all den besonderen<br />

charakteristischen Eigenschaften aller anderen Höflinge zusammen<br />

— langte endlich an einem solchen Gipfelpunkt des<br />

Wahnsinns an, dass es kaltblütig und vorbedacht durch ein ausdrückliches<br />

Gesetz es als verbrecherisch für jeden Mann erklärte,<br />

eine andere Anwendung der immensen Summen, welche bei den<br />

öffentlichen Festen vergeudet wurden, vorzuschlagen, und sei es<br />

auch für die notwendigsten Staatsangelegenheiten.<br />

Wenn man sieht, wie das Volk dieser Republik seine besten<br />

und fähigsten Bürger verbannt und morden lässt; den Reichtum<br />

der öffentlichen Schatzkammer in sinnloser Verschwendung vergeudet<br />

; seine ganze Zeit, als Zuschauer oder Schauspieler, im<br />

Spiel, in Fiedelei, Tanz und Gesang dahinlebt — steht dann nicht<br />

vor Ihrem Geiste, Mylord, die Gestalt eines vervielfältigten Neros ?<br />

Berührt es nicht mit noch grösserem Entsetzen, Wenn man beobachtet,<br />

wie nicht nur ein Mann, sondern eine ganze Stadt, betrunken<br />

von Stolz und Machtfülle dahintaumelt, mit der Wut der<br />

Tollheit sich in dieselbe sinnlose Ausschweifung und Masslosigkeit<br />

stürzt, wie jener?<br />

Glich dieses Volk einem Narren an Masslosigkeit, so ähnelte<br />

es ihm noch mehr, übertraf ihn sogar an Grausamkeit und Ungerechtigkeit.<br />

Zur Zeit Perikles — eine der berühmtesten Perioden<br />

der Geschichte dieses Gemeinwesens — sandte ihm ein ägyptischer<br />

König ein Geschenk an Korn. Die Bewohner waren gierig genug,<br />

es zu akzeptieren. Und hätte der Aegypter den Ruin dieser<br />

Stadt von Verrückten geplant, er könnte es nicht wirkungsvoller<br />

ausgeführt haben, als durch eine solche verführerische Ergiebigkeit,<br />

Die Verteilung dieser Darbringung verursachte sofort einen<br />

wüsten Streit, Die Majorität brachte eine Untersuchung über die<br />

Berechtigungsansprüche der Bürger in Fluss; und auf Grund einer<br />

durchsichtigen Illegitimitätsprätension — die man neuerdings und<br />

gelegentlich etabliert hatte — beraubte sie nicht weniger als 5000<br />

ihrer eigenen Männer ihres Anteils an dem königlichen Geschenk.<br />

Und sie gingen weiter! Sie entrechteten sie. Und da sie nun<br />

einmal mit einer ungerechten Handlung begonnen hatten, konnten<br />

sie ihr keine Grenzen mehr auferlegen. Nicht zufrieden damit,<br />

sie von ihren Bürgerrechten abgeschnitten zu haben, plünderten


29<br />

sie diese unglücklichen Wesen und nahmen ihnen alle ihre Lebensmittel.<br />

Und wie um dieses Meisterstück der Vergewaltigung und<br />

Tyrannei zu krönen, nahmen sie tatsächlich jeden dieser 5000<br />

Männer und verkauften ihn als Slaven auf dem öffentlichen Markt.<br />

Bedenken Sie, Mylord, dass die 5000, von welchen wir hier<br />

sprachen, von einer Gesamtkörperschaft von nicht mehr als 19000<br />

abgerissen wurden; denn die ganze Anzahl von Bürger war nicht<br />

grösser zu jener Zeit. Konnte der Tyrann, welcher dem römischen<br />

Volke nur einen Kopf wünschte; konnte selbst der Tyrann Caligula<br />

nicht getan — auch nur gewünscht haben ein grösseres Missgeschick,<br />

eine grössere Missetat, welche mit einem Schlage ein<br />

Viertel seines Volkes vernichtete? Oder fanden wir in der Grausamkeit<br />

jener Serie blutdürstiger Tyrannen, unter den Zäsaren,<br />

jemals eine Probe flagranterer und weiter verbreiteter Schlechtigkeit?<br />

Die ganze Geschichte dieser Republik ist nur eine einzige<br />

Reihe von Uebereilung, Narretei, Undankbarkeit, Ungerechtigkeit,<br />

Tumult, Gewalt, Tyrannei und tatsächlich jeder Schändlichkeit,<br />

die man sich nur vorstellen kann. Es war die Stadt weiser<br />

Männer, in welcher ein Beamter seine Funktionen nicht ausüben<br />

konnte ; eines kriegerischen Volkes, vor dem ein General es nicht<br />

wagte, eine Schlacht zu gewinnen oder zu verlieren; einer gelehrten<br />

Nation, in welcher ein Philosoph es sich nicht gestatten konnte,<br />

eine freie Untersuchung zu beginnen. Dies war die Stadt, welche<br />

Themistokles verbannte, einen Aristide verhungern liess, einen<br />

Miltiades ins Exil zwang, einen Anaxagoras vertrieb, Sokrates<br />

vergiftete. Das war die Stadt, welche die Staatsform mit jedem<br />

Mondwechsel veränderte: ewige Konspirationen, tägliche Revolutionen,<br />

nichts feststehend, nichts begründet. Es ist wie ein<br />

Philosoph der Antike es sagte: eine Republik<br />

ist nicht eine einzige Staatsform, sondern das<br />

Magazin für alle Formen; in ihr, in der Republik,<br />

finden wir jede Staatsform vertreten und stets<br />

in schlechtester Auflage. Da es einen ewigen, unabänderlichen<br />

Wandel gibt, Tiefstand und Niederlage, erfreut man<br />

sich stets all jener Gewalt und schändlichen Staatsschlauheit,<br />

welche eine aufsteigende Macht zur Erlangung ihrer endlichen<br />

Stärke bedarf, wie auch all jener Schwäche, durch welche zugrunde<br />

gehende Staaten der vollständigsten Vernichtung anheimfallen.<br />

(Fortsetzung folgt.)


30<br />

Bericht über die Anbringung einer Gedenktafel an dem<br />

Geburtshause Max Stirners in Bayreuth.<br />

Veranlasst durch erneut ausgesprochene Wünsche von Verehrern Max<br />

Stirners erli ss ich im Frühherbst vorigen .Jahres den folgenden<br />

AUFRUF!<br />

"In diesem Jahre, an dessen 25. Oktober vor hundert Jahren Johann<br />

Caspar Schmidt, unsterblich als Max Stirn er und Schöpfer des Werkes:<br />

„Der Einzige und sein Eigentum", geboren wurde, tritt erneut der Wunsch<br />

Keiner Bewunderer an mich heran, wie sein Sterbehaus und sein Grab, so<br />

auch endlich sein Geburtshaus in Bayreuth mit einer Gedanktafel<br />

bezeichnet zu sehen.<br />

Als Letztes, was ich für das Andenken Stirners zu tun imstande bin.<br />

erfülle ich diesen Wunsch und fordere hierdurch Alle auf, die sich ihm anschliessen<br />

wollen, einen kleinen Beitrag an Herrn Verlagsbuchhändler Richard<br />

Schuster & Loeffler, Berlin W, Bülowstrasse 107, der sich als Verleger meiner<br />

Biographie Stirners zur Empfangnahme bereit erklärt hat, zu senden.<br />

Einen kleinen Betrag — denn es handelt sich nicht um die Aufbringung<br />

einer nennenswerten Summe. Die Kosten der vor 14 Jahren erfolgten<br />

Anbringung einer Gedenktafel an Stirners Sterbehaus, Berlin NW., Philippstr. 19,<br />

betrogen weniger als 200 Mark. Mit einer gleichen Summe wird sich dieser<br />

neue Wunsch ermöglichen lassen.<br />

Sie könnte leicht und allein durch die Mitwirkung der mir bekannten<br />

Freunde Stirners aufgebracht werden, doch möchte ich keinem seiner heute<br />

so zahlreichen Verehrer die Möglichkeit der Beteiligung an dieser letzten<br />

äusserlichen Ehrung; nehmen.<br />

Der hohen Insertionskosten wegen gebe ich diesmal keine öffentliche<br />

Abrechnung, doch wird jeder der Beteiligten, wie auch Jeder, der ihn von<br />

mir verlangt, nach Fertigstellung der Arbeit einen genauen Bericht von mir<br />

erhalten."<br />

Die eingehenden Beiträge erreichten im Laufe des Winters die erforderliche<br />

Höhe, und es wurde daher die Ausführung der Tafel der mir bekannten<br />

Firma Wölfel & Herold in Bayreuth übertragen.<br />

Die Anbringung der Tafel erfolgte am 6. Mai d. Jahres an dem Hause<br />

Nr. 31 der Maximilianstrasse (Marktplatz) in Bayreuth.<br />

Die Tafel, 0,95 — 0,70—0,05 gross, vom besten schwarz-schwedischen<br />

Granit, trägt die Inschrift:<br />

Dies<br />

ist das Geburtshaus<br />

MAX STIRNERS<br />

* 25. October 1806<br />

in grossen modern-schwabacher Lettern, und ist weithin erkennbar. Die<br />

Fassung der Worte erfolgte mit Hinblick auf die früher für das Grab und<br />

das Sterbehaus in Berlin gewählten Inschriften, so dass sich die drei Inschriften<br />

ergänzen.<br />

* * *


31<br />

Ich gebe nun in Folgendem die Abrechnung.<br />

An Beiträgen gingen der Reihe nach ein :<br />

Bei Herrn Richard Schuster von den Herren: Dr. Benedict Friedländer,<br />

Berlin Mark 5.- ; Direktor F. Werner, Berlin 30.— : Fritz Hesslein, Bamberg,<br />

25. — ; Benedict Lachmann, Berlin 20. — ; W. Jansen, Rittergut Friemen 5,—<br />

Professor Richter, Leipzig 3.—; S. Hoechstetter, Jena 3.— ; Hans Zeeck,<br />

Stralsund 1.—; Lic theol. Pfarrer Bittlinger, Dahme in der Mark <strong>2.</strong>— ; Dr.<br />

Richard Kastner, Wien <strong>2.</strong>-; Dr. phil. Edmund Stengel, Steglitz 1—.; Job.<br />

Otten, Hamburg <strong>2.</strong>— ; Oswald Bahr, Berlin 1.— ; Th. Siewers, Karlshorst 1.—;<br />

Otto Krüger und Eugen Schrader, Danzig 1.50; Radcke, Labüssow 1.50; Dr.<br />

Ernst Tuch, Hamburg 10.05; O. Lorenz, Berlin 1.05; Frau Clementine Wolff,<br />

Meran; 30.— ; W. E. Heinrich, Berlin, 5.— ; M. Doelling, Frankfurt a. M. 3.05<br />

G. Zernicke und R. Lehrs, Berlin <strong>2.</strong>— ; Friedrich Leyh für den historischen<br />

Verein für Oberfranken, Bayreuth 10.— ; Max Hildebrandt, Berlin 10,05;<br />

Prof. Dr. Ewald Horn, Gross-Lichterfelde 1<strong>2.</strong>—; und von Benj. Tucker, New-<br />

York als Erträgnis einer durch seine individualistisch-anarchistische Zeitschrift<br />

„Liberty" veranstaltete Sammlung 6<strong>2.</strong>71 (gleich 15 Dollar, eingegangen<br />

von: Georg Schumm, New-York 1 Dollar; C. L. Swarz, New-York 1 Dollar;<br />

Francis D. Tandy, New-York 3 Dollar; Victor Yarros, Chicago 1 Dollar; Henry<br />

Bool, Ithaca. N.Y. 2 Dollar; C. E. Wood, Portland, Oregon 1 Dollar; Sarah<br />

E. Holmes, New-York 1 Dollar; C. L. Crugan, Turtle Creek, PA. 50 Cts; H.<br />

J. Schirmer, Davenport, Jowa 1 Dollar; A. W. Sussen, El Paso, Texas 1 Dol.;<br />

Frank Monroe, Denver, Col. 50 Cts.; Benj. R, Tucker, New-York 2 Doller),<br />

— zusammen also 249 Mark 91 Pfg,<br />

Bei mir selbst von den Herren: Allweyer, Ober-Modan 3.—; Pierre<br />

Ramus, London 1.—: und Enno Sander, St. Louis, U. S. A. 10.— ; zusammen<br />

also 14 Mark.<br />

Es sind im Ganzen an Beiträgen somit eingegangen 263 Mark 91 Pfg.<br />

Die Ausgaben haben betragen:<br />

Kosten der Tafel laut Kostenanschlag und Rechnung 197 Mark; Mehrkosten<br />

der Anbringung infolge unvorhergesehenen schlechten Mauerwerks 21.20;<br />

Trinkgeld an die Arbeiter 8. — ; Druck und Versendung von 200 Aufrufen 2<strong>2.</strong> — ;<br />

Vervielfältigung und Versendung einer vorläufigen Mitteilung 5.50; Vervielfältigung<br />

und Versendung dieses Berichtes (noch nicht genau festzustellen,<br />

aber mindestens) 30. —; zusammen also 283 Mark 70 Pfg.<br />

Den Einnahmen von 263 Mark 91 Pfg. stehen somit Ausgaben in Höhe<br />

von 283 Mark 70 Pfg. entgegen.<br />

Das kleine Defizit von 19 Mark 79 Pfg. habe ich meinem eigenen, hier<br />

nicht genannten Beitrag: den Kosten meiner Reise nach Bayreuth zur Anbringung<br />

der Tafel, zugerechnet.<br />

Die sämtlichen, auf diese Abrechnung bezüglichen Papiere stehen jedem<br />

Interessenten bei mir zur Einsicht offen.<br />

* * *<br />

Mit Erledigung auch dieser Arbeit glaube ich getan zu haben, was mir<br />

für das Andenken Max Stirners noch zu tun übrig geblieben ist:<br />

Sein unsterbliches Werk lebt heute wieder und nimmt unaufhaltsam


32<br />

seinen Siegesflug über die Erde. Ein neues Geschlecht streckt die Hände,<br />

seinen Segen zu empfangen und ihn für sich zu verwerten.<br />

Das war es, was ich vor nunmehr zwanzig Jahren wollte, ahnte und<br />

erhoffte, als ich meine Arbeit für seine Wiedererweckung begann, und heute<br />

danke ich nochmals Allen, die mir bei ihr geholfen. Jedem, der sie mir erleichterte.<br />

Berlin-Charlottenburg, Berlinerstr. 166<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

Zum internationalen Kongress.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Das sozialistische Spanien.<br />

Von Pedro Vallina.<br />

Die einzige Grundlage.<br />

Von Edward Carpenter.<br />

Anarchismus u. Gewerkschaftsbewegung.<br />

Von Alfred Bader.<br />

Die Monarchomachen und Etienne de<br />

la Boëtie. Von Gustav Landauer.<br />

Eine Rechtfertigung der natürlichen Gesellschaft.<br />

Von Edmund Barke.<br />

Me*ine Liebe.<br />

Von Nadja.<br />

Meine Liebe.<br />

Von Rita.<br />

John Henry Mackay.<br />

Bericht über die Anbringung einer Gedenktafel<br />

an dem Geburtshause Ma\<br />

Stirners in Bayreuth.<br />

Von John Henry Mackay.<br />

Briefkasten.<br />

Erratum. Einen Druckfehler der Nr. 1.<br />

<strong>2.</strong> Jahrgang, wollen wir berichtigen.<br />

Seite 5, Zeile 5 muss es natürlich heissen :<br />

„kalt und verachtend"<br />

E. Ascona. Erkenntnis: Otto Stegmann,<br />

Mannheim, Pflügergrung 3<strong>2.</strong><br />

Weiteres wird sehr gerne berücksichtigt.<br />

J. Pl. Sie erhalten die ausgefallenen<br />

Nr. Gleichen Sie nach Gutdünken den<br />

1. Band aus, vom <strong>2.</strong> Band erhalten Sie<br />

die gewünschte Anzahl.<br />

Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>*' ist zu beziehen:<br />

Die Tragödie der<br />

Frauenemanzipation.<br />

von<br />

Emma Goldmann.<br />

Preis pro Heft 5 Pfg.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Gustav Lübeck. Berlin.


<strong>2.</strong> Band. Heft 3<br />

September <strong>1907</strong>.<br />

Verlag M. Lehmann,<br />

Berlin, Dresdenerstr. 88-89.


Inhaltsverzeichnis.<br />

Die soziale Lage und Bewegung in Serbien.<br />

Anarchismus und Kommunismus.<br />

Die Grenzen des Syndikalismus.<br />

Von Peter Munjitsch.<br />

Von Carlo Cafiero.<br />

Von Jean Grave.<br />

Die Monarehomachen und Etienne de la Boëtie.<br />

Von Gustav Landauer.<br />

Von Stuttgart nach Amsterdam.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge über sämtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar- künstlerische Erkenntnisse<br />

des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmässiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Postsendung,<br />

in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Hell.,<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die<br />

Redaktion der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre<br />

Ramus, 146 Great Titchfield Street, London W. (England).<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche<br />

Mitteilungen sind zu richten an den Verlag: M. Lehmann,<br />

Dresdenerstr. 88|89, Berlin 5.<br />

In London ist die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch<br />

B. Mandl, London W., 121 Charlotte Str. Fitzroy Sq.<br />

zu beziehen.<br />

Die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint regelmassig am 15. jeden Monats.<br />

Bei nicht pünktlicher Zustellung wende man sich an den Verlag.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band 2 September <strong>1907</strong> Heft 3<br />

Die soziale tage und Bewegung in Serbien.<br />

Seit einigen Jahren spielen sich im Balkan Ereignisse ab,<br />

welche von dem klarsehenden Deuter historischer Stürme als Vorspiel<br />

des grossen Dramas, genannt, die soziale Revolution, erklärt<br />

werden müssen. In den Tiefen des dortigen Lebens grollt ein<br />

unterirdisches Donnerrollen, das dumpf in das Getriebe des Tages<br />

hinein ertönt. Die Atmosphäre ist drückend schwül, und am Horizont<br />

flammt ununterbrochen ein Wetterleuchten. Ein jeder erwartet<br />

entweder mit Bangigkeit oder heimlicher Freude ein gewisses<br />

Etwas: ein Grosses, Schreckliches und gleichzeitig Angenehmes<br />

— alles wartet, wie vor einem Gewittersturm . . .<br />

Auch dorten nimmt die Revolution ihren Lauf. Der wissenschaftliche<br />

Pöbel der Sozialdemokratie, ihre Pfaffen, werden diese<br />

Worte freilich mit einem ironischen Lächeln begleiten. „Ach,<br />

was . . . eine Revolution ? Sie besteht nur in der Phantasie einiger<br />

Heisssporne! Heute Revolution ? ..." Allerdings entspricht das<br />

Herannahen dieser Revolution nicht ihren „wissenschaftlichen" Anschauungen,<br />

nach welchen man die bürgerliche Gesellschaft sich<br />

hübsch in Ruhe entwickeln lassen soll . . .<br />

Wir aber, die Kommunisten und Anarchisten, können wie<br />

Galilä ausrufen : „Und sie, die Revolution, bewegt sich doch; anfangs<br />

langsam, aber allmählich schneller und schneller werdend !"<br />

*<br />

Auf der baltischen Halbinsel — 450 Quadratkilometer gross<br />

— leben ungefähr 20 Millionen Einwohner. Es sind meistens<br />

Südslaven : über 12 Millionen Serben und Bulgaren, 4 Millionen<br />

Türken, 3 Millionen Griechen und mehrere kleinere, unbedeutende<br />

Volksstämme wie Hebräer, Albanesen, sog. Kuzowlassi, Armenier,<br />

insgesamt rund eine Million bildend. Während von dieser ganzen<br />

Bevölkerung etwa 85 Prozent aus Landbaubetreibenden bestehen,<br />

sind nur 15 Prozent städtisch im Sinne ihrer Betätigung. Der<br />

Balkan hat günstige, klimatische Bedingungen und ein sehr fruchtbares<br />

Erdreich, dem sich noch übrige Ueppigkeit der Vegetation hinzugesellt.<br />

So ist die Agrikultur und Viehzucht sehr ergiebig. Der handwerkliche<br />

Betrieb vegetiert, von Industrie sind nur spärliche Ansätze zu<br />

merken; dafür ist der Handel ziemlich entwickelt und in vollem<br />

Schwünge.


66<br />

Man sollte glauben, dass alle diese Völker dank der Freigebigkeit<br />

der Natur in einem gewissen Wohlstände leben. Dass<br />

sich die Folgeerscheinungen einer starken Industrie hier noch nicht<br />

bemerkbar machten. Gibt es im Balkan keinen Kapitalismus, der<br />

das Kleineigentum ruiniert und proletarisiert ? Gibt es keine<br />

Misere, keine Völkernot, die an das übrige Europa gemahnt?<br />

Wer dies behaupten wollte, der lügt. Die ökonomischen Zustände<br />

der Völker des Balkans sind schwärzer und schlechter als<br />

jene anderer Völkerschaften. Doch bevor wir tiefer auf jene eingehen,<br />

müssen wir wenigstens einen oberflächlichen Blick auf die<br />

vergangene soziale Entwicklung des 19. Jahrhunderts im Balkan<br />

werfen, damit uns die modernen Zustände begreiflich sein sollen.<br />

Bis vor Anfang des 19. Jahrhunderts herrschte das Ottomanentum<br />

unumschränkt. Unter der Regierung dieses grausamen<br />

Despotismus ist der Balkan zurückgehalten worden in seiner sozialen<br />

Entwicklung. Die Geschichte jener Zeiten schrieb den balkanischen<br />

Völkern chronische Hungersnöte, Krieg, Epidemien in das<br />

Buch ihres Lebens ein. All dies war begleitet von Beutezügen,<br />

Raub, Plünderung nicht allein der Arbeitsprodukte und der schweren<br />

Arbeitsmühe der slavischen „Raja" — so nennen die Türken die<br />

unterworfenen christlichen Völker —, sondern auch von schmachvoller<br />

Vergewaltigung der Frauen, Mädchen und dem gewaltsamen<br />

Verkauf von Knaben, aus denen Janitscharen — die schrecklichsten<br />

Feinde ihrer eigenen Völkerstämme — gemacht wurden. Solche<br />

Untaten wurden von allen, von oben bis unten, verübt, angefangen<br />

vom Repräsentanten des türkischen Herrentypus — dem Gutsbebesitzer<br />

— bis herab zum Panduren. Nur durch solchen Terrorismus<br />

bezwungen, ertrugen die bedrückten Völker das Joch der Tyrannei.<br />

Alles findet sein Ende, auch dies!<br />

Was Bakunin einstmals inbezug auf Russland sagte, dass<br />

man den russischen Räuber verstehen müsse, um das russische<br />

Volk und seine revolutionären Instinkte begreifen zu können, trifft<br />

zum grossen Teil auch auf Serbien zu. Jene Volkssöhne, welche<br />

nicht ruhig die barbarischen Drangsalierungen der Türken ertragen<br />

konnten, griffen zu den Waffen und schlugen sich in die Berge.<br />

Dorten, in unwegsamen Gegenden und Talkesseln, wurden revolutionäre<br />

Gruppen gebildet, die sich die Aufgabe stellten, durch die<br />

Tat die Befreiung zu propagandieren. Nicht lange und die Gebirge<br />

und Wälder waren belebt von revolutionären Elementen.<br />

Durch terroristische Taten gegen die Herrschaft selbst und gegen<br />

die türkischen „Spachia" (Grundbesitzer) rächten sie die Infamien<br />

der Tyrannen und schützten das Volk vor weiteren Bedrückungen.<br />

Die Türken nannten diese Revolutionäre „Chaiduzi", was so viel wie<br />

Räuber bedeutet, aber das Volk liebte und segnete sie; die Volksphantasie<br />

umgab sie mit der Gloriole des Heldentums und feierte<br />

sie in populären Volksweisen- und Liedern.<br />

Der wirklich heroische Kampf der Chaiduzis wider die türkische


67<br />

Herrschaft rüttelte die Völker aus ihrer Furcht und Apathie<br />

auf. Im Jahre 1804 brach ein Aufstand aus im heutigen Serbien.<br />

Er dauerte ein ganzes Dezennium. Es war die erste Volksrevolution<br />

und durch verschiedene Umstände verlief sie nicht sehr günstig<br />

für das Volk. Immerhin hatte sie ein Gutes an sich: sie entfachte<br />

in den Völkern die Hoffnung auf Befreiung und lehrte, dass<br />

man imstande, mit der mächtigen Innengewalt den Kampf aufzunehmen.<br />

Die ungeduldigen Völker warteten nicht lange, und 1815<br />

folgte die zweite Revolution, die ebenfalls zehn Jahre währte.<br />

Dieser zweite Aufstand war erfolgreich. Das| heutige Serbien<br />

schüttelte als erstes das türkische Joch ab. Serbien bildete ein<br />

Vorbild für die anderen balkanischen Provinzen. Wir sehen aus<br />

der Geschichte, dass eine ganze Serie von Aufständen während<br />

des letzten Viertels des verflossenen Jahrhunderts den Balkan<br />

durchläuft, wenn auch nur mit wechselnden Erfolgen.<br />

Immerhin entstanden die heutigen Balkanstaaten neben der<br />

morschen Türkei, die bislang das Szepter der Alleinherrschaft<br />

geschwungen hatte.<br />

*<br />

Als älteste Form des Besitzes finden wir in Serbien patriarchalischen<br />

Familienkommunismus. Er bestand vornehmlich aus dem<br />

Gemeineigentum von Grund und Boden. Man darf den Begriff<br />

einer solchen Familie nicht mit unserer modernen Familie identifizieren.<br />

Die serbische Familie bestand sehr oft aus 80 Köpfen,<br />

die schon an und für sich das Dorf konstituierten. Die Arbeit<br />

und der Konsum waren kollektivistisch geregelt. Dieses ökonomische<br />

Leben war einstmals die Lichtseite serbischer Verhältnisse,<br />

bis es in den 50er Jahren langsam aber vollständig zugrunde zu<br />

gelien begann. Die Ursache dieses Unterganges war die zentralisierte<br />

Staatsmacht — hervorgegangen aus einer Bande von Viehzüchtern<br />

—, der üppig emporschiessende Militarismus, welche<br />

dem Volke schwere Steuerlasten auferlegten. Mit dem Privateigentum<br />

begann die Unzufriedenheit mit der sozialen Lage im<br />

Volke.<br />

Es war der Staat und der Wucher, welche den Familienkommunismus<br />

aufbrachen, und dann ihre wüste Arbeit fortsetzten.<br />

Es entstand ein reines Proletariat von Besitzlosen, das heute<br />

etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung umfasst. Weitere 25<br />

Prozent sind Eigentümer — doch leiden sie an ihrem Eigentum<br />

in der entsetzlichsten Weise. Ihre eigenen Produkte müssen sie<br />

verkaufen und sind gezwungen, fast ausschliesslich von Mais zu<br />

leben. Dann kommen abermals Staat und Kirche und versetzen<br />

diesen Armen den letzten Rest, 25 Prozent der Gesamtbevölkerung<br />

stellen den grossen und mittleren Reichtum dar.<br />

Diese Verhältnisse erzeugen eine kolossale Arbeitslosigkeit,<br />

Alles strömt nach den Städten. Die Männer gehen in die Stadt,


68<br />

um dorten zu verdienen, während die schwere Feldarbeit den<br />

Frauen überlassen bleibt. Das sogenannte „Sich-empor-arbeiten"<br />

bedeutet nur mehr ein Meister im Elend zu sein. Einige Tausend<br />

Fabrikarbeiter füllen Belgrad. Dort, wie in Sophia, Philipopel,<br />

Konstantinopel usw. grassiert die Prostitution in geradezu unglaublicher<br />

Weise ; ein Zeichen für das Elend des Weibes. Bordelle<br />

und Mädchenhändler florieren. Und auch hier ist die schrecklichste<br />

Ausbeutung massgebend: die Mädchen werden vollständig wie<br />

Sklavinnen gehalten. Sie „arbeiten" für ihr Essen und Schlafen<br />

und verdienen in den günstigsten Fällen noch 30 Dinare (1 Dinar<br />

ist etwa 80—90 Pfennig) im Monat.<br />

Die Arbeitslöhne variieren in der Provinz zwischen 1 Dinar<br />

20 Para und 1 Dinare 70 Para im Tagelohn. In Belgrad erreicht<br />

der Arbeitslohn die Höhe von 2 Dinare 50 Pare. Aber dafür<br />

hinktauch sogleich der Pferdefuss nach: die Lebensmittel und<br />

Wohnungen sind in Belgrad teurer als in Berlin, Wien und<br />

anderen Grossstädten. Und dabei steigen die Preise unaufhörlich<br />

. . .<br />

*<br />

Es ist klar, dass diese soziale Lage des Volkes ein ergiebiges<br />

Feld abgibt für die Propaganda sozialistischer Ideen.<br />

In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es<br />

einen Proudhonisten. Es war dies der Schriftsteller Zschiwojin<br />

Zschujewitsch. Er gab einige kleine Schriften heraus, die<br />

aber total verschollen und vergessen sind.<br />

Das erste Programm der serbisch-sozialistischen Partei war<br />

durchaus anarchistisch-kollektivistisch. Es wurde von Swetosar<br />

Markowitch, einem Schüler Tschernischewskys verfasst. Es<br />

erschien in den 70er Jahren. Seltsam genug ist von einem direkten<br />

Einfluss der Internationale auf Serbien nichts gespürt geworden.<br />

Die Bewegung blieb bis in die Hälfte der 90er Jahre sehr<br />

revolutionär-sozialistisch, besonders zum Anarchismus zuneigend.<br />

Damals sandte man Andra Bankawitch, einen auch in<br />

Russland im Kerker gewesenen Genossen, nach dem Londoner<br />

Kongress. Auf der Reise zum Kongress fand die „völkerbefreiende"<br />

Sozialdemokratie heraus, dass er anarchistische Allüren hegte, und<br />

aus diesem Grunde verweigerte sie ihm jede Unterstützung.<br />

Dies der Grund seiner damaligen Verspätung im Eintreffen.<br />

Nicht unerwähnt darf der grossherzige Wasa Pelagitsch<br />

bleiben. Ehemaliger Geistlicher, ein Bischof, hegte er sehr fortschrittlich<br />

revolutionäre und sozialistische Gedanken und war — von<br />

den 80er Jahren bis 1898 — einer der besten Bauernagitatoren, berühmt<br />

in ganz Bosnien. Pelagitsch war auch einer der fruchtbarsten<br />

Schriftsteller, über 100 Broschüren, die in Zehntausenden von<br />

Exemplaren verbreitet wurden, sind unter seinem Namen erschienen.<br />

Sein Mitarbeiter, rührig und tätig, war Andra Bankowitch.


69<br />

Pelagitsch fand ein trauriges Ende. Oft ins Gefängnis geworfen —<br />

eine Art Blanqui —, in türkischen, bosnischen und serbischen<br />

Gefängnissen in unmenschlicher Weise behandelt und gequält,<br />

wollte man diese edle Gestalt einmal endgültig los werden. Wasa<br />

Pelagitsch wurde in einem Gefängnis in Belgrad — vergiftet.<br />

Die Arbeiterbewegung wurde erst dann sozialdemokratisch<br />

durchsetzt und beeinflusst, als einige besonders auffallende Persönlichkeiten<br />

diese Ideen vom Auslande aus importierten. Was aus<br />

diesen Leuten später geworden, werden wir bald erfahren.<br />

Immerhin führten alle diese verschiedenen theoretischen Ansätze<br />

zur Entwicklung einer echten Arbeiterbewegung, die in den<br />

letzten Jahren gewisse Höhepunkte zu verzeichnen hat. Im kleinen<br />

Serbien mit etwa 50—60 Tausend Fabrikarbeitern setzten diese<br />

es nach der Ermordung von Alexander durch, dass ihnen das<br />

Koalitionsrecht gegeben wurde. Das neue Regime gab es, damit<br />

das Volk sich ruhig verhalten solle, da die gerade 1903<br />

durch das ganze Land rauschende Agitation Sozialrevolutionäre<br />

Ausbrüche befürchten liess. Damals wurden über 6000 Arbeiter<br />

organisiert, welche Organisation jedoch bald niederging auf 3000.<br />

Gegenwärtig gibt es in Belgrad 25 Gewerkschaften. Am kräftigsten<br />

organisiert sind die Schneider, Metallarbeiter und Holzarbeiter,<br />

die Buchdrucker.<br />

Hochinteressant wird es für den Nicht Serben sein, diejenigen<br />

Persönlichkeiten kennen zu lernen, welchen das Verdienst<br />

der Vorkämpferschaft für den marxistischen Sozialismus in Serbien<br />

zugestanden werden muss. Daraus wird man auch ersehen, dass<br />

die deutschen Kämpfe zwischen Marxisten und Revisionisten hier<br />

bei uns schon längst entschieden wurden, nämlich durch die Praxis,<br />

welche lehrte, dass Marxisten und Revisionisten ganz dasselbe<br />

sind im Wirklichkeitssinn, mögen sie sich theoretisch auch noch<br />

so ingrimmig bekämpfen.<br />

Es dürfte vielleich nicht ganz unbekannt sein, dass der<br />

gegenwärtige serbische König Peter, welcher die bekannte Abschlachtung<br />

der Draga und des Alexanders manipulierte, ehemals<br />

in Berlin weilte. Dort war er strikter Sozialdemokrat, ein Mitglied<br />

des bekannten Mohrenklubs während des Ausnahmegesetzes,<br />

ein guter Bekannter von Kautsky, Vollmar usw. In sozialdemokratischen<br />

Kreisen der Eingeweihten führte er damals den Spitznamen<br />

„Der rote Prinz". Als er den Tron durch seine bekannte<br />

„Propaganda und Ausführung der Tat" bestieg, vergass er seine<br />

früheren Genossen nicht. Da ist Zschiwojn Balugdschitsch,<br />

ein früherer Mitarbeiter der „Neuen Zeit -<br />

, heutiger — seit 1903<br />

— diplomatischer Repräsentant des serbischen Königshauses in<br />

Konstantinopel. Da ist Jowann Zschujewitsch, ein ehemaliger<br />

jungradikaler Ministerpräsident, der einmal in seiner<br />

Jugend ein Kommunard der Pariser Kommune gewesen und als<br />

solcher, auf einer Eisenbahnfahrt nach der Schweiz, Michael


70<br />

Bakunin vorübergehend kennen lernte. Nikola Paschitz,<br />

einstmals radikaler Sozialdemokrat, soll nicht vergessen werden ;<br />

auch Stojan Protitsch nicht, Redakteur der gewesenen<br />

sozialdemokratischen Organe „Autonomie" und "Echo", der bis<br />

heute das ungedruckte Manuskript seiner serbischen Uebersetzung<br />

des Marx'schen Kapitals besitzt. Noch vor wenigen Monaten war<br />

Protitsch Minister des Innern, hegt auch gegenwärtig noch immer<br />

marxistische Ueberzeugungen und in der Skuptschina (serbisches<br />

Parlament) sprach er ganz wie ein Marxist, wenn er in der<br />

Praxis auch einer der ärgsten Verfolger des Sozialismus, besonders<br />

des Anarchismus ist. Auch wäre Rascha Miloschewitz<br />

zu nennen; er übersetzte das bekannte Werkchen von Kautsky „Karl<br />

Marx ökonomische Lehren" und gab ihm in der Uebersetzung den für<br />

einen Sozialisten sehr zweideutigen, aber dafür auf das Werk desto<br />

zutreffenderen Titel: „Der Spiegel der kapitalistischen<br />

Produktion". Noch vor kurzer Zeit war Miloschewitz unser<br />

Finanzminister... Es ist eine bei uns vollständig gewürdigte<br />

Tatsache, dass sich gegenwärtig viele frühere Sozialdemokraten an<br />

der Spitze des heutigen Staatssystems Peters befinden . . .<br />

*<br />

Hand in Hand mit den wirtschaftlichen Kämpfen organisierten<br />

sowohl Sozialisten als Sozialdemokraten die Gewerkschaften, welche<br />

von den letzteren als Melkkühe betrachtet werden. Immerhin ist<br />

ihr Einfluss noch gross, doch in beständigem Sinken und Abnehmen<br />

begriffen. Wohl sind sie imstande, Tausende von Arbeitern auf<br />

die Beine zu bringen, wenn es gilt, eine Versammlung einzuberufen<br />

; aber nicht — zur Wahlurne! Dort bringen sie nur ein<br />

geringes Stimmenverhältnis auf, obwohl es in Serbien, entgegen<br />

der üblichen Meinung im Ausland, von einem jeden Arbeiter<br />

möglich gemacht werden kann, zu stimmen. Wie die Sozialdemokraten<br />

selbst sagen : schon die Hälfte aller Arbeiter, wollte sie<br />

überhaupt nur stimmen, würde für sie genügen, um zu siegen.<br />

Die serbische Sozialdemokratie ist ausserordentlich arm an<br />

Literatur, Versammlungen finden selten statt. Sie verfügt über<br />

zwei Organe: „Die Arbeiterzeitung" in Belgrad und „Der Arbeiter"<br />

in Kragojewetz. Letzteres erscheint sehr unregelmässig. Zu einer<br />

Begeisterung der Arbeiter sind sie absolut unfähig. In dieser<br />

Weise kopieren sie die deutsche Sozialdemokratie, so sehr,<br />

dass die serbischen Sozialdemokraten das Programm der deutschen<br />

übersetzten und als das ihrige anerkennen! Dabei genügt ein<br />

Blick auf unsere obigen Ausführungen, um zu lehren, dass die<br />

Agrarfrage es ist, die in Belgrad am dringendsten und ersten<br />

einer sozialistischen Lösung harrt ! Darum bekümmern sich meine<br />

sozialdemokratischen Landsleute nicht. Ihnen sind das allgemeine,<br />

direkte und geheime Wahlrecht und diejenigen sozialdemokratischen<br />

Forderungen, welche in Bulgarien schon längst eingeführt wurden,


71<br />

die Hauptsachen! In der Person ihres serbischen Bebels glückte<br />

es ihnen denn auch, Dragisch Laptschewitz in die<br />

Skuptschina hineinzubringen Es war ihr moralischer Ruin. So<br />

richtete er einmal eine direkt gegen die Bauern und angeblich<br />

zu Gunsten der Fabrikarbeiter eingebrachte Interpellation an<br />

den Minister des Innern des Inhaltes, dass die Bauern die von<br />

ihnen verfertigte Opanke (serbische Sandalen) nicht aus ungegerbtem<br />

Leder machen dürfen sollten. Eine solche Polizeiverordnung<br />

sollte erlassen werden ! Im Gemeinderate sprachen einige<br />

sozialdemokratische Räte stundenlang darüber, ob man die nötigen<br />

Reparaturen an dem Wagen des Bürgermeister machen dürfe oder<br />

nicht. Kaum vorstellbar ist die Demagogie der serbischen Sozialdemokratie<br />

während der Wahlen. So lauteten ihre Wahlzettel wie<br />

folgt: „Wer gegen Oesterreich ist, der stimme für den sozialdemokratischen<br />

Kandidaten!" In der Provinz stimmen die sozialdemokratischen<br />

Wähler für bourgeoise Kandidaten, wenn diese<br />

ihnen nur die geringsten Zugeständnisse — versprechen.<br />

Einen grossen Aufschwung in anarchistischem Sinne nahm<br />

die serbische Arbeiterbewegung durch ihre wirtschaftliche Aktion<br />

in Belgrad im Frühjahr <strong>1907</strong>, als in der dortigen, grossen Zuckerfabrik<br />

über 700 Arbeiter in den Ausstand traten. Derselbe dauerte<br />

14 Tage. Die hungernden Arbeiter blockierten die Fabrik und<br />

warnten vor Zuzug, die Streikbrecher wurden zurückgedrängt.<br />

Doch als das Unternehmertum, beschützt vom Staate, ganze<br />

Waggonladungen von Streikbrechern brachte, wurde die Situation<br />

kritisch. Glücklicherweise verloren die Arbeiter die Geistesgegenwart<br />

nicht. Als die Waggons einfuhren, rissen die Streiker die<br />

Türen auf, und es entspann sich ein revolutionärer Kampf zwischen<br />

den streikenden Proletariern, die trotz des Hungers heroisch auf<br />

ihre rein menschenwürdigen Forderungen bestanden und den<br />

Streikbrechern, welche in der Anzahl von 200 von einem würdigen<br />

Popen geliefert worden waren. . . . Fünf Streiker wurden getötet,<br />

aber auch eine ganze Anzahl von Gendarmen durch Beilhiebe.<br />

In diesem Momente höchster revolutionärer Erbitterung traten die<br />

Sozialdemokraten offiziell an die Arbeiter heran und verwiesen<br />

diese auf den legalen, gesetzlichen Kampf!<br />

Am nächsten Tage zogen die Streikenden demonstrativ durch die<br />

Strassen Belgrads. Auf Bahren trug man die Körper der fünf gefallenen<br />

Kameraden. Sie zogen vor das Parlament und vieltausendstimmig<br />

zerriss der Ruf „Nieder mit dem Parlament!" die Lüfte.<br />

Da stürzte der Sozialdemokrat Laptschewitz heraus und bat sie,<br />

nicht Unruhen zu stiften, er würde interpellieren . . . Doch unsere<br />

Kameraden hatten gerade damals zwei Extranummern ihres Organs<br />

herausgegeben, die zum Kampfe aufforderten und gratis verteilt<br />

wurden. Der Sozialdemokrat wurde ignoriert. Wegen jenes auf<br />

diese Angelegenheit sich beziehenden Artikels „An das serbische<br />

Proletariat!" erhielt der verantwortliche Redakteur


72<br />

unseres Blattes, der Genosse Zigwaritz eine Strafe von sieben<br />

Monaten Gefängnis und 90 Kronen Geldstrafe zuerteilt.<br />

Die ersten Entwicklungstendenzen des serbischen Anarchismus,<br />

die wir gestreift haben, wurden im Laufe der Zeit fast vollständig<br />

unterdrückt und zurückgedrängt von jenen oben genannten<br />

Berühmtheiten der Sozialdemokratie. So war bis vor kurzem der<br />

Anarchismus in Serbien tatsächlich nur Theorie, eine anarchistische<br />

Bewegung existierte nicht Erst seit dem Jahre 1905 haben wir<br />

wieder eine solche, und welch fruchtbares Erdreich sie besitzt,<br />

beweisen die Erfolge, die sie zu verzeichnen hatte.<br />

Es war um jene Zeit, als einige Genossen vom Auslande,<br />

von Wien nach Serbien zurückkehrten. In Wien hatten sie die<br />

Broschüre von Dr. Borgius über „Die Ideenwelt des Anarchismus"<br />

und das Buch von Dr. Eltzbacher über den „Anarchismus"<br />

studiert und waren durch diese Werke zum Anarchismus<br />

bekehrt worden. Zurückgekehrt nach Serbien schafften sie sich<br />

die gesamte Presse und theoretische Literatur in Deutschland an,<br />

wozu auch noch die russische kam; nach Bulgarien wurden französische<br />

und russische Broschüren gebracht.<br />

Schon im August und September 1905 erschienen die eisten<br />

Nummern ihres Blattes „Brot und Freiheit". Das Blatt enthielt<br />

hauptsächlich theoretisch-prinzipielle Artikel. Eine Uebersetzung<br />

der Merlinobroschüre „Was wollen die Anarchisten erschien.<br />

Daneben beschäftigten sich unsere Genossen sehr energisch mit den<br />

wirtschaftlichen Kämpfen des serbischen Proletariats, so sehr, dass<br />

sie fast in jeder Streikaktion die führenden Elemente bildeten.<br />

Finanzielle Schwierigkeiten, die angesichts der ausserordentlichen<br />

Notlage unseres Proletariats unüberwindlich sind, verursachten die<br />

Einstellung von „B. u. F.", doch am 15. Januar <strong>1907</strong> erschien der<br />

„Arbeiterkampf" wöchentlich, den aber jener vorgenannte marxistische<br />

Minister Protisch fast nach jeder dritten oder vierten Nummer<br />

konfiszierte. Mit 20 Dinar fingen die Genossen zu arbeiten an,<br />

dennoch erlebte das Blatt, das mit seiner ersten Nummer eine<br />

Auflage von 500 Exemplaren zustande brachte, mit seiner 17. und<br />

letzten Nummer eine Auflage von 2000. Das Blatt bestand vornehmlich<br />

aus Uebersetzungen aus der deutsch-anarchistischen Presse.<br />

Sein Untergang ist verschuldet worden durch die Verleumdungen<br />

der Sozialdemokratie und durch Mangel an technischer Erfahrung<br />

seitens unserer eigenen Genossen. Die fühlbarste Lücke ist,<br />

dass wir es noch nicht zu einer serbischen Broschüren- und<br />

Bücherliteratur des Anarchismus gebracht haben.<br />

Doch auch dies wird sehr bald überwunden sein. Schon<br />

bereiten mehrere Kameraden, die sämtlich fähig und ausdauernd<br />

sind und sich geraume Zeit im Auslande aufgehalten haben, behufs<br />

Sammlung von Erfahrungen, ihre Rückkehr nach Serbien vor.<br />

Kein Zweifel, dann hebt die dauernde Periode unserer


73<br />

serbischen Bewegung an. Schon in weniger als Jahresfrist werden<br />

wir wieder ein Kampfblatt, eine kämpfende Bewegung und viele<br />

begeisterte Vorkämpfer unserer Idee in Serbien haben !<br />

Anarchismus und Kommunismus.<br />

Peter Munjitsch.<br />

Eine Rede, gehalten auf dem Kongress der Juraföderation zu Chauxde-Fonds,<br />

am 9.—10. Oktober 1880.<br />

Auf dem von der „Region du Centre" in Paris abgehaltenen<br />

Kongress sagte ein Redner, der sich durch masslose Angriffe gegen<br />

die Anarchisten auszeichnete:<br />

„Kommunismus und Anarchismus schliessen<br />

sich gegenseitig aus."<br />

Ein anderer Redner, der auch die Anarchisten bekämpfte,<br />

aber mit weniger Erbitterung, bemerkte in Hinsicht der ökonomischen<br />

Freiheit:<br />

„Nie kann die Freiheit vergewaltigt werden,<br />

wenn Gleichheit besteht."<br />

Nun, ich glaube, dass beide Redner im Unrecht waren.<br />

Man kann ökonomische Unabhängigkeit besitzen, ohne der geringsten<br />

Freiheit teilhaftig zu sein. Gewisse religiöse Gesellschaften sind der<br />

schlagendste Beweis dafür. In ihnen herrscht die vollständigste<br />

Gleichheit, aber zu gleicher Zeit auch der Despotismus. Weder<br />

Kleidung noch Speise, noch Trank des Oberhauptes der Gemeinschaft<br />

zeichnet sich von dergleichen des Geringsten seiner Brüder<br />

aus. Nur ein Unterschied besteht: er unterscheidet sich von den<br />

übrigen — durch das Recht zu befehlen!<br />

Und die Anhänger des Volksstaates ? Ich bin überzeugt,<br />

wenn nicht Hindernisse vielerlei Art ihnen im Wege stünden,<br />

würden sie vollständige Gleichheit schaffen, aber auch den perfekten<br />

Despotismus; ihr Staat würde so despotisch sein, wie der<br />

heutige, verschlimmert durch den ökonomischen Despotismus aller<br />

Kapitalien, die in die Hände des Staates, d. h. dessen Vertreter<br />

übergehen würden und das Ganze vervielfältigt durch die dem<br />

neuen Staate notwendig gewordene Zentralisation. Deswegen bekämpfen<br />

wir Anarchisten als Freunde der Freiheit den Staat in<br />

jeglicher Form; deshalb und im Widerspruch mit dem, was behauptet<br />

wird, hat man vollkommen recht, für die Freiheit besorgt<br />

zu sein, selbst wenn die Freiheit bestehen würde — und ist im<br />

Gegenteil nichts für die Gleichheit zu befürchten dort, wo die<br />

wahre Freiheit, die Anarchie herrscht.


74<br />

Anarchie und Kommunismus, weit entfernt<br />

sich gegenseitig auszuschliessen, müssen sich<br />

notwendigerweise ergänzen.<br />

Unser Ideal ist sehr einfach; es besteht, wie dasjenige unserer<br />

Vorfahren, aus den beiden Worten : Freiheit und Gleichheit. Aber<br />

ein kleiner Unterschied ist dabei. Dadurch, dass die Reaktionäre<br />

aller Zeiten uns durch ihre Taschenspielerkünste um Freiheit und<br />

Gleichheit betrogen, uns nur zu oft Falschmünzen an Stelle der<br />

Edelmetalle geboten haben, sind wir klüger geworden und haben<br />

den Wert der beiden Worte ergründet. Wir setzen deshalb neben<br />

den Worten Freiheit und Gleichheit zwei gleichwertige, deren klare<br />

Bezeichnung kein Missverständnis duldet und sagen : Wir wollen<br />

die Freiheit, d. h. die Anarchie und die Gleichheit d. h. den<br />

Kommunismus.<br />

Die Anarchie von heute ist der Angriff, der Krieg gegen<br />

jede Autorität, jede Gewalt, jeden Staat. In der zukünftigen Geeilschaft<br />

wird sie die Verteidigung sein, die Verhinderung der<br />

Wiederherstellung aller Autorität, aller Gewalt, jedes Staates.<br />

Volle Freiheit dem Individuum, das, durch seine Bedürfnisse, seine<br />

Wahl und Sympathie geleitet, sich anderen Individuen in der<br />

Gruppe anschliesst: freie Entwicklung der Gruppe, die sich mit<br />

anderen Gruppen in der Kommune föderiert; freie Entwicklung<br />

der Kommune, die sich mit dem Distrikt verbindet.<br />

Der Kommunismus ist der zweite Punkt unseres revolutionären<br />

Ideals.<br />

Der heutige Kommunismus ist noch die Offensive. Er bedeutet<br />

nicht die Zerstörung der Autorität, sondern die Besitznahme<br />

aller Reichtümer der Erde im Namen der Menschheit. In der<br />

künftigen Gesellschaft wird der Kommunismus der Genuss aller<br />

vorhandenen Reichtümer für alle Menschen sein nach dem Grundsatze<br />

: Von jedem nach seinen Fähigkeiten, und von jedem nach<br />

seinen Bedürfnissen,<br />

Man muss jedoch in Betracht ziehen — und dies als Antwort<br />

unsern Gegnern, den Staatskommunisten und Sozialdemokraten<br />

— dass die Besitznahme und der Genuss der vorhandenen<br />

Reichtümer die Tat des Volkes selbst sein muss. Indem die<br />

Menschheit nicht aus Personen besteht, welche die Genussmittel<br />

ergreifen und mit beiden Händen zurückhalten können, ist man<br />

zu dem Schlusse gekommen, dass aus diesem Grunde eine Dirigentenklasse<br />

geschaffen werden müsse, Verwalter und Bewahrer der gemeinschaftlichen<br />

Güter.<br />

Wir, die anarchistischen Kommunisten teilen diese Anschauungen<br />

nicht. Keine Mittelpersonen, keine Vertreter, die<br />

schliesslich nur sich selbst und ihr eigenes Interesse vertreten. Keine<br />

Lenker der Gleichheit, ebenso wenig als Lenker der Freiheit;<br />

keine Regierung, keinen neuen Staat, nenne er sich Demokratie<br />

oder Volksstaat, revolutionärer oder provisorischer.


75<br />

Den allgemeinen Reichtum, über die ganze Erde zerstreut und<br />

der ganzen Menschheit gehörend, werden diejenigen, in deren Bereich<br />

die Genussmittel sind, gemeinschaftlich gemessen. Bewohner<br />

eines gewissen Landstriches werden die Erde bebauen, Maschinen,<br />

Werkstätten, Häuser benützen und alles gemeinschaftlich betreiben.<br />

Als ein Teil der Menschheit, üben sie ihr Recht direkt aus über<br />

einen Teil der menschlichen Güter. Und wenn ein Bürger von<br />

Peking in diesen Landstrich käme, würde er dieselben Rechte<br />

haben wie die, welche im Platze geboren sind.<br />

*<br />

Diejenigen, welche den Anarchisten vorwerfen, sie wollten<br />

ein Eigentum von Korporationen schaffen, haben sich hiermit sehr<br />

geirrt.<br />

Das wäre eine schöne Errungenschaft, den Staat abzuschaffen,<br />

um eine Menge kleiner Staaten zu etablieren. Ein Ungeheuer<br />

mit einem Kopfe zu töten, um ein tausendköpfiges zu unterhalten!<br />

*<br />

Man wird uns die Frage stellen : Ist dieser Kommunismus<br />

realisierbar? Werden genügend Produkte zu unserer Verfügung<br />

stehen, um Jedem das Recht zu geben, davon zu nehmen nach<br />

freiem Ermessen, ohne von ihm mehr Arbeit zu verlangen, als er<br />

gewillt ist zu leisten?<br />

Wir antworten :<br />

Ja, dieser Kommunismus ist ausführbar, weil in der künftigen<br />

Gesellschaft ein solcher Ueberfluss herrschen wird, dass es nicht<br />

notwendig sein wird, den Verbrauch zu beschränken oder mehr<br />

Arbeit von den Menschen zu verlangen, als er zu leisten gewillt<br />

oder imstande ist. Diese ungeheuere Vervielfältigung von<br />

Produkten wird sich vor allem aus folgendem ergeben:<br />

1. Aus der Harmonie der Zusammen Wirkung in den verschiedenen<br />

Zweigen der menschlichen Tätigkeit an Stelle des<br />

heutigen Kampfes der Konkurrenz.<br />

<strong>2.</strong> Aus der vermehrten Einführung der Maschinen für die<br />

Grossproduktion.<br />

3. Aus der bedeutenden Ersparnis von Arbeitskraft, an<br />

Arbeitsmitteln und Rohstoffen, aus der Vermeidung der schädlichen<br />

und unnützen Produktion.<br />

*<br />

Der Konkurrenzkampf ist eines der Grundprinzipien der<br />

kapitalistischen Produktionsweise: der Ruin des Einen ist des<br />

Andern Glück. Dieser eibitterte Kampf findet statt zwischen Arbeitern<br />

wie zwischen Kapitalisten. Es ist der Krieg bis aufs<br />

Messer. Ein Arbeiter findet eine Stelle, der andere verliert die<br />

seine; eine Industrie blüht empor, während die andere zu Grunde<br />

geht.


76<br />

Nun stelle man sich vor, wenn in der künftigen Gesellschaft<br />

das individualistische Prinzip des Kapitalismus: „Jeder gegen<br />

Alle und Alle gegen Jeden", und durch das wahre Prinzip der<br />

Humanität „Einer für Alle und Alle für Einen", ersetzt wird,<br />

welche ungeheuere Veränderung in der Produktion vor sich gehen<br />

müsste.<br />

Die mächtigen Hilfsmittel der Arbeit, die uns die Maschinen<br />

bieten, und die uns heute so gross erscheinen, sind sehr unbedeutend<br />

im Vergleich mit dem, was sie in der zukünftigen Gesellschaft<br />

sein werden.<br />

Wie viele Erfindungen und wissenschaftliche Anwendungen<br />

gehen verloren aus dem Grunde, weil sie sich für den Kapitalisten<br />

nicht bezahlen ? Der Arbeiter, selbst ist heute ein Feind<br />

der Maschine und mit Recht, denn sie ist das Ungeheuer, das ihn<br />

aus der Fabrik vertreibt, ihn aushungert, ihn entwürdigt, foltert<br />

und zermalmt. Und doch — welch grosses Interesse wird er<br />

dann haben, ihre Zahl zu vermehren, ihre Konstruktion zu vervollkommnen,<br />

wenn er nicht mehr in ihrem, sondern sie in seinem<br />

Dienste stehen wird.<br />

Und weiter : Wie viele Arbeiter, Rohstoffe und Arbeitsmittel<br />

sind heute noch im Dienste des Militarismus, um Kriegsschiffe,<br />

Festungen und Arsenale zu bauen, Kanonen zu giessen und offensive<br />

und defensive Waffen zu schmieden? Wie viele Kräfte werden<br />

nicht verbraucht, um Luxusgegenstände zu schaffen, die nur<br />

dazu dienen, der Eitelkeit zu fröhnen?<br />

Dank dieser Fülle von Produkten wird die Arbeit die hässliche<br />

Gestalt der Knechtschaft verlieren und nur noch den Reiz<br />

einer physischen und moralischen Notwendigkeit haben, zu studieren<br />

und zu leben nach der Natur.<br />

*<br />

Es genügt nicht, zu behaupten, dass der Kommunismus<br />

möglich ist, wir können beweisen, dass er notwendig ist. Man<br />

kann nicht Kommunist sein, man muss es sein, oder das Ziel<br />

der Revolution ist verfehlt.<br />

Wenn, nachdem die Arbeitsmittel und die Rohstoffe zum Gemeingut<br />

geworden, wir die Produkte als individuelles Eigentum betrachten<br />

würden, müssten wir das Geld beibehalten und ein grösseres oder<br />

kleineres Privateigentum schaffen, je nach dem Verdienst oder der<br />

Geschicklichkeit des Einzelnen. Die Gleichheit würde verschwinden,<br />

weil der, welcher mehr besässe, über dem Andern stände.<br />

Ein Schritt würde dann den Konter-Revolutionären genügen, um<br />

das Erbrecht wieder herzustellen. Ich habe einen sogenannten revolutionären<br />

Sozialisten gehört, der das Privateigentum der selbstgeschaffenen<br />

Erzeugnisse verteidigte und schliesslich behauptete,<br />

er sehe keine nachteiligen Folgen darin, dass diese Erzeugnisse<br />

sich auf Erben übertrügen. Für uns, die wir die Folgen, an denen


77<br />

die Gesellschaft durch Anhäufung von Reichtümern und deren<br />

Vererbung zu tragen hat, zu gut kennen, gibt es in diesem Punkte<br />

keine Zweifel. Dieses individuelle Recht auf die Arbeitsprodukte<br />

würde nicht nur die Ungleichheit zwischen den Menschen wieder<br />

herbeiführen, sondern auch diejenige der verschiedenen Arten von<br />

Arbeit. Es würde sofort die saubere und unsaubere, die „edle"<br />

und „gemeine" Arbeit ihr Erscheinen machen. Die erstere würde<br />

durch die Reichen, die andere durch die Armen verrichtet. Es<br />

würde dann nicht der Beruf oder persönliche Geschmack sein, der<br />

dem Einzelnen bestimmen würde, sich dieser oder jener Tätigkeit<br />

zu widmen, sondern das Interesse, die Hoffnung, in einem gewissen<br />

Fache mehr zu verdienen, massgebend sein. Die Folge<br />

davon wäre Faulheit und Arbeitslust, Verdienst und Nichtswürde,<br />

das Gute und das Böse, Tugend und Laster, Belohnung und Rache:<br />

Gesetz, Richter, Polizei und Gefängnis.<br />

Es gibt Sozialisten, welche das Recht auf die Arbeitsprodukte<br />

verteidigen, indem sie das Gerechtigkeitsgefühl in den Vordergrund<br />

schieben. Befremdende Selbsttäuschung! Unter der Kollektivarbeit,<br />

die uns auferlegt ist, und angesichts der Notwendigkeit, im<br />

Grossen zu produzieren, die Maschinerie weiter und weiter zu entwickeln<br />

— wie könnte man da bestimmen, welchen Anteil der<br />

Einzelne an dem geschaffenen Produkt für sich beanspruchen könnte?<br />

Es ist dies rein unmöglich, und unsere Gegner gestehen dies zu,<br />

indem sie sagen : Wir werden als Basis die Verteilung der Arbeitsstunde<br />

nehmen. Zu gleicher Zeit nehmen sie aber an, dass<br />

dies ungerecht wäre, weil drei Arbeitsstunden Peters soviel als<br />

fünf Arbeitsstunden Pauls wert sein könnten.<br />

*<br />

Früher nannten wir uns Kollektivisten, um uns von den<br />

Individualisten und autoritären Kommunisten zu unterscheiden; in<br />

Wahrheit waren wir anti-autoritäre Kollektivisten. Indem wir<br />

uns Kollektivisten nannten, dachten wir durch diesen Namen unsere<br />

Gedanken auszudrücken, nämlich, dass Alles gemeinschaftlich<br />

sein sollte, ohne einen Unterschied zu machen zwischen den Arbeitsmitteln<br />

und den Produkten der kollektiven Arbeit.<br />

Aber eines Tages erschien eine neue Schattierung von Sozialisten,<br />

welche die Irrtümer der Vergangenheit neu belebte, zu<br />

philosophieren und zu unterscheiden anfing und sich zu Aposteln<br />

der folgenden These machte:<br />

„Es gibt Gebrauchswerte und Produktionswerte. Die Gebrauchswerte<br />

sind die, welche wir anwenden, unsere eigenen Bedürfnisse<br />

zu befriedigen; das Haus, das wir bewohnen, die Lebensmittel,<br />

die wir gemessen, die Kleider, die Bücher etc. etc. Die<br />

Produktionswerte hingegen sind die, deren wir uns bedienen zum<br />

Produzieren: die Werkstätten, der Schuppen, der Pferdestall, die<br />

Vorratshäuser, Maschinen und Arbeitsmittel aller Art; der Grund


78<br />

und Boden, Rohstoffe etc. Die Gebrauchswerte sollen persönliches<br />

Eigentum sein, die Produktions werte das Eigentum Aller."<br />

Nun frage ich, wenn Ihr die Kohle, welche die Maschine<br />

heizt, das Oel, das sie schmiert, und ihren Lauf erleichtert, Produktionswerte<br />

nennt, warum nicht das Brod und Fleisch, die mich<br />

nähren, das Oel, mit dem ich meinen Salat anmache, das Licht,<br />

bei dessen Schein ich arbeite, alles das, was die kunstvollste<br />

Maschine, den Menschen erhält?<br />

Ihr rechnet zu den Produktionsmitteln die Wiese, die Ochsen<br />

und Pferde nährt, den Stall, der sie von den Unbilden des Wetters<br />

schützt, und Ihr macht das Haus und den Garten zu einem Gebrauchswert.<br />

Wo ist die Logik?<br />

Ihr wisst ganz gut, dass diese Grenze nicht besteht, und<br />

wenn es schwer ist, dieselbe heute zu ziehen, dass sie verschwindet<br />

an dem Tage, wo Jeder Produzent und Konsument zugleich<br />

sein wird.<br />

Es ist also nicht diese Theorie, die neue Kraft den Anhängern<br />

des individuellen Rechts der Arbeitsprodukte verliehen hätte.<br />

Sie hatte nur eine Folge: das Spiel etlicher Sozialisten bloszustellen,<br />

welche die Tragweite der revolutionären Idee vermindern<br />

wollten. Sie hat uns die Augen geöffnet und die Notwendigkeit<br />

gezeigt, uns offen als Kommunisten zu erklären !<br />

*<br />

Kommen wir schliesslich zur einzigen, ernsthaften Einwendung,<br />

die unsere Gegner dem Kommunismus gemacht haben. Sie<br />

sind Alle einig, dass wir notgedrungen dem letzteren zusteuern,<br />

aber sie behaupten, dass man im Anfang, da die Produkte noch<br />

nicht reichlich genug vorhanden wären, dieselben verhältnismässig<br />

verteilen müsse, und die beste Verteilung der Produkte sei die,<br />

welche die Quantität der gelieferten Arbeit des Einzelnen zur<br />

Grundlage habe.<br />

Darauf antworten wir, dass man in der zukünftigen Gesellschaft,<br />

selbst wenn die Verteilung nach Portionen (Rationement)<br />

sich als notwendig erweisen sollte, Kommunist bleiben, und die<br />

Produkte verteilen muss nicht nach dem Verdienste (geleisteter<br />

Arbeit), sondern nach dem Bedürfnis.<br />

Nehmen wir zum Beispiel die Familie. Der Vater verdient<br />

5 Franken des Tages, der älteste Sohn 3, der jüngere 2, der<br />

jüngste 1 Fr. 25 Cent. Alle geben das Geld der Mutter, die den<br />

Haushalt bestreitet und sie beköstigt. Jeder leistet eine ungleiche<br />

Summe, aber jeder geniesst nach seinem Bedürfnis. Es gibt da<br />

keine abgewogenen Rationen. Kommen dann böse Zeiten, und die<br />

Mutter kann nicht mehr jedem nach seinem Appetit zu essen<br />

geben, so werden, im Einverständnis mit Allen, die Mahlzeiten<br />

magerer ausfallen. Diese Verteilung findet also nicht nach dem<br />

Verdienste statt, denn die Jüngeren bekommen verhältnismässig


79<br />

den grössten Anteil, und das Beste ist für die alte Mutter, die<br />

nichts zum Haushalte beiträgt. Selbst während Teuerungen ist<br />

das Prinzip des Rationements je nach Bedürfnis in der Familie<br />

geregelt.<br />

Man kann nicht Anarchist sein, ohne Kommunist zu sein.<br />

Die geringste Idee einer Abweichung enthält schon den Keim eines<br />

Autoritarismus. Wir müssen Kommunisten sein, denn nur durch<br />

den Kommunismus können wir die wahre Gleichheit erzielen.<br />

Die Grenzen des Syndikalismus.<br />

Carlo Cafiero.<br />

.... Sagen wir etwa, dass die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />

den Ideen des Anarchismus widerstreitet? Wir sind<br />

die letzten in der Welt, die das behaupten. Wir wissen, dass die<br />

Individuen in den Gewerkschaften ihre revolutionäre Lehrzeit<br />

durchmachen. Sie lernen dort die Ursachen der Ausbeutung begreifen,<br />

unter welcher sie leiden. Der Streik gewöhnt an die<br />

Ausübung und Betätigung der Solidarität, führt ihnen deutlich vor<br />

Augen, was Wille und Zusammenschluss der Kräfte können, wenn<br />

sie wissen, wie sich zu behaupten und zu kämpfen.<br />

Aber, ohne dieses Milieu entwerten zuwollen,<br />

müssen wir einsehen lernen, dass es eine Atmosphäre der Enge<br />

erzeugt, welche die Tendenz an sich hat, die Dinge zu deformieren.<br />

Schon behauptet man gegenwärtig, dass der Syndikalismus<br />

an und für sich für alle Probleme genüge. Und<br />

sobald eine Ideenwelt ein abgeschlossenes System errichtet hat,<br />

welches allen Bedürfnissen entsprechen soll, kann man dessen<br />

gewiss sein, dass es in seiner Fundamentalbedeutung verengert,<br />

bedrückend wird, indem es alle anderen Ideen und Anschauungen<br />

ausschliessen will.<br />

Allein es gibt innerhalb der Gesellschaft auch noch andere<br />

Beziehungen zwischen den Individuen, andere Interessen, als es<br />

die rein gewerkschaftlichen sind und welche ebenfalls darnach<br />

verlangen, von der politischen und ökonomischen Bedrückung befreit<br />

zu werden. Sie haben ebenfalls ein Wort mitzureden in dem<br />

Kampf, der sich vor uns abspielt.<br />

Der Syndikalismus kann und soll sich selbst genügen in dem<br />

direkten Kampf, den er gegen die Ausbeutung des Unternehmertums<br />

führt, kann und darf aber nicht die Prätension haben, ganz<br />

allein das soziale Problem zu lösen, lösen zu können. Schon seine


80<br />

Rolle als Kampfesgruppierung, behufs Erringung augenblicklicher<br />

Reformen, verbietet ihm dies, denn er wird beständig gezwungen,<br />

das Ideal sozialer Befreiung den Gegenwartsrealitäten zu opfern.<br />

Hat er somit eine Kampfesrolle, eine der wichtigsten Rollen,<br />

so sage ich dennoch nicht, dass er sich damit zufrieden und bescheiden<br />

solle. Nein, im Gegenteil — er muss versuchen, diese<br />

Rolle mehr und mehr zu erweitern; ganz im gleichen Masse als<br />

er an dem Begriffsvermögen jener arbeitet, die er zu gruppieren<br />

sucht. Aber er täte grosses Unrecht damit, zu glauben, dass er<br />

allein für alle Probleme genügt; diejenigen — ausser es handelt<br />

sich mehr oder minder um direkte Feinde — als lästige Quälgeister<br />

zu betrachten, welche weniger befangen von den Vorstellungen<br />

augenblicklicher Verwirklichungen sind, dafür aber es<br />

versuchen, dem menschlichen Geist die Erkenntnis einer freien<br />

Zukunft zu entdecken, die, scheint sie sich auch vielleicht zu<br />

verlieren in einem schönen Traum, dennoch nicht zum wenigsten<br />

die Verwirklichung von Augenblicksforderungen ermöglicht.<br />

Jean Grave.<br />

*<br />

Wir entnehmen das Obige einem längeren Aufsatze unseres französischen<br />

Genossen, den dieser in den „Les Temps Nouveaux" (Ende Juli <strong>1907</strong>) veröffentlichte.<br />

Der ganze Aufsatz behandelt das vorstehende Thema natürlich in<br />

ausführlicherer Breite. Wir entnehmen ihm bloss das Obige, weil er zu lang<br />

und überdies das von uns Publizierte in gedrängter Kürze die Tendenz des<br />

ganzen Artikels wiedergibt.<br />

Was uns Jean Grave oben sagt, ist von der „Fr. Gen." stets vertreten worden.<br />

Wir sind stolz darauf, uns darob die armselige Gegnerschaft von geistig<br />

und moralisch sehr reduzierten Elementen zugezogen zu haben. Allerdings<br />

werden wir nach wie vor unbeirrt fortfahren in unserer Propagandatätigkeit;<br />

nicht nur deshalb, weil wir uns in sehr angenehm bewährter Gesellschaft befinden,<br />

sondern vornehmlich deshalb, weil wir nicht darin unsere Aufgabe erblicken<br />

können, aus Anarchisten blosse Syndikalisten zu machen, vielmehr<br />

aus Syndikalisten wirklich erkenntnisreiche und geistig fest fundierte Anarchisten<br />

machen zu wollen. Die Red.<br />

Die Monarchomachen und Etienne de la Boëtie.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Wenn wir den Titel seiner Schrift, die 1556 herausgegeben,<br />

aber früher verfasst wurde, hierher setzen, haben wir damit das<br />

Thema der westeuropäischen Kämpfe der nächsten Zeit bestimmt;<br />

er lautet, laus dem Englischen übersetzt: „Eine Abhandlung über<br />

politische Rechte und über den wahren Gehorsam, den die Untertanen<br />

Königen und anderen weltlichen Herrschern schulden in


81<br />

einer Antwort auf sieben Fragen : 1) Woraus politische Gewalt<br />

erwächst, wofür sie eingeführt wurde und von der rechten Anwendung<br />

und Verpflichtung derselben; 2) ob Könige, Fürsten und<br />

andere Herrscher eine absolute Gewalt über ihre Untertanen haben ?<br />

3) ob Könige, Fürsten und andere politische Herrscher den Gesetzen<br />

Gottes oder den positiven Gesetzen ihrer Länder unterworfen<br />

sind? 4) In welchen Dingen und inwiefern die Untertanen<br />

gebunden sind, ihren Fürsten und Herrschern zu gehorchen? 5) ob<br />

alle Güter der Untertanen Eigentum des Kaisers oder Königs<br />

sind und ob sie sie in gesetzlicher Weise als ihr Eigentum nehmen<br />

dürfen? 6) Ob es gesetzlich ist, einen weltlichen Herrscher abzusetzen<br />

und einen Tyrannen zu töten? 7) Welches Vertrauen Fürsten<br />

und Potentaten entgegenzubringen ist ?" Diese Fragen aufwerfen,<br />

hiess sie beantworten, und es ist ganz richtig, was der gute<br />

Historiker Grässe einige Jahre vor 1848 über diese Schrift sagte:<br />

„Man kann sich leicht denken, dass die ärgsten Demagogen unserer<br />

Zeit nicht schlimmere Ideen haben können, als hierin entwickelt<br />

sind", Das mag wohl so sein; der Historiker hätte nur hinzufügen<br />

dürfen, dass die Ideen der Demagogen und Revolutionäre<br />

seiner Zeit schon in jenen Zuständen und Kämpfen des 16. Jahrhunderts<br />

ihren Ursprung hatten. Natürlich geht auch John Poynet<br />

mit seinen entschiedenen Fragen und unverblümt logischen Antworten<br />

auf weit frühere Ueberlieferungen zurück; denn es war<br />

immer so, dass wo eine einschränkende und an sich reissende<br />

Gewalt sich festsetzen wollte, die Freiheitsliebe ins Bewusstsein trat<br />

und sich ihre Theorie schuf. So hatte zur Zeit Kaiser Heinrichs IV.<br />

der deutsche Mönch Mangold von Lautenbach vorgeschlagen, einen<br />

König, der zum Tyrannen geworden und so den Vertrag mit dem<br />

Volke gebrochen hatte, wie einen diebischen Schweinehirten fortzujagen<br />

oder auch dem Beispiel des Brutus zu folgen; und als<br />

Friedrich Barbarossa und seine Juristen römischen Cäsarismus<br />

wieder aufleben lassen wollten, da verkündete der berühmte<br />

Scholastiker Johann von Salisbury seine Staatslehre, wonach<br />

der Fürst aequitatis servus und publicae utilitatis minister*)<br />

sein solle; weiche er davon ab, missbrauche er die ihm anvertraute<br />

Gewalt, so sei er ein Tyrann und damit der Todfeind der Gemeinschaft,<br />

den zu töten nicht nur erlaubt, sondern heilige Pflicht sei.<br />

Und als dann später die italienischen Städterepubliken um ihre<br />

Freiheit zu ringen hatten, da baute Marsilius von Padua sein<br />

System der Demokratie mit dem civis principans, dem fürstlichen<br />

Präsidenten, an der Spitze, der von der Gesamtheit der Bürger,<br />

die die gesetzgebende Gewalt hat und durch ihre Experten —<br />

Parlamentarier — ausübt, abgesetzt werden kann. Und dann<br />

haben Poggio, Aretino, und Machiavelli vor allen manch kräftig<br />

Wort für die Republik und gegen die Fürstenmacht gesprochen.<br />

*) Der Diener der Gerechtigkeit und der Helfer der öffentlichen<br />

Wohlfahrt.


82<br />

Nur war es jetzt so, dass die Fürstengewalt sich festgesetzt hatte,<br />

und dass ihre Bekämpfer nicht mehr vereinzelte Rebellen waren,<br />

sondern revolutionäre Nationen.<br />

Denn schon entspann sich der grosse Kampf der Niederländer<br />

gegen ihren König Philipp II. von Spanien, unter der Führung<br />

Wilhelms von Oranien. Und dieser Revolutionskrieg wird siegreich<br />

durchgeführt, und der neue Geist schafft sich mit Gewalt<br />

der Waffen und überlegener Diplomatie die erste europäische Staatenrepublik:<br />

1581 traten die niederländischen Generalstaaten ins<br />

Leben.<br />

Inzwischen war in Frankreich unter dem Patronat der<br />

Katharina von Medici die Bartholomäusnacht gewesen und die<br />

Franzosen standen nahe vor dem Ausbruch der Revolution. Mit<br />

leidenschaftlicher, oft aktiver Teilnahme verfolgten sie, gleichviel<br />

ob Katholiken oder Hugenotten, Geistliche, Gelehrte, Politiker und<br />

Volk, die Ereignisse in den Niederlanden, und zwei französische<br />

Politiker waren es, die während der niederländischen Revolution<br />

den Kampf Poynets wieder aufnahmen. Fast gleichzeitig veröffentlichte<br />

in den siebziger Jahren der berühmte Jurist Francis<br />

Hotmann sein Werk Franco-Gallia, und der grosse Staatsmann<br />

Hubert Languet unter dem Pseudonym Etienne Junius Brutus<br />

seine Vindiciae contra Tyrannos. Beide waren Protestanten,<br />

aber von dem besonderen Schlage der französischen Protestanten, die<br />

das meiste dazu beitrugen, dass im Geiste ihres Volkes an die<br />

Stelle toten Christentums lebendige, sprühende Weltlichkeit trat<br />

und an die Stelle der Idee des gottgekrönten absoluten Monarchen<br />

die Idee des Volkswohls im absoluten Verfassungsstaat. Einstweilen<br />

aber blieb den in der Heimat verfolgten Politikern modernen<br />

Schlages nichts übrig, als ihren lebhaften Geist fremden protestantischen<br />

Fürsten, vor allem den deutschen, zu vermieten und so von<br />

aussen her ihrer Heimat zu dienen. Denn so wie die katholischen<br />

Fürsten schon nicht mehr ohne den modernen, logisch geschulten,<br />

beweglichen, auf die Dinge der mannigfaltigen Welt gerichteten<br />

Geist der Jesuiten auskamen, so die protestantischen nicht ohne<br />

die französischen Hugenotten. So dienten Hotman und Languet<br />

lange Zeit hindurch allerlei Fürsten, und von beiden gilt wohl,<br />

was Mornäus von seinem Freunde Languet sagt: „Aus der Bekanntschaft<br />

mit der Welt hat er Eines gelernt: Verachtung der<br />

Welt." Schliesslich wurden sie beide von der niederländischen<br />

Revolution an sich gerissen und veröffentlichten ihre Werke, die<br />

der französischen vorarbeiteten. In der Franco-Gallia setzt Hotman<br />

mit scharfen Ausfällen und Anspielungen auseinander, dass<br />

das Königtum in Frankreich immer ein Wahlkönigtum gewesen<br />

und dass auch jetzt die Könige von den Ständen zu wählen und<br />

vor allem: abzusetzen seien. Der ungleich grössere Languet<br />

richtet seine Worte ganz im allgemeinen ,,in tyrannos" ; dass er<br />

es vor allem auch wieder auf Frankreich abgesehen hat, ist


83<br />

durchaus bemerkbar. Languet, auch ein wundervoller Stilist, trotz<br />

der lateinischen Sprache seines Werkes ganz ein moderner Franzose<br />

in seinen Worten pathetischen Schwunges und scharfen Witzes,<br />

war auf weiten Reisen bis ins hohe Lappland hinauf, auch in viel<br />

verzweigter politischer Tätigkeit und Korrespondenz, ein eigener<br />

Kopf und nachdenkliche Person geworden, innerlich frei und fest<br />

auf sich stehend. In Lappland, wo er einen Volksstamm mit noch<br />

heidnischen Bräuchen — er hält sie für Feueranbeter — getroffen<br />

hat, bekennt er, etwas gelernt zu haben, was ihm niemand hätte<br />

lehren können. Ks wird wohl die Gleichgültigkeit aller konfessionellen<br />

Formen und die Würde und der Adel des Menschen in<br />

jeder Gestalt gewesen sein ; vielleicht auch das Gebot: angesichts<br />

harter und unerbittlicher Natur streng gegen sich selbst und tapfer<br />

für die Idee zu sein. Der Art sind die Menschen, die jetzt in<br />

freier Weltlichkeit hochkommen, innerlich schon bis zum Melancholischen<br />

auch frei vom Zusammenhang mit dem Volke, dessen Vorkämpfer<br />

diese frühen Individualitäten doch sind. Als so einer<br />

zeigt sich Languet in seinem Leben, seinen Briefen, vor allem in<br />

seinem Werke Vindiciae. Languet weiss noch ganz und völlig,<br />

dass es der Geist ist, der die Völker und Kulturen schafft und<br />

fördert; für ihn aber, wie für all diese Vorausgehenden seiner<br />

Zeit lebt kein anderer Geist mehr als der Geist der Republik:<br />

„Das Gesetz ist der Geist oder auch die Mannigfaltigkeit der<br />

Geister in ihrer Einheit; der Geist aber ist ein Teil des göttlichen<br />

Odems." Die Willkür, die Machtgier, die Rücksichtslosigkeit, die<br />

wir unsozial nennen würden, die er und all diese Epoche ungesetzlich<br />

nennt, ist etwas Tierisches, und so fährt er fort: „Wer also<br />

lieber dem Könige als dem Gesetze gehorchen will, scheint die<br />

Herrschaft eines Tieres lieber zu wollen, als die göttliche Herrschaft".<br />

Hier wird man verstehen, wieso ich sage, dass diese<br />

Tendenz zur Res Publica nicht bloss Sprache des Verstandes war,<br />

sondern schöpferischer Geist. Staat und Gesetz, waren für die<br />

revolutionären Vorkämpfer dieser Zeit der Gott im Menschen;<br />

verbindende Eigenschaft; etwas, was als Gleiches und Nämliches<br />

aus den Individuen hervorkam und sie zur Gesamtheit und zum<br />

höheren Organisationsgebilde verband. Es war die einzige Einheit,<br />

die dieser Zeit geblieben war; und es sollte sich herausstellen —<br />

oder ist es noch nicht so weit ? wird es sich vielen erst in der<br />

Zukunft zeigen? — dass dieser Geist verbindend und göttlich nur<br />

ist in der Aggression, dem Einreissen und der revolutionären Haltung;<br />

dass er da nur Wärme hat; dass er sonst aber nichts Positives,<br />

nichts Schöpferisches ist und nichts wirklich von innen her Verbindendes,<br />

dass er, sowie der Kampf aufhört, das wirkt, was vorher<br />

bekämpft worden war: Gewalt von aussen her. Darum sind<br />

in dieser Epoche die Männer die grössten, die am stärksten und<br />

aufs Genialste allgemein negieren, und der Gewaltigste wird der<br />

gewesen sein, der in seiner Kritik bis in die Psyche des Volkes


84<br />

und der Untertanen vordringt. Languet ist da nahe herangekommen<br />

; nur dass er noch voll ist des milden, verbindenden, positiven<br />

Geistes der vorhergehenden Zeit; „wie wir alle in der Gesamtheit<br />

Herren sind", sagt er, „so stehen wir alle einzeln genommen im<br />

Verhältnis von Brüdern oder Vettern oder Anverwandten zu einander".<br />

So stützt er sich auch weniger als es sonst wohl in<br />

seiner Zeit schon geschah, auf die Forderungen der Vernunft oder<br />

gar den Naturzustand in einem goldenen Zeitalter, als vielmehr<br />

auf die freiheitlich-föderativen Ueberlieferungen und Einrichtungen<br />

des Mittelalters: die Freibriefe, die verbürgten und beschworenen<br />

Verträge, die Stände, Parlamente und Municipien, und vor allem<br />

wieder: die Wahl des Königs durch das Volk. In Spanien z. B.,<br />

sagt er, war es seit Jahrhunderten üblich, dass die Kirche einen<br />

König, wenn er dem Volke den Eid gebrochen hat, verflucht und<br />

den grossen Bann über ihn ausgesprochen hat; er war vogelfrei<br />

und jedem in die Hand gegeben. Aber diese Bräuche sind in<br />

Vergessenheit gekommen, "es pflegt ja gemeiniglich so zu sein,<br />

dass, wofür Alle sorgen sollten, Keiner sorgt". Und „so gross<br />

scheint immer und aller Orten die Frechheit der Könige und der Reichsbedienten<br />

Pflichtvergessenheit und Trägheit gewesen zu sein, dass<br />

die Könige jene Zügellosigkeit, in der so viele sich heute hochfahrend<br />

gefallen, gleichsam durch eine Art erwerbende Verjährung<br />

ersessen zu haben scheinen . . . Aber die Jahre nehmen dem<br />

Rechte des Volkes nichts; sie verstärken nur das Unrecht des<br />

Königs." Fast prophetisch hat damit Languet das Schicksal seines<br />

Landes und seiner Könige ausgesprochen : denn die grosse Revolution,<br />

die wenige Jahre darauf ausbrach und zwei Königen das<br />

Leben kostete, ist unterlegen; die absolute Gewalt setzte sich<br />

wieder fest und es kamen die Ludwige; aber das Unrecht der<br />

Könige — so klingen seine Worte uns — vererbt sich auf ihre<br />

Nachkommen. Zweihundert Jahre, nachdem Heinrich III. unter<br />

dem Dolche gefallen war, brach die selbe und nämliche, lange verschüttete<br />

Revolution wieder aus, und Ludwig XVI., der das Erbe<br />

seiner Väter als launischer Schwächling verwaltete, starb unterm<br />

Beil der Guillotine.<br />

Mehr und mehr wurden die Fürsten von den Männern des<br />

Geistes und vom Volke eingekreist.<br />

Um dieselbe Zeit nahm der grosse Schotte George Buchanan,<br />

berühmt als Satiriker, Dichter und Historiker, im Anschluss an die<br />

Kämpfe der Schotten gegen Maria Stuart den Kampf als Dreiundsiebzigjähriger<br />

auf in seinem Dialoge De jure regni apud Scotos.<br />

„What then," ruft er darin aus, „shall we say of a tyrant, a<br />

public enemy, with whom all good men are in eternal war fare?<br />

may not any one of all mankind inflict on him all penalty of<br />

war ?" Man sieht, man hat in dieser Zeit für solche Lehre des<br />

terroristischen Einzelkampfes durchaus nicht auf die neuen Scholastiker,<br />

die Jesuiten zu warten brauchen; denn Buchanman stand


85<br />

dem Protestantismus weit näher als, der katholischen Kirche, wiewohl<br />

dieser freie Kopf gar keiner Konfession zuzurechnen ist.<br />

Er war ein Freund Montaignes, aber weniger vorsichtig und<br />

zurückgezogen als er. Als er in Paris dozierte, war einer seiner<br />

Schüler der blutjunge Etienne de la Boëtie, der noch weit über<br />

seinen Meister hinausgehen sollte, nicht nur an Energie und<br />

schwungvoll-dichterischer Kraft des Ausdrucks, sondern vor allem<br />

durch die Genialität seiner Verallgemeinerung.<br />

Frankreich liess sich nun nicht mehr halten. Als<br />

mit Heinrich III., der vom Thron Polens geflohen war, um<br />

die Thronfolge in Frankreich nicht einzubüssen, einer der<br />

brutalen Feiglinge und lüsternen Frömmler König geworden war,<br />

die unter den Monarchen nicht selten sind, war das edelmütige<br />

Volk der Franzosen reif zur Revolution. Man betrachtet diese<br />

Kämpfe der Liga gewöhnlich als Krieg der Katholiken gegen die<br />

Hugenotten, und als Kampf eines Prätendenten gegen den König.<br />

Das Entscheidende aber ist, dsss es eine grosse föderativ-republikanische<br />

Revolution gegen die absolute Monarchie, für die alten<br />

Rechte und Freiheiten war, getragen von einem Geist, der wundersam<br />

gemischt war aus dem alten freiheitlich-christlichen Bündlersinn<br />

und dem neuen, auf die Antike und den Individualismus<br />

gestützten Geist der Vernunft und der Verfassung. Die Vordersten<br />

im Kampfe waren die Stadtgemeinden, allen voran die Kommune<br />

von Paris mit ihren sechzehn vom Volke erwählten Viertelvorstehern<br />

: mehr und mehr drängte die Bewegung dahin, die Herrschaft<br />

des Königs abzuschütteln, Paris zur freien Stadtrepublik<br />

zu machen, und dann weiter zu gehen, die Stände einzuberufen<br />

und Frankreich nach dem Beispiel der Niederlande, in denen so<br />

manche französische Politiker wirkten, zum Freistaat zu machen.<br />

Eine Menge wilder revolutionärer Flugschriften erschienen, und<br />

allen voran kämpften die Geistlichen für Freiheit und Volksrechte.<br />

Die Pfarrer von Paris erliessen eine Proklamation, „die Versammlung<br />

der Stände besässe die öffentliche Gewalt und die unveräusserliche<br />

Souveränität, die Macht zu binden und zu lösen".<br />

Jean Boucher, der Pfarrer von St. Bénoît verkündete, „der Fürst<br />

gehe aus dem Volke hervor, aber nicht auf Grund notwendiger<br />

Erbfolge oder gar Gewalt, sondern auf Grund freier Wahlen".<br />

Und ein anderer Pfarrer, Pigenat, rief, „Gott spreche nur durch<br />

die Stimme des Volkes: „Vox populi, vox Dei." Das war nicht<br />

mehr blos der alte christliche Geist, der zu Verstand und damit<br />

zu aggressiven Worten gekommen war, in vollem Bewusstsein des<br />

Gegensatzes zum protestantischen Gottesgnadentum, es war vielmehr,<br />

manchmal bewusst, oft nur undeutlich gefühlt, vielfach nur<br />

noch gewohnheitsmässige und wirksame christliche Einkleidung<br />

für den schöpferischen neuen Geist der demokratischen Staatidee.<br />

Den Pfarrern schlössen sich die Gelehrten an; am 29. Dezember<br />

l587 stellte die Sorbonne den Grundsatz auf, „dass man die Re-


86<br />

gierung solchen Fürsten, die für selbige nicht geeignet befunden<br />

würden, in eben der Art abnehmen könne, wie eine Vermögensverwaltung<br />

etwa verdächtig gewordenen Vormündern."<br />

Und nun kam, im Mai 1588, der Tag der Barrikaden herauf:<br />

das Volk von Paris stand wohlverschanzt in Waffen auf den<br />

Strassen, an der Spitze die Sechzehn und die Geistlichkeit; so<br />

zog man siegreich zum Louvre, „um den Bruder Heinrich zum<br />

Profess abzuholen". Der aber war geflohen. Und so geht es<br />

weiter, und eine Zeitlang scheint das Volk siegen zu sollen wie in<br />

den Niederlanden: im Dezember wird die Bastille, die schon damals<br />

das Bollwerk und das Symbol des Absolutismus war, das mitten<br />

in das Häusermeer der werktätigen Bevölkerung frech hineingesetzt<br />

schien, und ebenso das Arsenal erstürmt, und die Sorbonne<br />

geht von der staatsrechtlichen Theorie zur praktischen Anwendung<br />

über: sie spricht das Volk von ihrer Untertanenpflicht los, und<br />

Heinrich III. ist jetzt so vogelfrei und jedem in die Hand gegeben,<br />

wie es Languet vor einem Jahrzehnt von den eidbrüchigen Königen<br />

Aragoniens berichtet hatte. Und so geschah es, dass am<br />

1. August 1589 König Heinrich III. von Jacob Clement, einem<br />

jungen Dominikaner, getötet wurde. Fast genau 200 Jahre später,<br />

am 4. August 1789, nachdem die Revolution der Kommune von<br />

Paris, die wiederum in der Erstürmung der Bastille gipfelte —<br />

wahrlich nicht zum Zwecke der Gefangenenbefreiung, wie noch<br />

viele heute meinen, die nachrechnen, wie wenige Gefangene<br />

gerade darin waren — sich über das ganze Land verbreitet hatte,<br />

schaffte die französische Nationalversammlung alle Feudalrechte<br />

ab und verlieh dem Erben Heinrichs III., dem König Ludwig XVI.<br />

den Titel „Wiederhersteller der französischen Freiheit". Und nur<br />

vier Jahre nachher wurde Ludwig hingerichtet. Richard Treitzschke,<br />

der deutsche Uebersetzer Languets, hat ein paar Jahre vor 1848<br />

die Revolution einen Mikrokosmos genannt, „vorgebildet zu einer<br />

spätem langsamen, aber grossartigen Vollendung". Ich eigne mir das<br />

Wort an und meine es anders. Die Revolution ist ein Mikrokosmos: in<br />

unglaublich kurzer Zeit, in grossartiger Zusammendrängung, weil die<br />

Geister der Menschen komprimiert und konzentriert sind, wird die<br />

Welt des Möglichen wie ein Fanal, das über die Zeiten flammt, zur Erfüllung<br />

gebracht. In der Revolution geht alles unglaublich schnell, sa<br />

wie im Traume der Schlafenden, die von irdischer Schwere befreit<br />

scheinen. Man hat wohl auch noch wachend, in Abendstunden<br />

geistiger Arbeit, des Schauens und Phantasierens, der Vorsätze<br />

und des Schaffens, oft eine Stimmung, wo einem alles federleicht,<br />

ohne Hemmnis, möglich und durchführbar erscheint. Und dann<br />

kommt der graue Tag, und man begreift nicht mehr, dass man<br />

so tapfer, so gläubig, so hoffnungsvoll und so zweifellos gewesen<br />

ist. Dieser Tag ist lang, und es werden viele Abende kommen,<br />

in denen die Erinnerung an den Tag lebt und damit die Verzagtheit,<br />

die Unlust, die Trauer und Depression. Bis dann einmal


87<br />

wieder ein Abend uns fast überfällt, wo alles Hemmende vom<br />

Dunkel verzehrt und uns Flügel gewachsen zu sein scheinen: die<br />

Erinnerung an jenen Abend mit seiner innen aufgegangenen<br />

glühenden Sonne lebt wieder auf, und wieder ist alles möglich und<br />

geboten und muss gelingen. So ist es mit dem Verhältnis der<br />

traumhaft schnellen, aber auch kurzen Revolutionen zu den langen<br />

und langsamen Zwischenzeiten. So ist es, bis ein Geist kommt;<br />

der ein Bleiben im Positiven, im Tage des Lebens hat, und nicht<br />

nur eine Fata Morgana eines Gebäudes und einer Wirklichkeit<br />

ist, wie sie der Traum eines nur im Aggressiven und Einreissen<br />

lebendigen Geistes aus flüchtigem Rausche gebaut hat<br />

(Schluss folgt.)<br />

Von Stuttgart nach Amsterdam.<br />

Gustav Landauer.<br />

Uns gilt der Kern einer Sache, nie deren Form oder äusserlicher<br />

Schein. Und da können wir ehrlich sagen: Der Stuttgarter<br />

Weltkongress der Sozialdemokratie hat mit dem Ziel uud Wesen<br />

des internationalen Sozialismus nichts zu tun gehabt. Es war<br />

ein Weltkongress — und es scheint, dass dies der Zweck fast<br />

aller solcher Kongresse ist —, dessen Bestreben dahinging:, die Betätigung<br />

der parlamentarischen, sozialdemokratischen Aktionen in einen<br />

anscheinend logischen Einklang mit den Zielen und dem wahren<br />

Sinn des Sozialismus zu bringen. In dieser Hinsicht kann er nur<br />

Toren blenden. Nur solche, die sich von dem Puppenspiel der<br />

Plenarsitzungen täuschen lassen und von den Kulissenvorgängen<br />

und Erwägungen der Kommissionen nichts wissen, die in<br />

Wahrheit das Schwergewicht des Kongresses bildeten. Stuttgart<br />

hat uns wieder das alte Lied, die alte Leier ergeben, viel Posaunenton<br />

und Trompetenlärm und dennoch keinerlei echte Tat, kein<br />

Beschluss, der Kühnheit aufwiese, keine Beratung, deren Konklusionen<br />

so schwerwiegend gewesen, dass sie die Zukunftstaktik der<br />

internationalen Partei irgendwie zu verändern imstande wären.<br />

Bebel warf sich in die Brust, und rühmend wies er auf die<br />

Ziffern- und Zahlentabellen der Partei hin. Kein fetter, behäbiger<br />

Gewerkschaftsbeamter tat dies; Bebel nahm ihm die Mühe ab.<br />

In begeisternden Worten pries er die „Siege" der deutschen, der<br />

internationalen Sozialdemokratie, und mit keinem Worte gemahnte<br />

er an die zermalmenden Niederlagen, welche der Parlamentarismus<br />

und jede wirtschaftliche Aktion des deutschen Proletariats in den<br />

letzten Jahren erlebt haben. Die „rote Rotte -<br />

stimmte freudetrunken<br />

mit ein. Einiges Augurenlächeln sah man immerhin.


88<br />

Aber das Bemerkenswerte und Bleibende ist dennoch : Wie leicht<br />

ist es, das Proletariat zu verführen! Wie leicht ist es, jedes<br />

revolutionäre Klassengefühl, jeden Hassesinstinkt im Proletarier<br />

zu ersticken, durch phrasenhafte Vorgaukelungen von Triumphen<br />

und Siegen, die, bei Licht besehen, das gerade Gegenteil sind .. .<br />

Wer Beweise für diesen praktischen und moralischen Bankrott<br />

erheischt, der lese die Rede Bebels in der Militärkommission und<br />

äie angenommene Resolution in Fragen des Antimilitarismus,<br />

welche ohne Zweifel ein Sieg der deutschen Sozialdemokratie<br />

ist. Die Dreimillionenpartei ist eben erbärmlich schwach, und ihre<br />

Führer kennen ihre Schwäche nur zu genau. Die angenommene<br />

Resolution besagt nichts, sollte nichts besagen; sie ist ein<br />

Kompromiss mit der Jaures-Vaillant Resolution, nimmt aber dieser<br />

vollständig die Zähne und Klauen. Was übrig bleibt, ist die öde<br />

Phrasenlitanei eines Bebels, die sich immer gegen den vergnüglich<br />

lächelnden Kapitalismus kehrt, der freilich immun ist, solange er<br />

den Militarismus integral besitzt. Eines ist nämlich klar: erst der<br />

Kampf gegen den Militarismus ist in Wahrheit ein solcher gegen<br />

den Kapitalismus! Der vage Kampf gegen einen Kapitalismus<br />

allein, der ja doch nur durch den Militarismus bestehen kann, ist<br />

eitles Scheingefecht mit Worten und nie mit Taten. Freilich<br />

kann die Sozialdemokratie nie antimilitaristisch sein, selbst wenn<br />

sie wollte. Denn jeder, der den Staat erobern will, wird irgend<br />

eine Form des Militarismus gebrauchen, um die Gegner niederzuschlagen<br />

und seinen Staat aufrecht zu erhalten . . . Und die<br />

Volkswehr ist nichts anderes, als die Methode, wie die „pro1etarisch-demokratischen<br />

Herrschaftsverhältnisse"'<br />

zu befestigen. So drückte es der junge Liebknecht sehr logisch<br />

und konsequent aus. Allerdings ist er nicht so gehirnschwach<br />

und feig, wie der alte Bebel, der, zur Erbauung künftiger Geschlechter<br />

sei es niedriger gehängt, in der Kommission sagte:<br />

„Im Kriegsfalle würde nach einer Erklärung des Kriegsministers<br />

Deutschland sofort alle Waffenfähigen unter die Fahne rufen; das<br />

sind in Deutschland sechs Millionen Männer, darunter mindestens<br />

zwei Millionen Sozialdemokraten . . . Wo bekämen wir da noch<br />

die Menschen für den Massenstreik her ? Vier Millionen Familien<br />

wären in höchster Not. Das ist schlimmer als jeder Generalstreik<br />

... Und in solcher Situation sollen wir uns mit Massenstreikspielereien<br />

abgeben?" Nein, das sollen Sie nicht tun, Herr Bebel,<br />

Nestor der deutschen Sozialdemokratie! Wir muten Ihnen so<br />

etwas Dummes keineswegs zu. Im Gegenteil, „in solcher Situation"<br />

ist es weit revolutionärer, weit klassenbewusster, wenn Sie und<br />

die Ihrigen die Flinte schultern und mit echt sozialdemokratischer<br />

Disziplin in den Krieg ziehen, für Gott, für Kaiser und Vaterland!<br />

Und dieser Greis — mehr an Geist als an Jahren —<br />

schwätzt unaufhörlich weiter fort und weiss gar nicht, wie sehr<br />

er seiner selbst spottet. . .


89<br />

Eine Freude bot dieser Stuttgarter Kongress: es war der<br />

Aerger über einen Fels, der unerschütterlich dasteht und nicht zu<br />

überschäumen ist von den Wellen parlamentarischen Geschwätzes,<br />

nämlich Frankreich mit seiner syndikalistisch-anarchistischen Bewegung.<br />

Als sie diesen Punkt behandelten, da Hessen die Herren<br />

Troelstra und Konsorten alle Masken fallen. Es handelte sich um<br />

einen Kampf gegen den Anarchismus. Und da die französischen<br />

revolutionären Gewerkschaftler ihre Organisationen nicht zu Melkkühen<br />

der Partei machen lassen, kennt das Wutschäumen der<br />

Sozialdemokratie kein Ende und keine Grenze. Dieselben, die<br />

kein Wort der Verachtung für die Impotenz der wirtschaftlichen<br />

Bewegung Deutschlands besassen, sprachen nun jener Frankreichs,<br />

vertreten durch die „Konföderation der Arbeit", jede Wichtigkeit<br />

und Bedeutung ab! Diesen französischen Gewerkschaftlern, die<br />

den Klassenkampf zu Ehren bringen, die Siege und bedeutende<br />

Aktionen zu verzeichnen haben, die mit ihren 300 000 Anhängern<br />

mehr erzielen als die deutschen Gewerkschaften mit ihren fast<br />

zwei Millionen! Verständiger waren die französischen Delegierten,<br />

ein Teil dieser Delegation. Sie begriffen, wie eminent lächerlich<br />

sich all diese roten Jesuiten machten, die da Stellung nehmen<br />

wider eine Organisation, welche in unaufhörlichem Kampfe mit<br />

den Gewalten der staatlichen Regierung ringt. Aber sie wurden,<br />

trotz des alten Vaillant, übertrumpft und gaben schliesslich auch<br />

klein bei — vielleicht wussten sie, dass Griffuelhuis recht hatte,<br />

als er vor dem Kongress schrieb, dass die auf diesem Kongress<br />

gefassten Beschlüsse für die französische Gewerkschaftsbewegung<br />

ohnehin null und nichtig sind. Beschlüsse fassen ist leicht, zur<br />

Ausführung zu bringen, ein ganz ander Ding . . .<br />

Null und nichtig ist dieser Kongress aber auch für die gesamte<br />

Ideenwelt des Sozialismus. Von Anfang bis Ende war er<br />

Gewohnheitsmache. Die Würze, die ihm eine freie, offene Aussprache<br />

über Militarismus und Antimilitarismus hätte geben können,<br />

wurde ihm entzogen durch eine nichtssagende Resolution und —<br />

die deutsche Regierung, die wohl nicht zuletzt in Frage kam,<br />

dass dieses Problem im Plenum überhaupt nicht beraten, sondern<br />

übers Knie gebrochen wurde.<br />

Der Kongress ist vorbei; legen wir ihn zu den übrigen!<br />

*<br />

Auch der anarchistische Weltkongress erfüllte nicht alles das,<br />

was er zu versprechen schien : In gewisser Hinsicht — ganz besonders<br />

in der Resolution Malatestas über Anarchismus und Syndikalismus<br />

— war er ein Fortschritt, in mancher unzweifelhaft ein<br />

Rückschritt.<br />

Ueberhaupt muss vorweg auf Grund der nun gemachten<br />

Erfahrung von jeder gewissenhaften Feder des Anarchismus konstatiert<br />

werden, dass Kongresse für die anarchistische Bewegung


90<br />

nur einen sehr relativen Wert haben können. Wird ihnen der<br />

Demonstrationscharakter genommen, so sinken sie auf das Niveau<br />

plattester Bedeutungslosigkeit herab. Es liegt dies nicht an dem<br />

Wesen oder den Eigenarten der Delegierten; es ist dies vielmehr<br />

an dem ganzen Wesen von Kongressen und deren schwermöglicher<br />

Vereinbarkeit mit anarchistischen Prinzipien gelegen. Dieser Kongress,<br />

der manchmal sehr fruchtbar war, hat dies geradezu<br />

strahlendhell bewiesen. Ein jeder muss sich nämlich heute, nach<br />

dem Kongress gestehen, dass alles, was auf ihm und durch ihn<br />

geschaffen wurde, sehr wohl auch ohne ihn hätte erreicht werden<br />

können; durch unsere internationale Presse, durch eine in ihr<br />

gepflogene, gründliche Diskussion — gerade das mangelt jedem<br />

Kongresse — und durch eine von dieser ausgehende internationale<br />

Aktion. In Wegfall kämen alle jene hässlichen, aber mit Kongressen<br />

untrennbar verknüpften Begleitumstände, die nicht nur ein<br />

Merkmal des sozialdemokratischen, sondern auch des anarchistischen<br />

Kongresses waren.<br />

Wie notwendig gerade die Kardinalfrage des Kongresses finden<br />

internationalen Kongress war und ist, bewies der Kongress<br />

an und für sich, der an einer fast monströs zu nennenden Organisationlosigkeit<br />

litt. Es ist Organisation, autonomer, föderativer<br />

Zusammenschluss, dessen unsere Bewegung bedarf. Nur so<br />

wird die Idee siegen. Natürlich, wie es unter Anarchisten leider<br />

stets üblich, pendelt man hier von Extrem zu Extrem. Hat untei<br />

den einzelnen Gruppen des Anarchismus seit den letzten 20<br />

Jahren nicht jener freie Zusammenhang vorgewaltet, wie es notwendig<br />

und wünschenswert gewesen wäre, so wenden sich nun die<br />

Befürworter des Organisationsgedankens, wie es z. B. unser Genosse<br />

Amadee Dunois tat, mit einer solchen Erbitterung<br />

gegen jeden Gedanken eines anarchistischen Individualismus,<br />

schleudern uns somit theoretisch wieder so weit zurück, dass sie wirklich<br />

in Gefahr geraten, Jakobiner zu werden. Nicht einer Periode<br />

reichster Blüte und schönsten Gedeihens geht der Anarchismus<br />

entgegen, sondern einer Periode innerer Zerklüftung, wenn er<br />

das Prinzip des Föderalismus nicht durchaus individualistisch,<br />

sondern zentralistisch auffasst. Wir gelangen so von einem Extrem<br />

in das andere, was unmöglich fördernd sein kann. Es ist richtig,<br />

was Max Baginsky sagte: „Nicht Kropotkin oder Stirner darf<br />

es heissen, vielmehr Kropotkin u n d Stirner !"<br />

Indem wir uns der Resolution Vohryzek anschliessen,<br />

die in ihrer vorliegenden Form alles ausdrückt, was auch wir<br />

anerkennen, lassen wir die Resolution folgen, die von uns eingebracht<br />

wurde, aber, wie der Genosse Malatesta es betonte,<br />

wegen ihres nur proklamatorischen Charakters durch<br />

zahlreiche Stimmenthaltungen abgelehnt wurde. Um eben dieses<br />

Charakters willen, wie auch aus historischen Gründen und um


91<br />

unseren Standpunkt für die Leser dieser Zeitschrift zu präzisieren,<br />

bringen wir sie zum Abdruck:<br />

Der vom 21. bis 80. August tagende, internationale anarchistische Kongress<br />

zu Amsterdam schlägt den Gruppen aller Länder vor, sich zusammenzuschliessen<br />

zu ländlich-lokalen und geographischen Föderationen.<br />

Wir erklären, dass wir diesen Vorschlag machen in Uebereinstimmung<br />

mit den Prinzipien des Anarchismus, indem wir die Betätigung und Initiative<br />

des Individuums nur im sozialen Verbände begreifen können und in den so<br />

gearteten Vereinigungen die Grundmöglichkeiten für die freie Entfaltung des<br />

Individuums erblicken.<br />

Die föderative Organisation ist die organische Kampfesform des anarchistischen<br />

Proletariats und dieser Bewegung. Sie vereinigt die schon bestehenden<br />

Gruppen zu einem Organisationsganzen und gliedert die neu gegründeten<br />

dem Gänzen an. Sie ist antiautoritär, indem sie keine legislative<br />

Macht anerkennt, die bindend für die einzelnen Mitglieder oder d ;<br />

e Gruppen<br />

wäre ; indem sie — die Föderation — das Recht eines jeden einzelnen Individuums,<br />

wie jeder Gruppe innerhalb unserer gemeinschaftlichen Bewegung<br />

anerkennt, sich im Sinne des Anarchismus und seiner wirtschaftlichen Systeme<br />

zu betätigen, ohne gegenseitige Beherrschung oder Störung. Die Föderation<br />

schliesst keine anarchistische Gruppe aus, jeder Gruppe ist es hingegen gestattet,<br />

mit Rückziehung ihres<br />

auszuscheiden.<br />

kollektiven Eigentums, aus der Föderation<br />

Wir empfehlen den Genossen, sich nach ihren nationalen Bedürfnissen<br />

oder Bewegungsnotwendigkeiten zu vereinigen, doch stets dessen eingedenk<br />

zu sein, dass die Macht der nationalen Bewegung des Anarchismus von seinem<br />

internationalen Zusammenschluss abhängig ist, denn die Befreiungsmethoden<br />

des Anarchismus müssen international zusammenwirken.<br />

Kameraden aller Länder, organisiert Euch in autonomen Gruppen,<br />

vereinigt Euch zur autonomen Föderation der anarchistischen Internationale!<br />

Aus Obigem geht klar genug hervor, wie wir uns die neue<br />

anarchistische Internationale vorstellen, auch, weshalb wir gegen<br />

das vom Kongress beschlossene Generalbureau stimmten. Wohl<br />

soll dieses Bureau nur ein Korrespondezbureau sein, aber<br />

dies sollte ursprünglich der Generalrat der alten Internationale<br />

ebenfalls sein und wurde dennoch eine autoritäre Körperschaft —<br />

einfach infolge der Macht, die sich in ihm anhäufte und der geistigen<br />

Zentralisation, die durch ihn betrieben wurde. Die Aufgabe<br />

der neuen, anarchistischen Internationale hätte darin bestehen<br />

müssen, eine internationale Föderativverbindung der<br />

Kameraden aller Länder anzubahnen, ohne ein irgendwie zentral<br />

gelegenes Organisationshaupt zu etablieren, dessen Leistungsfähigkeiten<br />

und Möglichkeiten mehr denn problematisch. Das wäre die<br />

Erfüllung einer historischen Aufgabe, wäre durchaus anarchistisch<br />

gewesen und hätte ein leuchtendes Beispiel dafür geliefert, wie<br />

Anarchisten den Unterschied zwischen organisatorischer Aktion<br />

der Sozialdemokraten und Anarchisten auffassen. Nicht darin


92<br />

bestand der Mangel unserer Bewegung, dass es kein archivalisch<br />

wirkendes Bureau, keine Zentralstelle dirigierender Genossen gab.<br />

Mit all diesem haben wir noch lange keine echte Internationale.<br />

Diese entsteht im anarchistischen Sinne erst dann und dadurch,<br />

dass einem jeden einzelnen Genossen der Bewegung<br />

eines Landes die Gelegenheit geboten wird, in direkte Beziehungen<br />

zu den Genossen aller übrigen Länder zu treten, ohne sich erst<br />

mit einem alles übersehenden Fünferbureau in Verbindung setzen<br />

zu müssen. Darin erblicken wir eine tatsächliche internationale<br />

Organisation, indem hunderte und tausende von frei waltenden<br />

Beziehungen, Anregungen und gemeinsamen Arbeiten geschaffen<br />

würden. Die Genossen des Kongresses haben zum grössten Teil<br />

selbst diese horrende Beeinträchtigung unseres anarchistischen<br />

Prinzips gefühlt, die durch das Generalbureau zu London entstand<br />

und durch die Verwertung und Zusammenziehung der essentiellsten<br />

Punkte aller eingelaufenen Resolutionen in redlichster Weise versucht,<br />

diesem Faktor seine störendsten Seiten zu nehmen. Es ist<br />

ihnen nur teilweise gelungen, ganz der Natur der Sache gemäss,<br />

die ja eben den Uebelstand selbst bestehen lässt: die Neuauflage<br />

eines internationalen Generalrats. Es ist<br />

aus diesem Grunde interessant und wertvoll zugleich, die zweite<br />

Tendenz innerhalb des Kongresses zu Worte kommen zu lassen,<br />

die es versuchte, unter Anerkennung aller Organisationsnotwendigkeiten<br />

eine durchaus anarchistische Organisation zu schaffen,<br />

mit Trennung von jeder zentralen Körperschaft. Es waren dies die<br />

Genossen Baginsk, Emma Goldmann und Schreiber dieser Zeilen,<br />

die folgende Resolution einbrachten :<br />

„Der internationale Kongress beschliesst die Begründung der anarchistischen<br />

Internationale.<br />

Die anarchistische Internationale ist eine Föderation autonomer Gruppen,<br />

die jedes zentrale Bureau ausschaltet und deren internationale Beziehungen<br />

geschaffen werden durch die Ernennung zweier Korrespondenzsekretäre durch<br />

jedes Land, die sich, gemäss den Bestimmungen ihrer resp. Gruppen oder<br />

Föderationen, gegenseitig in internationale, regelmässige Verbindung zu<br />

setzen haben.<br />

Die Internationale ist vollkommen öffentlich, und die Xanten sämtlicher<br />

internationalen Sekretäre müssen fortlaufend in allen anarchistischen Zeitungen<br />

erscheinen mit Angabe der Adressen.<br />

Beschlossen, ein internationales Bulletin herauszugeben."<br />

Wir wünschen nicht, so verstanden zu werden, als ob wir<br />

dem nun einmal geschaffenen Generalbureau in irgend einer Weise<br />

gegenüberträten. Keineswegs, wir haben es unterstützt und werden<br />

es unterstützen, so lange auch nur der Schein einer Aussicht vorhanden,<br />

dass es die ihm gesetzten Aufgaben erfüllen kann. Aber<br />

weil diese Aussicht sehr schwach ist, erachten wir es für unsere<br />

Pflicht, die Genossen darauf aufmerksam zu machen, dass ein


93<br />

etwaiger Misserfolg des Bureaus in keiner Weise auf Konto des<br />

Anarchismus geschrieben werden kann. Dass es sich hier um<br />

eine erneute Versuchsmethode, nicht aber um eine praktische<br />

Durchführung einer anarchistischen Organisationsform handelt.<br />

Als reifste Frucht des Kongresses, gewissermassen als die<br />

hinlänglichste Rechtfertigung seiner selbst, sehen wir das an, was<br />

durch manche lokale Schattenseiten der holländischen Bewegung<br />

allerdings stark in den Hintergrund gedrängt wurde, sich aber<br />

dennoch immer wieder, unaufhaltsam, hindurchrang: die gegenseitige<br />

Bekanntschaft, die viele unermüdliche Propagandisten des<br />

Anarchismus, die sich bisher nur dem Namen nach kannten, miteinander<br />

schliessen konnten und eine erhöhte propagandistische<br />

Tätigkeit als Folgeerscheinung derselben. Denn darin besteht die<br />

dauerhafteste, wahrste Organisation und Internationale des Anarchismus,<br />

dass seine Anhänger sich einen intimen Bruder- und<br />

Schwesterkreis schaften, der, ohne gekünstelte Organisationsbasis,<br />

sich zusammensetzt aus den vereinten Anstrengungen, der gegenseitig<br />

geförderten Initiative seiner Angehörigen. Alles darüber<br />

hinausreichende ist gut, bildet aber nicht den unerschöpflichen<br />

Lebensfonds unserer Bewegung, die weit mehr, dem ersteren, als<br />

dem letzteren seine Existenz verdankt. Und in der Schürzung<br />

mancher neuen freundschaftlichen Verbindungen, in der wechselseitigen<br />

Verständigung so mancher Persönlichkeiten, in der festeren<br />

Vereinigung und Zusammenfassung vereinzelter Energien — darin<br />

hat der internationale Kongress ein grosses Stück Arbeit für den<br />

Anarchismus geleistet. Reicher an Erfahrungen und ärmer an<br />

Illusionen kehren wohl alle Delegierte zurück in die resp. Länder<br />

ihrer Betätigungen. Eines aber haben alle gelernt und mit Freude<br />

wahrgenommen: die anarchistische Internationale 1 e b t, nichts<br />

kann ihren Fortschritt aufhalten, sie ist überall und trotz mancher<br />

störenden Faktoren liegt ihre Zukunft klar und allen sichtbar vor<br />

ihr. Im Bewusstsein, ihr anzugehören, rufen auch wir dem Kongresse<br />

zu Amsterdam das nach, was seinen Ruf und unser Echo<br />

bildet:<br />

Es lebe die anarchistische Internationale!<br />

*<br />

Es erübrigt sich für uns, einen Bericht über den am 29.<br />

big 30. August stattgehabten internationalen antimilitaristischen<br />

Kongress zu bieten. In etwa Monatsfrist wird den Lesern der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" der vollständige Kongressbericht in deutscher<br />

Sprache vorliegen und sie imstande sein, sich selbst ein Urteil<br />

darüber zu bilden. Pierre Ramus.


Archiv des sozialen Lebens.<br />

Uebersicht der hauptsächlichsten<br />

Artikel i. d. anarch. Presse<br />

Der freie Arbeiter. Sozialdemokratie<br />

und Militarismus. A. Foller, Die Bauernrevolte<br />

in Südfrankreich. Pierre Ramus,<br />

Föderalismus und Prinzipienerklärung.<br />

D., Befreiungsversuch eines politischen<br />

Gefangenen in Zürich. Die Dumaauflösung.<br />

Mateo Morales. Aufruf von<br />

F. Domela Nieuwenhuis, An alle Antimilitaristen<br />

der AVeit! K. K., Anarchismus,<br />

Philosophie und Klassenkampf.<br />

Der Prozess: Boise, Vereinigten Staaten.<br />

C.W. Alexander, Kritik über Herzbergs<br />

Broschüre: „Sozialdemokratie und Anarchismus".<br />

Kongresse. Jean Wilquet,<br />

Die Bewegung der Weinbauern in Südfrankreich.<br />

Anarchismus und Klassenkampf.<br />

Ravachols Gedanken über das<br />

Heer. R. Oestereich und Sepp Oerter,<br />

Erklärung über die Haltung von P. Frauböse<br />

vor Gericht. Der Mannheimer<br />

Prozess. M. N. Nacht, Anarchismus u.<br />

amerikanische Reporterphantasie.<br />

Die Erkenntnis. Nach zehnjährigen<br />

Kämpfen gegen zwei Fronen. Der<br />

Generalstreik. Kritische Gedanken und<br />

Glossen. Organisatorische und taktische<br />

Leitsätze des deutschen Metallarbeiter-<br />

Verbandes. V ...p, Ein grosser Verbrecher.<br />

A. Kettenbach, Die Prinzipienerklärung<br />

und P. Ramus, Justizmorde<br />

in alter und neuer Zeit. Rosa Linke,<br />

Wie befreien wir uns? Die Prinzipienerklärung<br />

des Pittsburger Kongresses<br />

der I. A. A (1883).<br />

Der Anarchist. Spartakus, Ein trauriges<br />

Kapitel über die Rückständigkeit<br />

des Proletariats. Anna Z., Frauenfrage<br />

und Anarchismus,<br />

Polis. Fr. Brupbacher, 1, Der Uebergangsmensch,;<br />

<strong>2.</strong> Osteuropäische und<br />

westeuropäische Intelligenz. U. W.<br />

Züricher, Ueber das Wesen der Feigheit.<br />

Die Freiheit und die Berge. F.<br />

Brupbacher, Der Syndikalismus und die<br />

Intellektuellen.<br />

Vorbote. Ausführliche Spezialberichte<br />

über den Prozess von W. D. Haywood.<br />

Die Ehelüge.<br />

Freiheit. Zum Anarchistenkongress<br />

in Amsterdam. M. Baginsky, Max Stirner<br />

94<br />

in englischer Uebersetzung. G. B.,<br />

Modernes Piratentnm. Hans Stromer,<br />

Gegenden Bombenapostel! A. R. M. B.,<br />

Gewerkschafts-Zarismus und die Organisation<br />

der Brauereiarbeiter (deren Ausschluss<br />

aus dem amerikanischen Zentralverband<br />

erfolgte, weil sie alle Neben,<br />

berufe ebenfalls organisierten und einen<br />

Industrieverband schuf). Renee<br />

Chaugrè, Grosse und kleine Diebe.<br />

Anarchie in Boise City.<br />

De vrije Communist. J. J. S., Die<br />

Friedenskomödie beginnt. G. Schwengeler,<br />

Intimes aus der Schweiz. Legher<br />

Rabauw, Für Edward Joris! Job. J.<br />

Lodewijk, Bemerkungen über den internationalen<br />

Kongress.<br />

Ontwaking. Dr. N.J.C. Schermerhorn,<br />

Was ist das Ziel des Lebens? Siska<br />

van Daelen, Lieder des Aufstandes<br />

Domela Nieuwenhuis, Kritik des Liebknechtschen<br />

Buches über den Militarismus<br />

und Antimilitarismus.<br />

De vrije Socialist. M. J. C. Moelaert,<br />

Wer sind die Missetäter? D. J., Wofür<br />

leben wir? M. d. B., Eroberung und<br />

Vernichtung der Staatsmacht. J. G.,<br />

Aus der Diamantarbeiterwelt. Die antimilitaristische<br />

Versammlung. J. P. H.,<br />

An die produktiven Lohnarbeiter! Kolthek,<br />

Solidarität.<br />

The Industrial Union Bulletin. (Chicago)<br />

Clarence Darrow, Begründungsrede,<br />

weshalb der Prozess wider Haywood<br />

niedergeschlagen werden sollte.<br />

Mother Earth. Max Baginsky, Die<br />

Internationale auf dem Amsterdamer<br />

Kongress.<br />

Freedom. G. H. B., Die Tatsachen<br />

über den Ferrer Fall. Peter<br />

Kropotkin, Die Anarchisten und die Gewerkschaften.<br />

Clemenceau, Briand und<br />

Viviani, die Intellektuellen als Herrscher.<br />

Guy Aldred, Literatur und Journalismus.<br />

Voice of Labour. Kurze allgemeine<br />

Berichte über die Arbeiterbewegung<br />

vom anarchistischen Standpunkt. Begründung<br />

des „Industrieverbandes der<br />

direkten Aktion".<br />

Le Reveil-Il Risvegllo. L.B., Freiheit.<br />

G. H., Metaphysische Ausbeuter.<br />

Der Kongress in Rom. Der Prozess in


Madrid. Arbeiterorganisationen. Die<br />

Züricher Bombe. D., Friedensbewegung<br />

und Antimilitarismus. G. H.. Der Kongress<br />

zu Amsterdam.<br />

La voix du Peuple. Jean Prolo,<br />

Unsere Befreiung durch die direkte<br />

Aktion.<br />

L'Anarchie. Paul Julien. Die Ehe<br />

und ihre moralische Rückhalte. Alb.<br />

Libertad, Eine tragische Komödie, die<br />

radikal-soz. Regierung. Die Antimilitaristen<br />

und die Friedenskonferenz. J.<br />

Mareston, Monogamie und Polygamie.<br />

Bulletin de L'Internationale Libertaire<br />

(Nr. 4). Berichte aus Holland,<br />

Rusiland, Belgien, Italien. Der Anarchismus<br />

und der Syndikalismus. Internationale<br />

Echos. Nr. 5), A. Dunois, Die<br />

Bewegung in Frankreich. M. Xettlau,<br />

Zur Bulletinfrage.<br />

Regeneration. E Tarbouriech, Die<br />

Bevölkerungsfrage in Algier. Ressie<br />

Drystale, Arbeiter, habt nicht viele<br />

Kinder. Urbain Gohier, Die modernen<br />

Sklaven. Paul Robin, Das einzig radikale<br />

Mittel gegen die Prostitution.<br />

Le Libertaire. Protestartikel inbezug<br />

auf die Verhaftung des Redaktears, des<br />

Genossen Louis Matha als angeblicher<br />

Falschmünzer. Leon Torton, Die direkte<br />

Aktion und Jules Guesde. Amicus, Die<br />

Verhaftung Mathas — eine Staatsrache<br />

wider unser Blatt. Mauricius, Unsere<br />

Stellung zum Amsterdamer Kongress.<br />

La Guerre Sociale. Victor Dave, Der<br />

Antimilitarismus in Deutschland. Jean<br />

Marcel, Die europäische Rasse wider<br />

die übrigen Rassen. A. Bruckère, Antipatriotische<br />

Geographie. M. Almereyda,<br />

Der Prozess Marek-Yvetot. X., Der<br />

Prozess zu Madrid. Gust. Herve, Die<br />

Lehren des Aufstandes in Südfrankreich.<br />

Ch. Malato, Die Arbeiterklasse und die<br />

Revolution. Herrn Singers „Internationalismus".<br />

Henry Fabre, Die „Konföderation<br />

der Arbeit" und der unterlassene<br />

Generalstreik anlässlich der<br />

Winzerrevolte in Südfrankreich. Fr.<br />

Stackelberg, Die Prostituierte, Kurtisane<br />

oder anständige Frau. Ch. Malato, Die<br />

Regierung der Verblendeton. F. Stackelberg,<br />

Nekrolog über Waldemar Grunberg,<br />

einem älteren deutsch-russischen<br />

Kameraden, der in der Schweiz starb.<br />

G. Hervè, Die Eunuchen des Sozialismus;<br />

(Kritik der Sozialdemokratie).<br />

95<br />

A Terra livre. Costa Repo, Politik<br />

und Politiker.<br />

L'Exploitée. Cerinne, Die Frau und<br />

die Gesellschaft. Val. Grandjean, 1).<br />

Malthusianismus; 2). Der Bourgeois.<br />

Leo Wullschleger, Nützlichkeit und Notwendigkeit<br />

der syndikalistischen Gruppierung.<br />

Les Temps Nouveaux. Aristide Pratelle,<br />

Das Volk und das Theater. A.<br />

Girard, Der Anfang der Revolution.<br />

Laurent Casas, Der Moyer-Haywood<br />

Prozess in Amerika. Peter Kropotkin.<br />

Die Stadtteile von Paris während der<br />

grossen Revolution 1789-1794. Stephen<br />

Mac Say, Polemik wider Albert Noyers<br />

Artikel „Anarchie et Anarchises". P.<br />

Kropotkin, Genug der Illusionen über<br />

die russische Duma! A. Cavalazzi, Der<br />

Prozess Galliani.<br />

La Revue Intellectuelle. Jacques du<br />

Tensin, Die soziale Frage in der Geschichte.<br />

Rignac-Zelien. Die zwei Begriffe<br />

der Demokratie.<br />

Volne Listy. Cnek Pechr, Eine<br />

tschechisch-anarchistiche Organisation in<br />

Amerika.<br />

Il Pensiero. Luigi Fabbri, Der erste<br />

Kongress der italienischen Anarchisten.<br />

Libero Merlino, 1. Ueber die Beziehungen<br />

des Sozialismus zum Anarchismus.<br />

Die Gruppe „Constantina Qualglierie"<br />

in Rom; <strong>2.</strong> Die Anarchisten und die<br />

antimilitaristische Bewegung. (Beides<br />

Berichte an den Kongress, der vom<br />

16.—20. Juli stattfand).<br />

Le Mouvemente Socialiste. G. L. Jaray,<br />

Der Sozialismus in Rumänien. G. Yvetod,<br />

Die <strong>2.</strong> Konferenz der französischen Arbeiterbörsen.<br />

R. Michels. Der bevorstehende<br />

internationale sozialdemokratische<br />

Kongress. J. Wintsch-Malroff.<br />

Der Syndikalismus in der Schweiz.<br />

Tierra y Libertad. Frederico Stachelberg,<br />

Patriotische Mistifikationen und<br />

die Solidarität der Arbeiter. Peter<br />

Kropotkin, Syndikalismus und Patriotismus.<br />

Anselmo Lorenzo, Rafael Rosés,<br />

ein Vorkämpfer des Barcelonaer Proletariats<br />

gestorben im Alter von 64 Jahren.<br />

El Hambriento. (Lima, Peru) Erinnerungen<br />

an den Mai 1886. Leopoldo<br />

E. Urmachea, Wofür kämpfen wir?


Germinal, eine in London im jüdischen<br />

Jargon publizierte Monatsrevue<br />

„der Weltanschauung des Anarchismus"<br />

tritt in den 5. Jahrgang ein, An Originalbeiträgen<br />

liegen bislang vor: Dr.<br />

Marison, Politische Tätigkeit und anarchistische<br />

Prinzipien. H. Salatoroff,<br />

Scholem Asch, ein jüdischer Dramatiker.<br />

Notizen.<br />

Die freiheitlich-kommunistische Kolonie<br />

Boitsfort, Belgien, hat mit der<br />

Herausgabe eines Monatsblattes „Der<br />

Kommunist" begonnen.<br />

Freunde der, kleinen Propagandabroschüre<br />

„Das anarchistische Manifest",<br />

wird es gewiss freuen, zu vernehmen,<br />

dass dasselbe gegenwärtig in die italienische<br />

Sprache übersetzt wird. Eine<br />

ungarische und serbische Ausgabe wird<br />

in nächster Zeit erscheinen.<br />

Obigem können wir hinzufügen, dass<br />

das „Manifest", wie uns soeben berichtet<br />

wird, von unserem Genossen Karel<br />

To man ins Böhmische und von dem<br />

Genossen Schonte ten, Redakteur von<br />

„Opstanding" ins Holländische übersetzt<br />

worden ist.<br />

„Polis", die Stadt, ist der Titel<br />

einer freiheitlich redigierten Monatsschrift,<br />

welche Dr. Johannes Widmer<br />

seit einigen Monaten in Zürich I, Leonhardstrasse<br />

12 herausgibt. Die Revue<br />

erfreut sich der Mitarbeit berufener<br />

Kräfte und vertritt in vornehmer Form<br />

die idealistisch-geistigen Momente der<br />

anarchistischen Weltanschauung. Wir<br />

wünschen dem wackeren Mitstreiter den<br />

besten Erfolg!<br />

96<br />

„Régénération", das von unserem<br />

alten Kampfgenossen Paul Robin redigierte<br />

Organ, der französischen „Liga<br />

der menschlichen Befreiung" (27 rue<br />

de la Duée, Paris XX) verficht eine in<br />

Deutschland noch ziemlich unpopuläre<br />

Anschauung, jene des Malthusianismus<br />

— fürsorgliche Beschränkung der Kinderzahl<br />

— und der freien Liebe. Wir<br />

können das Blatt allen der französischen<br />

Sprache mächtigen Lesern unserer<br />

Revue empfehlen und bedauern, dass<br />

unsere deutsche Zeitungsliteratur einen<br />

solchen Exponenten der Freiheit noch<br />

nicht besitzt.<br />

Eine interessante Studie über<br />

„Die Bedeutung des Bauernstandes für<br />

Staat und Gesellschaft" aus der sehr<br />

gewinnend freimütigen, klaren Feder<br />

von Herrn Walter Borgius fällt uns<br />

in einer der jüngsten Nummern der<br />

Naumannschen „Hilfe" auf. Ihr Wert<br />

besteht in einer polemischen Auseinandersetzung<br />

mit dem bekannten deutschen<br />

Theoretiker des Agrarkapitalismus, Dr.<br />

Otto Ammon.<br />

Briefkasten.<br />

Erratum. In dem Aufsatze von E.<br />

Carpenter über „Die einzige Grundlage",<br />

den die Genossen Lily Nadlerund Ervin<br />

Batthyany so ausgezeichnet fähig für die<br />

August-Nummer der „Fr. Gen.", aus<br />

dem Englischen übersetzten, befinden<br />

sich durch die Nichtkorrektur der betreffenden<br />

Arbeit einige so bedauerlich<br />

grobe, sinnstörende Druckfehler, dass<br />

wir uns veranlasst fühlen, dieselben<br />

dadurch auszumerzen, dass wir diejenigen<br />

Sätze in ihrem richtigen Wortlaut<br />

wiedergeben, in denen sich die Druckfehler<br />

einnisteten.<br />

1.) Denn das Land (der Demos) ist<br />

das Grundelement des menschlichen<br />

Lebens, und wenn das allgemeine Verhältnis<br />

zu diesem unwahr ist, ist alles<br />

andere unvermeidlich unwahr und verkehrt.<br />

<strong>2.</strong>) Um die lieblichen Früchte des Bodens<br />

jeder göttlichen Verwendung,<br />

zu weihen?<br />

3.) Der italienische Bauer bindet seine<br />

Weinreben an das Rohrspalier mit kleinen<br />

Ginsterzweigen und des Frühlings Sonnenlicht<br />

glänzt und flimmert herauf<br />

aus der Zisterne gerade unter ihm.<br />

4.) Die unkultivierten Plätze des<br />

Landes zu heiligen, die Bäche rein bewahrend<br />

und neue Blüten an ihren<br />

Ufern pflanzend; die Luft krystallrein<br />

zu erhalten und ohne Makel — auf<br />

dass die Sonne scheine, wo ehedem es<br />

dunkel war.<br />

5.) All dies in Herzenseinfalt zu<br />

tun, wäre wahrlich, Reichtümer der<br />

Wahrheit zu erschliessen, von<br />

welchen wenige träumen.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Gustav Lübeck, Berlin


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen :<br />

Der Wohlstand für Alle<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

Preis nur 1 ,50 MR.<br />

Leider ist es uns unmöglich, die angekündigte Broschüre<br />

„Der Generalstreik" von Aristide Briand herauszugeben, da dieselbe,<br />

wenn sie den deutschen Pressgesetzen entsprechend umgeändert<br />

werden sollte, ihre Wirkung verliert. An Stelle dessen<br />

erscheint:<br />

Revolutionäre Regierungen.<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

„Die revolutionären Regierungen" ist eine der besten Broschüren<br />

Kropotkins. Da dieselbe seit Anfang der 90er Jahre nicht<br />

mehr zu haben ist, kommen wir mit der Herausgabe den Wünschen<br />

vieler Freunde entgegen und geben wir der deutschen anarchistischen<br />

Bewegung eine wirksame Agitationsbroschüre in die Hand.<br />

Preis 5 Pfg., bei Bezug von 400 Expl., 1 Pfg. pro Exemplar.<br />

Die Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>."


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen:<br />

Das anarchistische Manifest.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

„Das anarchistische Manifest" ist eine Propagandabroschüre<br />

im wahren Sinne des Wortes. In kurzen, aber allgemeinverständlichen<br />

Worten begründet und erläutert der Verfasser die<br />

Forderungen, welche wir Anarchisten an eine menschliche, für<br />

Alle glückliche Gesellschaft stellen.<br />

Preis 5 Pfennig.<br />

Um diese Broschüre aber auch hinsichtlich des Preises zu<br />

einer Agitationsbroschüre zu machen, geben wir dieselbe bei Bezug<br />

von 350 Exemplaren mit<br />

1 Pfennig pro Exemplar<br />

ab. 400 Exemplare kosten mit Porto 4,50 Mark.<br />

Wir bitten um umgehende Bestellung<br />

Ende September gelangt zur Ausgabe :<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Der Antimilitarismus.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Diese Broschüre ist die 3. in unserer Serie und wird zu<br />

denselben Bedingungen wie „Das anarchistische Manifest" geliefert.<br />

Bestellungen nimmt schon jetzt entgegen<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Druck: Buchdruckerei M. Lehmann. Berlin.


<strong>2.</strong> Band. Heft 4<br />

Oktober <strong>1907</strong>.<br />

Vertag M. Lehmann,<br />

Berlin, Dresdenerstr. 88-89.


Empor!<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

Drei Dokumente der russischen Revolution.<br />

Die anarchistische Bewegung in Wien.<br />

Von P. Schouteten.<br />

Pierre Ramus.<br />

Die Monarchomachen und Etienne de la Boëtie.<br />

Von Gustav Landauer.<br />

Aus dem Tagebuch eines Propagandisten.<br />

Arohiv des sozialen Lebens.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> Generalion" bringt Beiträge über sämtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar-künstlerische Erkenntnisse<br />

des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmässiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Postsendung,<br />

in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Hell.,<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die<br />

Redaktion der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre<br />

Ramus, 146 Great Titchfield Street, London W. (England).<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche<br />

Mitteilungen sind zu richten an den Verlag: M. Lehmann,<br />

Dresdenerstr. 88|89, Berlin 5.<br />

In London ist die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch<br />

B. Mandl, London W., 121 Charlotte Str. Fitzroy Sq.<br />

zu beziehen.<br />

Die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erseneint regelmässig am 15 jeden Monats.<br />

Bei nicht pünktlicher Zustellung wende man sich an den Verlag.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band 2 Oktober <strong>1907</strong> Heft 4<br />

Empor!<br />

Aus Holländischen des P. Schouteten.*)<br />

Erhebt das Haupt, ihr Sklaven dieser Erde,<br />

Empor den unterdrückten Kopf!<br />

Erkennet eure Macht, die stets missbrauchte Werte schafft,<br />

Empor die Faust! Zur Freiheit auf!<br />

Werft stolz den Blick auf eurer Hände Arbeit,<br />

Es ist — was ihr erschuft — durch euch vollbrachte Tat!<br />

Nur ihr erzeugt den Reichtum aller Länder —<br />

Hell schall' dies Lied aus eurer Kehle!<br />

Empor die Faust, die Pferd und Wagen lenkt,<br />

Die auch den Pflug durch brachen Acker zog,<br />

Die mühevoll dem Werk ein schönes Ziel gebot<br />

Und dessen Krönung — Mut und Fleiss — uns zollt!<br />

Weist hin auf eurer Felder stolze Ernte,<br />

Auf's Obst, auf's Vieh und was dabei!<br />

Nur wider euren Willen man in Fesseln,<br />

In Hunger, Tod und Sklaverei euch zwang ...<br />

Empor die Faust, die Kell' und Hammer schwang,<br />

Die 's Dampfross für die Meere rüstet!<br />

Die See'n und Berge niederrang,<br />

Und Himmelsfeuer uns zur Lebensleuchte brachte!<br />

*) Redakteur unseres Bruderblattes „Opstanding".


98<br />

Empor, du Sklavin! Entblösse frei die vollen Brüste,<br />

In denen stets der Keim des Lebens braust!<br />

Entblösse, wo funkelnd ewige Frucht und Kraft errauschen,<br />

Zur Labung immer neuer Dürste!<br />

Recht hoch das Haupt, ihr Sklaven dieser Erde!<br />

Empor den tiefgesenkten Kopf!<br />

Erkennet eure Macht, die stets missbrauchte Werte schafft —<br />

Empor! Empor! Zur Freiheit auf!<br />

(Uebersetzt von Sergejew).<br />

Drei Dokumente der russischen Revolution.<br />

Vorbemerkung. Nachfolgende drei Dokumente des gewaltigen<br />

Hingens im Osten Europas sprechen für sich, und es ist nicht an uns, ihren<br />

Irrtümern entgegenzutreten, ihre Wahrheiten zu bekräftigen. Es gibt eine<br />

Entscheidung im revolutionären Kampfe der Theorie und der alltäglichen<br />

Praxis, welche unleugbar und unzweideutig ist: die historische Erkenntnis<br />

der Zukunft. Ihr überantworten wir die Blatter der russischen .Revolution,<br />

welche für uns gleichsam hellbeleuchtende Blitze sind für das Dunkel<br />

und die Unmöglichkeit deutlicher Unterscheidung, welche die russische Revolution<br />

und so manche ihrer Phasen bis heute noch bedecken. Eines glauben<br />

wir dennoch jetzt schon sagen zu müssen: die sozialdemokratische Resolution<br />

der Kieffer Arbeiter richtet sich durch sich selbst, indem sie wohl bürgerlichdemokratisch,<br />

doch jedes sozialistisch-revolutionären Empfindens bar ist.<br />

Bedauerlich ist der Umstand, dass der Schreibebrief unserer Genossen<br />

und Genossinnen aus der Zitadelle von .... erst am 10. September in unsere<br />

Hände gelangte, somit dem internationalen Kongress in Amsterdam nicht vorgelegt<br />

werden konnte. Wir haben das urkundliche Manuskript dem Archiv<br />

des internationalen Bureaus übermittelt.<br />

An den internationalen anarchistischen Kongress.<br />

Herzlich liebe Kameraden!<br />

Mit brüderlichen Grüssen wenden wir uns heute, am Vorabend<br />

des Tages zu Euch, der die internationale anarchistische Bewegung<br />

zu gemeinsamer ernstester und erhebender Arbeit zusammenberuft.<br />

Und mit ihnen verbinden wir die innigsten Wünsche für solidarisches<br />

und erspriessliches Zusammenwirken!<br />

Wenn, Kameraden, wir auch heute zu unserem Schmerz nicht<br />

unter Euch sein können, so möchten wir doch einige Worte


99<br />

darüber sagen, wie der internationale Kongress speziell für unsere<br />

Bewegung in Russland und diesen Augenblick unendlich wertvoll<br />

sein kann. Dabei ist zweierlei vorauszuschicken: Einmal, dass<br />

dies der Moment ist, in welchem das Schicksal der russischen<br />

Revolution vom Eingreifen der Anarchisten abhängt. (Das wird<br />

nachgerade von den Einsichtigen aller Parteien eingesehen und<br />

z. T. auch zugegeben.) Alle politischen Parteien befinden sich in<br />

einem Zustand, den man fast als Auflösung: und Agonie bezeichnen<br />

kann. In ihrem politischen Evolutions-„Kampf" ad absurdum geführt,<br />

ja: fast aufgerieben und mit höhnischer Gewalt zurückgewiesen<br />

(vide soz.-dem. Duma-Fraktion); jedes seiner Zugehörigkeit<br />

überführte Mitglied einer sozialdemokratischen Duma-Partei<br />

bekommt wie wir Katorga; heute nacht z. B. wurden hier 11 Mitglieder<br />

einer legalen Handlungsgehilfen-Organisation, deren Mitglieder<br />

also alle polizeilich angemeldet sind, eingeliefert etc. etc., sind<br />

sie durch fortwährende Spaltungen und tiefgehende Risse im Innern<br />

vollständig geschwächt und zerrüttet. Dazu kommt, dass das Streben,<br />

mit Zahlen zu prunken, das Material der Parteien erschreckend<br />

verschlechtert hat, so dass eine furchtbare Zahl von Provokateuren<br />

entstanden sind, die entsetzliche Arbeit geleistet haben (in Verbindung<br />

mit der in den Gefängnissen etablierten, fast beispiellosen<br />

Tortur), so dass die Türme überfüllt sind — in 6 qm grossen<br />

Kammern „leben" und „schlafen" wir zu 35—40 Mann —, trotzdem<br />

täglich Transporte mit Verschickten abgehen. Das alles,<br />

dazu die ständig wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter mit der<br />

Taktik, das Unbefriedigtsein der Intelligenz wie der intelligenten<br />

Arbeiter über den Mangel einer ideellen, einer umfassenden, festen,<br />

befriedigenden Weltanschauung, hat die Parteien in den Zustand<br />

völliger Zerrüttung und Depression gebracht. Noch einmal haben<br />

sie sich (hier S. D., P. P. S., Bund etc.) als Polizei und Gesellschaftsretter<br />

versucht: Anarchisten, die einzeln in Orten ohne<br />

Gruppen lebten, wenn man sie auf Expropriation, Terror etc.<br />

ertappte, hat man geschlagen, bedroht und getötet! Wir sind<br />

bereit, darüber jeder Instanz Material zu übergeben. — Aber<br />

immer mehr und mehr wurden die Arbeiter über solche gesellschaftsretterische<br />

Taktik erbittert (mit den Fabrikanten musste<br />

stets in den höflichsten Formen unterhandelt werden!), sie wendeten<br />

sich mehr und mehr der anarchistischen Taktik zu, verlangten die<br />

Führung der Streiks, ökonomischen Terror, Propaganda, Literatur<br />

etc. Dabei kommen wir zum zweiten Moment. —<br />

Es gibt heute kaum den kleinsten Ort in Polen-Litauen,<br />

in dem sich nicht eine anarchistische Gruppe befindet. In Wirklichkeit<br />

aber sind diese Kameraden, die schon mit diesem Namen,<br />

aber auch täglich mit Taten ihr Leben aufs Spiel setzen, Anti­<br />

Sozialdemokraten, Anti-Bundisten etc. oder, da alle diese Parteien<br />

von einer programmatischen, prinzipiellen Propaganda längst abgekommen<br />

sind: Gegner der sozialdemokratischen Taktik. So


100<br />

beschränkt sich denn die Tätigkeit der anarchistischen Gruppen<br />

fast ausschliesslich auf Expropriationen, ökonomischen Terror etc.,<br />

während die Propaganda der anarchistischen Idee sowohl im Innern<br />

selbst wie nach aussen hin vollständig unterbleibt. Das ist ein<br />

furchtbarer Missstand, und er ist Schuld daran, dass trotz aller<br />

Helden, trotz all der furchtbaren Opfer der Anarchismus in Russland<br />

nicht die Rolle spielt, die ihm zukommt in der Arbeiterbewegung<br />

— zum Schaden der Revolution, zum Heil aller Reaktion<br />

— während andererseits die ganze moderne Intelligenz Russlands<br />

mehr und mehr sich mit anarchistischen Ideen beschäftigt und der<br />

moderne Büchermarkt geradezu vom Anarchismus beherrscht wird.<br />

Gewiss, niemand kennt diesen unerträglichen Missstand mehr als<br />

wir selbst, aber Zentren wie Warschau, Bjelostok etc. können<br />

unmöglich den Anforderungen nach Agitatoren, Literatur, die von<br />

überall kommen, nachkommen, ja sie leiden zum Teil stark selbst<br />

an diesen Mängeln ...<br />

Aus diesem Uebel resultieren dann alle die anderen; trotz<br />

beispielloser Solidarität und Kameradschaftlichkeit im Einzelnen,<br />

die bis zur Aufopferung geht, fehlt der feste Zusammenhang<br />

zwischen allen Teilen Russlands, ja in ihm selbst fehlt noch<br />

immer die überall angestrebte Föderation. Die Kräfte werden<br />

dadurch zersplittert, unendliche Kraftersparnis unmöglich gemacht,<br />

die Gefahren (Lager von Literatur, Waffen, Druckereien etc. etc.)<br />

vervielfacht, der Nachdruck einer geschlossenen Bewegung fehlt...<br />

Wir, Kameraden, die zum Teil unter schweren und schwersten<br />

Beschuldigungen stehen, werden nicht in den Verdacht kommen,<br />

aus Feigheit oder Unkenntnis zu sprechen, wenn gerade wir sagen:<br />

unsere Aufgabe ist zunächst: die Arbeit in die Tiefe!<br />

Die grösste Idee, die höchste Weltanschauung in denen, die sich<br />

zu ihr bekennen unter Einsetzung ihrer Freiheit und ihres Lebens,<br />

pflanzen und festigen — das anarchistische Bewusstsein zur Grundlage<br />

des Namens und des Handelns machen, das dann (die Taktik)<br />

gewiss anarchistisch sein muss — das ist die erste Aufgabe.<br />

An Helden hat es uns hier nie gefehlt und wird es uns nicht<br />

fehlen ! Aber wie überall in den vordem Reihen das Sehnen nach<br />

Wissen, nach Bewusstsein, nach einer festen Weltanschauung vorhanden<br />

ist, die uns nicht zu Taktik-Dogmatikern werden<br />

lässt, sondern unserem Handeln die bewusste Grundlage gibt, so<br />

ist sicher, dass das bewusste Handeln dem jetzigen, vielfach leider<br />

nur „taktik"-massigen nicht nachstehen wird. . .<br />

Ihr, Kameraden, könnt nur helfen. Euer Kongress biete uns<br />

Material! Die Kameraden aller Länder, die in Betracht kommen,<br />

mögen uns mehr als bisher beim Transporte von Waffen, Literatur,<br />

Kameraden etc. unterstützen ! Den Kameraden, die bei ihnen im<br />

Auslände zeitweise sich aufhalten, mögen sie nach Möglichkeit zu<br />

einer guten Ausbildung verhelfen . . .<br />

Und die letzte Aufgabe mögen speziell diese unsere Kameraden


101<br />

selbst sich mehr als bisher stellen! Revolutionäre Studienzirkel einzurichten,<br />

jeden Tag und jede Stunde des Aufenthaltes im Ausland auszunützen,<br />

dass in jedem Arbeiter, der ohne jedes Wissen, aber mit<br />

grossem Sehnen nach ihm, Russland verlassen, uns ein Helfer, ein<br />

Propagandist, wiederkehre ! Das mögen speziell die vielen Studenten<br />

etc. sich vor Augen halten, die im Ausland sich Anarchist nennen.<br />

Es ist das bequem, aber das Bekenntnis zur höchsten Idee verpflichtet<br />

zur höchsten Arbeit.<br />

Der Arbeit in die Tiefe wird dann die fruchtbarste in die<br />

Breite folgen, und der Anarchismus wird in Russland die Revolution<br />

zum Siege führen können.<br />

Wir können nicht mehr schreiben, liebe Kameraden, trotzdem<br />

uns Herz und Sinn voll sind von so Vielem, das wir Euch sagen<br />

möchten . . . Hoffentlich kommt dieser Brief zu Euch und bringt<br />

Euch die herzlichsten, brüderlich-internationalen Grüsse von den<br />

Anarchisten und Anarchistinnen im Gefängnis in . . .<br />

Samstag, 24. VIII. 07.<br />

*<br />

Ein Manifest der anarchistisch-kommunistischen Konferenz<br />

von Litauen und Polen an alle Arbeiter!<br />

„Die Revolution in Russland führt zur vollständigsten<br />

Anarchie!" rufen gemeinsam und schreckerfüllt<br />

die russische Regierung und die verschiedensten politischen<br />

Parteien — diese ,,Erneuerer des russischen Lebens", welche sich<br />

gegenseitig vorwerfen, schuld daran zu sein. Als echte Kinder<br />

der bourgeoisen Welt verstehen diese Herren unter Anarchie ein<br />

Chaos, welches zum Gipfelpunkt der Unordnung und Organisationslosigkeit<br />

geleitet.<br />

Aber auch wir russischen Kommunisten und Anarchisten<br />

sagen dasselbe: die russische Revolution kommt in ihrer Entwicklung<br />

immer näher und näher der anarchistisch-sozialen Revolution<br />

— der vollkommenen Anarchie.<br />

Logischerweise führt die russische Revolution zur Anarchie.<br />

Eine ganze Reihe vergangener Revolutionen, aus der die Arbeiterklasse<br />

Bewusstsein, Praxis und Gewohnheit schöpfte, bildet die<br />

Garantie dafür.<br />

Wir russischen Anarchisten verstehen unter Anarchie natürlich<br />

nicht das, was unsere Gegner darunter begreifen ; also nicht<br />

Zerstörung, sondern etwas anderes. Doch sogar ob des Sinnes,<br />

den die Bourgeoisie dem Worte unterstellt, sind wir nicht allzu<br />

sehr besorgt. Viel besser für das Heil der Menschheit wäre es<br />

natürlich, wenn die gegenwärtige Gesellschaft um jeden Preis vernichtet<br />

werden würde, als wie wenn sie bestehen bliebe, wie sie<br />

ist, mit ihrer Gegenwartszivilisation. Diese Gesellschaft mit<br />

Institutionen und Einrichtungen, welche gebaut werden aus


102<br />

dem Blute menschlicher Körper, die Tränen von Unzähligen darbietend<br />

. . .<br />

Die Bourgeoisie hat guten Grund, die existierende Ordnung<br />

scheu zu machen vor den anarchistischen Ideen. Denn diese<br />

Ideen des Anarchismus sind ihre gefährlichsten Feinde, der Tod<br />

für sie selbst. Das wilde, brutale Geschrei wider sie ist also<br />

verständlich; auch der schreckliche Hass, mit welchem sie sich<br />

über den Anarchismus stürzt, jene gemein-schmutzigen Massregeln,<br />

die sie vornimmt, um diese neue, noch sehr junge revolutionäre<br />

Kraft in Russland zu ersticken. All dies ist begreiflich. — Unter<br />

ihrer Agonie verbirgt sich ein geheimer Schrecken, Furcht vor<br />

der heraufziehenden Revolution, welche der Bourgeoisie und ihren<br />

Institutionen Tod und Vernichtung bringen wird. Sie ist besorgt<br />

um eben diese „Ordnung", welche die Bourgeoisie heraufbeschworen,<br />

die uns in die Anarchie geleitet! In dieser unserer Ordnung<br />

wird kein Platz sein für Herrschsüchtige, für das teuflische Spiel und<br />

Treiben der Exploitation, Knechtschaft und Herrschaft.<br />

Unsere Feinde wissen es ganz vorzüglich, dass es sowohl im<br />

gesellschaftlichen, wie im Leben der Natur kein Zerstören gibt<br />

ohne Schaffen und Neuschöpfen, dass jede kritische, negative<br />

Seite eine positive in sich birgt — dass wir im Zerstören<br />

Schöpfer und Neugestalter sind! Ganz wie wir, sind<br />

sie überzeugt von der schöpferischen Kraft einer jeden Revolution,<br />

welch letztere sie aber befürchten müssen. Sie wissen es zu<br />

wohl, dass Revolution und Anarchie in Russland zwei zusammengehörende<br />

Teile ein und derselben Sache sind. Die Revolution tritt<br />

auf als kritische Seite des gesellschaftlichen Lebens, desorganisiert<br />

den alten, gesellschaftlichen Mechanismus, zerstört: die alte, absterbende,<br />

zerfallende Ordnung, die gefährliche Erbschaft vieljähriger<br />

gesellschaftlicher Auswüchse zerstörend : die Regierung<br />

— welche ihrerseits das gesellschaftliche Leben in das Joch der<br />

Gesetzlichkeit, des Militarismus und der moralischen Sklaverei<br />

zwängte; dass die Revolution also durch und mittels dieser ihrer<br />

Methoden eine positive Gesellschaftsgrundlage bereitet: die Anarchie,<br />

die Herrschaftslosigkeit. Sie gebärt Energie und Freiheit,<br />

erweckt Mut, Selbständigkeit und persönliche Initiative, verwandelt<br />

den im Staube liegenden, gehorsamen Sklaven in einen protestierenden,<br />

energischen Revolutionär, den nichts davon abhalten kann,<br />

seine zerstörend-heilige Hand, auf die alten modernden Reichtümer<br />

der Macht, auf die bislang hoch und heilig gehaltenen Gesellschafteinrichtungen<br />

zu legen.<br />

Die freiheitlichen, des zentralisierten Tendenzen einer jeden<br />

Revolution sind die festesten Grundlagen der anarchistischen<br />

Prinzipien. Und deshalb trägt jede Revolution diese Prinzipien<br />

in die Arbeitermassen.<br />

Die Arbeiterklasse, vereinigt durch ihre gemeinsamen ökonomischen<br />

und moralischen Interessen, bildet einen sozialen Organismus


103<br />

Eine jede Revolution verstärkt ihn, entwickelt das soziale Bewusstsein<br />

und vergrössert die Kluft zwischen besitzender und besitzloser<br />

Klasse. Gesunde Klasseninstinkte werden dem Proletariat<br />

eingepflanzt; all das gibt ihm die Möglichkeit, seine wahren Feinde<br />

in der Bourgeoisie zu erkennen, mag sie auch oft sich verkleiden<br />

in den roten Gewändern der Demokratie.<br />

Es waren die ersten Schritte, welche das russische Proletariat<br />

machte, als es sich zusammen mit der Bourgeoisie erhob.<br />

In den zukünftigen Kämpfen sehen wir es, wie es den Phrasen<br />

der vielen „guten Freunde" keinen Glauben mehr schenkt. Fuldas<br />

russische Proletariat ist die russische Revolution die letzte<br />

Lehre. Es sieht sich verraten auf Schritt und Tritt, es sieht die<br />

Revolution, welche Tausende von Opfer kostete, verkauft für<br />

schmutzige Stolipinsche Versprechungen ; es beobachtet, wie fast<br />

alle jene, welche vor noch nicht gar langer Zeit „Es lebe die<br />

Revolution!" schrieen, heute vor ihrem anarchistischen Charakter<br />

zurückschrecken und, ähnlich der Kuropatkinschen Armee, zurückweichen,<br />

die Waffen von sich werfen. Ja, diese neuen Konservativen<br />

sind schon konservativ geworden, bevor sie imstande<br />

waren, das zu erobern, was sie früher als elementare, naturnotwendige<br />

Verbindungen für alles weitere erachteten.<br />

Gleich beim ersten Ausbrechen der russischen Revolution<br />

offenbarte und entwickelte sich mit Rapidität eine neue revolutionäre<br />

Kraft, bislang fast unbekannt: der Anarchismus. Hervorgerufen<br />

vom gesellschaftlichen Leben, gelang es ihm bald, eine<br />

bestimmte Position einzunehmen, bewusste Beziehungen zu den<br />

verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungen auszuarbeiten. Wahr<br />

ist, dass in der noch so jungen Bewegung einige Fehler begangen<br />

wurden, welche, die Praxis des Kampfes später richtig stellte.<br />

Diese Fehler rücksichtslos aufzudecken und unsere Prinzipien noch<br />

tiefer und mächtiger in das Herz der Arbeiter zu pflanzen —<br />

darin bestand die Aufgabe unserer Konferenz. Es wurden verschiedene<br />

Fragen besprochen, und dann gelangten folgende Punkte<br />

zur einstimmigen Annahme durch sämtliche Gruppen :<br />

1. In Erwägung, dass die Uneinigkeit der anarchistischen<br />

Gruppen unter einander die Konferenz auf die Prüfung hinwies,<br />

raten wir den Gruppen dringend, damit ihre Arbeit und ihr Kampf<br />

kein zersplitternder, sondern fruchtbar sei, sich zu Föderationen<br />

zusammenzuschliessen.<br />

<strong>2.</strong> In Anbetracht dessen, dass fast alle Expropriationen,<br />

welche bislang von anarchistischen Gruppen Russlands für organisatorische<br />

Zwecke durchgeführt wurden, zu klein, und nicht genügend<br />

organisiert waren, dadurch eine grosse Verschwendung der<br />

materiellen und moralischen Kräfte mit sich führten, verwirft die<br />

Konferenz diese Expropriationsform und spricht sich aus zugunsten<br />

grosser, wohlorganisierter Expropriationen, geleitet durch die<br />

Föderation oder Gruppen. Wir erklären uns für die Expropriation


104<br />

staatlicher und privateigentümlicher Institutionen; erklären ferner,<br />

dass nur eine wohlorganisierte Föderation von Gruppen imstande<br />

ist, grosse Expropriationen durchzuführen, wie sie die Bedürfnisse<br />

der russischen anarchistischen Bewegung erheischen; erklären,<br />

dass nur sie dazu fähig ist, das durch die Expropriation Erworbene<br />

in zweckentsprechender Weise zu verausgaben.-<br />

3. InErwägung der Beziehungen und Kampfesmittel der demokratisch-sozialistischen<br />

Parteien zu uns und den unsrigen,erkennt die<br />

Konferenz an, dass jene Parteien nicht die moralischen Möglichkeiten<br />

eines prinzipiellen Kampfes wider das bestehende System besitzen.<br />

In der falschen Auffassung, in ihrer Bekämpfung unserer Bewegung<br />

es nur mit wenigen Individuen zu tun zu haben, tun sie dies sehr<br />

oft durch die Anwendung provokatorischer Kampfesmittel.<br />

Wir schlagen den Gruppen daher Vor, gegen dieses gemeingefährliche<br />

Uebel im allgemeinen nur mittels der Methoden der Entlarvung,<br />

der Aufklärung und Propaganda unter den Massen anzukämpfen;<br />

in ernsteren Fällen jedoch wider diese Subjekte<br />

vorzugehen, wie gegen ganz gemeine Provokateure.<br />

4. Die taktischen Mittel der russischen Anarchisten und<br />

der übrigen Parteien beurteilend, rät die Konferenz den Gruppen,<br />

die Fachorganisationen, unter welcher Form und welchen Namen<br />

sie sich auch vorfinden mögen, mit Energie zu bekämpfen,<br />

gegen sie vorzugehen wie gegen gefährliche und schlaue Mittel<br />

der Bourgeoisie, dazu geschaffen, um die Arbeiter von dem rein<br />

revolutionären Wege auf den Weg von Kompromissen abzudrängen,<br />

welch letztere das revolutionäre Klassenbewusstsein verdunkeln.<br />

5. Für die Expropriation von Arbeitsprodukten spricht<br />

sich die Konferenz in folgenden Fällen aus:<br />

Die organisierte Massenexpropriation von Arbeitserzeugnissen ist<br />

statthaft in Zeiten des Generalstreiks, der Aussperrung, Arbeitslosigkeit<br />

usw. Sie ist es dann und deshalb, weil wir jede philantropische<br />

Hilfe der Bourgeoisie wie auch anderer politischer Parteien verwerfen,<br />

welche in Perioden arger Volksnot billige Küchen- und<br />

Hilfskassen für Arbeitslose einrichten, also Einrichtungen, welche<br />

im Proletar eine Bettlerpsychologie erzeugen und die revolutionäre<br />

Kampfeslust in ihm ertöten.<br />

6. Konspiration.<br />

*<br />

Resolution der Kieffer Sozialdemokratie gegen die<br />

Anarchisten.<br />

„Die in Russland erzeugte Lage vollständiger politischer<br />

Rechtlosigkeit und polizeilicher Willkür hemmt die Entwicklung<br />

der Arbeiterorganisationen, welche dazu fähig sind, den ökonomischen<br />

und politischen Kampf der Arbeiterklasse zu führen. Doch<br />

die herrschende Arbeitslosigkeit, der Hunger und das Elend


105<br />

erzeugen einen günstigen Boden für die Ideen des Anarchismus<br />

und die anarchistischen Kampfesmethoden.<br />

Eine solche Lage der Dinge brachte es zur starken Entwicklung<br />

des ökonomischen Terrors, welcher sich in der Ermordung<br />

von Fabrikaufsehern und höhern Angestellten des Kapitals, wie<br />

seiner Diener, auch in der Brandstiftung in den Häusern der<br />

Fabrikanten äussert.<br />

Die Auswürflinge der Gesellschaft — professionelle Diebe<br />

und Räuber, die diese Ideen der Expropriation natürlich gerne<br />

annehmen — begehen in dieser Hinsicht die schändlichsten Gewalttaten<br />

und erregen damit die Furcht der Bevölkerung. Es<br />

finden Anfälle und Ueberfälle von Personen statt, die den Zweck<br />

haben, gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen zu attackieren,<br />

deren Angestellte eben jene Personen sind. Und all dies geschieht,<br />

indem man die revolutionäre, rote Fahne hochhält. . .<br />

Diese Versammlung der Kieffer Sozialdemokratie erklärt<br />

hiermit, dass die Regierung unfähig ist, mittels Unterdrückungen<br />

und Gefängnissen dem stetig wachsenden Elend Einhalt zu gebieten<br />

und konstatiert, dass alle Diebstähle und Raubanfälle, Expropriationen<br />

erst dann ihr Ende finden werden, wenn die Regierungfolgendes<br />

bietet:<br />

1. Sowohl die Arbeiterklasse, wie alle übrigen Bürger<br />

müssen das Recht haben, die vollständigen, bürgerlichen Freiheiten<br />

zu benützen, sich ihrer zu erfreuen.<br />

<strong>2.</strong> Ein Parlament, bestehend aus dem ganzen Volk, erwählt<br />

durch das allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht, muss Gesetzlichkeit<br />

und freie Ordnung einführen, wie auch radikale Reformen,<br />

um die ökonomische Lage der Arbeiterklasse zu verbessern.<br />

3. Freiheit in politischer und ökonomischer Organisationshinsicht,<br />

Versammlungs- und Streikrecht, die Rede- und Pressfreiheit.<br />

In Anerkennung unsererseits, dass die Ideen des Anarchismus<br />

reaktionäre sind ; dass die Taktik der Anarchisten und anderer<br />

revolutionärer Gruppen der Arbeiter, wie auch einzelner Persönlichkeiten,<br />

welche anwenden im Kampf wider die bestehende Gesellschaftsordnung<br />

die Ermordung von Regierungsvertretern, von<br />

Kapitalrepräsentanten, die Expropriation des Eigentums ihrer<br />

Feinde — in Anerkennung, dass diese Taktik unzweckmässig und<br />

schädlich ist, Verderbnis in die Arbeitermassen hineinträgt und<br />

das Klassenbewusstsein des Proletariats verdunkelt, der Idee des<br />

Klassenkampfes widerspricht, den Glauben des Proletariats in<br />

seinen Kräften abschwächt, oftmals die besten, klassenbewussten<br />

Elemente opfert — in Anerkennung all dessen wenden sich die<br />

Arbeiter der Stadt Kieff, die ukrainische Sozialdemokratie mit<br />

diesem warmen Aufruf an diejenigen ihrer Kampfesbrüder und<br />

die Frauen, welche von dem Wege des Klassenkampfes abirrten,<br />

fordert sie auf, einzutreten in die existierenden Arbeiterorganisa-


106<br />

tionen und die obigen Kampfesmethoden zu verwerfen. Wir fordern<br />

sie auf, einen festgeschlossenen einmütigen Kampf für die<br />

Verbesserung ihrer ökonomischen Lage zu führen, um. imstande zu<br />

sein, jene Ziele zu erreichen, welche die gegenwärtige Lage - in<br />

Russland diktiert."<br />

Die anarchistische Bewegung in Wien.<br />

(Beriebt an den Amsterdamer Kongress.)<br />

Aus der heute leider fast gänzlich vergriffenen Broschüre des<br />

verstorbenen Genossen August Krcal „Zur Geschichte der<br />

Arbeiterbewegung in Oesterreich" kann man die Entwicklung unserer<br />

Bewegung von dem Jahre 1867 bis 1894 entnehmen. Es obläge<br />

uns somit, in dem nachfolgenden Bericht eine ähnlich umfassende<br />

Darlegung über die Entwicklungstendenzen von 1894 bis heute zu<br />

geben, wie Krcal dies getan hat. Daran kann leider nicht gedacht<br />

werden. Wir müssen uns darauf beschränken, eine kurze Informationsskizze<br />

zu bieten, die sich ganz besonders auf Wien<br />

beschränken will, nur hier und da auf andere Städte übergreifend,<br />

wenn es der Gegenstand der Betrachtung erfordert.<br />

Seit dem Eingehen der „Zukunft" haben die Genossen anderer<br />

Länder wenig von der Wiener Bewegung vernommen. In der Tat<br />

Hess dieselbe sehr nach, und es waren vornehmlich zwei Faktoren,<br />

welche gemeinsam gegen die anarchistische Bewegung vorgingen<br />

und dieselbe bis zu einem gewissen Grade zurückschlugen: die<br />

Polizei und die Sozialdemokratie. Die Polizei durch ein raffiniertes<br />

System der unberechtigtsten Ausweisungen, wodurch sie die Bewegung<br />

ihrer geistig fähigsten Triebkräfte beraubte; die Sozialdemokratie<br />

durch gemeine Denunziation und die verwerflichsten<br />

Methoden der Aufpeitschung sämtlicher fanatischer Unwissenheitsinstinkte<br />

der breiten Masse gegenüber dem Anarchismus.<br />

Im Jahre 1894 bestanden in Wien 9 anarchistische Vereinigungen.<br />

Es waren dies 5 deutsche Bildungsvereine, ein politischer<br />

Verein (genannt „Zukunft"), 3 tschechische Bildungsvereine. Als<br />

Organe erschienen die „Zukunft" und das tschechische Blatt<br />

„Volne Listy", redigiert vom Genossen Jan Opletal.<br />

Da setzten die polizeilichen Verfolgungen ein, und eine ganze<br />

Reihe von Existenzen fielen ihnen zum Opfer. Die Vereine wurden<br />

saisiert, aufgelöst. Das deutsche Organ, die „Zukunft" ging unter<br />

der Wucht dieser polizeilichen Schläge zugrunde. Von den Ausgewiesenen,<br />

die zu den besten und tätigsten Kräften gehörten,<br />

wären u. a. zu nennen : Friedländer, Valencia, Huber,<br />

Hawel, Malaschitz, Bojer. Als der Verein „<strong>Freie</strong>


107<br />

Meinung" polizeilich aufgelöst wurde, ging Stefan Grossmann,<br />

bisher Anarchist, zur Sozialdemokratie über, die ganz offen mit<br />

ihrem Krippenwesen und ihrer offiziellen Unantastbarkeit durch<br />

die Polizei prunkte. Grossmann ist vorläufig feuilletonistischer<br />

Redakteur der „Wiener Arbeiterzeitung" und hat mit der Bewegung<br />

des sozialistischen Anarchismus in keiner Weise mehr etwas<br />

gemein.<br />

Auch das böhmische Organ „Volne Listy" wurde unterdrückt,<br />

jedoch dank der Unermüdlichkeit des tschechischen Elementes<br />

unserer Bewegung sofort ein neues gegründet. Es war dies<br />

„Matice Delnick", heute „Matice Svobody" benannt und noch<br />

gegenwärtig in Brünn erscheinend. Redakteur dieses Blattes war<br />

und ist Jan Opletal.<br />

Am 3. September 1894 fand in Wien eine Konferenz statt,,<br />

welche eine internationale Streitfrage behandelte und die Bewegung<br />

intern noch mehr zermürbte, als es bisher die Polizei getan.<br />

Es handelte sich um eine Unterstützungsfrage inbezug auf Valencia,<br />

welcher gerade aus dem Gefängnis kam und sich, infolge der<br />

Streitigkeit, nach Graz zurückzog und sich weiterhin nicht mehr<br />

an der Bewegung beteiligte.<br />

Um diese Zeit kam auch der stürmische Individualismus nach<br />

Wien, und durch die falsche Auffassung seiner Ideenwelt richtete<br />

er grossen Schaden an in der Bewegung. Die „individualistische<br />

Propaganda", die damals aufkam und der sich eine ganze Anzahl<br />

von Jüngern Kräften ergaben, boten nur der Polizei eine willkommene<br />

Handhabe dar, mit Ausweisungen und Gewaltsmassregeln<br />

gegen Unliebsame vorzugehen. Fast die gesamte „individuelle<br />

Propaganda" kam nicht über das Stadium der Vorarbeiten hinaus.<br />

Wo sie glückte, gereichte sie der Idee des Anarchismus auch nur<br />

in den seltensten Fällen zum Vorteil.<br />

Im Jahre 1896 wurde von der tschechischen Bewegung eine<br />

Konferenz der Anarchisten Oesterreichs nach Kladwo in Böhmen<br />

einberufen. Die Wiener Genossen entsandten zwei Delegierte.<br />

Doch die Konferenz kam nicht über ihre Vorarbeiten hinaus, als<br />

die Polizei eindrang, die Delegierten auseinandersprengte. In<br />

Eile wurde beschlossen, sich im Walde wieder zu finden, wo die<br />

Konferenz auch ihre Fortsetzung fand. Auf ihr wurde beschlossen,<br />

dass vom 1. Oktober 1896 an die Kohlengräber Oesterreichs in<br />

einen Generalausstand treten sollten; auch die Militärpflichtigen<br />

wurden aufgefordert, den Waffendienst zu verweigern. Der Streik<br />

brach, da es besonders unter den Bergarbeitern Nordböhmens<br />

stark gärte, etwas verfrüht aus. Die direkte Aktion wirkte:<br />

die Schächte wurden demoliert, Revolverschüsse auf die provokatorisch<br />

auftretende Gendarmerie abgegeben. Die Regierung<br />

sandte militärische Verstärkungen nach dem Streikgebiet, und die<br />

Sozialdemokraten sprangen ihr dadurch hilfreich zu, dass sie<br />

ganz ostentativ Front gegen die „Gewaltaktionen" der Unterdrückten


108<br />

machten, die „Gesetzlosigkeit" derselben verurteilten; und so<br />

wurde die erste mit anarchistischen Mitteln geführte wirtschaftliche<br />

Aktion der Arbeiter Oesterreichs durch diese beiden Bundesgenossen<br />

— Militär und Sozialdemokratie — unterdrückt und niedergeschlagen<br />

und verraten.<br />

Die beiden Delegierten zu obiger Konferenz. Karnet und<br />

Bauer, wurden gleich nach ihrer Ankuuft in Wien behördlich<br />

ausgewiesen. —<br />

Alle diese Verfolgungen, fürchterlichen Unterdrückungsmethoden,<br />

die sich noch verschärften unter der denunziatorischen<br />

Hetzerei der Sozialdemokratie, hatten den einen Zweck: die<br />

Bewegung der sog. Radikalen und Unabhängigen auszurotten oder<br />

hinüber auf die Bahn der geduldeten Sozialdemokratie zu leiten.<br />

Dass die ersteren selbst auch manche Fehler begingen, soll nicht<br />

bestritten werden. Doch die Fehler waren nicht die Ursache des<br />

unaufhaltsamen Niederganges der ; Bewegung; Fehler von ihrem<br />

Standpunkt aus machen auch die Sozialdemokraten, macht jede<br />

Partei. Es handelt sich hier jedoch darum, dass man, sowohl<br />

durch die Regierung von rechts wie durch die Sozialdemokratie<br />

von links, den Anarchisten jede Existenzmöglichkeit des materiellen<br />

Erwerbes, jede propagandistische Betätigung durch die kleinlichsten<br />

Ausweisungen entzog.<br />

Dann kam Lucchenis Tat, welche dieses System russischer<br />

Methode bis zu seinem Gipfelpunkt erwachsen liess. Schlag folgte auf<br />

Schlag und stets mit vermehrter Wucht, unfüllbare Lücken reissend,<br />

und so können wir konstatieren, dass die Bewegung mit dem Jahre<br />

1898 praktisch aufhörte, eine Bewegung zu sein, die in Berührung<br />

zu den Wiener Arbeitern stand. Die Sozialdemokratie fand sich<br />

durch Hilfe des Staates von ihrem erbittertsten Gegner befreit,<br />

der Gedanke des staatenlosen Sozialismus hatte nichts als Niederschläge<br />

zu verzeichnen. Und diese „Ruhe" dauerte ungefähr bis<br />

1904, wo, wie wir sofort zeigen werden, ein etwas regeres Leben<br />

wieder einsetzte, aber auch unvergleichlich schwächer als das vor<br />

1898 gewesene.<br />

Unterdessen entwickelte sich die Sozialdemokratie ungestört<br />

weiter. Ihr Kampf besass nur ein Ziel: Erringung des allgemeinen<br />

Wahlrechtes. Sie wurde die wahrhaft konservative, staatserhaltende<br />

politische Partei des öffentlichen Lebens Oesterreichs, die es auch<br />

ganz unverschämt erklärte, dass sie durch das Wahlrecht den<br />

Bestand des Verfassungswesens zu sichern wünsche. Wohl gab es<br />

in diesen Perioden, und gibt es auch heute noch kleinere Bewegungen,<br />

die sich gegen die Sozialdemokratie im Namen des Sozialismus<br />

kehren. Aber darin hatte sie grosses Glück, dass diese<br />

Revolten gegen ihren erstickenden Geist der Bureaukratie und<br />

Verflachung jedes echten Empfindens fast stets ehrlos waren<br />

und ihr selbst an innerer Unwahrhaftigkeit nichts nachgaben. Es<br />

war der Kampf nicht zwischen prinzipiellen Gegnern, in dem der


109<br />

eine eine höhere, der andere eine niedrigere Auffassung verficht,<br />

sondern ausgesprochenemassen der Kampf zwischen Krippenjägern<br />

und Strebern, von denen die einen schon über ein gewisses Mass<br />

von Macht verfügten, die anderen darnach gierten und strebten,<br />

es ihnen zu entwinden. Dadurch wurden auch sonst hochidealistische<br />

Namen und Prinzipien in Oesterreich heillos diskreditiert und<br />

kompromittiert vor den Massen. Das Wort vom „freiheitlichen<br />

Sozialismus" wird gerade gegenwärtig von solch einer Clique<br />

ehrloser Streberseelen im Munde geführt, auf ihr Banner geschrieben,<br />

welche von dem bekannten Webersozialist Simon Starck<br />

geführt wird. Diese Bewegung ist der getreue Abklatsch der<br />

Sozialdemokratie; ihre Opposition beschränkt sich auf ein schlecht<br />

verfehltes Missvergnügen darüber, nicht auch mit an die Krippe<br />

gelassen worden zu sein. Starck, früher Schuster, dann Kohlengräber<br />

und nun Reichstagsabgeordneter, war ehedem gegen den<br />

Parlamentarismus, weil er nicht geglaubt hatte, je selbst ins<br />

Parlament zu kommen. Als er nur einen Schimmer von Hoffnung<br />

dazu erblickte, sattelte er plötzlich um und wurde auch wirklich<br />

von einem Teil missleiteter und verführter Kohlengräber erwählt.<br />

Eine solche Art von „Opposition" schadete natürlich jenem<br />

Geiste e c h te r Opposition, die immer darin bestehen muss, dass<br />

sie einen Schritt über den Gegner hinaus bedeutet; eine<br />

solche Art von Scheinopposition nützte natürlich nur der Sozialdemokratie.<br />

Und je gemeiner die Scheinopposition vorging, sich<br />

Geld von bürgerlich-reaktionären Parteien geben liess zum Kampfe<br />

wider die Sozialdemokratie — wir nennen nur die Namen Mallek,<br />

Schönberger, Kayser usw. —, desto mehr bezog und dehnte die<br />

Sozialdemokratie ihre Angriffe auch aus auf die Anarchisten, die<br />

selbstredend mit den Gemeinheiten der Vorgenannten nichts zu<br />

tun hatten. Doch die schlaue Adlerclique begriff wohl, dass es<br />

sich nicht darum handeln durfte, die gemeine Scheinopposition zu<br />

bekämpfen, dass dies wohl gelegentlich geschehen, der Kampf<br />

aber mit einem tieferen Blick geführt werden müsse, wenn sie<br />

sich retten wollte. Die Sozialdemokratie begriff es stets, dass die<br />

ehrliche Opposition des Anarchismus ihr tausendfach gefährlicher<br />

sei, als jede, wie immer geartete Scheinopposition aus ihren eigenen<br />

Reihen, und so richtete sie ihre versteckten und offenen Angriffe<br />

viel lieber gegen jenen, als wider diese, identifizierte stets in<br />

gemeinster Weise den Anarchismus, den sie fürchtete, mit den<br />

Gemeinheiten ihrer eigenen Streberseelen, welche sie nur verachtete.<br />

Dass dies ein Vorgehen und eine Bewegung des österreichischen<br />

Anarchismus, der, arm an Kräften und gegenwärtig<br />

noch ohne eigenes Organ, einer Verteidigung oftmals unfähig, sehr<br />

behindert und erschwert, ist klar.<br />

Im Zeichen obiger Ausführungen steht auch die Begründung<br />

der „Wahrheit", die folgende Vorgeschichte hatte. Die Gebrüder<br />

Tiroler in Floridsdorf, einem vorstädtischen Bezirk Wiens,


110<br />

wurden aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, weil<br />

sie Opposition gegen die Korruption des sozialdemokratischen<br />

Gemeinderates Schlinger machten. Ob diese Anschuldigung<br />

der Korruption berechtigt oder unberechtigt, ist hier ganz nebensächlich.<br />

Hauptsache sind die Motive der Tirolerschen Anklagen,<br />

und da müssen wir gestehen, dass dieselben höchst eigennütziger,<br />

selbstsüchtiger Natur, also selbst Korruption waren!<br />

Nach ihrem Ausschluss gründeten sie 1902 die „Wahrheit". Das<br />

Blatt brachte nichts als lokale Eigenbrödelei, seine Geldquellen<br />

waren christlich-soziale Kassen, und dauernd war es dem edlen<br />

Bruderpaar unmöglich die „Wahrheit" zu erhalten. Sie wollten<br />

es schon fallen lassen, als sie auf den Gedanken verfielen, sich<br />

an die Anarchisten zu wenden mit dem Anliegen, ob dieselben<br />

das Blatt ganz unabhängig von ihnen übernehmen wollten, damit"<br />

dasselbe wenigstens als Oppositionsorgan wider die Sozialdemokratie<br />

weiterbestünde. Die Anarchisten gingen darauf ein,<br />

trotzdem der Name des Blattes nicht geändert werden durfte,<br />

wie es der Genosse Lickier vorgeschlagen hatte.<br />

Es entspann sich nun, von 1904 an, wieder ein gewisses<br />

Mass von Tätigkeit unter den Wiener Genossen. Dieselben Hessen<br />

den Genossen Franz Heindl, tot seit dem Frühjahr 1906,<br />

nach Wien kommen, der die Redaktion des neuen Blattes übernahm<br />

— nur in dem Sinne, dass es finanziell mit der Gebarung<br />

des alten Blattes nichts mehr zu tun hatte. Mit Heindl wurde das<br />

Blatt anarchistisch. Dank dem Opfermute verschiedener Genossen<br />

hätte sich das Blatt vielleicht auch halten können, aber ein Missgeschick<br />

verursachte seinen Untergang. Heindl, ein durchaus<br />

•ehrlicher, idealistischer Genosse und Boheme, ein fähiger und<br />

begabter sozial-revolutionärer Dichter, war kein Propagandist in<br />

des Wortes agitatorischem Sinne. Von geschäftlichem oder auch<br />

schriftstellerischem Unternehmungsgeist hatte er keine Spur. Er<br />

kam 1896 in die Bewegung und wirkte tätig mit, an dem von<br />

Franz Prisching herausgegebenen „Groden Michel" in Graz, hier<br />

und da am „Neuen Leben" (Berlin) und am Weidnerschen „Armen<br />

Teufel" (Berlin) wie auch für den Malaschitzschen ,,Weckruf<br />

(Zürich). Ein naives Dichtergemüt, wollte er sich an dem durch<br />

irreführende Anzeigen im Berliner „Anarchist" zu Pfingsten 1905<br />

nach Wien einberufenen Kongress der „Freisozialisten" Mallek<br />

und Starckscher Qualität beteiligen, zog sich aber sofort mit den<br />

übrigen Anarchisten zurück, als die Wiener Genossen die Nichtbeteiligung<br />

an dem Kongressmanöver proklamierten. Die Redaktion<br />

der „Wahrheit"' führte er für einen nominellen Lohn. In bitterster<br />

Bedrängnis richtete ihm sein Freund, der Instrumentenmacher<br />

Briller, ein kleines Instrumentengeschäft ein, um ihm eine unabhängige<br />

Existenz zu verschaffen. Doch Heindl taugte nicht zum<br />

Verkäufer, noch auch zum Zeilenreisser journalistischer Spekulationsunternehmungen,<br />

und so legte er im Frühjahr 1906 durch


111<br />

einen Revolverschuss Hand an sich selbst. Er war ein edler Charakter,<br />

und die Wiener Genossen halten sein Andenken in Ehren.<br />

So ging auch die „Wahrheit" ein.<br />

Aber ihre 15 Nummern, die sie als anarchistisches Blatt<br />

erlebte, hatten eine gewisse Sammlung unter den Genossen herbeigeführt.<br />

Unglücklicherweise besass die Bewegung gar keine rhetorischen<br />

und schriftstellerischen Talente, und eine öffentliche<br />

Propaganda unterblieb deshalb fast vollständig. Manches Mal<br />

traten Anarchisten bei Gelegenheit von Streiks auf, aber in der<br />

Mehrzahl der Fälle waren sie den gewandten Rednern der Sozialdemokratie,<br />

besonders theoretisch, nicht gewachsen.<br />

Im Herbst 1904 kam der Genosse Karl Neumann, ein tüchtiger<br />

Schriftsteller unserer böhmischen Bruderbewegung, nach Wien<br />

und wollte hier die Revue „Novy Kult" herausgeben. Allein<br />

im Ganzen erschienen drei Nummern und wegen mangelhafter<br />

Verbreitung musste sie eingestellt werden. Neumann verliess<br />

Wien und gründete in Reckowitz die „Anarchistische Revue".<br />

Einen gewissen Aufschwung nahm die Bewegung durch eine<br />

grosse Aussperrung der Bauarbeiter, die im Sommer des Jahres<br />

1904 stattfand. Ueber 60 000 Arbeiter waren aufs Pflaster geworfen.<br />

Unsere Genossen beriefen Versammlungen ein, in denen<br />

zur Situation referiert wurde. Referent war damals gewöhnlich<br />

der Genosse Moritz Lickier. Einen Begriff von der Schwierigkeit<br />

der Propaganda in Oesterreich, in dem politisch fanatisierten<br />

Geiste, mit dem die Sozialdemokratie die Arbeiter erfüllte, macht<br />

man sich, wenn man weiss, dass der Genosse Lickier in einer<br />

Versammlung, der der heutige Reichstagsabgeordnete Skaret beiwohnte,<br />

fast gelyncht worden wäre, hätten nicht Genossen es verhindert,<br />

weil er erklärte, dass die Sozialdemokratie einen Generalstreik<br />

zugunsten der Erkämpfung des Wahlrechtes — „für den<br />

Fetzen Wahlrecht" nannte er es sehr richtig — herausrufen sollten,<br />

sondern lieber jetzt, zugunsten der Streikenden, durch deren<br />

Kampf die Existenz von über 150000 Menschenleben gefährdet<br />

sei. — Aber diese Aussperrung hatte das eine Gute, dass ein Teil<br />

der Bauarbeiter sich von der übrigen gedankenlosen Masse :losriss<br />

und eine revolutionäre Bauarbeitergewerkschaft gründete, die<br />

bald über 100 Mitglieder gewann und taktisch anarchistischen<br />

Tendenzen huldigte. Im Jahre 1906 kam dann die zweite Aussperrung,<br />

die 8 Wochen dauerte, und in welcher die Bauarbeiter<br />

sich einen Taglohn von 5 Kronen erkämpften. Nach der Aussperrung<br />

wurde dank der Initiative der Bauarbeiter das tschechische<br />

Blatt „Delnicke Plameny" in Wien gegründet. Die Redaktion<br />

des Blattes lag in den Händen der Genossen Krampera und<br />

Pletka. Von dem Blatt erschienen 11 Nummern, es ging ein<br />

im Mai <strong>1907</strong>.<br />

Die Schuhmacher Oesterreichs waren von jeher die Radikalsten<br />

der Radikalen der hiesigen Arbeiterbewegung, So bilden sie


112<br />

auch jetzt ein Stück Rückgrat für die revolutionäre Taktik des<br />

österreichischen Proletariats. Seit dem Jahre 1895 besteht die<br />

Wiener Ortsgruppe unabhängig und auf dem Standpunkt des ausschliesslich<br />

wirtschaftlichen Kampfes und des Genossenschaftswesens.<br />

Während der Stille der anarchistischen Bewegung Wiens hat sie<br />

mehr als einmal ganz alleine die Würde des revolutionären Gedankens<br />

gerettet. Sie führte energische Streikaktionen durch, und<br />

mit ihrer Hilfe konnten die paar Genossen die Kommunefeier,<br />

11. Novemberfeier und die Idee des 1. Mai durch all die manchmal<br />

sehr trüben Jahre hindurch angemessen begehen.<br />

Von bestehenden und tätigen Gruppen haben wir heute :<br />

In Wien :<br />

1. Gewerkschaft der Schuhmacher.<br />

<strong>2.</strong> Gewerkschaft der Bauarbeiter.<br />

3. Diskutierklub „Vorwärts" (tschechisch).<br />

4. Gesangverein „Morgenröte".<br />

5. Bildungsverein „Gleichheit" (tschechisch).<br />

6. Eine freie Föderation sämtlicher Berufsangehörigen.<br />

7. Eine tschechische Tischgesellschaft.<br />

8. Arbeiterbildungsverein im 10. Bezirk.<br />

In der Provinz:<br />

Klagenfurt, Graz, Voitschberg (Kärnten), Innsbruck und<br />

mehreren anderen kleineren Orten.<br />

Sonst bestehen in ganz Oesterreich fast überall böhmische<br />

und anderssprachige anarchistische Gruppen.<br />

Wir wünschen es besonders hervorzuheben: das Brachliegen<br />

der Wiener Bewegung darf nicht so sehr auf das Konto der Tatenlosigkeit<br />

der Genossen geschrieben werden ; der Hauptgrund dafür<br />

ist zu finden in dem fast totalen Mangel an geistigen Kräften,<br />

die geschult genug gewesen wären, der Sozialdemokratie in Wort<br />

und Schrift entgegenzutreten. Tatsache aber ist, dass gerade in<br />

den letzten zwei Jahren in Wien fast gar keine Aktivität entfaltet<br />

wurde. Eigene Broschüren und Schriften hat die Bewegung<br />

unter den- deutschsprechenden Anarchisten jedenfalls nicht hervorgebracht.<br />

Desto grösser ist unsere Befriedigung, es konstatieren zu<br />

dürfen, dass diesem Uebelstande nun vollständig abgeholfen werden<br />

soll. Das Signal hierzu gab die Rückkehr verschiedener Genossen,<br />

nach Wien, die sich im Auslande alles das aneigneten, was notwendig<br />

ist für den Aufbau einer gesunden anarchistischen Bewegung<br />

: Wissen, Ausdauer und Opfermut! Schon in den letzten<br />

Monaten hat sich der Einfluss der frischen Kräfte in der Weise<br />

geltend gemacht, dass eine Reorganisation der Bewegungselemente<br />

vor sich ging, überall neue Begeisterung aufflammt, wo bislang<br />

nur glimmende Asche und Aschenfünkchen gelegen. Im Zusammenhang<br />

damit können wir es mit Freuden registrieren, dass


113<br />

schon in der nächsten Zeit ein neues anarchistisches Organ,<br />

der „Wohlstand für Alle", erscheinen wird. Es sind frische<br />

Muskelkräfte, die nun in die Speichen des Bewegungsrades der<br />

deutsch-österreichischen Bewegung eingreifen, und wir glauben,<br />

es den Genossen aller Länder mit froher, bestimmter Zuversicht<br />

verkündigen zu können, dass, wenn wir das nächste Mal uns in<br />

einem internationalen Kongress wieder vereinigt zusammenfinden,,<br />

Wien und mit ihm andere deutsch-österreichische Städte mit zu<br />

geistigen Hochburgen des internationalen Anarchismus gehören<br />

werden.<br />

Johann Poddany, Vertrauensmann der böhmisch-anarchistischen<br />

Föderation.<br />

Ferdinand Herzog, Sekretär der kommunistischanarchistischen<br />

Gruppe.<br />

Moritz Lickier , Wenzel Welan, Josef Lehart, Havel<br />

Linz, Heraasgeber der periodischen Zeitschrift „Delnicke Plameny"<br />

Franz Zelinger, Hajek, Johann Tesar für den<br />

Verein „Rovnod"<br />

Die Monarchomachen und Etienne de la Boëtie.<br />

(Schluss.)<br />

Es ist hier nicht der Raum, das Absteigen und die Niederlage<br />

der ersten grossen französischen Revolution zu verfolgen.<br />

Es kam zu Zwistigkeiten zwischen der Bourgeoisie und dem Volke,<br />

das durch die Sechzehn vertreten war; der schlaue König Heinrich<br />

IV. richtete seinen Militärdespotismus ein und wusste doch zugleich<br />

die Bourgeoisie und die vielen, die noch vorwiegend konfessionell<br />

interessiert waren, zu versöhnen. Bald war der Aufruhr nur noch<br />

ein unterirdisches Schwelen; die Kommune von Paris verhielt sich<br />

noch Jahre lang feindlich; viele Geistliche unterliessen es noch<br />

lange, das Gebet für den König zu sprechen ; aber die geriebene<br />

Diplomatie und Bonhomie des Königs, im Verein mit glücklichen<br />

Kriegen versöhnten ihm einen grossen Teil des französischen Volkes.<br />

Das Volk will panem et circenses; das französische Volk<br />

aber will von seinen Herrschern Siege auf dem Felde der Schlacht<br />

und der Liebe sehen. Damit konnte Heinrich IV. ihnen aufwarten ;<br />

er war, wie schon im 18. Jahrhundert spöttisch bemerkt wurde,<br />

in mehr als übertragenem Sinn der „Vater seines Volkes". So<br />

geschah es ohne Zusammenhang mit einer grossen Volksbewegung,


114<br />

aber ohne Zweifel doch noch in Zusammenhang mit der erstickten<br />

Revolution, als Franz Ravaillac Heinrich IV. den Weg Heinrichs<br />

III. in den Tod gehen liess.<br />

Gewöhnlich knüpft man die Tat Ravaillacs an die monarchomachischen<br />

Lehren des spanischen Jesuiten Mariana an, oder gar<br />

auch an die staatsrechtlichen Schriften der Jesuiten Bellarmin und<br />

Suarez, die kaum weiter gehend und schroffer sind als die bürgerlich-konstitutionellen<br />

Staatstheorien des Bodinus oder Grotius.<br />

Wir haben aber gesehen, dass es sich keineswegs um einen speziell<br />

jesuitischen Geist handelt, sondern um eine Bewegung, die gleichzeitig<br />

unter Protestanten und Katholiken Westeuropas die Köpfe<br />

ergreift und die Völker fortreisst. In diese Reihe gehört allerdings<br />

auch der Jesuit Mariana mit seinem Buche De Rege et<br />

Regis Institutione, das 1598 in Toledo erschien. In dem berühmten<br />

6. Kapitel des ersten Buches, geht er ohne Rückhalt oder<br />

Bemäntelung von der Tat Clements aus, die er gross und rühmenswert<br />

findet, und setzt dann unerschrocken weiter auseinander,<br />

wenn ein König mit Gewalt und ohne Zustimmung der Nation die<br />

Souveränität an sich gerissen habe oder wenn er sich in Widerspruch<br />

mit dem Willen der Nation setze, perimi a quocunque, vita<br />

et principatu spoliari posse. Die Stände sollen es sein, die dem<br />

König das Urteil sprechen, aber wenn das irgend nicht angehe:<br />

qui votis publicis favens, eum perimere tentavit, haud quaquam<br />

inique eum fecisse existimabo. Auch da geht er noch ins Einzelne:<br />

tapfer sei es, den Tyrannen offen anzugreifen, aber sehr klug sei<br />

es, ihn heimlich ins Netz zu bekommen. Solchen Verschwörern,<br />

sagt er, bleibt der Ruhm der Heroen, wenn sie am Leben bleiben;<br />

sonst fallen sie als Gott und den Menschen wohlgefällige Opfer.<br />

Man sieht, die revolutionäre Kriegskunst Marianas unterscheidet<br />

sich nur in der glänzenden Trockenheit des Tons von den Lehren<br />

anderer, protestantischer Monarchomachen, und es hat keinen<br />

andern Sinn als den thörichten Tageskampfes, den Jesuiten zuschieben<br />

zu wollen, was eine grosse, durch die Länder gehende<br />

Geistesrichtung war. Dass die Sektierer in England, die Protestanten<br />

in den Niederlanden und Frankreich, und die romanischen Jesuiten<br />

die modernen Menschen ihrer Zeit waren, ist zuzugeben, und so<br />

kommt es, dass sich auch unter den Jesuiten einer fand, der die<br />

Lehren der Monarchomachen auf ihre Spitze trieb und unter ihren<br />

Zöglingen (wenn es so war) einer, dem diese Spitze sich zur<br />

Dolchspitze wandelte.<br />

Jetzt gehen wir sechzig Jahre in der Zeit zurück, um den<br />

Mann zu treffen, auf den wir schon öfters hinwiesen, der all dieser<br />

Revolution die Verallgemeinerung schuf und die Psychologie und<br />

den klassischen Ausdruck. Denn das Genie geht im Zeitalter des<br />

Individualismus den Ereignissen voraus, und sein Werk bleibt<br />

seiner Zeit unwirksam und wie tot; darum lebt es auch für sehr lange<br />

Zeiten, und das Geschäft der praktischen Anwendung der Gedaü-


115<br />

ken müssen andere besorgen, die auch grossen und starken Geistes<br />

sein können, aber nicht so von visionärer und schaudernder Einsamkeit<br />

ergriffen wie sie. Etienne de la Boëtie, der als Dreiundzwanzigjähriger<br />

starb, hat, wenn wir Montaigne glauben wollen,<br />

seine Schrift „Discours sur la Servitude Volontaire" als Sechzehnjähriger<br />

verfasst; daran zu zweifeln, gibt es triftige Gründe, aber<br />

sehr jung jedenfalls und nicht später als 1550; sie kursierte frühr<br />

zeitig in Abschriften, wurde aber erst bald nach der Bartholomäusnacht,<br />

lange nach La Boëties Tod, sehr gegen den Willen des<br />

politischen Montaigne von Revolutionären veröffentlicht. Später<br />

wurde sie als Anhang zu Montaignes Essays, nebst den ergreifenden<br />

Reminiszenzen Montaignes an des jungen Freundes Leben und<br />

wundervolles Sterben öfter publiziert.<br />

Etienne de la Boëtie, der in der katholischen Kirche geblieben<br />

war und zu Gott ein inniges, aber voltairisch freies Verhältnis<br />

gehabt zu haben scheint, steht ganz auf dem Boden, den jene<br />

Zeit wie das 18. Jahrhundert Natur und Vernunft genannt hat,<br />

worunter sie nichts anderes verstehen als unbefangenes Insaugefassen<br />

der Dinge und Logik; mit einer andern Wendung kann<br />

man's auch Unabhängigkeit und Tapferkeit nennen. Er springt<br />

mitten hinein in die Frage, die die Frage seiner Zeit wäre, wenn<br />

die Zeit ihr eigenes Problem, so tief hätte erfassen können. Woher<br />

kommt es, fragt er, dass ein ganzes Volk, ungezählte Massen,<br />

sich von einem Einzigen quälen, misshandeln und zu seinen Ungunsten,<br />

gegen seinen Willen leiten lassen ? Von einem Einzigen,<br />

der kein Herkules oder Simson ist, sondern ein armseliges Menschlein,<br />

oft der feigste und weibischste der ganzen Nation? Wenn<br />

wir der Natur folgten, wären wir gehorsam den Eltern, unterworfen<br />

der Vernunft und Niemandes Knecht. Ob, sagt er, die Vernunft<br />

uns eingeboren ist oder nicht, ist den Gelehrten eine Frage,<br />

aber das ist sicher, dass die Natur, der Diener Gottes und die<br />

Lenkerin der Menschen, die Natur, die immer vernünftig ist, uns<br />

alle nach dem gleichen Bilde und als Genossen und Brüder geformt<br />

hat; und die Stärkeren und Gewitzteren hat sie nicht darum<br />

erschaffen, dass sie die andern wie Räuber im finstern<br />

Walde überfallen sollen, vielmehr wollte sie der „brüderlichen<br />

Liebe Raum schaffen, damit sie hat, wo sie sich betätigen kann:<br />

die einen haben die Macht, Hilfe zu leisten, und die anderen die<br />

Not, sie zu empfangen." Woher kommt nun die ungeheure Macht<br />

der Tyrannen? Die kommt nicht von äusserem Zwang gewöhnlicher<br />

Art; denn wenn zwei gleich starke Heere einander gegenüberstehen,<br />

das eine von der Machtgier getrieben, das andere in<br />

Verteidigung seiner Freiheit, dann wird es das Heer der Freiheit<br />

sein, das siegt. Nein, seine Macht kommt von der freiwilligen<br />

Knechtschaft der Menschen. „Woher nimmt er so viele Augen,<br />

euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht ? Wieso hat er<br />

so viele Hände, euch zu treffen, wenn er sie nicht von euch er-


116<br />

hält? Woher hat er überhaupt Macht über euch, wenn nicht<br />

durch euch selbst ? Wie könnte er euch verfolgen, wenn er nicht<br />

im Einverständnis mit euch wäre ? Was könnte er euch tun,<br />

wenn ihr nicht der Hehler des Diebes wäret, der euch beraubt,<br />

der Helfer des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch<br />

selbst?" Woher aber kommt nun dieses Unglaubliche? Der<br />

Freiheitsdrang ist von Natur aus da; und wenn die Tiere Rangstufen<br />

und Würden kennten, dann wäre die Freiheit der Adel,<br />

den sie verliehen. Die Erklärung ist die: irgendwann einmal,<br />

durch Ueberfall von aussen oder durch List verlieren die Menschen<br />

ihre Freiheit. Dann aber kommen solche, die die Freiheit nie<br />

gekannt haben und nicht wissen, wie süss sie ist; die Gewohnheit<br />

ist es, die uns das Knechtsein gelehrt hat. Denn die Natur<br />

hat in uns weniger Macht als die Gewohnheit: „das Natürliche<br />

mag noch so gut sein, es verliert sich, wenn es nicht erhalten<br />

wird; wir werden immer so, wie unsere Nahrung ist, sie mag sein, wie<br />

sie will, trotz der Natur." Wie die Obstbäume fremde Früchte tragen,<br />

die man ihnen aufpfropft, so tragen die Menschen die Unfreiheit.<br />

Die Menschen wissen es nicht anders, als dass sie untertänig sind ; es<br />

ist immer so gewesen, sagen sie. „Sie machen sich selbst, auf Grund<br />

der langen Zeit, zum Besitztum derer, die sie unterjochen; aber<br />

fürwahr, die Jahre geben niemals ein Recht übelzutun, sondern<br />

sie vergrössern das Unrecht." (Diese Worte wiederhole ich hier,<br />

zum Zeichen, dass Languet, der sie wörtlich ebenso hat, die<br />

Schrift gekannt haben muss). Nun gibt es freilich immer einige,<br />

die von Geburt wegen besser beschaffen sind als der grosse<br />

Haufe; das sind die, die von sich selbst aus einen wohlgeratenen<br />

Kopf haben und ihn durch Studium und Wissen noch verbessern:<br />

die erleben die Freiheit, und wenn sie ganz verloren und aus der<br />

Welt wäre, in ihrer Phantasie und verspüren sie in ihrem Geiste.<br />

Aber sie kennen sich nicht unter einander; die Freiheit des<br />

Sprechen und Handelns ist ihnen geraubt; sie bleiben einsam in<br />

ihrer geistigen Welt! Ein weiterer Grund für die Möglichkeit<br />

der Dauer der Knechtschaft ist, dass sie die Menschen entnervt<br />

und verweichlicht; und die Tyrannen haben immer ihr Mögliches<br />

getan, die Unzucht, Tändelei, Verspieltheit und Gefrässigkeit zu<br />

unterstützen, und die Unmännlichkeit im Volke zu fördern. Drittens<br />

endlich: das Königtum hat sich die Religion zu Nutze gemacht<br />

und sich mit den Priestern verbündet: die Krone wurde mit<br />

Wundern umgeben, und der König mit dem Schein der Heiligkeit<br />

und Göttlichkeit. "Immer hat sich das Volk selbst die Lügen<br />

gemacht, die es nachher geglaubt hat." Viertens aber: zwischen<br />

dem König und dem Volk hat sich eine Hierarchie eingenistet,<br />

die sich an beiden und unter einander bereichern wollen, und so<br />

kommt es schliesslich beinahe dahin, dass die Tyrannei fast ebenso<br />

viel Gewinn bringt, als die Freiheit erfreulich ist. Hier folgt nun<br />

eine entzückende Psychologie des Höflings. Der König, sagt er,


117<br />

kann einem leid tun, dass er von solchen Menschen umgeben ist;<br />

aber auch mit ihnen muss man Mitleid haben, dass diese von<br />

Gott und den Menschen Verlassenen sich so behandeln lassen<br />

müssen. Der Bauer und der Handwerker sind zwar geknechtet,<br />

aber sie brauchen bloss tun, was man ihnen heisst; aber das genügt<br />

nicht beim Höfling; „sie müssen denken, was er will, und<br />

oft müssen sie, ihm zu Gefallen, seinen Gedanken zuvorkommen.<br />

Es ist nicht genug, dass sie ihm gehorchen, sie müssen ihm ganz<br />

zu Gefallen sein; sie müssen sich in seinem Dienste zerbrechen<br />

und kaput machen, und dann sollen sie sich noch bei seinem Vergnügen<br />

amüsieren, ihren Geschmack für seinen aufgeben, ihre<br />

Natur und Konstitution ändern ; sie müssen auf seine Worte aufpassen,<br />

auf den Klang seiner Stimme, seine Gebärden und Mienen;<br />

Augen, Füsse, Hände, alles muss auf dem Sprunge sein, um seinen<br />

Willen zu erhaschen und seine Gedanken zu entdecken. Ist das<br />

ein glückliches Leben? heisst das leben? gibt es auf der Welt<br />

etwas Unerträglicheres als das, ich sage nicht, für einen Menschen<br />

höherer Art, nur für einen mit gesundem Verstand, oder noch<br />

weniger: für einen der Menschenantlitz trägt ? Welche Lage ist<br />

kläglicher als diese: in nichts sich selbst zu gehören, von einem<br />

andern seine Wohlfahrt, seine Freiheit, Leib und Leben zu nehmen?"<br />

Aber auch der König ist übel genug daran. Er kann nicht<br />

lieben und nicht geliebt sein. Nur unter guten Menschen gibt es<br />

Liebe und Freundschaft. „Wo Grausamkeit, wo Unehrlichkeit, wo<br />

Ungerechtigkeit ist, kann keine Freundschaft sein." „Entre les<br />

meschants quand ils s'assemblent, c'est un complot, non pas compaignie;<br />

ils ne s'entre tiennent pas, mais ils s'entre craignent; ils ne<br />

sont pas amis, mays ils sont complices."<br />

Was ist nun dagegen zu tun? fragt La Boëtie, gegen diese<br />

ungeheure Verknechtung, die über die Menschen gekommen ist?<br />

gegen dieses Unglück, das ein Unglück für alle ist, für den<br />

König, seine Höflinge und Staatsdiener, für die Denker und das<br />

ganze Volk ?<br />

Hier müsste man eine Pause machen ; damit dem Leser alle<br />

die Antworten einfallen, die die von uns schon genannten<br />

Monarchomachen, die die Staatsrechtslehrer und Politiker, Bodinus,<br />

Grotius, Althusius, Locke, Hume und wie viele noch geben; die<br />

wir bei der Betrachtung der weiteren Revolution etwa noch kennen<br />

lernen, und alle die Rezepte, die heute in den und jenen<br />

Ländern im Schwange sind.<br />

Aber Etienne de la Boëtie hat das Wort: es ist nichts<br />

nötig, sagt er, als der Wunsch und der Wille, frei zu sein. Eine<br />

freiwillige Knechtschaft ist es. Fast scheint es, sagt er, als ob<br />

die Menschen das schöne Gut der Freiheit verschmähten, weil es<br />

zu leicht ist. „Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein,<br />

und ihr seid frei. Ich will nicht, dass ihr den Tyrannen verjagt,<br />

oder ihn vom Throne werfet; stützt ihn nur nicht; und ihr sollt


118<br />

sehen, wie er, wie ein riesiger Koloss, dem man die Unterlage<br />

nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und zertrümmert."<br />

Ein Feuer kann man durch Wasser löschen; aber man hüte sich<br />

vor den Verschwörungen der Ehrsüchtigen, die den Tyrannen verjagen<br />

oder töten, die Tyrannei aber bewahren und fortpflanzen;<br />

sie missbrauchen den heiligen Namen der Freiheit. Ganz selten<br />

sind die keuschen Helden, wie Harmodios, Aristogiton, Trasybul,<br />

Brutus der Aeltere, die ihr Vaterland befreien und ihm die Freiheit<br />

lassen. Wohl haben Brutus und Cassius, als sie Cäsar umbrachten,<br />

der der gefährlichste Tyrann war, weil er nicht gemein<br />

und brutal war, sondern menschlich und milde und doch Gesetz<br />

und Freiheit geraubt hat, die Freiheit vorübergehend hergestellt,<br />

aber sie starb wieder mit ihnen. Die Tyrannei ist nicht ein<br />

Feuer, das man löschen muss, das man löschen kann, weil sie<br />

nicht ein Uebel von aussen ist, sondern ein Mangel im Innern.<br />

Nicht Wasser müssen die Leute ins Feuer spritzen, sondern sie<br />

müssen das, wovon das Feuer sich nährt, für sich behalten: sie<br />

müssen ihm die Nahrung entziehen. Es tut nicht nötig, den<br />

Tyrannen zu bekämpfen, es ist nicht not, sich gegen ihn zu<br />

wehren, er schlägt sich selbst. Nur darf das Land sich nicht in<br />

Knechtschaft fügen; es braucht ihm nichts nehmen, aber es darf<br />

ihm nichts geben; es tut nicht not, dass das Land sich damit<br />

quält, etwas für sich zu tun; es darf sich nur nicht damit quälen,<br />

etwas gegen sich zu tun ... Wenn man den Tyrannen nichts mehr<br />

gibt und ihnen nicht mehr gehorcht, dann stehen sie ohne Kampf<br />

und Schlag nackt und entblösst da und sind nichts mehr; wie<br />

eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet,<br />

ein trockenes, totes Stück Holz wird."<br />

Mit einiger Ausführlichkeit ist der Inhalt dieser in Deutschland<br />

fast unbekannten Schrift wiedergegeben worden, denn es ist<br />

zu sagen: sind die Revolutionen zusammenfassende und vorausgehende,<br />

auch immer wiederkehrende Mikrokosmen, so ist dieser<br />

Essay der Mikrokosmos der Revolution. Er repräsentiert den<br />

Geist, von dem wir sagen, dass er Geist ist nur in der Negation,<br />

dass er aber in der Negation Geist ist: die Ahnung und der noch<br />

nicht auszusprechende Ausdruck des Positiven, das heraufkommt.<br />

Dieser Essay verkündigt, was in anderen Sprachen später Godwin<br />

und Stirner und Proudhon und Bakunin und Tolstoi sagen werden;<br />

In euch sitzt es, nicht draussen; ihr seid es selbst; die Menschen<br />

sollen nicht durch Herrschaft gebunden sein, sondern als Brüder<br />

verbunden. Ohne Herrschaft; An-archie. Aber das Bewusstsein<br />

fehlt oder ist kümmerlich entwickelt, dass es heissen muss: Nicht<br />

durch Herrschaft, sondern —. Wold ist die Negation dieser<br />

empörten Naturen erfüllt von Liebe, die Kraft ist, aber doch nur<br />

in dem Sinne, wie Bakunin es prachtvoll gesagt hat: Die Lust<br />

des Zerstörens ist eine schaffende Lust! Wohl wissen sie, dass<br />

die Menschen Brüder sind; aber sie glauben, sie seien es schon


119<br />

wieder, wenn die Hemmnisse und Gewalten entfernt sind. In<br />

Wahrheit sind sie es nur während der Zeit, in der sie die Hemmnisse<br />

und Gewalten bekämpfen und heben. In Wahrheit lebt der Geist<br />

nur in der Revolution; aber er kommt nicht zum Leben durch<br />

die Revolution, er lebt nach ihr schon wieder nicht mehr. Denn<br />

wir wissen jetzt, wie das Wort weiter zu sprechen ist: Nicht<br />

durch Herrschaft, sondern durch Geist; aber es ist noch nicht<br />

viel damit getan, dass wir den Geist rufen; er muss über uns<br />

kommen. Und er muss ein Gewand und eine Gestalt haben; er<br />

hört nicht auf den blossen Namen Geist; und niemand lebt, der<br />

sagen kann, wie er heisst und was er ist. Diese Erwartung ist<br />

es, die uns ausharren lässt in unserm Uebergang und Weitergang;<br />

dieses Nichtwissen ist es, das uns der Idee folgen heisst. Denn<br />

was wären uns Ideen, wenn wir ein Leben hätten?<br />

Gustav Landauer.<br />

Aus dem Tagebuch eines Propagandisten.<br />

Eine düstere Gefängiszelle. Schlichte, sehr schlichte weissgetünchte<br />

Mauern, die einen Raum von vier Schritte Länge, zwei und ein halb Schritte<br />

Breite begrenzen. Einrichtungsgegenstände: Strohsack, Strohkissen, eine sog.<br />

„Pferdekotze" als Decke, ein Tischlein und Schemel, in einiger Entfernung<br />

ein Kübel von ungewisser Farbe zu unaussprechlichen Zwecken.<br />

Zur Luxusausstattung dieses idyllischen Ortes gehört ein für meine<br />

Körperlänge ziemlich hoch oben angebrachtes, kleines Fenster, das eng vergittert<br />

ist, und den Ausblick auf grünlich-gelbe Herbstlandschaften gestattet.<br />

Ort der Handlung: Gefangenenaüteilung des Kreisgerichtes der nicht allzu<br />

berühmten Abderitenstadt Leitmeritz in Böhmen, Oesterreich.<br />

Der Propagandist sitzt schreibend an seinem Tischlein. Von aussen<br />

hört man nur den gemessen-gravitätischen Schritt eines Leitmeritzers; es ist<br />

der Gefangenenaufseher. Aussehen und besondere Kennzeichen: typisch leitmeritzianische<br />

Intelligenz. —<br />

Der Propagandist (schreibend):<br />

. . . Wie still ist es hier! Soeben führte uns der Aufseher<br />

wieder zurück in die Grüfte unseres Gefängnisses und nun, nach<br />

dem allzu kurzen Spaziergang, dem Schwätzen mit den anderen<br />

Leidensgefährten, tut die Ruhe wohl. Leider nicht zu lange —<br />

dann machen sich die Folgen und der Einfluss der strengen Isolierhaft<br />

auf den menschlichen Geist bemerkbar. Eine gewisse lähmende<br />

Unruhe tritt auf, man fühlt sich vergessen, verlassen von aller<br />

Welt; selbst vom Untersuchungsrichter, dem man ganz glücklich<br />

ist, vorgeführt zu werden, nur um aus der beengenden, eintönigen


120<br />

Monotonie und künstlichen Geistesatrophie der Haftzelle herauszukommen.<br />

Es wäre interessant zu erfahren, welches Staatsgenie,<br />

welche durchaus entwickelte Kulturweisheit die Folter der Einzelhaft<br />

ersonnen und sie über die Menschheit verhängte. Es ist eine<br />

gewisse Genialität, die darin steckt: nach Tage lang währender<br />

Einzelhaft sehnt man sich nach einem Menschen; und doch: wenn man<br />

die katzenartig einherschleichenden Wächter oder die arbeitenden<br />

Sträflinge sieht, in ihrem grotesken, schmutzig-grauen Aufzuge,<br />

wie sie aus dem Dunkel der grauenhaften Wandelgänge dieses<br />

alten Gemäuers, das die in manch interessanten Beziehungen<br />

ebenso fromme, wie huldvolle Kaiserin Maria Theresia aus<br />

einem Kloster in ein Gefängnis umwandeln Hess — wenn diese<br />

Gestalten aus den Seitennischen plötzlich auftauchen und die<br />

schweren, doppeltürigen Vorschlösser der Zellen klirrend öffnen —<br />

dann: dann fürchtet man die Menschen und möchte sich mit einem<br />

Aufschrei des Entsetzens zurückflüchten in die stille Einsamkeit<br />

der grauen Zelle.<br />

„The inhumanity of man to man" — ja, die Unmenschlich:<br />

keit des Menschen zum Menschen, sie hat der englische Dichter<br />

richtig erfasst, als er zum ersten Mal ein Gefängnis sah.. In ihm<br />

haben wir unsere heutige Welt, wie sie ist; nackt, ohne Heuchelei,<br />

ohne Firnis, ohne Phrase. Hier ist sie, was sie wirklich ist: die<br />

Folter für alle edler und besser empfindenden Menschen, ein<br />

grosses Gefängnis, in dem die Menschen wie Schatten aneinander<br />

vorbeihuschen, sich gegenseitig grundlos und auf Gebot einer<br />

Obrigkeit hassen und auf Befehl der letzteren hin sich gegenseitig<br />

töten. Nicht nur der Deutsche den Franzosen oder umgekehrt;<br />

nicht nur der Europäer den Asiaten, dessen Kauf- und Arbeitskraft<br />

er gerne hätte, wobei er ihm jedoch überall, wo er nur kann,<br />

das Fell über die Ohren zieht; — nein: der Deutsche tötet halb<br />

oder ganz den Deutschen, der Franzose den Franzosen und so<br />

auf allen Wegen und Stegen des modernen Staatenlebens ist der<br />

Begriff der Nationalität, der heilige Begriff geeinter Vaterländer<br />

aufgehoben und ausgelöscht, wo die Machthaber sich in ihren Interessen<br />

bedroht fühlen, wenn aus dem Kreise "ihrer" Völker ein<br />

Gedankenblitz eigener Meinung sich auslöst und überallhin zuckend<br />

und funkelnd Licht zu verbreiten sucht. Ein Wink, und es fällt<br />

der Mensch über den Menschen, er fesselt ihn, aus der Gemeinschaft<br />

aller Menschen wird er gerissen und in die Fangarme gefühlloser,<br />

aus dem von ihnen verschuldeten Elend sich ein angenehmes<br />

Geschäft machender Bürokraten wird er gestossen.<br />

Sanguiniker und Optimisten äussern im Ueberschwange ihres<br />

Gemütes die Meinung sehr oft, dass es seit dem Sturze der Bastille<br />

in Frankreich wenigstens in den meisten Grossstaaten Europas<br />

das teuflische Spiel der „lettres de cachet" nicht mehr gebe.<br />

Heute sei es eine Unmöglichkeit, Menschen ohne Prozess gefangen<br />

zu halten, sie ohne Grund und quasi von der Strasse weg, illegal


121<br />

zu verhaften, sie so lange in Haft zu bewahren, als es den Wachthabenden<br />

gefällt und ihrem bürokatischen Wahnsystem notwendig<br />

dünkt. So reden die Anhänger des römischen Rechts ; und jene<br />

des angelsächsischen Volkes weisen mit Stolz auf ihre Habeas<br />

Corpusvorschrift, nach welcher es absolut unrechtmässig, einen<br />

Menschen länger als 24 Stunden ohne formelle Anklage in Haft<br />

zu behalten. Beide sind Wahnbesessene, die das Leben nur aus den<br />

gradlinigen Zeilen verstaubter Gesetzeskodexe, jedoch nie aus<br />

seinen Funktionsäusserungen heraus kennen. Wer das Leben lebt,<br />

in all seinen Tiefen und Höhen sich umtut, der weiss, dass die<br />

rein politischen Errungenschaften der grossen französischen Revolution<br />

nichts anderes als Schein, durchsichtigster Schein waren.<br />

Wohl wahr: derjenige, der den nötigen „nervus rerum" besitzt, der<br />

kann sich manche Erleichterungen zuführen, manche Möglichkeitswege<br />

öffnen lassen. Wie aber mit dem, der keines hat, also mit<br />

jenem, der die überwiegende Majorität innerhalb unserer modernen<br />

Gesellschaften repräsentiert? Er wird trotz Kultur und Zivilisation<br />

des 20. Jahrhunderts, trotz triefender Apologenphrase das<br />

eine immer und stets finden : In die Hände des Staates zu fallen,<br />

bedeutet, in die Hände einer Macht zu fallen, die mit dem Leben<br />

und Glück des Einzelwesens nur spielt, lächelnd dasselbe vernichtet<br />

und jede kleine Beamtenseele hohnlachend das eine, gewaltige,<br />

infam alleingültige, aber auch revolutionär aufpeitschende<br />

Prinzip proklamiert:<br />

„Ich bin der Staat, und keiner steht höher<br />

als der Staat!"<br />

*<br />

Das Leben eines Propagandisten ist ein Genuss trotz aller<br />

Leiden. Es ist das Leben des Bohemen, der aber erfüllt ist von einer<br />

grossen, ihn völlig beseelenden Mission; es ist das Leben eines<br />

Bohemen, dem das Zirpen der Vögel und das Grün des Waldes<br />

und die wilde Romantik des Klassenkampfes das Alltagsleben ersetzt,<br />

der aber über dem idealen Gedankenflug seines Strebens<br />

und Träumens und Dichtens das grossartige Endziel einea immensen<br />

Gewaltkampfes nicht aus dem Auge verliert. Ein Propagandist<br />

ist ein unstäter Wanderer auf dem Pfade des materiellen Lebens,<br />

ein obdachloser Apostel, der heute in dieser, morgen in jener<br />

Hütte eines Gesinnungsfreundes sein müdes Haupt bettet; nach<br />

fröhlicher Tafelrunde, deren Tische aber wirklich nicht brachen<br />

von der Fülle der aufgetragenen Genussmitteln, der aber stets weiter<br />

wandert; begeistert fühlt durch den Blick der Verständigung das Gefühl<br />

der Brüderlichkeit, die die miteinander tauschen, welche an dieser<br />

Tafelrunde teilnahmen. Und so : in einem stets bewegten Leben<br />

des Kampfes mit unwissenden oder boshaften Feinden, trotz Erbitterung<br />

und Enttäuschung muss der Propagandist sich dennoch<br />

immer, in irgend einer versteckten Klause seines Herzens das


122<br />

reine Ideal der Zukunft bewahren können; muss den Zukunftstraum<br />

recht nahe, mit heissem Atemhauche vor sich sehen;<br />

muss Illusionen über Zeiten und Menschen nähren können, um<br />

Propagandist sein zu können. Und so ist der Propagamdist oftmals<br />

jene ideal-tragische Gestalt eines vollendeten Künstlers, der<br />

nie ein vollendetes Künstler werk schuf oder schaffen kann. Sein<br />

Leben besteht aus Fragmenten, seine Idee ist allumspannend,, doch<br />

ihr gebricht es an einem Arbeitsraum, der genügend gross und<br />

reichhaltig wäre, um diese Idee pulsierendes, lebendiges Leben<br />

werden zu lassen. Nur ein Trost kennt solch ideales und dennoch<br />

trauriges, wenn auch freiwilliges Apostelmartyrium: dass die vielen<br />

Orte, wo der Same der Idee ausgestreut wurde, dass die vielen<br />

Menschen, welche das ferne klingende Glockenspiel einer — wenn<br />

sie es wollen! — nahen Zukunft vernehmen, dass sie dereinst,<br />

über Länder und Meere hinweg, sich die Hände reichen werden<br />

zu jenem grossen Bruderbund, in dessen Kreis endlich erstehen<br />

wird jenes allumfassende, jenes vielseitige, jenes in seiner Mannigfaltigkeit<br />

strahlende Kunstwerk der Zukunft: das Ideal des freien<br />

und idealistischen Propagandisten, der Künstler nicht durch seine<br />

Werke, die ja vergänglich und gebrechlich wären, sondern durch<br />

sein unvergängliches Leben ist!<br />

*<br />

Songo der Traum; so heisst es in der Esperantosprache,<br />

deren Studium wir allen Genossen angelegentlich empfehlen, deren<br />

Notwendigkeit unser letzter Kongress hundertfältig bewies.<br />

Wie ein Traum, so erscheinen mir heute die zwei Tage, die<br />

ich in der Stadt des vorzüglichen Apfelmostes und des internationalen<br />

Kongresses verlebte: in Stuttgart. Klein ist der Kreis<br />

der Unserigen dorten; alles erst in jenem Anfangsstadium des<br />

erneuten Werdens, das unsere Bewegung in Deutschland ja überhaupt<br />

seit den letzten vier bis fünf Jahren charakterisiert, aber<br />

einige brave, ernste, wackere Menschen, die auf einsamen Posten<br />

stehen und dennoch ausdauernd ihrer wichtigen propagandistischen<br />

Aufgabe leben, sie lernte ich in Stuttgart kennen. Und kämpften<br />

wir auch manchen Strauss, so hatten wir auch manch vergnügte,<br />

uns allen — und der schönen, jungen Kellnerin, diesem echten<br />

deutschen Gretchen — unvergessliche Stunden. Und als es dann<br />

zum Abschied kam, der durch würzige Begeisterungstoaste, dargebracht<br />

von den Genossen Kater, Putlitz und mir, begangen<br />

wurde, um die kleine Schaar zu stärken, um sie nicht erlahmen<br />

zu lassen in ihrem Kampfe und ihnen das Prinzip der Einigkeit<br />

und Einmütigkeit einzuschärfen, da ging jeder von dannen mit<br />

gehobenem Herzen und durfte sich sagen: Wenn auch nur in<br />

intimem Kreise, hier war wirksamer gearbeitet worden, hier wird<br />

die Propaganda wohl reifere Früchte tragen, als an so manch<br />

anderen Orten.


123<br />

Die letzte Nacht schlief, ich im Hause zweier Genossen.<br />

Soll ich ihren Namen nennen? Eine — Rosa Linke — ist den<br />

Lesern und Kennern des alten „Sozialist" wohl bekannt. Aber<br />

ich müsste zu viel Namen nennen, und so lasse ich es lieber sein.<br />

Ist auch ganz unnötig. Denn die Braven, die mich am nächsten<br />

Morgen aufweckten und, bevor sie zur Arbeit gingen, mir nochmals<br />

zum Abschied die Hand drücken wollten, sie gehörten samt<br />

und sonders der alten Garde des „Sozialist" an; durch diese Garde<br />

bin ich Anarchist geworden, dem „Sozialist" verdanke ich es.<br />

Ihre leuchtenden Blicke sagten mir, dass ich ihnen das teilweise<br />

zurückgegeben, was ich von ihnen empfangen hatte . . .<br />

Songo, Songo ...<br />

*<br />

Zu den schönsten Erinnerungen, die ich vom internationalen<br />

Kongress bewahrte, zähle ich zwei, die mir allerdings fast die<br />

schönsten und wichtigsten sind: ich meine die verschiedenen internationalen<br />

Versammlungen, die wir abhielten und des weiteren<br />

die nächtlichen Spaziergänge mit verschiedenen Kameraden.<br />

Nur durch sie lernte ich die holländische Bewegung wirklich<br />

kennen: sie brachten mich dem näher, was man den Typus dieser<br />

nennen kann.<br />

Er heisst kurz prinzipieller Idealismus. Das<br />

soll besagen, dass der Idealismus der holländischen Bewegung, soweit<br />

ich ihrer ansichtig wurde, kein solcher der halt- und zwecklosen<br />

Träumerei, sondern ein solcher der praktischen Betätigung<br />

des Idealismus ist; ein Idealismus, dessen Körperkonstitution<br />

idealistische Prinzipien. Pierre Ramus.<br />

(Schluss folgt.)<br />

An unsere Leser!<br />

Durch einen Gewaltstreich gegen unsern Redakteur, Pierre<br />

Ramus,, hat sich die preussische Polizei am 18. September ein<br />

neues ,,Ruhmes"blatt in ihrem Lorbeerkranze gewunden. Als<br />

nämlich am genannten Tage unser Genosse, auf der Durchreise in<br />

Berlin befindlich, den Verleger der „Fr. Gen." besuchen wollte,<br />

wurde er von zwei Beamten der preussischen Polizei auf der<br />

Strasse verhaftet und in das Polizeigefängnis eingeliefert.<br />

Trotzdem seitens der preussischen Behörde nichts gegen<br />

unsern Genossen vorlag, und trotzdem er in seinem sog.<br />

Heimatlande kein Verbrechen begangen hat, welches<br />

die Auslieferung dorthin rechtfertigt, beraubte die


124<br />

Polizei unsern Genossen acht Tage der Freiheit und lieferte ihn<br />

unter Bedeckung der österreichischen Behörde aus.<br />

Wir registrieren diesen neuen Gewaltakt<br />

der p reusischen Polizei, einen Gewaltakt, der<br />

umso brutaler ist, als er gegen alle sog. Gesetze<br />

zivilisierter Nationen verstösst.<br />

Die preussische Polizei, die gerade kurze Zeit vorher ihre<br />

gänzliche Unfähigkeit wieder einmal glänzend dokumentierte, indem<br />

sie sich als unfähig erwies, einen dreifachen Kindermörder<br />

zu ergreifen, suchte wahrscheinlich ihre Notwendigkeit dadurch zu<br />

beweisen, dass sie unsern Genossen widerrechtlich inhaftierie<br />

und auslieferte.<br />

Durch diese Inhaftierung hat sich die Herausgabe des Oktober-<br />

Heftes etwas verzögert, jedoch wird in Zukunft die „Fr. Gen."<br />

wieder pünktlich erscheinen.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

„Anarchismus und Gewerkschaftsbewegung."<br />

Der Verfasser des Artikels in Heft 2 der „Fr. Gen." muss wohl der<br />

Gewerkschaftsbewegung ziemlich fem stehen ; von der praktischen Tätigkeit<br />

derselben, sowie von den gegenwärtigen Aufgaben der Berufsorganisationen<br />

hat er höchst unklare Vorstellungen.<br />

Vor allen Dingen ist es notwendig, auf das schärfste die Weltanschauung<br />

des Anarchismus von seiner Taktik zu trennen. Der Anarchismus ist eine<br />

philosophische Geistesrichtung und hat als solche mit der Gewerkschaftsbewegung<br />

absolut nichts gemein ; diese iet nichts weiter als ein taktisches Mittel<br />

zur Durchführung des anarchistischen Ideals.<br />

Einer Rückdeckung sehr ähnlich sieht es, wenn B. schreibt: ,,Deshalb<br />

muss es auch immer ein Nonsens bleiben, zu sagen: so und so muss ein Anarchist<br />

sein, und wenn jener dort und dort mittut, ist er keiner. Ueber die<br />

Zugehörigkeit zum Anarchismus kann jeder nur über sich selbst Rechenschaft<br />

abgeben." Das trifft in bedingter Weise zu; aber B. wird doch erlauben, dass<br />

jeder die Taten des anderen beurteilen und daraus irgend welche Schlüsse<br />

ziehen darf. Es kann doch vorkommen, ja, soll sogar schon vorgekommen<br />

sein, dass sich jemand als Anarchist ausgibt, infolge seiner Handlungsweise<br />

diese Bezeichnung längst verwirkt hat. Sollen andere nun diesen Einen trotzdem<br />

als Anarchisten anerkennen? Mit keinem Wort wird bekanntlich so viel<br />

Missbrauch getrieben, wie mit dem Wort ,,Freiheit"; alles und noch etwas<br />

mehr versteht man damit zu entschuldigen. Die Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation<br />

ist für die anarchistische Gesinnung allerdings nicht ausschlag


125<br />

gebend; es kann sehr wohl über jeden Makel erhabene, unorganisierte Genossen<br />

geben. Gehört man aber einer Gewerkschaft an, so spielt das „wo"<br />

sicherlich auch eine Rolle dabei.<br />

Zwar haben wir in Deutschland bis jetzt noch keine auf anarchistischen<br />

Grundsätzen aufgebauten (syndikalistischen) Gewerkschaften. Die vorhandenen<br />

Ansätze sind zu schwach, um 'hier in Betracht zu kommen. Trotzdem aber<br />

muss es nicht jedem unbenommen bleiben, sich dort anzuschliessen, wo er<br />

für sich die wenigsten Nachteile — man kann auch lesen; die grössten Vorteile<br />

— vermutet. Diese Grundsätze sollten für uns Anarchisten in Wegfall<br />

kommen; wir müssen uns stets vor Augen halten, dass die Gewerkschaften<br />

keine Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit sein sollen, sondern<br />

Kampforganisationen, welche zugleich die Grundpfeiler einer zukünftigen freien<br />

Gesellschaft darstellen. Wer nun, wie B., die Gewerkschaft nur als eine Versicherung<br />

gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. ansieht, hat keine Veranlassung,<br />

über die im Gefolge solcher Berufsorganisationen erscheinenden Missstände<br />

zu jammern. Zum mindestens müsste jeder Anarchist das Unterstützungswesen<br />

der Gewerkschaften als hassenswertes Uebel betrachten odei<br />

noch besser: auf Beseitigung bedacht sein.<br />

Geradezu wunderbare Ansichten entwickelt B. über den Streik. Nicht<br />

mehr und nicht weniger spricht er da seelenruhig aus, als was die schlimmsten<br />

Feinde der Arbeiterschaft behaupten, dass nämlich die Verteuerung der Lebensmittel,<br />

die Steigerung der Wohnungsmieten, kurz also das ganze soziale<br />

Elend durch die ewige Streikerei der Arbeiter verursacht wird. Hut ab! vor<br />

einer solchen Logik, die ein Anarchist in die Welt zu setzen wagt. Auch an<br />

dem Erstarken der Unternehmerorganisationen sollen die Streiks schuld tragen.<br />

Die Konsequenz der Anschauungen B.'s wäre, die Waffe des Streiks in<br />

die Rumpelkammer zu werfen, während bisher immer noch etliche Toren an<br />

die Wirksamkeit des Generalstreiks glaubten. Doch halt — nicht alle Streiks<br />

verwirft B., die Verkürzung der Arbeitszeit ist das einzige Ziel, wert, heute<br />

einen Streik zu inszenieren. Davon, von dieser Verkürzung der Arbeitszeit,<br />

verzpricht B. sich sehr viel. Gewiss ist ein Streik zur Verkürzung der Frohn<br />

vollauf berechtigt; aber die siegreiche Durchführung wird nicht so grossartige<br />

Folgen haben, wie B. glaubt. Dabei passiert ihm eine Verwechselung, welche<br />

mich sehr sonderbar berührt. Die Masse der aus irgendwelchen Gründen<br />

vorübergehend Arbeitslosen scheint bei B. identisch mit dem sog. Lumpenproletariat.<br />

Nur so läset es sich erklären, wenn B. schreibt: „Man kann nie<br />

wissen, auf welche Seite sich diese unsichern Elemente werfen werden. Zum<br />

Bewusstsein ihrer Lage kommen diese wohl selten und für das Judasgeschenk<br />

eines augenblicklichen Vorteils könnte es dtch wohl möglich sein, dass sie<br />

sich ihren Henkern verkauften." Die Zusammensetzung der industriellen<br />

Reservearmee ist doch dieselbe wie die des übrigen Lohnproletariats. Der<br />

einzige Unterschied besteht in der augenblicklichen Arbeitslosigkeit der Ersteren.<br />

Mit der Klassenkampftheorie ist B. auch nicht einverstanden; Einwendungen,<br />

welche die Richtigkeit dieser Theorie erschüttern könnten, vermag er<br />

zwar .nicht erbringen. Im Gegenteil — er ist überzeugt, dass die Besitzenden<br />

nicht freiwillig ihre Privilegien und Besitztümer aufgeben werden; die Not


126<br />

wendigkeit des Klassenkampfes wird also anerkannt. Dennoch fühlt B. sich<br />

veranlasst, vor dem Extrem, in das uns die Klassenkampftheorie in konsequenter<br />

Durchführung hineinreiten würde — die Unterdrückung der jetzt Herrschenden<br />

von den bis nun Regierten!! Dazu darf es aber nie kommen!<br />

Dazu wird es auch nie kommen. Sofern die anarchistische Idee Geltung<br />

erlangt, wird sowohl die Kategorie der Herrscher wie der Beherrschten<br />

verschwinden. Es liegt nicht im Wesen des Klassenkampfes begründet, eine<br />

Klasse zur Herrschaft zu bringen. Klassenherrschaft bedeutet nicht die<br />

Eroberung der Macht oder Besitzergreifung irgend welcher Herrschaftstitel.<br />

Diese Auslegung des Klassenkampfes ist sozialdemokratisch. Sieg des Proletariats<br />

im Klassenkampf bedeutet im anarchistischen Sinne nicht Aufrichtung<br />

einer Herrschaft, sondern im Gegenteil das Ende aller Klassenherrschaft,<br />

ja aller Herrschaft überhaupt, die ersehnte Herrschaftslosigkeit.<br />

Die Befürchtungen B.'s sind also überflüssig; gewiss wird das Proletariat<br />

„siegen", um dieses Wort zu gebrauchen. Doch dieser Sieg muss nicht<br />

eine neue Herrschaft errichten, und wird dies auch nicht. Lediglich die bisherige<br />

Herrschaft zu beseitigen, ist Aufgabe und Ziel des Klassenkampfes.<br />

Vollständig verfehlt ist es, wenn B. die sozialdemokratischen Gewerkschaften<br />

mit den Hirsch-Dunkerschen auf eine Stufe stellt. Die letzteren betreiben<br />

den Arbeiterverrat doch gewerbsmässig; bei fast allen Streiks spielen<br />

sie die Streikbrecherlieferanten. Die Arbeitsnachweise der „Hirsche" sind bekannte,<br />

von den Unternehmern gern benutzte Streikbrecheragenturen. Im<br />

Gegensatz dazu haben die Zentralverbände, so schlecht sie im übrigen auch<br />

sind, diese „Höhe" doch noch nicht erklommen. Im Irrtum befindet sich B.,<br />

wenn er behauptet, die Gewerkvereine seien politisch neutral, während Zentral-<br />

und Lokalorganisationen nur Sozialdemokraten als Mitglieder verlangten.<br />

Es müsste B. bekannt sein, dass die Gewerkvereine im Fahrwasser des Freisinns<br />

segeln; mit der politischen Neutralität ist es in diesem Falle also nichts.<br />

Ebensowenig trifft das von den „sozialdemokratischen" Gewerkschaften Gesagte<br />

zu. Die übergrosse Mehrheit der Mitglieder dieser Gewerkschaften ist nicht<br />

sozialdemokratisch, hat herzlich wenig, um nicht zu sagen, gar keine Ahnung<br />

von Sozialismus.<br />

Für die Anarchisten wird hoffentlich auch in Deutschland bald die Zeit<br />

gekommen sein, wo sie tatkräftig eingreifen können bei der Errichtung syndikalistischer<br />

Gewerkschaften. Bis dahin ist es Aufgabe jedes Einzelnen, in<br />

seinem Kreise aufklärend und anfeuernd zu wirken, und dadurch die "Wartezeit<br />

nach Kräften auszunützen und abzukürzen. S.


Bibliographie.<br />

(Event. Besprechungen vorbehalten.)<br />

In deutscher Sprache.<br />

Vom Verlag der Literarischen Anstalt,<br />

Rütten und Loening, Frankfurt a. M.,<br />

welcher unter der Schriftleitung von<br />

Martin Buber eine Sammlung sozialpsychologischer<br />

Monographien herausgibt,<br />

gingen uns folgende 3, sehr empfehlenswerte<br />

Bändchen zu: I. J. J. David,<br />

Die Zeitung." II. Albr. Wirth, Der<br />

Weltverkehr. III. Ernst Schweninger,<br />

Der Arzt.<br />

Dr. Konrad Küster, Die Lösung<br />

der sozialen Frage durch Gesundung der<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse. Verl. von<br />

J. Harrwitz Nachfolger, Berlin. I. Band<br />

der gesammelten Schriften.<br />

Dr. L. Bergfeld, Zerreiss die Binde<br />

vor Deinen Augen, liebe Schwester!<br />

Ein offener Brief an jedes erwachsene<br />

Mädchen. Verlagsbuchhandlung Seitz<br />

& Schauer, München. Mk. 1,80. (Sehr<br />

empfehlenswert!)<br />

Karl Freiherr von Levetzow, Louise<br />

Michel, eine Charakterskizze. Verlag<br />

von Friedr. Rothbarth, Leipzig. Mk. 1,50<br />

In franzosischer Sprache.<br />

Michael Bakunins Werke. Bd. II.<br />

Enthält eine einleitende Biographie,<br />

von James Guillaume; 1. Die Bären<br />

von Bern; <strong>2.</strong> Briefe an einen Franzosen;<br />

3. Das knutogermanische Reich. Fr. 3.50.<br />

Ed. Tallichet, Die Friedensfrage<br />

und ihre Losung. Lausanne. Verl. der<br />

Bibliotheque Universelle.<br />

Tola Dorian, Sklavenseelen. Rennun.<br />

Bibliotheque Universelle Beaudelot,<br />

Paris. Fi. 3.50.<br />

—, Die menschliche Freiheit. Soziales<br />

Drama in 5 Akten. Fr. 0,75. Verlag<br />

„Socialiste internationale", Paris.<br />

A. Hamon. Sozialismus und Anarchismus.<br />

Mit einer Vorrede von Alf.<br />

Naquet. Neuauflage im Verlage E. Sansot<br />

& Co., Paris. Fr. 3,50.<br />

Paul Robin, Brot, Müsse, Liebe.<br />

In spanischer Sprache.<br />

Jose Kakens, Der Schrecken des<br />

127<br />

Absolutismus. Verl. „Sempere" Valencia-<br />

Madrid. 1 Peseta.<br />

P. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe.<br />

Verl. „Sempere", Valencia-Madrid. In<br />

zwei Bänden à 1 Peseta.<br />

P. J. Proudhon, Ueber die Schöpfung<br />

der Ordnung in der Menschheit. Verl.<br />

„Sempere", Valencia-Madrid. 3 Peseta.<br />

P. Gori, Der Anarchismus vor den<br />

Gerichten. Verl. „El Productor", Argueles<br />

11, Cracia, Barcelona.<br />

J. Alcala Galiano, Tausend und<br />

eine Nacht. Verl. „Sempere", Valencia-<br />

Madrid.<br />

Ubaldo Romero Quinones, Die<br />

Primität. Verl. Moderna, Madrid. 1 P.<br />

F. S. Merlino, Sozialismus und<br />

Monopolismus. Verl. „Sempere", Valencia-Madrid.<br />

1 Peseta.<br />

Notizen.<br />

„Dictionaire de Sociologie",<br />

Französisch sprechenden Lesern der<br />

„Fr. Gen." diene zur Mitteilung, das»s<br />

unsere Genossen M. Heiman und G.<br />

Papens mit Hilfe sämtlicher Mitarbeiter<br />

der glänzenden Revue „L'Humanité<br />

Nouvelle" sich an die literarische Bewältigung<br />

eines Unternehmens begeben<br />

haben, dessen zu verwirklichende Frucht<br />

wir allen Interessenten dringend empfehlen.<br />

Es handelt sieh um die Herausgabe<br />

eines Lexikons der Soziologie, der<br />

in zwei Bänden erscheinen soll, dessen<br />

Einzelband mehr denn 1000 Seiten<br />

umfassen soll. Man sieht, das Unternehmen<br />

ist ähnlich geplant, wie wir<br />

Deutsche es in dem grösstenteils rühmlich<br />

bekannten „Handwörterbuch der<br />

Staatswissenschaften" besitzen, nur mit<br />

dem Unterschiede, dass es in seinen<br />

Konklusionen weit freier sein, das<br />

letztere Werk wohl darin übertreffen<br />

wird. Detaillierte Auskünfte erteilt L'Humanité<br />

Nouvelle, Boulevard Lousbergs,<br />

Gand, Belgien. —<br />

„Eine anarchistische Bibel". Von<br />

befreundeter Seite erhalten wir die Mitteilung,<br />

dass der skandinavische Genosse<br />

Hans Jeger mit der Abfassung<br />

eines grösseren Werkes unter obigem<br />

Titel beschäftigt ist, das demnächst in<br />

Kopenhagen erscheinen soll. Unser<br />

Gewährsmann verspricht uns. eine bal-


dige Uebersicht über Inhalt und Tendenz<br />

desselben, wie über die in den<br />

letzten Jahren ausserordentlich üppig<br />

emporschiessende skandinavische anarchistische<br />

Literatur und Bewegung<br />

liefern zu wollen. —<br />

„Jahrbuch des internationalen<br />

Lebens." Der zweite Band des<br />

obigen Werkes liegt vor uns. Die bemerkenswerte<br />

Fülle von statistischen<br />

Wissenswürdigkeiten, die in ihm aufgespeichert<br />

ist, lässt das Werk als wert»<br />

volles bezeichnet werden. Sein theoretischer<br />

Standpunkt ist der, dass man<br />

den Internationalismus gemeinhin missverständlich<br />

auffasse. Derselbe sei<br />

nämlich nicht identisch mit dem Antipatriotismus.<br />

Das Bach, dessen Verfasser<br />

Alfred H. Fried, ist erhältlich im<br />

„L'Institute International de la Paix<br />

in Monakko.<br />

Von unserem serbischen Freund und<br />

Genossen Peter Munjitsch, Mitredakteur<br />

des in Belgrad publizierten<br />

„Arbeiterkampfes", erhalten wir die<br />

Mitteilung, dass die Artikel des Genossen<br />

Pierre Ramus über „Marx und<br />

Engels als Plagiatoren" (Vergl. Band I<br />

der „Fr. Gen.") ins Serbische übersetzt<br />

und in obigem Blatte veröffentlicht<br />

wurden. Es geschah dies als Antwort<br />

auf die vom sozialdemokratischen Blatte,<br />

„Arbeiterzeitung", vorgenommene Veröffentlichung<br />

des Artikels von Karl<br />

Kautsky wider die Genossen Tscherkesoff<br />

und Ramus. Bemerkenswert ist.<br />

dass das sozialdemokratische Blatt —<br />

verblüfft über diese Antwort, die es<br />

nicht erwartet hatte — kein Sterbenswörtchen<br />

mehr aufbringen konnte gegen<br />

besagte Artikelserie; leider half Herr<br />

Karl Kautsky den betreffenden Redakteuren<br />

nicht aus der Verlegenheit.<br />

Briefkasten.<br />

An diverse Korrespondenten. Meine<br />

fast zwei Monate währende, teils freiwillige,<br />

teils unfreiwillige Abwesenheit,<br />

hat es mit sich gebracht, dass viele<br />

für mich eingelaufene Briefe redaktionellen<br />

oder privaten Inhaltes ihre sonst<br />

prompte Beantwortung nicht finden<br />

konnten. Ich bitte um Entschuldigung<br />

und die Freunde um Geduld die ausstehenden<br />

Antworten werden tunlichst<br />

128<br />

rasch erfolgen. P. R.<br />

Th. H. „Im Talnebel" in nächster<br />

Nummer. Dank für diesen Beitrag.<br />

Hupka. Die Tragödie des armen<br />

Georg Müller, dieses verlorenen, grossen<br />

Kindes im brasilianischen Urwald, hat<br />

mich und einige andere, denen ich<br />

Ihren Brief zu lesen gab, tief erschüttert.<br />

Auch er hegte gewiss einmal den schönen<br />

Traum, sich da drüben, im tropischen<br />

Süden Freiheit und Unabhängigkeit zu<br />

erkämpfen. Das Einzige, das er fand,<br />

war eine Freundesstütze in Ihnen. War<br />

es ein Unglück, war es ein Selbstmord,<br />

— das ist einerlei, denn er kehrt nicht<br />

wieder. Ich wiederhole Ihren Schlusssatz:<br />

„Armer Georg!" — Geldangelegenheit<br />

wird nach Wunsch geregelt.<br />

Brudergruss.<br />

Hans Voit und Popp. Das nenne ich<br />

Propaganda! „Manifeste" für 30 Mk.<br />

folgen. Dass Ihnen die „Polemik" von<br />

R. „voller gehässiger Persönlichkeiten<br />

und zwar sehr kleinlich" erschien, haben<br />

bereits andere Leute auch schon eingesehen,<br />

denen nun die Augen aufgegangen<br />

sind über die Qualifikation der<br />

„Direkten Aktion" jenes Herrn. Glücklicherweise<br />

tötet ihn seine. Selbstverachtung.<br />

— Ein grosses Verdienst würden<br />

Sie sich allerdings erwerben, wenn<br />

Sie mir die vielleicht noch reichlich<br />

auftreibbaren Materialien zu einer Biographie<br />

über A. senden würden; der<br />

Tote verdient diese bescheidene Würdigung<br />

seines edlen Lebenswandels. Hätten<br />

wir doch viele gleich ihm! —<br />

Geistig weile ich oftmals bei und mit<br />

Euch. Umso mustergültiger darf es<br />

genannt werden, dass Ihr Euere Aufgabe<br />

unserem gemeinsamen Ideal gegenüber,<br />

trotz so geringer Anregungen<br />

von aussen, so rechtschaffen u. charaktervoll<br />

nachkommt. Viel und fröhliches<br />

Gedeihen! Brudergruss!<br />

Stine, N.-Y. Dein berechtigter Ingrimm<br />

über meine erbärmlich-hässliche<br />

Handschrift findet mich nur deshalb<br />

unverwundbar, weil ich ohnedies alle<br />

meine diesbezüglichen Sünden vor dem<br />

Richterstuhl meines gestrengen genössischen<br />

Setzers in Form von fluchwürdigen<br />

Druckfehlern heimgezahlt erhalte;<br />

oftmals doppelt und dreifach. Sei mir<br />

gegrüsst. Kalligraphist; und Glück auf,<br />

dem <strong>Freie</strong>n Wort"'<br />

Verantwortlicher Redakteur: Gustav Lübeck. Berlin.


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>'' ist zu beziehen :<br />

Der Wohlstand für Alle<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

Preis nur 1,50 Mk.<br />

Soeben ist erschienen:<br />

Revolutionäre Regierungen.<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

„Die revolutionären Regierungen" ist eine der besten Broschüren<br />

Kropotkins. Da dieselbe seit Anfang der 90er Jahre nicht<br />

mehr zu haben ist, kommen wir mit der Herausgabe den Wünschen<br />

vieler Freunde entgegen und geben wir der deutschen anarchistischen<br />

Bewegung eine wirksame Agitationsbroschüre in die Hand.<br />

Preis S Pfg., bei Bezug von 400 Expl., I Pfg. pro Exemplar.<br />

Die Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>."<br />

In meinem Verlage ist erschienen:<br />

Mutterschutz und Liebesfreiheit.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Die Broschüre beschäftigt sich mit den Bestrebungen des<br />

„Bundes für Mutterschutz" und bekämpft eine Mutterschaftsversicherung<br />

auf staatlicher Grundlage. Der Verfasser schlägt eine<br />

solche Versicherung in freiwilliger Form, im Rahmen einer freien<br />

Gemeinschaft von Männern und Frauen vor und eröffnet neue<br />

Lichtpunkte für das Liebesleben des Menschen. — Preis 20 Pfg.<br />

Brot, Müsse, Liebe<br />

Von Paul Robin und einem Vorwort von Armand Fernau.<br />

Brot, Müsse, Liebe hat in Frankreich in kurzer Zeit vier<br />

Auflagen erlebt. Sie behandelt kurz, übersichtlich und allgemeinverständlich<br />

die wichtigsten Faktoren, die zum Glücke der Menschen<br />

gehören: Brot, Müsse, Liebe.<br />

Die Broschüre ist eine Propagandaschrift im wahrsten Sinne<br />

des Wortes. Preis 10 Pfg.<br />

Verlag A. Plessner, Berlin N.W. 87, Wullenweberst. 6.


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen:<br />

Das anarchistische Manifest<br />

Von Pierre Ramus.<br />

„Das anarchistische Manifest" ist eine Propagandabroschüre<br />

im wahren Sinne des Wortes. In kurzen, aber allgemeinverständlichen<br />

Worten begründet und erläutert der Verfasser die<br />

Forderungen, welche wir Anarchisten an eine menschliche, für<br />

Alle glückliche Gesellschaft stellen.<br />

Preis 5 Pfennig.<br />

Um diese Broschüre aber auch hinsichtlich des Preises zu<br />

einer Agitationsbroschüre zu machen, geben wir dieselbe bei Bezug<br />

von 400 Exemplaren mit<br />

1 Pfennig pro Exemplar<br />

ab. 400 Exemplare kosten mit Porto 4,50 Mark.<br />

Wir bitten um umgehende Bestellung<br />

Demnächst gelangt zur Ausgabe:<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Der Generalstreik.<br />

Diese Broschüre ist die 3. in unserer Serie und wird zu<br />

denselben Bedingungen wie „Das anarchistische Manifest" geliefert.<br />

Bestellungen nimmt schon jetzt entgegen<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Druck: Buchdruckerei M. Lehmann, Berlin.


<strong>2.</strong> Band. Heft 5<br />

November <strong>1907</strong>.<br />

Verlag M. Lehmann,<br />

Berlin, Dresdenerstr. 88-89.


1887-<strong>1907</strong>.<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

Begründung eines internationalen Bulletins<br />

Die öffentliche Ordnung.<br />

Aus dem Tagebuch eines Propagandisten.<br />

Eine Rechtfertigung der natürlichen Gesellschaft.<br />

Lernt nicht Esperanto!<br />

Lernt Esperanto!<br />

Im Talnebel.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Von Max Nettlau.<br />

Von J. P. Proudhon.<br />

Von Pierre Ramus,<br />

Von Edmund Burke.<br />

Von Gustav Landauer.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Theo. Heermann-Moskau.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge über samtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar- künstlerische Erkennt<br />

nisse des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmässiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Postsendung,<br />

in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Hell.,<br />

Prankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die<br />

Redaktion der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre<br />

Ramus, Wien, 3. Löwengasse 5, 3-10.<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche<br />

Mitteilungen sind zu richten an den Verlag: M. Lehmann,<br />

Dresdenerstr. 88|89, Berlin 5.<br />

Die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint regelmässig am 15 jeden Monats.<br />

Bei nicht pünktlicher Zustellung wende man sich an den Verlag.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band 2 November <strong>1907</strong> Heft 5<br />

1887 <strong>1907</strong>.<br />

Zwei Jahrzehnte sind darüber hinweggerollt, dass fünf Vorkämpfer<br />

unserer Gedankenwelt ihr Leben opferten für das Recht,<br />

sich zu dem zu bekennen, das Vernunft und Erfahrung sie lehrte.<br />

Der Justizmord des 11. November 1887, dessen juridische<br />

Vernichtung nicht wir Anarchisten, sondern der uns unvergessliche<br />

Charaktermensch, Gouverneur Altgelt, gab, er war notwendig,<br />

um das bornierte Krämergesindel des amerikanischen Schacherstaates<br />

wieder leichter aufatmen zu lassen — in der grandiosen<br />

historischen Täuschung einer zum Untergang bestimmten Klasse,<br />

die da glaubte, die Anarchie — die Lehre der Herrschaftslosigkeit<br />

— erdrosselt zu haben auf dem Galgen von Chicago<br />

Anarchisten waren es, die ihr Leben Hessen in den Novembertagen<br />

einer Zeit, als das amerikanische Proletariat in stolzer<br />

Zuversicht revolutionären Kampfes um dessen Lorbeeren — um<br />

ökonomische Vorteile — stritt. Für dieses Proletariat gaben<br />

die Novemberhelden ihr Leben hin, für das grosse Werk ihres<br />

Wollens für den Idealbau der Anarchie, ihre Lebens-, Freiheitsund<br />

Glücksziele aus der schaffenden Kraft eines kämpfenden<br />

Proletariates hervorgehen zu lassen.<br />

Vielleicht werden heute auch jene zu Worte kommen, die da<br />

sagen, indem sie stillvergnügt schmunzeln und sich in wonniger<br />

Sicherheit wiegen: „Ja der 11. November! Wahr, sehr wahr,<br />

er ist schauderhaft, entsetzlich — aber heute, und das ist der<br />

Fortschritt, den wir gemacht haben, heute . ist das nicht mehr<br />

möglich. Denken wir nur an den Fall Haywood, wo ebenfalls eine<br />

kapitalistische Schurkenbande Unschuldige in den Tod treiben<br />

wollte, ihr aber dies nicht gelang<br />

Und dann erzählen uns jene etwas von der „friedlichen<br />

Entwicklung", von den „gesteigerten Kulturbegriffen" — und


130<br />

überhaupt, dass „so etwas" heutzutage nicht mehr möglich ist.<br />

Aber dieses ganze Raisonnement ist falsch. Vor mir steigen<br />

in Gedanken die Gesichter der Braven auf, die todeskühn dem<br />

Idealbild ihres Lebenskampfes zujauchzten, und ich weiss, weshalb<br />

sie sterben mussten, es für Haywood glücklicherweise noch<br />

Rettung gab.<br />

Unsere Fünf — sie waren Anarchisten im Leben bis in<br />

den Tod! Haywood ist nur ein simpler Gewerkschaftler und<br />

damit — mit der nur praktischen Betätigung — haben sich die<br />

Machthaber abgefunden. Sie sind willens, Zugeständnisse zu<br />

machen, weil ein jedes Zugeständnis auch von Wert für das Bestehende<br />

ist. Aber prinzipieller Gegner gegenüber der heutigen<br />

Gesellschaft zu sein — das ist etwas vollständig anderes. Für<br />

verachtende Kenner der gesellschaftlichen Gewalten gibt es kein<br />

gesetzliches Recht.<br />

Weil sie Anarchisten waren, mussten sie sterben! Für ihre<br />

Ueberzeugung gingen sie in den Tod, die schmähliche Verderbtheit,<br />

die blasse Feigheit der Bourgeoisklüngel der freiesten Republik<br />

vor dem strahlenden Licht hehrster Freiheit, materieller Unabhängigkeit<br />

und individuellen Glückes auf dem Galgen deklarierend.<br />

Als Anarchisten müssen wir ihrer gedenken, um sie würdig<br />

zu ehren.<br />

Und wenn wir, nach 20 Jahren, uns heute fragen: Was hat<br />

dieser fünffache Mord den Herrschenden genützt? — Dann ist es<br />

den Bourgeoismenschen mit ihrem Richtertross, als ob sie das<br />

schaurige Hohngelächter der Hölle vernähmen, während wir freudetrunken,<br />

begeistert, stolz erhobenen Hauptes jenes hoffnungsreiche<br />

Morgenglühen von Zukunftsgipfeln wahrnehmen, das unsere Zuversicht<br />

ist . Pierre Ramus.<br />

Die Begründung eines internationalen Bulletins.<br />

Vorbemerkung. Unsere Leser erinnern sich, dass auch wir die Anregungen<br />

der südamerikanischen Genossen, den Genossen Max Nettlau mit<br />

der Herausgabe eines internationalen Bulletins zu betrauen, freudig begrüssten<br />

und ihr zustimmten. Nachfolgender Brief bildet die Antwort des Betreffenden<br />

auf dieses Ansinnen.


131<br />

Liebe Kameraden der „Terra Livre".<br />

Es ist nicht bis heute, dass ich dazu kam, Euren Artikel<br />

und Vorschlag über die Gründung eines „Internationalen Bulletins"<br />

zu lesen. Ich sehe meinen Namen genannt. Wenn Ihr später<br />

Eurem Vorschlage eine definitive Form gebet, bitte ich Euch darum,<br />

meinen Namen, wegen verschiedenen persönlichen Ursachen,<br />

in dieser Beziehung ausserhalb der Frage zu lassen. Aber Euer<br />

Artikel gibt Gelegenheit, über diese Frage nachzudenken.<br />

Ihr seid selbst skeptisch gegenüber der Frage der Organisation,<br />

und dann erklärt Ihr, wie man am besten ein internationales<br />

Bulletin herausgeben kann, trotz allen Einwürfen, welche dagegen<br />

sprechen. Ohne Zweifel wäre ein solches Bulletin, wir Ihr es<br />

wünscht, vorzüglich, aber es scheint mir unmöglich, dasselbe in<br />

dieser Form zu schaffen. Oder, wenn es geschaffen würde, wäre<br />

es mit dem besten Willen unmöglich, dass dasselbe die Aufgabe<br />

erfüllt, welche es sich gesetzt hat.<br />

Die Enthaltung von theoretischen Meinungen und Meinungsäusserungen<br />

ist vorzüglich. Theoretische Artikel wären, um jedermann<br />

zu gefallen, entweder farblos oder sie wären vom persönlichen<br />

Standpunkt des Redakteurs aus geschrieben, und dann wäre<br />

das Bulletin ein Propagandablatt, welches diese Ansichten vertritt,<br />

und wäre nicht das wahrhaft internationale Organ, welches<br />

man zu schaffen wünscht.<br />

Eine Liste der anarchistischen Blätter kann man machen,<br />

obgleich das immer schwieriger wird; es gibt, besonders im spanischen<br />

Amerika, zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, welche mehr<br />

oder weniger freiheitliche Ziele verfolgen, welche man kaum in<br />

irgend einer Kategorie unterbringen kann. Es gibt Orte, wo die Zeitungen<br />

durch lokale Ursachen verhindert sind, diese Propaganda direkt<br />

zu machen, dieselben aber trotzdem das sind, was sie unter den<br />

gegebenen Verhältnissen sein können. — — —*) Diese Liste wäre<br />

also unvermeidlich sehr veränderlich und unvollständig.<br />

Die Listen der anarchistischen Gruppen, Verlagszentren,<br />

Gruppen für soziale Studien, Kolonien etc., all das ist noch viel<br />

schwieriger, und in der Ausführung unmöglich. Es ist leicht, die<br />

Adressen der Bibliotheken, Klubs, Gesellschatten, Kolonien und<br />

kooperativen Gruppen etc. zu sammeln; das gibt aber keineswegs<br />

ein Bild von dem, was wirklich besteht und vorgeht. Die Propaganda<br />

wird glücklicherweise unter sehr vielen Formen geführt,<br />

welche für jeden, der nicht unmittelbar daran teilnimmt, ungreifbar<br />

sind; und gerade das, was am interessantesten ist, worin das<br />

wahre Leben der Propaganda besteht, wird nie veröffentlicht, denn<br />

dadurch würde es in die Hände der Polizei gelangen; diese<br />

Im Original sind hier fünf Zeilen durch schlechten Druck leider vollkommen<br />

unleserlich. Der Uebersetzer.


132<br />

möchte wohl das Bulletin so vollständig als möglich mit allen erdenklichen<br />

Mitteilungen sehen ! Auch schaffen wir keine fest umgrenzten<br />

und sozusagen permanenten Organisationen, wie die Sozialdemokraten<br />

und Politiker, was deren unvermeidliche Auflösung<br />

nicht verhindert. Denn eine Gruppe scheint mir einer<br />

Blume oder einer Frucht vergleichbar, welche sich langsam<br />

entfaltet, welche zu einer sehr kurzen Zeit höchster<br />

Blüte gelangt und welche sich unvermeidlich wieder verwandelt,<br />

wie eine Frucht, welche reif vom Baume fällt. Die Periode der<br />

wahren Tätigkeit und Propaganda ist diejenige, wo die Gruppe<br />

sozusagen noch gar nicht besteht, und wo alle bemüht sind, einzeln<br />

das Beste zu tun, dessen sie fähig; wenn einmal die Gruppe gebildet<br />

ist, hat sie die unvermeidliche Bestrebung, sich wieder aufzulösen,<br />

und es würde oft vorkommen, dass, wenn sich eine Gruppe<br />

endlich gebildet hat, dieselbe bei der Veröffentlichung ihrer Existenz<br />

im Bulletin gar nicht mehr besteht.<br />

Ich wiederhole, unsere Bewegung ist glücklicherweise so<br />

mannigfaltig und so unerschöpflich, dass eine Liste, welche sich<br />

keine andere Aufgabe stellen würde als einige allgemein bekannte<br />

und leicht zu erlangende Adressen zu geben, nichts anderes wäre<br />

als entweder eine naive Mitteilung an die Arbeitgeber und die<br />

Polizei, über Dinge, die sie sehr angelegentlich interessieren —<br />

oder sie wäre äusserst unvollständig und würde eine falsche Idee<br />

über die Bewegung verbreiten.<br />

Die Listen der Bücher und Broschüren — das Hesse sich<br />

bis zu einem gewissen Grade machen, und das sollte man machen.<br />

Nur sind diese Veröffentlichungen von sehr verschiedenem Werte,<br />

manchmal recht minderwertig, und so müsste man Unterschiede<br />

und Bemerkungen machen, wodurch der Redakteur aus seiner<br />

Neutralität und vollkommenen Reserve heraustreten müsste. Dies<br />

bezieht sich noch viel mehr auf die Artikel in Zeitschriften und<br />

Zeitungen. Man würde natürlich nicht viel über solche Artikel<br />

sprechen, welche für die lokale Propaganda bestimmt sind, und<br />

welche nur die Gedanken wiederholen, welche wir alle kennen.<br />

Man könnte über den literarischen Stil dieser Artikel sprechen —<br />

das wäre auch eine Kritik. Was wirklich interessant wäre, zu<br />

sammeln, das wären die wirklich neuen Ideen, die man in den<br />

verschiedenen Zeitungen findet, die neuen Argumente, die fruchtbaren<br />

Diskussionen, welche uns voran bringen. Das alles zu finden<br />

und gut zusammenzufassen, ist nicht leicht.<br />

Nun zu den Berichten über die verschiedenen Länder, Tatsachen<br />

und Symptome! Da müssen wir auch bedenken, dass wir keine<br />

Geschichte schreiben, sondern mitten im Kampfe stehen. Von so<br />

vielem können wir heute die intime Geschichte nicht erzählen, und<br />

der Herausgeber des Bulletins muss, wenn er von diesen Sachen<br />

spricht, noch viel vorsichtiger sein als diejenigen, welche an Ort


133<br />

und Stelle leben, denn er kennt die Sachen, die Verhältnisse, von<br />

denen er spricht, nicht aus eigener Anschauung und läuft so sehr<br />

Gefahr, Indiskretionen zu begehen. Er würde übermässig vorsichtig<br />

sein müssen; und seine Veröffentlichungen würden so viel<br />

an Kraft und beinahe alles an Aktualität verlieren.<br />

Was die Geschichte des Anarchismus betrifft: das ist ein<br />

Gegenstand, wo man bei den ganz alten Sachen fast vollkommen<br />

frei ist, all das zu sagen, was geschehen ist, das heisst eher, das<br />

Wenige, welches die Quellen und Ueberlieferungen uns bewahrt<br />

haben. Aber diese Studien sind verwickelt, und nehmen viel<br />

Eaum ein. Eine ernste historische Revue wäre eine vorzügliche<br />

Sache, aber sie würde ihren Herausgeber von der Gegenwart entfernen<br />

— das kann ich selbst bezeugen. Wie viel Gegenwärtiges<br />

entgeht mir, seit ich mich mit geschichtlichen Forschungen befasse,<br />

welche meine ganze Zeit in Anspruch nehmen.<br />

Mitteilungen und Vorschläge — das sind Sachen, in denen<br />

Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich sind. Es würden, wie<br />

bei allen Zeitungen — vielleicht minderwertige Mitteilungen einlaufen,<br />

welche aber ihren Verfassern sehr teuer sind. Oder der<br />

Redakteur irrt sich und verkennt die Wichtigkeit einer Mitteilung;<br />

er verwirft sie. An wen soll man da appellieren — und an wen<br />

soll man da wiederum gegen diese Appellation appellieren? Wenn<br />

der Redakteur verpflichtet ist, alles, was man ihm einschickt, abzudrucken,<br />

so ist es sehr wahrscheinlich, dass ihm das eines Tages<br />

nicht gefallen wird, und er seinen Posten aufgibt. Wenn er oder<br />

irgend jemand das Recht hat zu wählen, wird man mit ihrer Wald<br />

unzufrieden sein.<br />

So würde ein Bulletin, wie Ihr es wünscht, im Anfang wahr<br />

scheinlich sehr schwer herzustellen sein, und wenn es ins Leben<br />

träte, müsste es mit wenigem anfangen, sich langsam entwickeln.<br />

Um ein solches Bulletin mit möglichst geringen Kosten herzustellen,<br />

kommt mir der Gedanke, dass es gut wäre, es als eine<br />

monatliche Beilage der Pariser „Les Temps Nouveaux" zu drucken.<br />

Die „Temps Nouveaux" mussten dann einmal im Monat ihre literarische<br />

Beilage ausfallen lassen, und auf diesen Seiten könnten sie<br />

das Bulletin drucken. Das Bulletin, welches sonst überall Abonnenten<br />

suchen müsste, würde auf diese Weise sofort überall Verbreitung<br />

finden. Eine bestimmte Anzahl von Exemplaren könnte extra<br />

herausgegeben und an die direkten Abonnenten versandt werden.<br />

Es gäbe auch so einige Kosten, denn die grosse Anzahl von fremden<br />

Namen, Büchertiteln etc. macht es notwendig, dass die Korrekturen<br />

besonders aufmerksam durchgesehen werden, und diese und<br />

jene und andere Arbeiten, welche das Bulletin verursachte, könnten<br />

nicht von den Kameraden der „Temps Nouveaux" geleistet<br />

werden, die genug tun, indem sie seit Jahren jede Woche ein so<br />

grosses Blatt herausgeben.


134<br />

Eine solche Kombination würde die Herausgeber des Bulletins<br />

von dieser Bürde befreien, welche die ungewisse Entwicklung<br />

eines Blattes so oft verursacht; sie könnten sich ganz der Arbeit<br />

widmen, das Blatt so gut als möglich zu gestalten, und je bedeutender<br />

das Bulletin, desto freudiger würden die „Temps Nouveaux"<br />

dasselbe verbreiten. Wenn das Bulletin eines Tages stark<br />

genug wäre, um sich zu vergrössern und selbständig zu werden,<br />

so ist das immerhin eine Frage, die nicht eilt, von der Zeit entschieden<br />

wird.<br />

Ohne Zweifel würden die spanischen, italienischen, portugiesischen,<br />

deutschen, holländischen, englischen, russischen und andere<br />

Blätter die Gewohnheit annehmen, die Artikel aus dem Bulletin<br />

regelmässig zu veröffentlichen und dieselben allen zugänglich zu<br />

machen.<br />

Das sind die Gedanken, die mir gekommen ; ich muss hinzufügen,<br />

dass ich mit niemandem darüber gesprochen habe, und gar<br />

nicht weiss, ob die Kameraden von „Temps Nouveaux" nicht Einwendungen<br />

erheben, welche die obige praktische Ausführung von<br />

Anfang an unmöglich machen.<br />

Hiermit biete ich Euch, liebe Kameraden, einige kurze Bemerkungen,<br />

welche Euer Vorschlag in mir wachgerufen hat.<br />

Mit brüderlichem Gruss<br />

Max Nettlau.<br />

Uebersetzt aus dem Französischen von Hans Peter.<br />

Die öffentliche Ordnung.<br />

Ich bin der Mann, und es ist euch dies nicht unbekannt, der<br />

die Worte geschrieben hat: „Eigentum ist Diebstahl.<br />

Ich nehme es nicht zurück; ich beharre dabei, diese brennende<br />

Erklärung als die grösste Wahrheit des Jahrhunderts zu<br />

betrachten. Ebenso wenig habe ich Lust, euren Ueberzeugungen<br />

zu nahe zu treten; Alles, was ich verlange, ist. euch sagen zu<br />

dürfen, wie ich, der Anhänger der Familie und des Haushaltes,<br />

der Gegner der Gütergemeinschaft, den Satz auffasse dass zur<br />

Beseitigung, des Elends, zur Entfesselung der Proletariats noch die<br />

Verneinung des Eigentums notwendig ist. Nach ihren Früchten<br />

muss man meine Lehren beurteilen: richtet also über meine Theorie<br />

nach meiner Praxis.<br />

Wenn ich sage: „Eigentum ist Diebstahl", so stelle ich nicht<br />

ein Prinzip auf, ich drücke nur eine Schlussfolgerung aus. Ihr<br />

werdet ohne weiteres den ungeheuren Unterschied begreifen.


135<br />

Ist nun die Erklärung des Eigentunis, wie ich sie aufstelle,<br />

nur eine Schlussfolgerung oder die allgemeine Formel des ökonomischen<br />

Systems, was ist denn das Prinzip dieses Systems, was<br />

ist seine praktische Anwendung, was sind seine Formen ?<br />

Mein Prinzip — das wird euch, Bürger, erstaunlich vorkommen<br />

— mein Prinzip ist das eurige, es ist das Eigentum selbst.<br />

Ich habe kein anderes Symbol, keine anderen Prinzipien, als<br />

die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Die Freiheit,<br />

die Gleichheit, die Sittlichkeit, das Eigentum.<br />

Wie die Erklärung der Rechte, definiere ich die Freiheit als<br />

das Recht, alles zu tun, was anderen nicht<br />

schadet.<br />

Ebenfalls in Uebereinstimmung mit der Erklärung der Rechte<br />

definiere ich — provisorisch — das Eigentum als das Recht,<br />

über sein Einkommen, die Früchte seiner Arbeit<br />

und seiner Gewerbstätigkeit frei zu verfügen.<br />

Hier mein ganzes System Freiheit des Gewissens, Freiheit<br />

der Presse, Freiheit der Arbeit, Freiheit des Handels, Freiheit<br />

des Unterrichts, freie Konkurrenz, freie Verfügung über die Flüchte<br />

seiner Arbeit und seiner Gewerbstätigkeit, Freiheit bis ins Unendliche,<br />

absolute Freiheit, Freiheit immer und überall!<br />

Das ist das System von 1789 und 1793, das System Quesnays,<br />

Turgots, Says; das System, welches die verschiedenen Organe<br />

unserer politischen Parteien tagtäglich mit mehr oder weniger Einsicht<br />

und Redlichkeit laut bekennen, also das System der Débats,<br />

der Presse, der Konstitution, des Siècle, des National, der Reform,<br />

der Gazette; es ist endlich auch euer System, ihr Wähler.<br />

Einfach, wie die Einheit, weit wie das Unendliche, diente<br />

das System sich selbst und den anderen als Kennzeichen und<br />

Prüfstein. Mit einem Wort lässt es sich begreifen, und es erzwingt<br />

den Beitritt; Niemand will etwas von einem Systeme<br />

wissen, in welchem die Freiheit die geringste Beeinträchtigung<br />

zu erleiden hätte! Mit einem Worte gibt es sich zu erkennen<br />

und entfernt jeden Irrtum was ist leichter, als zu sagen, was<br />

Freiheit ist, und was nicht?<br />

Die Freiheit also, nicht mehr, nicht weniger. Das Gehenlassen,<br />

das Gewährenlassen, in der wörtlichsten und<br />

ausgedehntesten Bedeutung, folgerichtiger Weise also das Eigentum,<br />

insoweit es rechtmässig aus dieser Freiheit herfliesst — das ist<br />

mein Prinzip. Keine andere Gesamthaftung (Solidarität) zwischen<br />

den Bürgern, als die der aus einer höheren Macht hervorgehenden<br />

Ereignisse für alles, was die freien Handlungen, die Kundgebungen<br />

des überlebten Gedankens betrifft, vollständige, unbeschränkte<br />

Nichthaftung der Gesamtheit (NichtSolidarität).<br />

Gewiss, das ist kein Kommunismus ;<br />

Das ist nicht die Regierungsweise Mehemet Alis:


136<br />

Das ist nicht Diktatur;<br />

Das ist nicht das Eindringen des Staates in alle bürgerlichen<br />

Verwaltungen, und sogar in die Familie;<br />

Das ist weder Baboeuf, noch St. Simon, noch Fourier;<br />

Das ist der Glaube eines Franklin, Washington, Lafaytte,<br />

Mirabeau, Manuel, Casimier Perier, Odilon Barret, Thiers. Erscheint<br />

euch das beruhigend oder gefahrdrohend?<br />

Aber, werdet ihr sagen, wie lässt sich von diesem Gesichtspunkte<br />

aus das Problem lösen, das durch die Februarrevolution<br />

aufgestellt worden ist?<br />

Diese Frage lässt sich auch so ausdrücken Was beschränkt<br />

noch in der Ordnung der ökonomischen Tatsachen die Ausübung<br />

der Freiheit, der individuellen, wieder allgemeinen Freiheit ?<br />

Meine Antwort soll offen und bestimmt sein. Ich will es<br />

sagen, welches die Fesseln sind, auf deren meiner Ansicht nach<br />

es ankommt, denn es ist augenscheinlich, dass wir uns nicht frei<br />

fühlen, und welches die Mittel sind, dazu zu gelangen. Ich will<br />

sagen, was ich vorschlagen würde, wenn ich Volksvertreter wäre;<br />

was ich tun würde, wenn ich eine Ministerstelle bekleidete;<br />

welches politische System nach Innen und nach Aussen hin ich<br />

annehmen würde, wenn ich die Regierung wäre; was ich dem<br />

Volke raten würde von der Nationalversammlung, das erste Mal,<br />

wo es sie besuchte, zu verlangen, wenn meine Ratschläge bei dem<br />

Volke entscheidendes Gewicht hätten; endlich was ich allen<br />

Freunden des Volkes anempfehle zu studieren, zu verhandeln, zu<br />

entwickeln und zu verbreiten, und dessen Anwendung zu verfolgen<br />

ich nie aufhören werde, bis man mir beweist, dass ich mich<br />

irre, dass es andere vorteilhaftere, unmittelbarere, spezifischere,<br />

entscheidendere, revolutionärere Mittel gibt, uns aus dem Abgrund<br />

zu ziehen.<br />

Zunächst wollen wir es nicht machen, wie viele Aerzte, die<br />

über allem Forschen nach der Ursache der Krankheiten zuletzt<br />

die Krankheiten selbst vergessen und ihre Kranken sterben. Wir<br />

wollen nicht die unendliche Kette der Ursachen und Wirkungen<br />

zurückverfolgen;. wir wollen die Tatsache an sich betrachten und<br />

sagen die Ursache des Uebels ist das Uebel. Die "Ursache der<br />

Krise ist die Krise. Die Arbeit ist unterbrochen, die Werkstätten<br />

sind geschlossen, die Warenlager bleiben gefüllt, der mangelnde<br />

Absatz ruft keine Produktion hervor, das Kapital entflieht, das<br />

Geld verschwindet, der Handel stockt, die Steuern gehen nicht<br />

ein, der Staat nähert sich dem Bankrott, der Arbeiter hat nichts<br />

zu essen und kämpft mit der Verzweiflung — mit einem Worte,<br />

die Zirkulation ist vernichtet. Das ist die Krise.<br />

Die Gesellschaft lebt nicht mehr wie ehedem, von dem individuellen<br />

Eigentum; sie lebt von einer allgemeineren Tatsache,<br />

von Zirkulation. Alle Krankheiten, an denen heutzutage der soziale


137<br />

Körper darniederliegt, beziehen sich auf eine Stockung, auf eine<br />

Störung der Tätigkeit des Umlaufes. Wenn also der Umlauf, die<br />

Zirkulation leidet, wenn sie gehemmt ist, wenn der geringste politische<br />

Unfall genügt, um sie ganz zum Stillstehen zu bringen, so<br />

hat dies darin seinen Grund, dass die Anstalten dazu schlecht<br />

gemacht sind, dass die Zirkulation in Bewegungen gehemmt wird,<br />

dass sie in ihrem Organismus krankt<br />

Worauf beruht die Zirkulation in der Oekonomie der Gesellschaft?<br />

— Auf dem baren Geld.<br />

Was ist ihr bewegendes Prinzip ? — Das Geld.<br />

Was öffnet und verschliesst den Erzeugnissen die Türe des<br />

Marktes ? — Das Geld.<br />

Wer ist der König des Tauschverkehrs, der Erzeuger des<br />

Handels, der Ausdruck der Werte? — Das Geld.<br />

Also ist das Geld für die Zirkulation notwendig, unentbehrlich<br />

?<br />

Das Herkommen erwidert auf diese Frage Ja; die Wissenschaft<br />

: Nein!<br />

Die Produkte tauschen sich gegen Produkte<br />

aus, sagt die ökonomische Wissenschaft. Das heisst: der Austausch<br />

muss frei, direkt, unmittelbar, gleichmässig sein.<br />

Die Produkte tauschen sich gegen Geld aus,<br />

sagt das Herkommen. Das heisst das Geld ist nur ein Vermittler,<br />

ein Werkzeug des Wuchers, eine Fessel für die Freiheit des<br />

Austausches. Da ferner das Geld nicht umsonst tätig ist, bleibt<br />

nach diesem Systeme die Zirkulation einem fortwährenden<br />

Abgange der Werte unterworfen, und dieses unterhält zugleich<br />

die Auszehrung und die Vollblütigkeit in den verschiedenen Teilen<br />

des sozialen Körpers.<br />

Das Geld ist also ein Hindernis für den Austausch, eine<br />

Fessel für die Handels- und Gewerbefreiheit, sowohl durch selbst,<br />

als überflüssiges Organ, als schmarozerische Tätigkeit, als auch<br />

durch das, was es kostet, als Ursache des Abganges.<br />

Das bare Geld entbehrlich machen, die Verzinsung des umlaufenden<br />

Kapitals zu beseitigen, das also ist die erste Fessel der<br />

Freiheit, deren Zerstörung durch die Errichtung einer Tauschbank<br />

ich vorschlage.<br />

Ich habe anderswo die Grundlage und die Theorie dieser<br />

Bank, deren Formel oder schöpferische Idee die Generalisation<br />

des Wechselbriefes ist, ausführlich auseinandergesetzt.*) Ich habe<br />

gesagt, was in dem neuen Kreditsystem die Triebkraft der Zirkulation,<br />

was ihr Verfahren, ihr Unterpfand und ihre Gewährleistung<br />

*) Mau sehe meine Uebersicht der sozialen Frage („Die Tauschbank").<br />

Resumé de la Question sociale (Banque d'Echange). Paris bei den Gebr.<br />

Garnier. Palais National.


138<br />

sein würde. Ich habe bewiesen, dass die für das Land daraus<br />

hervorgehende Ersparnis nur an Diskonto mindestens 400 Millionen<br />

betragen würde. Ich will nicht auf dieses^ Problem zurückkommen,<br />

an welchem — dies ist mein lebhafter Wunsch — die<br />

Kritik all ihre Strenge üben möge.<br />

Aber die Tauschbank kann nur durch den Willen aller Bürger<br />

bestehen, wie sie ihre Macht aus deren freiem Be tritt schöpft.<br />

Diesen freien Beitritt aller Produzenten und Konsumenten nun,<br />

diese gegenseitige Einwilligung von 35 Millionen Bürgern würde<br />

keine Propaganda vielleicht in 20 Jahren durchsetzen, während es<br />

von der Regierung abhängt, sie in einer Woche herbeizuführen..<br />

Ich sage, es hängt von der Regierung ab,*) in einer Woche; die<br />

Revolution zu beenden.<br />

(Aus „Revolutionäre Ideen".) J. P. Proudhon.<br />

Aus dem Tagebuch eines Propagandisten.<br />

Unser Kongress stand von Anfang an unter einem bösen<br />

Omen: es war einerseits die Organisationslosigkeit, die ein trauriges<br />

Licht auf diejenigen Genossen warf, welche mit ihrer Föderation<br />

prunkten, um die Notwendigkeit der Organisation zu proklamieren<br />

— wäre es nur mehr in Taten als durch Worte geschehen!<br />

— und zweitens der Umstand, dass die überwiegende Majorität<br />

der holländischen Bewegung, ihre begabtesten und fähigsten<br />

Agitatoren und Propagandisten dem Kongress vollständig ferne<br />

standen. Nur auf Umwegen, durch das Suchen nach billigeren<br />

Restaurationen — die bei den enormen Preisen in Amsterdam<br />

eine Notwendigkeit für die meisten waren —, Schlafunterkunft,<br />

nur so kamen einige von uns mit der holländischen Bewegung in<br />

Berührung, die wir suchten und dann auch fanden.<br />

Einen auch nur einigermassen tieferen Einblick in unsere<br />

holländische Bewegung zu verschaffen, ist mir hier unmöglich. Nur<br />

das darf ich aufrichtig sagen an Hand dessen, was ich gesehen<br />

und beobachtet habe Domela Nieuwenhuis lebt nicht umsonst<br />

und hat nicht umsonst gelebt! Es ist diesem bedeutendsten Vorkämpier<br />

der Freiheit in Holland gelungen, eine Bewegung zu<br />

zeugen, wie sie für mich das Ideal, die Vollkommenheit einer<br />

Bewegung bedeutet. Die holländische Bewegung vereinigt eben<br />

Bekanntlich hat Proudhon diese irrtümliche Annahme von den Fähigkeiten<br />

einer Regierung gleich nach seinem Eintritt in die National Versammlung<br />

erkannt und später seine kurze, parlamentarische Periode als die verlorenste<br />

Zeit seines Lebens erklärt Die Red.


139<br />

Kampfestaktik mit Weltanschauung. Und nur so ist eine Bewegung<br />

gesund, zukunftssicher. Das haben die grosszügigen Streikaktionen<br />

der holländischen Genossen im Jahre 1903 bewiesen;<br />

das lehrte das Gartenfest mit dem Kinderchor, welches zu Ehren<br />

der Delegierten am Sonntag vor dem Kongress gegeben wurde<br />

dies bewiesen mir die einzelnen Charaktertypen, die ich kennen<br />

gelernt habe.<br />

Um nur einen zu nennen, will ich vor allem den Genossen<br />

Croiset namhaft machen. Anarchist durch und durch. Nicht, wie<br />

wir alle vermuteten, ein Gegner jeder Organisation, sondern<br />

nur ein Befürworter einer durchaus zwanglosen Organisation; also<br />

Volontär. Meine Resolution — und ich bin doch gewiss Befürworter<br />

unserer Organisationsbestrebungen — brachte er zum Abdruck,<br />

und der „Vrije Socialist" konnte sich mit derselben vollkommen<br />

einverstanden erklären .. Vielleicht ist Croiset schon<br />

mehr Franzose als Holländer, denn wie jener besitzt er ein leichtbewegliches<br />

Temperament. Grundehrlich, ohne jede Falschheit<br />

und Tücke, jeden Irrtum offenherzig als solchen bekennend, kurz.<br />

— ein Charakter. Aber sein Leben erschöpft sich nicht innerhalb<br />

der Bewegung, wie es leider mit den meisten unserer Genossen<br />

der Fall, sondern mündet nur in ihr. Seinen Anfang<br />

nimmt dieses anarchistische Leben eines intelligenten Arbeiteis<br />

im engen Kreis der Familie und da liefert es seine wahre Grösse.<br />

Wer in die Häuslichkeit dieses Genossen eintritt, fühlt sich in der<br />

Wohnung eines Anarchisten. Seine Freundin ist frei und ungebunden<br />

wie er; die zwei bildhübschen Kinder — ein Knabe<br />

und ein Mädchen — erhalten keine Erziehung, wohl aber ein<br />

so schönes und gedeihliches Fördern, Anregen, kurz ein Aufziehen,,<br />

dass man fühlt, wie hier nicht allein die Kinder, sondern auch<br />

die Eltern gewinnen. Dass die ganze Familie strenge vegetarisch<br />

lebt, ei wähne ich nur beiläufig.<br />

Ich sollte noch den Genossen und die Genossin Kist anfühlen,<br />

doch es würde zu ermüdenden Wiederholungen führen. Die holländische<br />

Bewegung findet vorzügliche Repräsentanten schon in<br />

den obengenannten allein, die ein Muster bilden dürften für die<br />

Genossen unserer internationalen Belegung.<br />

Kurze Zeit verbrachte ich in Haarlem, von da ging es weiter<br />

nach Antwerpen.<br />

Die hiesige belgische Bewegung leidet an jenem Uebel, das auch<br />

in manchen anderen Ländern vertreten ist; es heisst die Respektabilität<br />

verschiedener Genossen, die persönlich sehr einflussreich<br />

und fällig, sich aber durch die nicht starke Bewegung gesellschaftlich<br />

nicht kompromittieren wollen. Und so ist es denn Tatsache,<br />

dass sie durch eine grosse, geradezu unerklärliche Lebens-


140<br />

losigkeit hervorsticht. Wir haben dorten Genossen, die fast<br />

durchwegs glänzend entlohnt sind; dennoch keine Initiative, kein<br />

Drängen und Stürmen nach vorne, ja in finanziellem Opfersinn<br />

lange nicht das, was sie sein sollten ; denn wie käme es sonst,<br />

dass „Opstandin" eingegangen ist ?<br />

Zu jenen Gestalten, die echt belgisch sind und die, wenn<br />

sie einem einmal begegnen, unvergesslich bleiben, zähle ich<br />

Segher Rabauw und seine Freundin Siska van Dalen,<br />

eine talentvolle Dichterin. Beide, noch jung, sind Herausgeber<br />

der literarisch-theoretischen Monatsschrift „Ontwaking", deren Leserkreis<br />

jedoch durch die oben angedeutete Apathie ein bedauerlich<br />

kleiner ist. Neben dieser Zeitschrift, die in manchen ihren Nummern<br />

wirklich ganz ausserordentlich Wertvolles bringt, geben<br />

Rabauw und einige mehr, die sich um die Revue gruppieren, eine<br />

Serie von Broschüren, wie auch Bücher heraus. Nebenbei unterhalten<br />

sie einen kleinen Bücher- und Zeitungsladen, in welchem moderne<br />

Literatur feilgeboten wird. Kurz, eine Lebensweise, welche sich<br />

fast ausschliesslich auf ideale Wirksamkeit für das anarchistische<br />

Prinzip beschränkt.<br />

Als einen der wenigen rührigen Kampfeshähne müssen wir<br />

den Genossen Schweber anführen. Er war es, der eine<br />

grosse russisch-deutsche Versammlung einberief, in welcher der<br />

Genosse Rogdajeff und ich über die grandiosen Lehren der russischen<br />

Revolution, zur Begeisterung aller, referierten.<br />

Einen zweiten, vom Zyklus des „Ontwaking" arrangierten<br />

Vortrag hielt ich über „Anarchismus und moderne Literatur", an<br />

den sich eine interessante, anregende Diskussion schloss.<br />

Auch unter den streikenden Hafenarbeitern sollte eine Versammlung,<br />

mit mir als Referenten, abgehalten werden. Leider<br />

zerschlug die Polizei diesen Plan, da sie schon zwei Tage vorher<br />

naJi allen deutschen Kameraden witterte, die sich hier eingefunden<br />

hatten, um propagandistisch tätig sein zu können.<br />

Brüssel, das prächtige Kleinparis !<br />

Brüssel, du Stadt prächtiger Kameraden.<br />

Mein mehrtägiger Aufenthalt in Brüssel war so gewürzt von<br />

dem, was der Romane „cameraderie" nennt, dass es mir wirklich<br />

schwer ist, zu entscheiden, welche Momenteindrücke ich als die<br />

nachhaltigsten verarbeiten soll. Zu meiner Freude traf ich den<br />

Genossen Dr. Friedeberg auch noch dort an.<br />

Brüssel ist eine Stadt, in welcher das löbliche System der<br />

Ausweisungen sehr schwunghaft geübt wird; und mit derselben<br />

Vorsicht, mit welcher die Genossen mit mir umgehen mussten, um<br />

mich vor diesem fast unvermeidlichen Geschick eines jeden revolutionären<br />

„Barbaren" zu bewahren, mit derselben Vorsicht muss


141<br />

ich mit ihnen umgehen. Ich werde somit Namen nur dorten nennen,<br />

wo es ganz ungefährlich.<br />

Einer der schönsten Zusammenkunftsorte der belgischen Genossen<br />

ist das Kunst- und Gypsfigurenatelier des Genossen<br />

Schonteten. Nicht nur durch die angenehme, künstlerisch ungeordnete<br />

und nicht platt aufgeputzte Umgebung, die hier vielleicht als<br />

Millieu wirkt, sondern auch durch den Eigentümer selbst. Schonteten<br />

kennen zu lernen und ihn zu lieben, ist eine Selbstverständlichkeit.<br />

Eines jener seltsam träumerischen Wesen, denen<br />

die Kunst Leitmotiv ihres Lebens geworden, hat er sich vom<br />

sehr untergeordneten, später etwas gebildeteren Handarbeiter zum<br />

Künstler emporgearbeitet. Also ein Autodidakt; jawohl und als<br />

Autodidakt ein Künstler, dessen Kunst durchwebt und verschönert<br />

wird von seiner anarchistischen Idealanschauung. Man wird dieses<br />

feine, innige Gemüt begreifen, wenn ich einen seiner Aussprüche<br />

zitiere. An jenem Abend, als einige Genossen in einem<br />

Hörzimmer der dortigen freien Universität — der, nach dem Ableben<br />

Elisee Reclus, der bekannte Sozialphilosoph De Greef vorsteht<br />

und die nicht untergegangen ist, wie fälschlicherweise die<br />

„Wiener Arbeiterzeitung" meldete — einen Vortrag für mich<br />

anberaumt hatten, und ich auf Verlangen über „Kunst, Literatur<br />

und Anarchie" sprach, entspann sich, angeregt von dem Genossen<br />

Friedeberg, eine sehr interessante Diskussion im Gefolge des<br />

Vortrages. Wir stritten uns über die verschiedenen Auffassugen<br />

des Begriffes „Kunst". Ein jeder von uns kramte seine Weisheit<br />

aus, nur Schoteten sass still, in sich gekehrt da. Als ich ihn auf<br />

dem Heimweg fragte, was er über die Frage dächte, da antwortete<br />

er, fein lächelnd: „Wer kann es sagen, was Kunst ist? Sie ist<br />

alles dies zusammen was Ihr einzeln darlegtet. Aber die Kunst<br />

ist nicht zu erklären, die Kunst lässt sich nur<br />

fühlen. . ."<br />

Ich darf unsere beiden kolportierenden Literaturpropagandisten,,<br />

die Genossen B. und K, diese zwei braven Propagandisten für<br />

unsere Zeitschriften in dortigen deutschen Kreisen, Arbeiter, die<br />

tagsüber schwer arbeiten und am Abend unsere Gedanken verbreiten,<br />

ich darf sie nicht namentlich anführen. Aber wenn sie<br />

dies lesen, dann fühlen sie wohl noch den Handruck der Brüderlichkeit,<br />

den wir mit einander austauschten. —<br />

Ich logierte im Junggesellenheim des Genossen Reichmann,<br />

der zur Stunde Brüssel schon verlassen hat. Ein junger, sehr<br />

intelligenter Student, der viel für die Zukunft verspricht, wenn er<br />

die Ausdauer besitzen wird, dieser Zukunft zu trotzen. Idealist,<br />

fähig im abstrakten Denken, also auch Wirken, liegt in ihm der<br />

Keim für geistig sehr Bedeutendes zugunsten unserer Idee —<br />

wenn er nicht vom Pfade abirrt. Er leidet daran, dass er die<br />

skeptische Metaphysik, die wir Deutsche durch Fritz Mauthner


142<br />

philosophisch begreifen lernten, vom französischen Geistesverwandten<br />

zu ernsthaft übernahm und überall konsequent durchzuführen<br />

wünscht. Allerdings will ich mich über dieses heikle Thema nicht<br />

weiter auslassen, da es mir schon ganz genügend, wenn auch mit<br />

Unrecht dem groben Materialisten und — noch ärger idealistischen<br />

Träumer an den Kopf warf und wir sonst eine Fortsetzung jener<br />

köstlichen Tischpolemik riskieren, die zum Gaudium aller übrigen<br />

Genossen und Genossinnen von uns bis spät in die Nacht hinein<br />

geführt wurde. (Forts, folgt.)<br />

Eine Rechtfertigung der natürlichen<br />

Gesellschaft.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Rom bietet einen achtunggebietenderen Anblick dar als Athen;<br />

und leitete seine Angelegenheiten, soweit dieselben Bezug nehmen<br />

auf den Ruin und die Unterdrückung des grössten Teiles der Welt,<br />

mit grösserer Weisheit und Gleichmässigkeit. Doch die häusliche,<br />

innere Oekonomie dieser beiden Staaten war fast oder beinahe<br />

ganz dieselbe. Interne Uneinigkeiten zerrissen die Eingeweide des<br />

römischen Gemeinwesens ununterbrochen in Stücke. Man findet<br />

die gleiche Verwirrung, dieselben Kliquen, welche in Athen bestanden<br />

; dieselben Tumulte, Revolutionen und endlich dieselbe<br />

Sklaverei, wenn die frühere Lage der Beherrschten diesen Namen<br />

vielleicht nicht schon verdiente. Alle anderen Republiken trugen<br />

denselben Charakter. Florenz war nur eine Abschritt von Athen.<br />

Und die modernen Republiken tragen insoferne<br />

als sie sich mehr oder minder der demokratischen<br />

Form näheren — ganz dieselben<br />

Charakteristiken, welche ich beschrieben habe.<br />

Wir haben nun das Ende unserer Uebersicht über die drei<br />

Formen der künstlichen Gesellschaft; und wir haben gezeigt, dass<br />

sie, wie immer sie sich auch unterscheiden mögen durch ihre verschiedenen<br />

Namen, oder durch unbedeutende Umstände, in ihren<br />

Wirkungen ganz gleich sind: in ihrer Wirkung sind sie<br />

alle Tyranneien. Doch angenommen, wir wären geneigt,<br />

eine sehr weitgehende Konzession zu machen : Geben wir zu, dass<br />

Athen, Rom, Karthago, zwei oder drei Städte des Altertums,<br />

ebenso viele der Neuzeit — dass sie frei und glücklich waren oder<br />

sind und ihre Freiheit, ihr Glück ihrer besonderen politischen<br />

Konstitution verdankten. Aber all dies eingeräumt: was für eine<br />

Verteidigung ist es im allgemeinen für eine künstliche Gesellschalt,<br />

dass diese unbedeutenden Punkte des Globus für sie ganz kurze


143<br />

Zeiträume eine Ausnahme zu der sonst allgemeine Regel bildeten?<br />

Indess, wenn wir diese Regierungen freie nennen oder zugestehen,<br />

dass ihre Bürger glücklicher lebten als jene unter anderen Staatsformen,<br />

so geschieht dies einzig ex abundanti. Dehn wir würden<br />

uns sehr irren, wenn wir glaubten, dass die Majorität des Volkes,<br />

welches diese Städte bevölkerte, sich auch nur jener nominellen<br />

politischen Freiheit erfreute, von welcher ich bereits so viel sprach.<br />

In Wirklichkeit nahmen sie nicht teil daran. In Athen gab es<br />

ungefähr zehn bis dreissig Tausend freie Männer; dies war das<br />

höchste. Hingegen zählten die Sklaven bis zu viermal Hunderttausend,<br />

oftmals weit mehr. Die freien Bürger von Sparta und<br />

Rom waren verhältnismässig nicht viel zahlreicher als jene, welche<br />

sie in Sklaverei hielten, eine Sklaverei, die noch schrecklicher<br />

war als jene der Athener. Darum lasst uns die Sache in gerechter,<br />

freimütiger Weise konstatieren: Die freien Staaten bildeten<br />

nie, selbst wenn wir sie alle zusammen nähmen, den tausendsten Teil<br />

der bewohnten Erde; die freien Bürger dieser Staaten waren nicht<br />

einmal der zwanzigste Teil des Volkes und die Zeitperiode, während<br />

welcher diese Staaten existierten, ist kaum irgendwie bedeutend<br />

in jenem immensen Ozean der Zeitdauer, in welchem<br />

Zeit und Sklaverei sich fast immer gemeinschaftlich vorfinden.<br />

Nennen wir diese Regierungen „freie Staaten", „Volksstaaten",<br />

was immer wir wollen; betrachten wir jedoch die Majorität ihrer<br />

Bewohner, betrachten wir die natürlichen Rechte der Menschheit,<br />

dann erscheinen sie in Wirklichkeit und Wahrheit nicht besser<br />

als erbärmliche und bedrückende Oligarchien.<br />

Nach einem solch gerechten Examen, in dem nichts übertrieben<br />

wurde; keine Tatsache angenommen wurde, welche nicht<br />

bewiesen werden konnte; keine in irgend wie verzerrter oder willkürlicher<br />

Weise bewiesen wurde, indess tausende Beweise der<br />

Kürze des Ganzen willen ausgelassen wurden ; nach einer solchen<br />

in jeder Hinsicht freimütigen Diskussion fragen wir Wo ist<br />

der Sklave, der so passiv; der Zelot, der so<br />

blind; der Enthusiast, der sokopflos;der Politiker,<br />

der so verhärtet, der sich erheben würde zur<br />

Verteidigung eines Systems, das bestimmt ist,<br />

ein Fluch für die Menschheit zu sein? Ein Fluch,<br />

unter welchem sie sich windet und stöhnt bis zu<br />

dieser Stunde, ohne genau die Natur der Krankheit<br />

zu kennen, dabei auch des Verständnisses<br />

und des Mutes ermangelnd, um die Heilung herbeiführen<br />

zu können!<br />

Nicht vor Ihnen, Mylord, noch vor irgend einem ehrlichen<br />

Menschen brauche ich mich für den Eifer zu entschuldigen, den<br />

ich in dieser Sache an den Tag legte; es ist der ehrliche Eifer,<br />

zugunsten einer guten Sache. Ich habe die natürliche Reli-


gion gegenüber einer Konföderation von Atheisten und Gottesmenschen<br />

verteidigt. Nun trete ich ein für eine natürliche<br />

Gesellschaft gegenüber den Politikern, für natürlichen Menschenverstand<br />

gegenüber allen dreien. Wenn die Welt sich in einer<br />

bessern Verfassung befindet, um die Wahrheit hören zu können,<br />

als es gegenwärtig; wenn ich gleichgültiger sein werde gegenüber<br />

ihrem Temperament — dann werden meine Gedanken auch bekannter<br />

werden. Mittlerweile mögen sie in meinem Busen ruhen,<br />

in dem Busen solcher Menschen, welche dazu passen, in die besonnenen<br />

Geheimnisse der Wahrheit und Vernunft eingeführt zu<br />

werden.<br />

Meine Widersacher haben schon so viel getan, als ich mir<br />

nur wünschen könnte. Die verschiedenen Parteien auf den Gebieten<br />

der Religion und Politik machen so viele hinlängliche Entdeckungen<br />

über einander, dass ein nüchterner Mensch sehr wohl<br />

weiss, dass er auf seiner Hut sein muss gegenüber allen. Die<br />

monarchischen, aristokratischen und demokratischen Parteileute<br />

haben gemeinschaftlich die Axt angelegt an die Wurzel aller Regierungsformen,<br />

haben sich gegenseitig als unsinnig und unpraktisch<br />

ad absurdum geführt. Vergebens sagt ihr mir,<br />

dass eine künstliche Regierung gut sei, und ich<br />

nur mit ihrem Missbrauch hadere. Die Sache,<br />

an und für sich ist der Missbrauch! Beobachten<br />

Sie, Mylord, ich bitte Sie, den grossen<br />

Irrtum, auf dem jede künstliche, gesetzgebende<br />

Maeht begründet ist. Man bemerkte, dass die<br />

Menschenunbezähmbare Leidenschaften besässen,<br />

welche es notwendig machten, sich gegenüber<br />

der Gewalt zu schützen, welche sie gegen einander<br />

aufwenden könnten. Man ernannte aus<br />

diesem Grunde Herr sehe rüber diese Menschen.<br />

Aber eine ärgere und verwirrendere Schwierigkeit<br />

entsteht nun: Wie verteidigt man sich<br />

gegen die Herrscher? „Quis custodiet ipos custodes?"*)<br />

Umsonst wechseln sie von einer Person zu mehreren ab. Die<br />

mehreren haben die Leidenschaften des einen. Und sie vereinigen<br />

sich, um sich zu stärken, um sich der Befriedigung der gesetzlosen<br />

Leidenschaften auf Kosten des allgemeinen Wohles zu versichern.<br />

Umsonst flüchten wir uns nun zu den vielen. Der Fall<br />

wird schlechter, ihre Leidenschaften sind noch weniger unter der<br />

Herrschaft, sie vermehren sich durch die Ansteckung, sind durch<br />

ihre Masse gegenüber allen Angriffen verteidigt.<br />

Ich vermied es mit Absicht, die verschiedenen mit einander<br />

vereinigten Regierungsformen anzuführen; aus Gründen, welche<br />

„Wer bewacht die Wächter?"<br />

144


145<br />

handgreiflich sind für Sie, Mylord. Doch meine Bedächtigke<br />

hilft mir sehr wenig Denn sie werden nicht verfehlen, diese<br />

Vermischung verschiedener Formen gegen mich und zugunsten der<br />

Gesellschaft aufzuwerfen. Sie werden es nicht unterlassen, zu<br />

zeigen, wie die Irrtümer der verschiedenen spezialisierten Formen<br />

durch eine Vermengung der verschiedensten und besten von ihnen<br />

korrigiert, durch ein geeignetes Gleichgewicht der verschiedenen<br />

Mächte im Staate verbessert werden können. Ich gestehe es,<br />

Mylord, dass dies seit langem eines meiner Lieblingsirrtümer gewesen<br />

; und dass von allen Opfern, die ich der Wahrheit darbrachte,<br />

dieses bei weitem das grösste war . . .<br />

Vor allem stimmen sämtliche Menschen darin überein, dass<br />

wenn diese Zusammenfassung der juridischen, aristokratischen und<br />

demokratische Macht des Staates eine sehr komplexe, schöne und<br />

intrikate Maschine sein soll, welche, indem sie sich aus einer<br />

Verschiedenheit von Teilen zusammensetzt, die solche einander<br />

widerstrebende Tendenzen haben und ihre Bewegungen machen,<br />

diese bei jedem Unglücksfall in Unordnung gebracht werden kann.<br />

Ohne mich eines Metaphers zu bedienen: solch eine Regierung ist<br />

häufigen Streitigkeiten, Tumulten und Revolutionen unterworfen,<br />

schon durch die Art ihrer Konstitution. Es sind dies, ohne Zweifel,<br />

so schlechte Wirkungen, wie sie eine Gesellschaftsform nur<br />

überhaupt befallen können. Die Enge und Dichtigkeit der Gemeinschaft<br />

dient, anstatt der gegenseitigen Verteidigung zu dienen,<br />

nur dazu, um die Gefahr zu erhöhen. Ein solches System ist wie<br />

eine Stadt, in dem diejenigen Gewerbe, welche eine unaufhörliche<br />

Feuerung benötigen, viel betrieben werden, wo jedoch Häuser erbaut<br />

werden aus leicht entzündbarem Material und sehr eng beisammen<br />

stehen.<br />

Zweitens : Da die verschiedenen konstituierenden Teile ihre<br />

klar bestimmten Teile haben, von welchen viele so notwendig sind,<br />

dass sie mit besonderer Genauigkeit festgestellt werden müssen,<br />

anderseits jedoch in der Tat sehr unbestimmt in ihrer Art sind,<br />

werden sie, die Rechte dieser Teile, eine neue und beständige<br />

Quelle des Zwistes und der Verwirrung. Daher kommt es in<br />

solchem Falle, dass während das Geschäft der Regierung geleitet<br />

werden sollte, die Frage sich unentwegt erhebt: Wer hat das<br />

Recht, diese oder jene Funktion auszuüben, welche Menschen<br />

haben das Recht, die Amtsgewalt dieser oder jener Funktion auszuüben<br />

? Während dieser Konflikt andauert und das Gleichgewicht<br />

der verschiedenen Teile sich herzustellen bemüht ist, findet keinerlei<br />

staatliche Remission statt. Alle Arten von Missbräuchen und<br />

Schurkereien der Beamten verbleiben unbestraft; die grössten Betrügereien<br />

und Räubereien in Verbindung mit den öffentlichen<br />

Einkünften werden in flagranter Herausforderung der Gerechtgkeit<br />

verübt; die Missbräuche werden mit der Zeit und Straflosigkeit


146<br />

Gewohnheitssachen; bis diese Sachen Gesetze diktieren, sich<br />

so fest einwurzeln, dass eine Heilung oft unmöglich, ausgenommen<br />

solche, die ebenso schlecht ist wie die Krankheit selbst.<br />

Drittens: Die verschiedenen Teile dieser Regierungsart bewahren<br />

sich, obwohl sie vereinigt sind, den Geist, welchen jeder<br />

einzelne separat besitzt. Könige sind ehrgeizig, der Adel ist<br />

hochmütig; das Volk tumultuös und unbeherrschbar. Eine jede<br />

dieser Parteien führt etwas im Schilde gegen die andere, wie<br />

friedlich dem Anscheine nach sie auch sein mag. Es folgt daraus,<br />

dass in fast allen so das Aeussere wie Einheimische betreffenden<br />

Fragen das ganze Problem eigentlich mehr zu einer Parteisache<br />

wird, als sich um die Sache an und für sich zu bekümmern.<br />

Man fragt sich, ob ein solcher Schritt die Macht der Krone vermehren<br />

oder vermindern würde, öder in wie ferne die Privilegien<br />

des Untertanen die Möglichkeit der Erweiterung oder Beschränkung<br />

dadurch haben. Sämtliche dieser Fragen werden nun, ganz<br />

abgesehen von dem wahren Kern derselben, bloss vom Standpunkt<br />

der Parteien beschlossen, welche gerade im Einklang mit diesen<br />

Interessen vorherrschend sind. Und wie sie vorherrschen, wird<br />

das Gleichgewicht auf den Kopf gestellt, einmal nach dieser, das<br />

nächste Mal nach jener Seite. An einem Tage ist die Regierung<br />

die willkürliche Macht einer Person; an einem anderen eine<br />

gemischte Verbindung einiger, um den Herrscher zu betrügen,<br />

das Volk zu versklaven; am dritten eine zornschnaubende und<br />

unbeherrschbare Demokratie. Das grosse Mittel all dieser Veränderlichkeit<br />

und was all diesem einen besonderen Gifthauch verleiht<br />

ist das Parteiwesen. Es ist ohne weitere Bedeutung, welche<br />

Prinzipien eine Partei vertritt, was ihr Vorgehen ist; der Geist,<br />

welcher alle Parteien beselt, ist ganz derselbe: der Geist des<br />

Ehrgeizes, des Selbstinteresses,, der Unterdrückung und des Verrates.<br />

Dieser Geist dreht sämliche Prinzipien des Guten, welche<br />

eine wohlwollende Natur um uns pflanzte, in ihr direktes Gegenteil<br />

um; alle Ehrlichkeit, jeder Gerechtigkeitssinn, selbst die<br />

Bande der natürlichen Gesellschaft, die natürlichen Zuneigungen.<br />

Mit einem Worte, Mylord, wir haben alle gesehen und —<br />

wenn irgend welche äusserlichen Bedenken bleibende Wichtigkeit<br />

für einen reifen Menschen haben könnten — einige von uns haben<br />

solche Unterdrückung durch die Regierung einer Partei so gefühlt,<br />

dass sie mit keiner anderen Tyrannei verglichen werden<br />

kann. Täglich werden wir dessen gewahr, dass die wichtigsten<br />

Rechte — Rechte, von denen alle anderen abhängig — in letzter<br />

Instanz bestimmt werden durch das geringste Aufmerksamkeitsmass<br />

gegenüber auch nur dem Schein oder der Farbe der Gerechtigkeit.<br />

Wir beobachten dies ohne Gefühlsbewegung, denn wir sind herangewachsen<br />

im steten Anblick solcher Praktiken. Wir sind nicht<br />

mehr überrascht darüber, einen Mann — aufgefordert zu hören


147<br />

— mit derselben Gleichgültigkeit, als würde man den einfachsten<br />

Gefallen fordern — ein Schelm oder Verräter zu sein; und dieses<br />

Verlangen hören wir zurückgewiesen, nicht weil es das ungerechteste<br />

und unvernünftigste, sondern bloss weil dieser Ehrenwerte seine<br />

Ehrlosigkeit bereits einem anderen verdang. Diese und viele<br />

andere Punkte bin ich weit entfernt davon, in ihrer ganzen Länge<br />

auszudehnen. Sie, Mylord, sind so vernünftig, es zu begreifen,<br />

weshalb ich meine Stärke überhaupt nicht aufwende; es kann Ihnen<br />

an einem Grund dafür nicht ermangeln. Man gestattet einem<br />

Menschen genügend Gedankenfreiheit, vorausgesetzt er weiss wie<br />

seinen Gegenstand richtig zu wählen. Man darf jederzeit chinesische<br />

Einrichtungen in freier Weise kritisieren; mit so viel Strenge<br />

als es einem beliebt, die absurden Tricks und die verderbliche<br />

Briganterie der Mandarinen und Bonzen geissein. Allein die Szene<br />

verändert sich, wenn man heimwärts kommt, und Atheismus und<br />

Hochverrat mögen die Namen sein, welche man dem erteilt, was<br />

man für China Vernunft und Wahrheit nannte.<br />

Ich lasse diese Sache, trotzdem ich einen augenfälligen Vorteil<br />

vor mir habe; ich gebe die Verfolgung dieser Sache auf<br />

Denn sonst, Mylord, ist es handgreiflich, was für ein Bild gezeichnet<br />

werden könnte, wollte ich die Exzesse der Parteien in<br />

unserer eigenen Nation berühren. Ich könnte zeigen, dass dieselbe<br />

Fraktion in einer einzigen Regierungsperiode öffentliche Ruhestörungen<br />

förderte, in der nächsten sich als Schutzpatron der<br />

Tyrannei aufspielte. Ich könnte es beweisen, dass alle diese Parteien<br />

die öffentliche Sicherheit zu allen Zeiten verraten haben,<br />

sehr häufig, mit gleicher Heimtücke, ihre eigene Sache auf den<br />

Markt der Feilscherei trugen, wie auch ihre Verbündeten. Es<br />

-wäre mir ein Leichtes, zu zeigen, wie sehr sie sich alle stritten<br />

aim Namen und Titel, wie sie schweigend vorüber gingen an Dingen<br />

von höchster Wichtigkeit. Und ich könnte es demonstrieren,<br />

dass sie diese Gelegenheit zur Begehung ihrer unheilvollen Taten,<br />

nein; ihren Ursprung und ihr Wachstum in jener komplizierten<br />

Regierungsform besassen, welche man uns „klugerweise" lehrt, als<br />

grossen Segen zu betrachten Edmund Burke.<br />

Lernt nicht Esperanto!<br />

(Fortsetzung folgt.)<br />

Der Herausgeber der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" hat in der vorigen<br />

Nummer seine Leser aufgefordert, die sogenannte Esperantosprache<br />

zu erlernen. Hätte er geschrieben, es sei dringend zu raten, einmal<br />

im Jahr Goethes Faust zu lesen, ich weiss nicht, ob


148<br />

das viel Erfolg gehabt hätte. Aber ich bin überzeugt, dass eine<br />

ganze Zahl Leser auf Grund dieses kurzen Satzes von Pierre<br />

Ramus, bis diese Zeilen gedruckt werden, schon Abend für Abend,<br />

über einem Esperanto-Lehrbuch sitzen. Die Menschen im allgemeinen<br />

sind so und die Radikalen insbesondere, dass jede Verkehrtheit<br />

Anhänger und zwar sehr oft fanatische Anhänger, unter<br />

ihnen findet. Das kommt daher, dass die Verkehrtheiten vom<br />

Verstand ersonnen sind und sich an den Verstand wenden. Der<br />

Geist hat zwei schlimme Feinde, erstens die Dummheit und zweitens<br />

den Verstand. Oft finden sie sich vereinigt in Form kluger<br />

Geistlosigkeit; die hat auch das Esperanto erfunden.<br />

Unter Anarchisten scheint es ganz besonders nötig, darauf<br />

hinzuweisen, dass die Dinge, auf denen das Leben der Einzelnen<br />

und das Miteinanderleben der Menschen beruht, nicht erfundene<br />

und gemachte sind, sondern gewachsene. Gewachsen ist die Gesellschaft<br />

und das natürliche, freiwillige Zusammenschliessen der<br />

Menschen, das jetzt von einem elenden Kunstprodukt, dem Staat,<br />

überwuchert ist. So etwas Gewachsenes sind auch die Sprachen<br />

und Dialekte der Völker. Dass die Volkssprachen den Nationalstaaten<br />

oft zum Vorwand von Feindseligkeiten dienen, ist schlimm;:.<br />

schlimmer aber wäre, wenn die Menschen glaubten, die Verschiedenheit<br />

der Sprache, d. h. eine unausrottbare, tätsächliche Verschiedenheit,<br />

die nicht nur zwischen den Völkern, sondern zwischen<br />

allen einzelnen Menschen besteht — jeder Mensch spricht, denkt,<br />

empfindet anders als der andere — sei an ihrer Uneinigkeit schuld.<br />

Die Menschen verstehen sich und können sich verständigen, weil<br />

sie ungleich sind; wenn sie gleich wären, wäre einer dem andern<br />

und jeder sich selbst verhasst und ekelhaft; und eine solche<br />

Gleichheitsphantasie ist überhaupt unmöglich und widerwärtig.<br />

Die Verschiedenheit der Sprachen ist also gar nichts, was<br />

wir zu bedauern haben; und noch weniger etwas, was wir abschatten<br />

könnten. Abschaffen helfen sollen wir die Zustände, die<br />

es dem Menschen verwehren, sich die Kenntnis fremder Sprachen<br />

zu erwerben. Die Anarchisten sind doch sonst so streng gegen<br />

Palliativmittel und Besserungsversuche innerhalb von Staat und<br />

kapitalistischer Gesellschaft; das Esperanto ist nichts anderes als<br />

so ein Flickwerk, und dazu noch ein hässliches, unnützes und<br />

gefährliches.<br />

Denn nur die Plumpheiten, Trivialitäten und Gewöhnlichkeiten<br />

einer Sprache lassen sich in einem Kunstprodukt ausdrücken:<br />

und vor allem nur das Alte und Wiedergekäute, niemals das Neue,<br />

Gährende, Entstehende, Geniale. Die Sprache ist lebendig, nicht<br />

nur gewachsen, sondern wachsend: sie enthält eine unendliche<br />

Vergangenheit, vor allem aber auch die Zukunft; das künstliche<br />

Gemachte ist nichts, worin der Mensch weiterdenken und Neues<br />

schaffen kann; es ist ja nur eine Uebersetzung des Breitgetretenen.


149<br />

und das Wichtigste, das Feinste, das Unaussprechliche lässt sich<br />

darin nicht sagen. Die gewachsenen Sprachen können das:<br />

zwischen den Worten lebt da gar vieles, was unsäglich und unaussprechlich<br />

ist. Esperanto aber kann nichts anderes sein als<br />

Schwätzen.<br />

Aber selbst zu rein praktischen Zwecken, etwa als Kongresssprache,<br />

ist es untauglich und gefährlich. Wenn der Franzose<br />

Esperanto spricht, hat er natürlich französisch gedacht und spricht<br />

nun in der angeblichen Gemeinsprache nur Erinnerungen an seine<br />

Heimatsprache. Der Deutsche oder Engländer aber versteht das,<br />

was er in Esperanto hört, nicht auf Esperanto oder französisch,<br />

sondern auf deutsch oder englisch. Was entsteht daraus ? Nichts<br />

anderes als dass die Menschen glauben sich zu verstehen, während<br />

sie sich in Wahrheit missverstehen. Es ist aber viel besser, dass<br />

die Menschen einander gar nicht verstehen, als dass sie sich<br />

missverstehen, ohne es zu merken. Und ebenso schlimm oder<br />

schlimmer wäre es, wenn solche Kongressteilnehmer nur die<br />

Trockenheiten und die Verstandeswahrheiten einander sagten, die<br />

sich in Esperanto ausdrücken lassen, wenn all der Dunst, all das<br />

Unbestimmte, all die Nuance verloren ginge, all das zitternde<br />

Gefühl, das nur in der Volks- und Herzenssprache zum Ausdruck<br />

kommen kann. Nichts tut dem Anarchismus mehr not als dass er<br />

sich in die Tiefen des Geistes und Gemütes senkt, in die Innerlichkeit<br />

und den Charakter, in die Selbstverständlichkeit und die<br />

Natur des Menschen. Dahin kommt nie eine Kunstsprache.<br />

Ich erinnere mich an die Züricher Anarchistenkonferenz vom<br />

Jahr 1893. Da sprach z. B. der italienische Genosse Molinari,<br />

gross, feurig, wild, mit überaus eindrucksvollen Bewegungen der<br />

Arme und Hände, mit prachtvollem Ausdruck der Augen und<br />

Gesichtsmuskeln. Dieser prächtige Erguss eines Leidenschaftlichen,<br />

von dessen Sätzen, die wie ein Wasserfall strömten und schäumten,<br />

ich kein Wort verstand, wurde dann von dem verstorbenen Genossen<br />

Körner in seiner sanften, leidenschaftslosen Art ins Deutsche<br />

übersetzt. Und nun verstand ich alles; verstand nicht nur die<br />

brausende, liebenswürdige Oberflächenwut des Italieners, sondern<br />

auch die tiefere, verhaltene, melancholische Ruhe seines Uebersetzers.<br />

Es wäre mir eine unglaublich komische Vorstellung,<br />

wenn ich denken sollte, Molinari hätte esperantisch geredet.<br />

Dann würde mir ein Erlebnis, ein Stück Leben fehlen. Und wie<br />

gut verstanden wir, Deutsche, Franzosen, Engländer, Italiener uns<br />

damals! Was war das in der goldenen Jugendzeit für ein Umarmen,<br />

was für Blicke in die Augen, forschend, verstehend, nickend,<br />

stammelnd und doch so überaus beredt! Dafür, für diese holden<br />

Erinnerungen ans Verstehen und Einigsein im Grund der Gefühle,<br />

der Naturen, das Esperanto eintauschen ? Pfui Teufel!<br />

Einen andern Vorschlag habe ich denen, die die Zeit hätten.


150<br />

Esperanto zu lernen. Eine Sprache sollen sie lernen, und zwar<br />

zunächst ihre eigene, die Deutschen deutsch, die Engländer englisch<br />

u. s. w. Man verstehe das nicht hochmütig, ich lerne noch<br />

Tag für Tag mein Deutsch, nicht in der Grammatik, sondern in<br />

den Werken der grossen Dichter und Denker. Und wer das mit<br />

Liebe übt und noch immer Zeit findet, der lernt seine deutsche<br />

Sprache am besten in all ihren Feinheiten und Innigkeiten kennen,<br />

wenn er noch eine fremde Sprache dazu lernt und sich so kurz<br />

wie möglich bei der Grammatik aufhält und möglichst bald mit Lesen<br />

beginnt. Nicht sich ans Uebersetzen gewöhnen! das ist von grösstem<br />

Schaden und darf erst viel später kommen, sondern in der fremden<br />

Sprache lesen, d. h. denken und empfinden. Also mein Rat ist<br />

Uebt euch im Denken und Empfinden, das will geübt sein<br />

übt euch in den Feinheiten und Innigkeiten gewachsener Sprachen,<br />

vor allem und immer der eigenen; und lernt nicht Esperanto.<br />

Gustav Landauer.<br />

Anmerkung: Sehr lesenswert ist, was Fritz Mauthner in seinem<br />

jüngst erschienen Essay „Die Sprache" (Die Gesellschaft Band 9) über das<br />

Esperanto sagt.<br />

Lernt Esperanto!<br />

Das eine tun, bedeutet lange nicht, das andere lassen! Und<br />

es ist sehr leicht möglich für jeden Kameraden, sich in der<br />

Muttersprache zu üben, derselben jene individuelle Kraft zu verleihen,<br />

dass sie in Wahrheit dem Ausdruck seiner Persönlichkeit<br />

gerecht zu werden vermag, ihre Formschönheiten erhöhte — und<br />

dabei zugleich ein guter Esperantist zu sein.<br />

Vor rund einem dreiviertel Jahr hätten die Ausführungen<br />

Landauers noch meine unbedingte Zustimmung gefunden. Ich<br />

habe sie damals nämlich selbst vertreten, mit derselben Logik,<br />

denselben Argumenten. Und diese meine Logik — bekanntlich<br />

ein heimtückisches Ding! — wurde bestärkt und fühlte sich<br />

bedeutend gehoben durch die Lektüre eines Artikels von Max;<br />

Nettlau im Londoner „Freedom", dessen Titel war: „Eines Anarchisten<br />

Ansicht über das Esperanto". Auch dort wurden dieselben<br />

Behauptungen gemacht, dem Esperanto jede tiefere Innigkeit und<br />

Verinnerlichungsmöglichkeit abgesprochen; ganz wie Landauer es<br />

tut, wie ich es getan habe, wie Unzählige es noch tun.<br />

Dennoch hatten wir Unrecht; wenigstens ich, der ich nun<br />

das Esperanto ganz flüchtig studierte und nur beflissen war, mir


151<br />

etwa so viel wie Lesefähigkeit in dieser Sprache anzueignen,<br />

muss dies heute bekennen. Und die Argumente, die ich gebrauchte<br />

und Landauer jetzt wieder anführt, haben bloss den trügerischen<br />

Schein der Richtigkeit. In Wahrheit täuschen wir uns selbst über<br />

ihre Gediegenheit und verkennen, übersehen dabei gänzlich, dass das<br />

Ding, das wir scheinbar widerlegt haben, schon durch massenhafte<br />

Beweise seine Lebenskraft und damit seine Berechtigung erwies,<br />

bereits so viele Entwicklungsstufen der Vervollkommnung und<br />

Besserwerdung durchlief, dass es ganz ausgeschlossen ist, dass<br />

das Esperanto je wieder verschwinden könnte.<br />

Gern will ich es eingestehen, dass ich von einem gewissen<br />

ästhetischen Standpunkt aus dem Genossen L. recht geben muss.<br />

Aber die Aesthetik spielt eine denkbar geringe Rolle in den Lebensfragen<br />

der Tagesnot und ihrer Wirrnisse, für welche, also für<br />

deren Ueberwindung das Esperanto ja geschaffen wurde. Und<br />

man erschrecke nicht vor dem Wörtlein „geschaffen", demgegenüber<br />

sich das von Landauer Gebrauchte weit hübscher und wieder<br />

nur scheinbar natürlicher ausnimmt. Denn es ist bloss die Hälfte<br />

einer Sache betont, wenn ich sage, „dass unsere Sprachen etwas<br />

„Gewachsenes", oder Gewordenes, nichts Gemachtes sind. Tatsache<br />

ist jedenfalls, dass dieses Wachstum eben ihre Schaffung<br />

und Schöpfung bedeutet, es sei denn, man wollte dieses Wachstuni<br />

als etwas rein Mechanisches ansehen, was Landauer nicht tut.<br />

Und in einem solchen Sinn ist auch das Esperanto etwas „Gewachsenes",<br />

das wuchs und emporkam, weil es ganz eminenten<br />

Bedürfnissen entgegenkommt und das, im Flusse seiner Gebrauchsentwicklung<br />

weiter wachsen, sich eine Zukunft, somit eine Vergangenheit<br />

erringen wird. Es ist schliesslich alles gewachsen,<br />

allmählich geworden, doch nichts, das auch nicht gleichzeitig gemacht<br />

wurde; die Aktion gibt den Anstoss, die Entwicklung und<br />

das Werden erfolgt erst nach ihm. Auch die bestehenden Sprachen<br />

haben unendlich viel des Gemachten an sich!<br />

Niemals haben es die Esperantisten als ihren Programmpunkt<br />

aufgestellt, die Verschiedenheiten der Sprachen, all das so wundervoll<br />

Vielfältige, das aus Jahrtausende alter Entwicklung hervorging<br />

und den Reiz des Lebens, die „prachtvolle Gebärde" der verschiedenen<br />

Nationen, ihre Leidenschaften und Veranlagungen in<br />

bunter Mannigfaltigkeit zum Ausdruck bringend ergibt, abschaffen<br />

oder verwischen zu wollen. Genosse Landauer, die Esperantisten<br />

haben es stets betont, dass das Esperanto nur eine Hilfssprache<br />

für den alltäglichen Gebrauch und der notwendigsten Geistesverständigung<br />

bilden, kurz gerade für die „Plumpheiten, Trivialitäten<br />

und Gewöhnlichkeiten" des Lebens — und leider besteht dieses<br />

zum grossen Teil aus eben solchen Unzulänglichkeiten — Anwendung<br />

finden möge. Aber wenn Sie glauben, dass das Esperanto<br />

auch deshalb missverständlich und untauglich sei, weil die ver-


152<br />

schiedenen Nationen in ihren bestimmten nationalen Eigentümlichkeiten<br />

denken und deshalb so sprechen, dann haben Sie eine tiefe<br />

Wahrheit ausgesprochen, auf die besonders Mauthner in seiner<br />

„Kritik der Sprache" lebhaft hinweist. Ich leugne keineswegs die<br />

Richtigkeit dieser Behauptung, nur möchte ich geltend machen,<br />

dass sie nicht nur das Esperanto trifft, sondern jede Sprache,<br />

dass es das Verhängnisvolle der Sprache auch ein und "desselben<br />

Volkes — natürlich können wir uns ein solches nur philosophisch<br />

vorstellen — ist, von Individuen gesprochen zu werden, die dank<br />

ihrer variierenden Vererbungseinflüsse, der graduellen Verschiedenheit<br />

ihrer sinnlichen und psychischen Eindrucksfähigkeit sich ebenfalls<br />

nur missverständlich verstehen und sich niemals ganz verstehen<br />

können. Immerhin, ganz ebenso wie die gemeinschaftliche<br />

Volkssprache es Individuen verschiedener Veranlagung gestattet,<br />

sich in den allgemeinen Lebensfragen ihrer Existenz zu verständigen,<br />

ganz ebenso gestattet, richtiger ermöglicht solches auch das<br />

Esperanto unter Individuen verschiedener Nationen, dessen Entwicklung<br />

ja noch gar nicht absehbar ist und das mit jeder Einführung<br />

in weitere und weitere Kreise an solchen Elementen der<br />

Geschmeidigkeit, des Wortsinnes, der Verallgemeinerung des Selbstverständlichen<br />

— und das ist uns eigentlich das Sprachliche —<br />

gewinnt, dass seine zukünftige Evolution eine verbürgte Sache wird.<br />

Gewiss : eignen wir uns all jene schöne Klarheit und Wortfülle<br />

der Sprache an, wie sie unsere Klassiker uns als ein erhabenes Vermächtnis<br />

hinterlassen haben. Aber bereichern wir sie auch! Und die<br />

Möglichkeit in ein fremdes Land zu gehen und im Augenblicke meiner<br />

Ankunft den dann nicht mehr „Fremden" einige gegenseitige erwärmende<br />

Herzensworte zurufen, mit ihnen sofort über die Notwendigkeit<br />

und Bedürfnisse meiner Persönlichkeit sprechen zu<br />

können, diese Möglichkeit bietet nicht nur keine der bestehenden<br />

Nationalsprachen dem Proletarier dar, nein, die Verwirklichung<br />

bedeutet für den Ankömmling die Erweiterung seines geistigen<br />

Horizontes im bedeutsamsten Massstabe, bedeutet eine sofortige,<br />

rasch gewonnene Beobachtungsschärfe, die sich auch rückwirkend<br />

auf das Können in der Muttersprache äussern kann. Esperanto<br />

ist die alltägliche, notwendige Praxis des Gedankenaustausches;<br />

Esperanto kann jener breite, sprachliche Strom werden, auf dessen<br />

Rücken sämtliche Kulturelemente der verschiedenen Nationen<br />

wechselseitig und internationalisierend nach den diversen heimatlichen<br />

Küsten und Gestaden gebracht werden können.<br />

Pierre Ramus.


Im Talnebel.<br />

153<br />

Haben hier wirklich die Frühlingsstürme gehaust?<br />

Sind hier wirklich die Frühlingswasser geflossen?<br />

Habe ich hier die Morgensonne leuchten seh'n.<br />

Wo jetzt das klägliche Krämervolk haust,<br />

Das unbekümmert und unverdrossen,<br />

Als wäre nichts von Bedeutung gescheh'n —<br />

Nur ein Psychöslein, ein Zwischenspielchen<br />

Nicht viel mehr wert als ein Pappenstielchen —<br />

Die Pfeife im Mund in der Haustür steht,<br />

Oder im Schlafrock umwandelt das Malvenbeet,<br />

So gleichgültig stumpf, oberflächlich,<br />

Als wäre die Welt neben ihm nur nebensächlich<br />

Und nur die Gemütlichkeit und der Suppenherd<br />

Und das Bier im Skatklub noch etwas wert. .<br />

Es ist eine einzige dumpfe Niederung,<br />

So farblos, so ohne Bewegung und ohne Schwung!<br />

Den ganzen undendlichen Himmelsbogen<br />

Hat graues, zerflossenes Gewölk überzogen,<br />

Doch nicht zum Gewitter, — zum herbstlichen Regen!<br />

So leuchtet in dieses Nebeltal<br />

Kein Stern hernieder, kein Flammenstrahl!<br />

Mit matten, marasmischen Schlägen<br />

Schleicht sich im Dämmer ein Wässerchen fort,<br />

Spriesst ein Sträuchlein als war 7<br />

es verdorrt,<br />

Glimmt ein Fünkchen, als war es gelähmt,<br />

Dass man sich schier seines Lebens schämt.<br />

Wahrhaftig, mir fehlt das Verlangen,<br />

Mit diesen Zwergen am Leben zu hangen,<br />

Die unfähig sind zum Kampf und zum Lieben.<br />

Die Starken sind alle vorausgegangen,<br />

Und ich bin verwaist zurückgeblieben!<br />

Es zieht mich nach, es zieht mich zu ihnen<br />

Und weg von diesen würdigen Mienen,<br />

Die sich zufrieden mit ihrem Joche brüsten;<br />

Während sie aufbegehren, während sie kämpfen müssten.<br />

Um das Erstrittene festzuhalten<br />

Und nicht in den Morast der dunklen Zeiten,<br />

Zum Gehorsam des stummen Zugviehs hinabzugleiten !<br />

War denn der Aufruhr aller Gewalten<br />

Wirklich vergeblich und unbesonnen.<br />

Zur Unzeit begonnen<br />

Und imgrunde nur<br />

Ein toller Narrenstreich der Natur?


154<br />

Zum Weinen eklig ist es, zum Weinen bitter!<br />

Ich Lab 7<br />

mich so kränkend im Volke getäuscht! Weiss Gott !<br />

Mir fehlt der Mut zum Zorn, die Lust zum Spott,<br />

Und ich bedaudre mich nur und die armen Zwitter!. .<br />

Ist ihnen wohl, so blüht die Welt<br />

Und alles feiert, wenn sie bei Geld —<br />

Doch ohne Hoffnung, Glauben und Würde<br />

Der Notdurft pflegen in schmutziger Hürde ! .<br />

Die Redlichen. Kühnen, die Besten von allen<br />

Sind eingekerkert, flüchtig, verfehmt, sind gefallen !<br />

Nur das graue Gewürm vermehrt sich weiter, —<br />

Die Fledermäuse und Blindschleichen, Hamster und Schakale.<br />

Schnecken und Wanzen, Krebse und Aale<br />

Und alle die anderen Fortschrittssrreiter!<br />

Was jene getan und gelitten, das ist vergessen,<br />

Vergessen sie selbst! Die Prostraten trinken und essen<br />

Und putzen sich aus und scharmuzieren<br />

Mit Monocle und Schmarre<br />

Und schlagen Guitarre,<br />

Als wäre alles in Ordnung und nichts zu verlieren,<br />

Was mit Rückenbücken und Gleissnerei<br />

Nicht immer wieder zu holen sei,<br />

Als wenn die Kämpfe Sagen und Mären,<br />

Nie Kämpfer fremde Söldlinge wären,<br />

Als wenn sie sich, irgendwo oben<br />

Auf anderen Planeten zur Freiheit erhoben!<br />

Und sie kämpften: doch und fielen für Alle<br />

Und wollten mit ihrem Ringen und Sterben<br />

Doch allen Lebenssinn und Menschenwürde erwerben !<br />

Aber so ist die Herde! Mir schwillt die Galle!<br />

Ach, niemand folgt auf den dornigen Bahnen !<br />

Verlassen, versinken sie schon im Grase!<br />

Verloren ist längst die hohle Schüleremphase !<br />

Missachtet steh'n in den Ecken die Fahnen,<br />

Beschmutzt und durchschossen, durchnässt und zerrissen.<br />

Und keine Seele treibt das Gewissen<br />

Die Hand zu erheben und sie zu rächen!<br />

Nur sprechen hört man sie, sprechen und sprechen !<br />

Ein Moor wird aus den Beredsamkeitsbächen,<br />

Ein Moor von Worten und Papier!<br />

Was gilt's, — in den Fluten ertrinken wir,<br />

Wie im Styo und Lethe,<br />

Und unsere letzte Spur sind ein Dutzend Pamphlete!<br />

Mein müder Blick irrt durch die Gassen!<br />

Verachten könnt ich das Menschengelichter und hassen!'


Ist ihnen nicht, alles Spielzeug und Plunder,<br />

Was sich nicht umsetzen lässt in Gold und Burgunder.<br />

Und für diese leeren, seichten Schwätzergesellen,<br />

Die trägen Gleissner, die feigen Speichellecker,<br />

Wollt ich mich in die Bresche stellen.<br />

Wollt ich als Neulandsentdecker<br />

Mein Herz eröffnen, das Aeusserste wagen.<br />

Mit der Wahrheit die Haut zu Markte tragen,<br />

Von den heiligen Zeichen<br />

Nicht wanken und weichen<br />

Und im Dienste des Schönen und Guten<br />

An den Wunden und an dem Verrat verbluten?<br />

Uebersicht der hauptsächlichsten<br />

Artikel i. d. anarch. Presse<br />

Der freie Arbeiter. Der Prozess in<br />

Mannheim. Lick., Korrespondenz aus<br />

Oesterreich. Die Parade in Stuttgart.<br />

Angiolillos Todesgang. M. Kanfer, Das<br />

Drama der Revolution. Der Prozess<br />

wider den Genossen Rud. Oestereich.<br />

Die anarchistische Internationale. Anarchismus<br />

und Gewerkschaftsbewegung.<br />

A. Bussler, Kunst und Anarchismus.<br />

Ein antimilitaristisches Kapitel. Hochverrat!<br />

Roberto d :<br />

Angiö, Brief aus<br />

Argentinien. Evolution und Revolution.<br />

Fritz Gann †. Der <strong>2.</strong> internationale<br />

antimilitaristische Kongress.<br />

nische Generalstreik.<br />

Der italie­<br />

Der Revolutionär. Angiolillo. H.<br />

Drewes, Das Proletariat und die Stuttgarter<br />

Internationale". Unfreiwilliger<br />

Antimilitarismus.<br />

Der Anarchist. Ismael, Unsere Herren<br />

Gewerkschaftsführer. J. Nobody, Die<br />

Lokalisten vor der Entscheidung. P.<br />

Ramus, W. Godwin zur Zeit der französischen<br />

Revolution.<br />

Einigkeit. Das Justizurteil über Liebknecht:<br />

Es ist vollbracht E. B., Gei­<br />

155<br />

Theo. H e e r m a n n - Moskau.<br />

Archiv des sozailen Lebens.<br />

stige und sittliche Entwicklung der<br />

Einzelpersönlichkeit. Fortlaufende Wiedergabe<br />

des Inhaltes des „Bulletin Internationale<br />

du mouvementsyndikalisten<br />

„Auf dem Wege zur Einigkeit V. E.<br />

Teranus, Die Toleranz und Gesinnungsunterdrückung<br />

der Sozialdemokratie,<br />

Die Erkenntnis. I. A. Kettenbach, Die<br />

Leute aus der Tiefe und die Sozialdemokratie.<br />

<strong>2.</strong> Wilhelm Herzberg und<br />

der Anarchismus, 3. Steuern. Rosa<br />

Linke, Wie befreien wir uns? E gen<br />

H. Schmidt, 1. Die Zukunft des Proletariats.<br />

<strong>2.</strong> Anarchie. 3. Friedr. Nietzsche.<br />

Pierre Ramus, 1. Die Internationale den<br />

revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

<strong>2.</strong> Der zweite internationale antimilitaristische<br />

Kongress. Willy Schlütter,<br />

Der biosophische Bund. K. Gehört den<br />

föderierten Gewerkschaften der erste<br />

Platz im Klassenkampf? Die Verurteilung<br />

von Gustav Haussler und Julius<br />

Dissel zu 1 Jahr Gefängnis. G. Landauer,<br />

Durch Absonderung zur Gemeinschaft.<br />

Vorbote. Ein Eingesandt Alexander<br />

Berkmanns an die kapitalistische "Times''<br />

über Anarchismus. Prof. Larkin über<br />

und für die freie Liebe. Das russische<br />

Revolutionslied.


156<br />

Polis. Erich Mühsam, Terror. G.<br />

Landauer, Ueber die Revolution. Max<br />

Tobler, Gerechtigkeit. U. W. Züricher,<br />

Die gesicherte Existenz. Fr. Brupbacher,<br />

Propaganda.<br />

Das freie Wort. R. 1. Unsere Zeitschrift:<br />

Das freie Wort. A. Isaak, jr.,<br />

Die Notwendigkeit grosserer Wirksamkeit.<br />

Anna Riedel, Einiges über Freiheit.<br />

Rein persönliche Angriffe. A.I,<br />

Die sexuelle Frage. Figaro, Idealgestalten<br />

des Anarchismus. R., Lose Gedanken<br />

über M. Kinley und den offiziellen<br />

„Tag der Arbeit". Figaro, Das Loos<br />

der Frau. A. Isaak, Buddha keine<br />

Idealgest., d. Anareh. Anna Riedel,<br />

Weil wir wollen! Figaro, Was fürchten<br />

sie? Ein Grazer, Demokratie oder Anarchie.<br />

Freiheit. Bericht an den intern. Anarchistenkongress<br />

über die Entwicklung<br />

der anarchistischen Bewegung in Amerika.<br />

M. Baginsky, 1. Der internationale Kongress<br />

von Amsterdam. <strong>2.</strong> Pariser Eindrücke.<br />

Le Reveil=Il Risveglio. Amadee Dunois,<br />

Der Amsterdamer Kongress. J. W.,<br />

Die Rolle der Armee in der Schweiz.<br />

Les Temps Nouveaux. Orlowsky und<br />

Rogdajeff, Der russische Bericht unserer<br />

Bewegung zum Amsterdamer Kongress.<br />

Pedro Godoy I eres. Die anarchistische<br />

Bewegung in Chile. J. Grave. Ernste<br />

Gespräche mit den Lesern über die<br />

Existenz des Blattes. F. Malatesta, Der<br />

internationale anarchistische Kongress.<br />

Jean Grave, Theorie und Praxis.<br />

M. Pierrot, Gedanken über Methode.<br />

Wladimir Zabrejnew, Die Prediger des<br />

individualistischen Anarchismus in Russland,<br />

Le Libertaire. Madelaine Vernet, Sei<br />

Mutter! Andre Lorulot, Das Individuum<br />

und der Kommunismus. Eug.<br />

Deniau-Morat, Die Philosophie der Autorität.<br />

Lorulet, 1 iie sexuelle Frage u.<br />

der Kommunismus. hie Verhaftung<br />

des Genossen Louis Matha; eine Dreyfusaffire.<br />

George Durupt. Die gesetzliche<br />

Verteidigung Karl Liebknechts.<br />

Franconis Lucchesi, Verbrechen, Verantwortlichkeit<br />

und Gefangenschaft.<br />

Le Mouvement Socialiste. Hubert<br />

Lagardella, Die „Konföderation der Arbeit"<br />

und die sozialdemokratische Partei.<br />

Gabriel Beaubois, Der Staat, die Parteien<br />

und der Syndikalismus, A, Levy,<br />

Syndikalismus und Antiklerikalismus.<br />

J. Ezersky, Die russische Sozialdemokratie<br />

und ihr Londoner Kongress.<br />

Lagardelle. Der 5. internationale Kongress<br />

der Metallarbeiter. E. Berth. Der<br />

Verfall der deutschen Sozialdemokratie.<br />

La Voix du Peuple. Martin Rolland,<br />

Die Revolution durch die Gewerkschaft.<br />

Le Communiste. Georges Belot, Das<br />

Gewissen vor dem Gesetze. Eugene<br />

Coulard, Die Propaganda durch das<br />

Theater.<br />

La Société Nouvelle. Unveröffentlichte<br />

Briefe von Lamennais. Raoul<br />

de la Grasserie, Der Föderalismus. A.<br />

Barreau. Der Freiheitskampfer Grandjouan.<br />

A. Jauniau, Die sozialistische<br />

Jugend. Paul Sosset über den zionistischen<br />

Kongress im Haag und den anarchistischen<br />

Kongress in Amsterdam.<br />

Henri Martin, Der soziale Darwinismus.<br />

La Revue intellectuelle. Rignae-<br />

Zélien, 1. Soziologische Rundschau über<br />

die Frauenfrage und sozialistische, politisch-taktische<br />

Probleme. <strong>2.</strong> Stuttgart.<br />

Sidonelli, Das Leben, der Traum und<br />

der Gedanke.<br />

L'Anarchie. Aug. R che, Die Anarchie.<br />

Mauricius, Der Anarchismus im<br />

Leben und in individuellen Handlungen.<br />

Anna Mahe, Von Resignation zur Revolte.<br />

Th. Serat, Das Individuum und<br />

das Milieu,<br />

La Guerre Sociale. Bullard, Die revolutionäre<br />

Bewegung in Amerika. F.<br />

Stackelberg, Ein Wort über den Nationalismus.<br />

Interwiews der Genossen Dr.<br />

Friedel erg. Emma Goldmann etc. über<br />

den Amsterdamer Kongress. Dr. Rob.<br />

Michel, • Stuttgarter Kongress. Sorgue,<br />

Enriko Malatesta. Gustav Hervel Basly,<br />

Rouanet & Co.. R. Louzon, Die Ereignisse<br />

von Mailand. Charles Malato<br />

über Fermin Salvochea.<br />

La Voix du Peuple. A. Merrheim,


Der Schwindel der Millerandschen Gesetze<br />

vom 10. August 1899. Die intern.<br />

Konferenz der Gewerksch .ftssekretäre<br />

in Christiana; weshalb die Konföderation<br />

an der Arbeit nicht teil nimmt. Illustrierte<br />

Glanznummer des Antimilitarismus. E.<br />

Pouget, Gewinnen wir durch die italienischen<br />

Streike!<br />

Il Pensiero. Eva Ranieri, Pedro Acciarito.<br />

L. Faebri, Dichter und Denker.<br />

Ferdoro Flounoy, Das Prinzip der religiöseen<br />

Psychologie.<br />

De vriie Communiste. Kongressnummer.<br />

R., Gegen Sabotage. Ch. Cornelissen,<br />

Für Sabotage. B. Reijndorp,<br />

Das Individuum und der kommunistische<br />

Anarchismus.<br />

De vrije Socialist. Willkommen der<br />

antimilitaristische Kongress. Der anarchistische<br />

Kongress. Polemik zwischen<br />

D. Nieuwenhuis und F. Ebeling über die<br />

neue anarchistische Internationale. D. N.,<br />

Die Zukunft des Anarchismus: Das Ideal<br />

verloren (d. Soz.-dem.) G. L. Bouvman,<br />

Privatbesitz und wahrhaftige Liebe.<br />

The Herold of Revolt (Herold der<br />

Revolte) nennt sich eine neue anarch.<br />

Zeitschrift, die der Genosse Guy Aldred<br />

redigiert und die im „freien" England<br />

— gleich bei ihrer ersten Nummer das<br />

Geschick ereilte, von der englischen<br />

Regierung, vor der aktuellen Ausgabe<br />

des Blattes, beschlagnahmt zu werden.<br />

Nichtsdestoweniger ist das Blatt wieder<br />

auferstanden. Interessenten bitten wir.<br />

sich an folgende Adresse zu wenden:<br />

133 Goswell Rd,. London E. C. England.<br />

The Industrial Union Bulletin Stenographische<br />

Berichterstattung über die<br />

Verhandlung des 3. Nationalkongresses<br />

des amerikanischen „Industrieverbandes<br />

der Arbeiter der Welt".<br />

Freedom. Jubiläumsnummer des 21.<br />

Jahrganges. P. Kropotkin, Kurze Blicke<br />

auf die englische anarchistische Bewegung<br />

der Jahre 1886—<strong>1907</strong>. Dr. T. F.<br />

Macdonald, Die Arbeiterbewegung in<br />

Australien und Neu-Seeland, Samuel<br />

Mainwaring †, 1841—<strong>1907</strong>.<br />

157<br />

Mother Earth. W. Holmes, Die sozialen<br />

Verhaltnisse in der Freiheit.<br />

Voltairine de Cleyre, M. Kinleys Ermordung<br />

vom anarch. Standpunkt L,<br />

D. Abbott, Ein Artikel über Ferdinand<br />

Earle, den die öffentliche Meinung<br />

Amerikas zu steinigen droht, weil er<br />

sich von seiner ihm angetrauten Frau,<br />

mit ihrer Zustimmung obendrein, trennte<br />

und mit einer anderen Frau zusammenzog.<br />

Liberty. Steven T. Byngton, Die<br />

Gedichte des anarchistischen Dichters<br />

Gordak. Saint Georges de Bouhelier,<br />

Der Stuttgarter Kongress.<br />

A Luta (Brasilien). Der siegreiche<br />

Achtstundenstreik in San Paolo. Cecilia<br />

Denora, Das Geschlechtsproblem. Bellegaride,<br />

Algebraische Konklusionen des<br />

Anarchismus.<br />

Los Parias (Peru). Saurre, Zur Freiheit!<br />

A Terra Livre. Cesar Mendes, Die<br />

Positivisten in der Arbeiterbewegung.<br />

Tierra y Liberlad. Antiparlamentarische<br />

Nummer, mit Artikel v. Lorenzo,<br />

Malatesta, Malato etc. Malato, Die grosse<br />

Krise. Stackelberg. Patriotischer Mistifizismus<br />

und die Arbeitersolidarität.<br />

Kropotkin, Syndikalismus und Parlamentarismus.<br />

Solidaritätsaufruf für die<br />

Gewerkschaften Barcelonas.<br />

Bibliographie.<br />

(Event, Besprechungen vorbehalten.)<br />

In deutscher Sprache.<br />

John Most, Memoiren. Band 4.<br />

Herausgegeben von Helene Most u. F.<br />

Thaumazo. New-York. 1 Mk.<br />

Dr. B. Thorsch, Der Einzelne und<br />

die Gesellschaft Verl, von Karl Reissner,<br />

Dresden.<br />

Dr. Georg Adler, Stirners anarchistische<br />

Sozialtheorie. Verl. von Gustav<br />

Fischer in Jena. <strong>1907</strong>.


Dr. Robert Michels, Die deutsche<br />

Sozialdemokratie im internationalen<br />

Verbände; eine kritische Untersuchung.<br />

Prof. August Forel, Die sexuelle<br />

Frage. Ernst Reinhard München.<br />

Peter Kropotkin, An die jungen<br />

Leute. Verl. „Erkenntnis", Mannheim,<br />

Pflügergrundstr. 3<strong>2.</strong> 5 Pfg.<br />

Kirill, Mitglied des revol. Schiffskomitees,<br />

Die Odysse des „Kajas Potemkin".<br />

Wiener Volksbachhandlung Ignaz<br />

Brand,<br />

In französischer Sprache.<br />

158<br />

E. Armand, Die Geschlechtsfreiheit.<br />

Librairie Nouvelle.<br />

Firmin Raillon, Zu neuen Zeiten<br />

durch die Erziehung und die Frau. A.<br />

Messein, Paris. Fr. 3,50.<br />

G. B_urgin, Geschichte der Kommune.<br />

Cornely, Paris. Fr. 1,<br />

A. Lorulot, Das Vaterlands-Idol.<br />

"L Action Syndicale". 69 rue Emil<br />

V la, Lens.<br />

L. de Seilhac, Der Streik von Fressenneville..<br />

Musee Social, 5 rue Las-<br />

_azes.<br />

Im Verlage des „Internationalen<br />

Friedensvereins" in Monaco erschienen:<br />

Vavasseur, Die Organisation eines<br />

internationalen Schiedsgerichtes.<br />

A. H. Fried, Jahrbuch des internationalen<br />

Lebens.<br />

Madelaine Vernet, „Die soziale<br />

Zukunft", erstes Jahresbulletin des freiheitlichen<br />

Erziehungsinstitute unserer<br />

Genossin. 8 rue Lamarck, Paris.<br />

Paul Delesalle, „Die Konföderation<br />

der Arbeit" in ihrer historischen Entwicklung.<br />

Publication Sociale, 46 rue<br />

Monsieur-le-Prince, Paris. 15 Cts.<br />

P. A, Hirsch, Die ökonomische<br />

Situation in Frankreich und die soziale<br />

umwälzung. Verlag Cornely. 1 Fr,<br />

James Guillaume. Die Internanationale<br />

II. Band. Verlag Cornély,<br />

Paris. 6 Fr.<br />

Hermann Heubner. Ferd. Lassalle,<br />

Drama in 5 Akten. Uebersetzt von F,<br />

de Spengler. Verlag „Reveil", Rue des<br />

Savoises 6. Genf (Schweiz). 1.50 Fr.<br />

Otto Karmin. Kann man ein Christ<br />

eleiben? „Libre Pense", 4 Eue de la<br />

Louvre Ltjusenne (Schweiz).<br />

Chapelier. Der Kommunismus.<br />

Verl. der „Colonie commmmuniste libertaire",<br />

57 rue Verte, Boitsfort, Belgien.<br />

Dr. J. Rutgers. Die Kriege und<br />

die Bevölkerungsdichtigkeit. Vortrag<br />

gehalten im „Cercle international" zu<br />

Haag, am 8. August <strong>1907</strong>.<br />

M. Bonzon. Der antimilitaristische<br />

Prozess vom 25. Juni <strong>1907</strong>. „Liberté<br />

d'Opiniou", 127 Avenue de Clichy, Paris.<br />

E. Armand und Mauricius. Der<br />

Anarchismus. Verl. 22 rue de la Barre,<br />

Paris. 10 Cent.<br />

Gustave Herve. Der Stuttgarter<br />

Kongress und der Antimilitarismus.<br />

Verl. „La Guerre sociale", 121 rue<br />

Montmartre, Paris.<br />

O. Karmin. Pas Problem des Bösen.<br />

Impr. „Moderne", Chaux-de-Fonds,<br />

Schweiz.<br />

E. Fourniere. Das Individuum, die<br />

Assoziation und der Staat. Verlag<br />

Ale an, Paris.<br />

In englischer Sprache.<br />

George Pyburn, Antrophagy<br />

oder die Erraffer des Eeichtums, und<br />

wie sie es machen. Im Selbstverlag,<br />

1011 H. Street, Sakramento, Cal. <strong>1907</strong>.<br />

Leo Tolstoi, Die russische Revolution<br />

1. Ihre Bedeutung. <strong>2.</strong> Was ist<br />

zu tun? 3. Ein Appell an alle Russen.<br />

4. Ein Brief an einen Chinesen. Verl<br />

„The free Age Press", Christchurch<br />

Hants, England.<br />

Verlag der Bakunin-Presse, 127 Ossulston<br />

Str., London N.W. Das Manifest<br />

der Industrieverbände der direkten<br />

Aktion.<br />

Domela Nieuwenhuis. Wie die<br />

produktiven Arbeiter den Krieg unterdrücken<br />

können.<br />

Alfred G. Sanftleben. Würdigungen<br />

und Rezensionen über Männer<br />

und Frauen der amerikanischen sozialistischen<br />

und anarchistischen Bewegung.<br />

Verl. „Common Sense", Sta. C, Box 564,<br />

Los Angeles, Californien.


In holländischer Sprache.<br />

Manifest an die Arbeiter der Städte<br />

und des Landes. Herausgegeben von<br />

der Föderation der freiheitslebenden<br />

Kommunisten. Cornelis Anthronystr. 49,<br />

Amsterdam.<br />

In rumänischer Sprache.<br />

Peter Kropotkin. An die jungen<br />

Leute. Verl. „Revista Idee", Bukarest.<br />

In spanischer Sprache.<br />

O. Ristori, Eine Polemik über die<br />

Anarchie. „La Battaglio", San Paolo,<br />

Brasilien.<br />

Anselmo Lorenzo, <strong>Freie</strong>s Leben.<br />

F. Granada y C. Barcelona.<br />

Bernard Lazare, Der Freiheitliche,<br />

Bibliothek de „Salud y Fuerza", Barcelona.<br />

E. Van Bruyssel, Das soziale Leben<br />

und seine Evolutionen, Verl. Flammarion.<br />

In italienischer Sprache.<br />

Guido Podrecca, Die freie Liebe.<br />

G. Picchetto, Rom.<br />

Domenico Zavattero, Die Analyse<br />

der Ideale. L'iniziativa, Rimi.<br />

159<br />

Notizen.<br />

Der Mangel an stenographischen<br />

Niederschriften, die grosse — einige<br />

Male beabsichtigte — Ungenauigkeit der<br />

Uebersetzungen auf dem internationalen,<br />

anarchistischen Kongress zu Amsterdam,<br />

bringen es mit sich, daps die verschieden<br />

sprachlichen Berichterstattungen<br />

über die Verhandlungen des Kongresses in<br />

unseren diversen Zeitschriften oftmals<br />

wesentlich differieren. Grosse Auslassungen<br />

und Irrtümer von jener spezifisch<br />

psychologischen Auffassung der subjektiven<br />

Meinung sind die Folgen obiger<br />

tatsächlicher Ursachen, auf deren Konto<br />

wir es schliesslich stellen wollen, dass,<br />

was die deutsche anarchistische Presse<br />

anlangt, kein einziges unserer Blätter<br />

sämtliche Minoritätsresolutionen brachte,<br />

was ohne Zweifel unstatthaft vom an-<br />

archistischen Standpunkt. Derjenige,<br />

welcher eine protokollarische Ausgabe<br />

der Verhandlungen veranstalten wollte,<br />

müsse schon sein Material aus sämtlichen<br />

Zeitschriften zusammenlesen und<br />

seine dann bewerkstelligte Zusammenfassung<br />

allen Teilnehmern zusenden zur<br />

nachträglichen Korrektur vor definitiver<br />

Drucklegung. Andernfalls kein Protokoll,<br />

sondern seine subjektive Meinung<br />

zum Vorschein käme.<br />

Den deutschen Lesern können wir<br />

als ausführlichste und annähernd genaueste<br />

Darstellung den Bericht des<br />

„<strong>Freie</strong>n Arbeiters" empfehlen.<br />

Dass selbst Teilnehmer des Kongresses<br />

durch die durchaus mangelhafte,<br />

ganz oft unaufrichtige Uebersetzung des<br />

Gesprochenen nicht im Klaren sein<br />

können über gewisse der gefassten Beschlüsse<br />

geht schon aus dem Umstand<br />

hervor, dass der Genosse Pierre Ramus<br />

erst aus der Nummer vom 5. Oktober<br />

des holländischen „Vrije Communist" es<br />

erfuhr, dass seine von uns in unserer<br />

Septembernummer gebrachte Organisationsresolution<br />

als föderalistische Prinzipienerklärung<br />

der neuen Internationale<br />

angenommen wurde. —<br />

R. Fred Geyer, wohnhaft in Rio de<br />

Janeiro, Brasilien (rua Marrecas 22) ersucht<br />

d. Genossen, welche des Esperantos<br />

hinlänglich mächtig sind, sich mit ihm in<br />

Verbindung zu setzen wegen Uebertragung<br />

des „Wohlstandes für Alle", des<br />

gediegene» Werkes des Genossen Kropotkin,<br />

in jene immer bedeutenderwerdende<br />

Welt- und Hilfssprache. Er bittet die<br />

Genossen auch ihm mitzuteilen, welchem<br />

besonderen Teil oder Kapitel des Werkes<br />

sie für ihre resp. Uebersetzung den<br />

Vorzug erteilen. —<br />

In dem englischen, streng marxistischen<br />

Parteiblatt „Justice" (Gerechtigkeit)<br />

spricht sich E. Beifort Bax, der<br />

bekannte, antimarxistische Theoretiker<br />

in Sachen materialistischer Geschichtsauffassung,<br />

in einem Artikel über<br />

„Patriotismus, Militarismus und Ethik"<br />

voll und ganz für den Antimilitarismus<br />

der Herveschen Taktik aus, auch gegen<br />

die deutsche Sozialdemokratie, der er<br />

vorwirft, sich niemals gegen das System<br />

des Militarismus als solchen ausgesprochen<br />

zu haben.


Wir begrüssen diese Auffassung seitens<br />

eines sehr Fähigen der Sozialdemokratie;<br />

eine Auffassung, welche ein<br />

weiterer Theoretiker des „wissenschaftlichen"<br />

Sozialismus, Karl Kautsky, in<br />

seiner unleidig stereotypen Broschüre<br />

„Patriotismus und Sozialismus" strenge<br />

verwirft — ebenfalls vom theoretischen<br />

Standpunkte der Sozialdemokratie aus.<br />

Und beide sind Anhänger des<br />

„wissenschaftlichen" Sozialismus! Sehen<br />

diese Menschen es noch immer nicht<br />

160<br />

An unsere Leser!<br />

ein, dass sie allein schon genügend sind,<br />

die gesamten Induktionen und Deduktionen<br />

des wissenschaftlichen Sozialismus<br />

ad absurdum zu führen? Denn wenn<br />

der Antimilitarismus einerseits vereinbar,<br />

anderseits unvereinbar ist mit der<br />

„Wissenschaft des Sozialismus", dann<br />

ist es nur gerecht zu konstatieren, dass<br />

es eine solche Wissenschaft nicht, nur<br />

sozialdemokratisch - dogmatische Glaubenssätze<br />

und taktische Fossilität gibt.<br />

Wir fordern unsere Leser auf, ihren finanziellen Verpflichtun­<br />

gen gebenüber der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" unbedingt nachzukommen,,<br />

ansonst wir uns veranlasst fühlen, an rückständige Zahler die<br />

Zustellung derselben einzustellen.<br />

Die Geschäftskommission.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Gustav Lübeck, Berlin.


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen :<br />

Der Wohlstand für Alle<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

Preis nur 1,50 Mk.<br />

Soeben ist erschienen:<br />

Revolutionäre Regierungen.<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

„Die revolutionären Regierungen" ist eine der besten Broschüren<br />

Krapotkins. Da dieselbe seit Anfang der 90er Jahre nicht<br />

mehr zu haben ist, kommen wir mit der Herausgabe den Wünschen<br />

vieler Freunde entgegen und geben wir der deutschen anarchistischen<br />

Bewegung eine wirksame Agitationsbroschüre in die Hand.<br />

Preis 5 Pfg., bei Bezug von 400 Expl., I Pfg. pro Exemplar.<br />

Die Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>."<br />

In meinem Verlage ist erschienen:<br />

Mutterschutz und Liebesfreiheit<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Die Broschüre beschäftigt sich mit den Bestrebungen des<br />

„Bundes für Mutterschutz" und bekämpft eine Mutterschaftsversicherung<br />

auf staatlicher Grundlage. Der Verfasser schlägt eine<br />

solche Versicherung in freiwilliger Form, im Rahmen einer freien<br />

Gemeinschaft von Männern und Frauen vor und eröffnet neue<br />

Lichtpunkte für das Liebesleben der Menschen. — Preis 20 Pfg.<br />

Brot, Musse, Liebe<br />

Von Paul Robin und einem Vorwort von Armand Fernau.<br />

Brot, Müsse, Liebe hat in Frankreich in kurzer Zeit vier<br />

Auflagen erlebt. Sie behandelt kurz, übersichtlich und allgemeinverständlich<br />

die wichtigsten Faktoren, die zum Glücke der Menschen<br />

gehören: Brot, Müsse, Liebe.<br />

Die Broschüre ist eine Propagandaschrift im wahrsten Sinne<br />

des Wortes. Preis 10 Pfg.<br />

Verlag A. Plessner, Berlin N.W. 87, Wullenweberstr. 6.


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen:<br />

Das anarchistische Manifest<br />

Von Pierre Ramus.<br />

„Das anarchistische Manifest" ist eine Propagandabroschüre<br />

im wahren Sinne des Wortes. In kurzen, aber allgemeinverständlichen<br />

Worten begründet und erläutert der Verfasser die<br />

Forderungen, welche wir Anarchisten an eine menschliche, für<br />

Alle glückliche Gesellschaft stellen.<br />

Preis 5 Pfennig.<br />

Um diese Broschüre aber auch hinsichtlich des Preises zu<br />

einer Agitationsbroschüre zu machen, geben wir dieselbe bei Bezug<br />

von 400 Exemplaren mit<br />

1 Pfennig pro Exemplar<br />

ab. 400 Exemplare kosten mit Porto 4,50 Mark.<br />

Wir bitten um umgehende Bestellung<br />

Demnächst gelangt zur Ausgabe:<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Der Generalstreik.<br />

Diese Broschüre ist die 3. in unserer Serie und wird zu<br />

denselben Bedingungen wie „Das anarchistische Manifest" geliefert.<br />

Bestellungen nimmt schon jetzt entgegen<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Druck: Buchdruckerei M. Lehmann, Berlin.


<strong>2.</strong> Band. Heft 6-8<br />

Februar <strong>1907</strong>.<br />

Verlag M. Lehmann,<br />

Berlin, Dresdenerstr. 88-89


An unsere Leser.<br />

Moral and freiheitlicher Sozialismus.<br />

Der Zweck des Lebens.<br />

Antimilitarismus und Hochverrat.<br />

Philosophie und Kultur.<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

Aus dem Tagebuch eines Propagandisten.<br />

Die Geschäftskommission.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Julius Skall.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge über sämtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar-künstlerische Erkennt<br />

nisse des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmässiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Post-<br />

Sendung, in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Hell..<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die<br />

Redaktion der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre<br />

Ramus, Wien, 3. Löwengasse 5, 3-10.<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche<br />

Mitteilungen sind zu richten an den Verlag: M. Lehmann,<br />

Dresdenersir. 88|89, Berlin 5.<br />

Die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint regelmässig am ist jeden Monats.<br />

Bei nicht pünktlicher Zustellung wende man sich an den Verlag.<br />

In London ist die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch<br />

B. Mandl, London W., 121 Charlotte Str. Fitzroy Sq.<br />

zu beziehen.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus<br />

Band 2 Dezember-Februar Heft 6-8<br />

An unsere Leser.<br />

Das vorliegende Heft der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" erscheint als<br />

Doppelnummer für Dezember-Januar-Februar. Trotz aller Bemühungen<br />

war es unmöglich, die Gelder aufzubringen, welche erforderlich<br />

sind, das regelmässige Erscheinen der Revue zu sichern. Der<br />

Kredit ist erschöpft, und Barmittel fehlen gänzlich. Selbst nach Ausfall<br />

der Dezember- und Januar-Nummer ist das Defizit keineswegs<br />

beseitigt; im Gegenteil — dringend not tut der Kasse eine Auffrischung,<br />

denn wir sitzen vollkommen auf dem Trockenen.<br />

Wohl ist ein kleiner Kreis von Genossen bemüht, die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" über Wasser zu halten; aber leider, leider sind sie<br />

durchweg Proletarier; kein einziger Kapitalist befindet sich darunter.<br />

Wohl tut jeder sein Möglichstes, jeder gibt, so viel er entbehren<br />

kann. Aber das beste Wollen hat seine Grenze und scheitert<br />

an der Unmöglichkeit, von dem knappen Arbeitsverdienst noch<br />

grössere Aufwendungen für die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" machen zu<br />

können.<br />

Um das fernere regelmässige Erscheinen der Revue zu sichern,<br />

ist es unbedingt erforderlich, den Kreis tatkräftiger, opferwilliger<br />

Genossen zu vergrössern.<br />

Wir fordern daher alle Genossen, denen die Existenz der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" am Herzen liegt, auf, ihr Interesse zu betätigen durch<br />

freiwillige Spenden. Jeder Zuschuss, auch der kleinste, ist willkommen<br />

und wird dankbar entgegengenommen.<br />

Genossen! Freunde! Wir wissen, dass Ihr alle mit den Widerwärtigkeiten<br />

des Lebens schwer zu kämpfen habt; wir wissen, dass<br />

keiner von Euch überflüssige Reichtümer sein eigen nennen kann.<br />

Dennoch treten wir an Euch heran und rufen Euch auf zur Unterstützung<br />

der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>", die ja Euch gehört, die ein Teil<br />

der anarchistischen Bewegung ist und im Kampf um ihr Bestehen<br />

nicht untergehen darf. Allseitig anerkannt ist die Notwendigkeit<br />

einer deutschsprachigen Revue des Anarchismus. Ehrenpflicht eines<br />

jeden Genossen und Lesers der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist es, an seinem<br />

Teil nach Massgabe seiner Kräfte beizutragen zur Unterstützung<br />

unserer, seiner Zeitschrift!<br />

Was Wenigen zur Unmöglichkeit wird, das Weiterbestehen der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" zu sichern, das wird und muss sich mit leichter<br />

Mühe ermöglichen lassen, wenn Jeder sein Scherflein beiträgt. Nach


wie vor werden die Genossen, welche jetzt bemüht sind, die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" über alle Fährnisse hinwegzubringen, allen Widerwärtigkeiten<br />

Trotz bieten und mit äusserster Anspannung ihrer Kraft<br />

versuchen, ihren vorgefassten Plan im Interesse der anarchistischen<br />

Bewegung zur Durchführung zu bringen. Doch die Last wird den<br />

Wenigen zu schwer; darum ist es unerlässlich, dass unsere Reihen<br />

gestärkt werden durch neue Kämpfer.<br />

Keine leeren Phrasen rufen wir den Genossen zu. Bitter ernst<br />

ist die Situation. Genossen! Ihr habt es in der Hand, das Aeusserste<br />

zu verhindern. Gedenke Jeden seiner Pflicht als Leser und zahle<br />

regelmässig sein Abonnement! Tue Jeder noch ausserdem ein Uebriges<br />

und opfere eine Kleinigkeit! Ein solch geringfügiges Opfer<br />

kann und darf nicht schwer fallen; wird es doch gebracht im Interesse<br />

unseres anarchistischen Ideals! Als Ehrenpflicht muss es jeder<br />

Leser der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" betrachten, mitzuwirken und mitzuhelfen<br />

am Ausbau seiner Zeitschrift. Mitschaffen muss Jeder, der<br />

es wahrhaft ernst meint mit dem Kampf um unser anarchistisches<br />

Ideal.<br />

Genossen! Wirkt nach besten Kräften für die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Seid unermüdlich tätig, werbt neue Abonnenten und unterstützt<br />

Eure Zeitschrift durch freiwillige Beiträge! Euer Stolz muss<br />

es sein, die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" finanziell sicher zu stellen. Beweist<br />

es durch die Tat, dass Ihr nicht willens seid, Eure Zeitschrift zu<br />

Grunde gehen zu lassen. Gönnt Euren Gegnern nicht den Triumph,<br />

die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" eingehen zu lassen.<br />

Jeder ein Agitator! Zeigt, dass Ihr die Kraft habt, das einmal<br />

Geschaffene zu erhalten, trotz aller Stürme. Setzt Eure ganze<br />

Energie daran, die Summen aufzutreiben, welche zur Herausgabe<br />

der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong> "<br />

162<br />

nötig sind.<br />

Rafft Euch auf, zeigt, dass Ihr wirklich Kämpfer seid, Kämpfer,<br />

welche gern und freudig bereit sind, für ihre Ideale Opfer zu bringen.<br />

Und wenn nur der ernste Wille vorhanden ist, dann findet sich<br />

auch ein Weg! Zaudert nicht mit Eurer Hilfe; bedenkt, dass Tin-,<br />

indem Ihr gebt, für unser Ideal, für die Anarchie wirkt!<br />

Beherzigt das Wort: Doppelt gibt, wer schnell gibt. Die<br />

„<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" wird nicht verfehlen, ihren Dank abzustatten,<br />

indem sie vorangehen wird im Kampfe gegen alle unsere Feinde, im<br />

Kampfe für dieses hohe Ideal: die Anarchie.<br />

Genossen! Unterstützt uns in diesem Kampf, werbt und wirkt<br />

für die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" und sendet Eure freiwilligen Spenden<br />

an die Adresse des Genossen: Herrn. Mertins, Berlin NW., Werftstrasse<br />

<strong>2.</strong><br />

Die Geschäftskommission.


163<br />

Moral und freiheitlicher Sozialismus.<br />

Aus "The Albany Review". Sept. <strong>1907</strong>.<br />

Die Tendenz der Evolutionstheorie, wie sie den menschlichen<br />

Gedanken durchdringt, ist es, Grenzlinien zu verwischen —: die<br />

alten Linien formaler Klassifikation. Heute stellen wir jene Tiere,<br />

die Hörner oder gespaltene Hufe haben, nicht mehr als eine besondere<br />

Klasse zur Seite, weil wir erkennen, dass fortlaufende Abstammung<br />

und enge Verwandtschaft Beziehungen zwischen ihnen<br />

herstellen, welche durch Hörner oder Hufe nicht festgelegt werden<br />

können. Und aus einem nicht ganz ungleichen Grunde besitzt der<br />

moderne Gedanke, basierend auf der Entwicklungstheorie, die Tendenz,<br />

die harten und festen Linien zwischen moralischem Recht und<br />

Unrecht zu verwischen; diese alte formale Klassifikation der ihrer<br />

Natur nach entweder guten oder schlechten Handlungen.<br />

Gedanke und Religion des fernen Ostens, zum mindesten Indiens,<br />

verwischten diese Linien bereits längst. Ihre Philosophie war<br />

in der Tat basiert auf der Entwicklungstheorie — der fortlaufenden<br />

Entwicklung, der Emanation des Vielseitigen aus dem Einen. Darum<br />

konnte diese Auffassung nicht irgend eine Klasse von Wesen oder<br />

Geschöpfen als wesentlich schlecht, oder irgend eine Klasse von<br />

Handlungsweisen als wesentlich unrecht erachten, da ja alle einer<br />

gemeinschaftlichen Wurzel entsprangen. Das einzige wesentliche<br />

Uebel war die Unwissenheit (avidya), somit die Tatsache, dass<br />

das Wesen oder Geschöpf seinen Ausfluss aus, seine Verwandtschaft<br />

mit dem All nicht wusste oder bemerkte; und freilich, eine jede<br />

Handlung, die vollbracht wurde unter dem Einflüsse dieser Avidya<br />

war, wenn äusserlich noch ganz korrekt, wesentlich unrecht. Während<br />

anderseits sämtliche Handlungen, welche von Wesen ausgeführt<br />

wurden, die sich derselben vollständig bewusst waren und<br />

ihren Zusammenhang mit dem einen universellen All begriffen, notwendigerweise<br />

richtig und recht waren.<br />

Uebermässig viele Beispiele von dieser Stellungnahme gegenüber<br />

Recht und Unrecht haben wir in den Büchern der Upanishad.*) Die<br />

Wahl des Weges liegt nicht zwischen Gut und Böse, wie sich das<br />

Problem in dem bekannten Werk Bunyan's „Des Pilgers Fortschritt"<br />

darbietet, sondern es liegt höher und in einer jenseits beider gelegenen<br />

Region. „Durch den heiligen Ernst seiner Gedanken löscht<br />

ein Mensch alle seine Handlungen, ob gut oder schlecht, aus."*<br />

„Er kränkt sich nicht mit dem Gedanken: Weshalb tat ich nicht, was<br />

gut ist; weshalb tat ich, was schlecht ist?"** Ja, in der Tat, selbst<br />

alle Religionen — gerade durch den Umstand, dass sie Religionen<br />

— haben eine über der gebräuchlichen Moral gelegene Sphäre angedeutet,<br />

zu welcher ihre Anhänger emporstreben müssen und sollen.<br />

*) Maitrayana-Brahmana-Upanishad, VI. 34, 4.<br />

**) Taittiriyaka-Up. II. 9, usw.


164<br />

Was anderes ist sonst St. Paul's wiederholte Mahnung, der Herrschaft<br />

der Sünde und des Gesetzes zu entfliehen, um einzutreten in<br />

die glorreiche Freiheit der Kinder Gottes? Und in allen Zeitaltern<br />

haben die grossen Mystiker — diejenigen, welche an dem Springquell<br />

der Entwicklung und des Ausganges standen — dasselbe gesehen<br />

und gesagt. So spricht Spinoza: „In Bezug auf Gut und Böse<br />

besagen diese Bezeichnungen an und für sich in allen Fragen nichts<br />

Positives; noch sind sie etwas anderes als Gedankenarten, Anschauungen,<br />

die wir durch die und aus den Vergleichen der einen Sache<br />

mit einer anderen bilden. Denn eine und dieselbe Sache mag zu<br />

gleicher Zeit beides, gut und böse, oder keines von beiden sein."***<br />

Damit — durch diese so vieles enthaltenden Worte — gelangen<br />

wir tatsächlich zur Wurzel des Problems. Eine Sache, eine<br />

Handlungsweise mag gut oder schlecht genannt werden in Bezug<br />

auf einen gewissen Zweck oder Ziel; nicht aber an und für sich.<br />

Wein mag gut sein für die Steigerung der Soziabilität, jedoch schlecht<br />

für die menschliche Leber. Der Sabbath mag als eine wohltuende<br />

Einrichtung von einigen Gesichtspunkten aus erklärt werden, nicht<br />

von anderen. Eine skrupulöse Achtung vor dem Privateigentum<br />

kann gewiss eine Hilfe für das geregelte soziale Leben sein; doch<br />

auch die Praxis des Diebstahls — wie Plato sie befürwortete —<br />

mag recht nützlich sein, um die Gelüste des grössten Reichtums zu<br />

zügeln. Vom Wein zu sagen, er sei seinem Wesen nach gut oder<br />

schlecht, ist offensichtlich absurd; ganz ebenso mit dem etwaigen<br />

Respekt vor Privateigentum und dem Sabbath. Alle diese Dinge<br />

sind gut unter bestimmten Umständen und für gewisse Zwecke,<br />

schlecht unter anderen Umständen oder für andere Zwecke. Allerdings<br />

geht es leider und gehört mit zur brutalen veräusserlichenden<br />

Geistestendenz der Menschen, das wirkliche materielle Ding -<br />

das eigentlich nur das Bewegungsmittel des Geistes sein sollte —<br />

festzulegen und ihm einen bestimmten Charakter, einen Kultus des<br />

Guten oder Bösen beizulegen. Der Sabbath hört auf, für den Menschen<br />

gemacht worden zu sein, der Mensch ist für den Sabbath gemacht.<br />

Gesetz, Gewohnheit, Pharisäertum und selbstische Rechthaberei<br />

kommen auf und usurpieren das Gebiet der Moral; und<br />

alle Geschichte der wilden und zivilisierten Nationen mit ihren endlosen<br />

Fetischen, ihrem Tabus, ihrem Aberglauben und den Zeremonien,<br />

Kastenbezeichnungen und kleinlichen Vorschriften und Eigentümeleien<br />

— einschliesslich des bitteren Zornes über jene und der<br />

Ersetzung all jener, die sich ihnen nicht beugen — sind nur ebenso<br />

viele Illustrationen zu diesem Prozesse.<br />

Alle die Propheten und Heilande der Welt waren stets für den<br />

Geist, im Gegensatz zum Buchstaben; und die Lehren aller Religionen<br />

sind wieder ihrerseits buchstäblich ausgelegt und fossilisiert<br />

geworden! Vielleicht hat es nie einen grösseren Anti-Buchstaben-<br />

***) Spinoza's Ethik, IV. Teil.


165<br />

menschen als Jesus von Nazareth gegeben und doch, vielleicht ist<br />

keine Religion mehr eine Formelsache und Dogma geworden, als<br />

jene, die unter seinem Namen einherschreitet. Selbst seine Ratschläge<br />

der Mildtätigkeit und Liebe — die, man hätte es denken<br />

sollen, dieser Entwicklungsweise entgehen würden — selbst sie<br />

sind korrumpiert geworden zu blossen Moralvorschriften, wie jene<br />

der Widerstandslosigkeit und des philantropischen Altruismus es<br />

sind.<br />

Es erscheint wirklich sehr merkwürdig, dass ein so grosser<br />

Mensch wie Tolstoi sich zu diesem Prozess hergab: zu der positiven<br />

Festlegung des ausgezeichneten Geistes des Christus — der,<br />

beiläufig bemerkt, Mensch genug war, um die Geldwechsler aus<br />

dem Tempel zu treiben — auf eine blosse Formel, wie jemand eine<br />

Schutzmarke auf eine etiquettierte Karte befestigen würde: „Du sollst<br />

keine Gewalt gebrauchen! Du sollst kernen Widerstand leisten!"*)<br />

Ununterbrochen sich an eine einzige Formel zu halten, bedeutet nur,<br />

dem Uebel unter einer anderen Gestalt Eingang zu gewähren, gegen<br />

die die Formel sich nicht vorbereitet hatte; indem man den Prügel<br />

aufgibt, bedeutet das, seine Zuflucht, zu Vorwürfen und Sarkasmus<br />

als Selbstverteidigung zu nehmen, die grösseren Schmerz, eine tiefere<br />

Wunde, in manchen Fällen grössere Verletzungen verursachen<br />

mögen, als der Stock dies getan. Oder wenn man die Selbstverteidigung<br />

in irgend einer Form vollständig aufgibt, dann bedeutet<br />

dies nur, zu resignieren und seinen Platz in der Welt völlig zu verlassen.<br />

Das Gleiche gilt von dem etwas flüssigen Altruismus, welcher<br />

seiner Zeit sehr befürwortet wurde als Verhaltungsmaxime. Denn<br />

es ist beständig eine notorische Erscheinung, dass die besonders<br />

altruistischen Leute gewöhnlich peinlich nüchtern und uninteressant<br />

sind, bei weitem weniger Leben und Anmut für ihre Umgebung bedeuten,<br />

als viele, die sich freimütig als egoistisch bekennen. Indem<br />

sie also auf diese Weise eine Altruismusformel befolgen, scheint<br />

es, dass sie gerade dasjenige Werk zertrümmern, dessen Schöpfung<br />

sie sich vornehmen; nämlich die Welt freudiger und heller zu<br />

machen!<br />

Gegen diese Schwächen des Christentums bildete Friedrich<br />

Nietzsche eine gesunde Reaktion. Er war es, der darauf bestand,<br />

dass die Begriffe des Guten und Bösen auf ihren richtigen Gebrauch<br />

*) Wir müssen hier auf einen gebräuchlichen und weit verbreiteten<br />

Irrtum aufmerksam machen, dem, wie es scheint, auch ein so illustrer Kopf<br />

wie Carpenter verfällt. Aus diesem geht deutlich hervor, dass letzterer<br />

sich gegen Tolstoi's angebliche Widerstandslosigkeit kehrt. Nun ist es<br />

aber eine Tatsache, dass es irrtümlich ist, Tolstoi eine solche nachzusagen,<br />

denn dieser hat dies nie vertreten, wenigstens seit den letzten zwei Jahrzehnten<br />

nicht Tolstoi's taktischer Standpunkt ist nicht jener der Widerstandslosigkeit,<br />

sondern des passiven Widerstandes Dies ist ein ganz eminenter<br />

Unterschied, der leider in der Hitze der Diskussion häufig übersehen<br />

wird. — Die Red.


166<br />

zurückgeführt werden sollten; als Beziehungsbegriffe. "Gut" —<br />

wofür? „Böse" — wofür? Doch seine Reaktion gegen einen kränkelnden<br />

Altruismus und gegen Widerstandslosigkeit führten ihn zu<br />

einem Abgrund in der entgegengesetzten Richtung, zur Errichtung<br />

der Gewaltanbetung als fast einer Formel. Du sollst Gewalt anwenden!<br />

Du sollst Widerstand leisten! Seine Verachtung für die<br />

Schwachen, Schwankenden, Kleingeistigen und Betrüger ist erfreulich<br />

und interessant und — wie ich konstatierte — gesund im<br />

Sinne der Auflehnung. Allein, man erhält durch Nietzsche keine<br />

sehr deutliche Vorstellung davon, wozu die Kraft, die er verherrlicht,<br />

ist; wohin sie uns geleiten wird. Seine blonden Bestien und<br />

lachenden Löwen mögen uns den Willen zur Macht darstellen, doch<br />

Nietzsche scheint es selbst gefühlt zu haben, dass diese letzteren<br />

allein nicht genügen, und so ging er weiter und gelangte zu seiner<br />

Entdeckung oder Erfindung des Uebermenschen, d. h., eines kindlichen<br />

Wesens, das ohne Argumente etwas behauptet und erzeugt,<br />

vor welchem Einrichtungen und Gesellschaftsgebräuche sich auflösen,<br />

als wie ganz von selbst. Es war dies der Geisteswurf eines.<br />

Genies; doch das* zugestanden, so verbleibt es doch immer noch<br />

zweifelhaft, was die Beziehungen solcher Uebermenschen zu einander<br />

sein sollen und ob sie — wenn ihnen eine gemeinsame Auffassung<br />

der Lebensquelle mangelt — durch ihre Handlungen sich<br />

nicht gegenseitig aufheben und vernichten würden.<br />

Augenscheinlich sah Nietzsche, dass es ein Leben gibt, eine<br />

Lebensinspiration jenseits von Gut und Böse. Doch aus irgend<br />

welchem Grunde — vielleicht teilweise wegen der natürlichen<br />

Schwierigkeiten, die der Gegenstand bietet; vielleicht auch, weil der<br />

Gedanke des Ostens nicht ganz dasjenige vertrat, was er ausdrücken<br />

wollte — konstatierte er das Problem niemals präzise und<br />

bestimmt, und seine Grundzüge des Uebermenschen bleiben ungenau<br />

und ungewiss, unbestimmt und verschieden ausgelegt durch Anhänger<br />

und Kritiker.<br />

Die Frage erhebt sich: Wessen bedürfen wir? In dieser Hinsicht<br />

befinden wir uns heute in einer sehr zweifelhaften Lage. Die<br />

alten Moralkodexe liegen im Sterben; die zehn Gebote rufen nur eine<br />

sehr bedingte Zustimmung hervor; die christliche Religion als<br />

wirkliche Inspiration des praktischen Lebens und Gebahrens ist tot;<br />

die sozialen Konventionsgebräuche und die öffentliche Meinung verbleiben:<br />

schwach ihre Galle in Bewegung, versetzend und offiziös.<br />

Was sollen wir tun? Sollen wir die alten Kodexe zu neuem Leben<br />

erwecken, trotzdem wir zum grössten Teil aufgehört haben, an sie<br />

zu glauben, um bloss einen Kodex zu haben? Oder sollen wir sie<br />

endgültig fallen lassen?<br />

*) Man erinnere sich, dass Nietzsche uns drei Verwandlungsstufen des<br />

Geistes zeigt: erstens das Kameel, zweitens den Löwen, drittens das Kind.<br />

Der Uebermensch stimmt in seinen Eigenarten mit dem letzteren überein..


167<br />

Gewiss, wenn wir einmal das bestimmt haben, was der Endzweck<br />

oder das Leben des Menschen ist, dann können wir auch<br />

sagen, dass dasjenige, was für diesen Zweck gut, ist auch sonst<br />

endgültig „gut", was für diesen Zweck schlecht, ist auch sonst endgültig<br />

„schlecht".. Die Philosophie des Ostens, deren Endzweck das<br />

Aufgehen des Menschen in Brahma ist, erklärt sämtliche Handlungen<br />

—. selbst die heiligsten — für schlecht, die vom individuellen<br />

Selbst, losgelöst von Brahma, getan werden; sämtliche Aktionen als<br />

gut, die in einem Zustande des „Vidya" oder bewusster Vereinigung<br />

vollbracht werden. Hier aber entgehen diese Zustände, trotzdem<br />

ein endliches Gut und Böse — wie es im Vidya und Avidya besteht<br />

— zugestanden und anerkannt werden, dennoch irgend einer<br />

bestimmten äusserlichen Regel der Klassifizierung.<br />

Gilbert Chesterton, ein englischer Schriftsteller und Journalist,<br />

behandelte vor kurzer Zeit dieses Problem im Laufe einer kritischen<br />

Besprechung des Oragé'schen Buches über Nietzsche, und er<br />

meinte, dieses ganze Gerede über „jenseits von Gut und Böse" sei<br />

Unsinn;* dass wir irgend einen moralischen Massstab haben müssten,<br />

schliesslich und endlich ein wie immer gearteter solcher Massstab,<br />

selbst der schlechteste, besser wäre als keiner. Jedermann kann bezeichnen,<br />

was er damit meint. Es ist im gewissen Sinne vollkommen<br />

wahr, dass das Geschirr, die Zügel und Scheuklappen einen<br />

grossen Teil der Welt auf dem alten, ausgetretenen Pfad erhalten,<br />

sie vor dem Abgrund bewahren und dass man stets Leute finden<br />

würde, die, statt lieber ihre höheren Eigenschaften zu gebrauchen,<br />

diesen äusserlichen Führern ihr Vertrauen schenken. Doch eine<br />

solche Erlösung durch Scheuklappen noch zu ermutigen — scheint<br />

mir das gerade Gegenteil von dem zu sein, was man tun sollte.<br />

Wer könnte wirklich die Frage stellen, ob eine Erlösung durch solche<br />

Mittel überhaupt eine Erlösung ist — ob der Abgrund des Nichts<br />

nicht weit besser wäre?<br />

Ausserdem: was können wir tun? Es ist nicht so sehr, dass<br />

wir mit Vorbedacht die bestehenden Sittenlehren verlassen, als dass<br />

sie uns verlassen! Mit dem stufenweisen Einsickern neuer Ideen,<br />

des östlichen Gedankens, der darwinistischen Philosophie, von Gebräuchen<br />

und Glaubensbekenntnissen von Rassen, die anders sind<br />

als die unserige, ist es nicht schwierig zu sehen, dass in noch einer<br />

kurzen Weile es unmöglich sein wird, irgend einen der alten Moralkodexe<br />

zu rehabilitieren, ihnen eine Heiligsprechung oder auch nur<br />

das Gefühl der Ehrfurcht in der öffentlichen Meinung zu verleihen.<br />

Sollten wir mit Herrn Chesterton darin erfolgreich sein, das Alte<br />

für kurze Zeit aufzublähen — nun, es wäre nur für eine kurze Zeit.<br />

Die Frage ist: ob nicht wirklich die Zeit gekommen, da wir<br />

uns erheben sollen, als vernünftige Männer und Frauen, um zu leben<br />

ohne Vorschriften; ob wir uns nicht endlich selbst vertrauen können,<br />

*) Daily News, 29. Dezember 1906


168<br />

die Scheuklappen von uns werfen sollen?! Das Problem ist: ob<br />

wir nicht jenes solide und zentrale Leben verwirklichen können,<br />

das allen Gesetzen als Grundton dient, sie aber übersteigt? Denn<br />

wahrlich, wenn wir das nicht können, ist unsere Lage eine bemitleidenswürdige;<br />

dann haben wir aufgehört, an den Buchstaben der<br />

Moral zu glauben, sind aber dennoch unfähig, ihren Geist zu finden!!<br />

Hier ist es somit, wo die neue Moral auftritt, wie sie mehr<br />

oder minder klar verstanden und ausgedrückt wird von den fortschrittlichen<br />

Gruppierungen unseres Tages. Der moderne freiheitliche<br />

Sozialismus, indem er in seiner Konsequenz eine der Philosophie<br />

des Ostens etwas ähnliche Stellung einnimmt, sagt: In ihrem<br />

Wesen ist die Moral kein Kodex, sondern einfach die Verwirklichung<br />

des gemeinschaftlichen Lebens; und das ist eine Sache, die<br />

nicht fremdartig und befremdend für die Menschheit, sondern ihr<br />

sehr fruchtbar und natürlich ist: — eine Sache, die so natürlich ist r<br />

dass sie ohne alle Fragen weit mehr zu Tage träte, als es der Fall,,<br />

wenn nicht die Einrichtungen und Lehren der westlichen Zivilisation<br />

die Tendenz besässen, sie unaufhörlich zu verleugnen und zu<br />

entstellen. Diesen Instinkt gemeinschaftlichen Lebens zu befreien,<br />

von harten und ihn verkrüppelnden Gesetzen freizulösen, ihn seine<br />

eigene Form oder verschiedenartige Formen nehmen zu lassen — beruhend<br />

auf und natürlich variiert durch das persönliche und selektive<br />

Element der Zuneigung und Sympathie — das ist die grosse Hoffnung,<br />

welche heute vor der Welt liegt, der Lösung aller moralischen<br />

und sozialen Probleme harrt.<br />

Je mehr diese Position überdacht wird,desto mehr, so glaube<br />

ich, wird sie sich selbst befürworten. Der Begriff des Gemeinschaftslebens,<br />

des Gemeinwohles, des Menschheitsinstinktes, der<br />

allgemeinen Hilfsbereitschaft sind Dinge, welche nach allen Richtungen,<br />

durch jede Fiber des individuellen und sozialen Lebens laufen<br />

— ganz wie sie es auch tun im Falle sonstiger fleischfressender<br />

Tiere. Auf tausenderlei Arten: durch Vererbung und den Umstand,<br />

dass das Blut gemeinsamer Vorfahren in unseren Adern kreist,<br />

mögen wir auch Fremde sein, die auf der Strasse an einander vorbeigehen;<br />

durch die Psychologie, die Aehnlichkeit der Struktur und<br />

Ganglinien unseres Gehirns; durch soziale Vergliederungen, die Notwendigkeit<br />

eines jeden und aller, die ökonomische Wohlfahrt der anderen<br />

zu fördern; durch persönliche Zuneigung und die Bande des<br />

Herzens; wie auch durch jenes mystische und religiöse Element,<br />

welches, tief untertauchend unter das rein Persönliche, den unendlichen<br />

Strom ewigen Seins begreift —: auf solche und auch andere<br />

Weisen zwingt uns das Gemeinschaftsleben, es als Tatsache anzuerkennen;<br />

vielleicht als die fundamentalste Tatsache unserer<br />

Existenz.<br />

Diese einfache fundamentale Tatsache, alle ihr entfliessenden<br />

Konsequenzen jedem Kinde zu zeigen, zu lehren — nicht nur als<br />

Theorie, sondern als praktische Gewohnheit und Inspiration des Ge-


169<br />

bahrens — ist nicht wirklich schwierig, vielmehr leicht. Kinder,<br />

in deren Wesenheiten diese Begriffe eingewoben werden, wachsen<br />

heran in ihrem Geiste und seiner praktischen Gewohnheitsbetätigung<br />

und besitzen solchermassen die Inspiration all dessen, was wir<br />

Moral nennen;, und das weitwirksamer, als es sich durch ungleiche<br />

Grundsätze aus Schreibheften erreichen lässt. Achtung vor Wahrheit,<br />

liebreiches Verhalten gegenüber Eltern und Alten, Achtung vor<br />

vernünftigen Eigentumsstücken, vor Würden, Bequemlichkeiten anderer,<br />

wie auch gegenüber den eigenen Bedürfnissen und Würden,<br />

werden vollkommen natürlich und gewohnheitsgemäss. Und dass<br />

dies nicht etwa eine blosse Hypothese ist, das beweist uns das neuliche<br />

Beispiel Japans, woselbst alle die Kleinen so sehr vollgetränkt<br />

von dem Gefühl der Gemeinschaft werden, dass es als ein Privilegium<br />

betrachtet wird, sein Leben für sein Vaterland hingeben zu<br />

können.**) Ich behaupte, dass die allgemeinen Grundlinien der Moral<br />

gesichert und weit gesicherter sein würden, als sie es gegenwärtig<br />

sind, könnten wir unsere Kinder nur in einer solchen erziehlichen<br />

und praktischen Atmosphäre der Solidarität aufbringen, die<br />

der freiheitliche Sozialismus und die ökonomische Bewegung der<br />

Zeit überhaupt verlangen.<br />

Auf solcher Grundbasis würden, wie ich schon bemerkte, die<br />

persönliche Zuneigung und Sympathie einen eigenen Ueberbau ganz<br />

eigener Art errichten. Sie würden die Grundzüge einer weit schöneren,<br />

kraftvolleren und intimer verbundenen Gesellschaft entwerfen,<br />

als es die gegenwärtige, auf geschäftlichen Barzahlungen begründete<br />

ist; ähnlich wie, sagen wir, die athenische Gesellschaft des Periklesschen<br />

Zeitalters jener von Lapithae, der zuerst das Pferd zähmte,<br />

überlegen war.<br />

Während das allgemeine Leben: gleichartig, allesumfassend,<br />

in gewissem Sinne nicht unterschiedlich, eine grosse Sache ist,<br />

die anerkannt werden muss, ist auch die persönliche Liebe und Zuneigung:<br />

wählend, selektiv, jenem Leben Grundzug und Form bietend<br />

— gleichfalls eine ebenso unleugbare, ebenso heilige Tatsache;<br />

eine, welche vereint mit der anderen akzeptiert werden muss.<br />

Ich sage ebenso heilig. Denn es gab eine Tendenz, — unzweifelhaft<br />

erfolgend durch gewisse Ursachen — die auf persönliche<br />

Gefühle in ihren verschiedenartigen Formen, von flüchtiger<br />

Sympathiezuneigung bis zu den stärksten Leidenschaftsmächten, als<br />

auf zweifelhafte Charakteristiken blickte, die im günstigsten Fall eine<br />

liebenswürdige Schwäche wären, die man jedoch nicht zu ermutigen<br />

brauche. In einer seiner Schriften stellt uns Tolstoi den Fall eines<br />

kleinen Haushaltes während einer Hungersnot dar, der nicht genügend<br />

Brot besitzt, um seinen eigenen Bedürfnissen genügen zu<br />

**) Viele Japaner verübten Selbstmord, weil man es ihnen nicht gestattete,<br />

an dem russischen Kriege teilzunehmen. Vgl. auch Lafcadio Hearn's<br />

Beschreibung der gewohnheitsmässigen Würde und Höflichkeit des japanischen<br />

Jünglings. (Life and Letters, Bd. 1, Seite 112, 113)


170<br />

können. Da kommt ein fremdes Kind an die Tür und bittet um<br />

Brot. Tolstoi suggeriert uns nun, dass die Mütter die spärliche<br />

Kruste von ihrem Kinde nehmen sollte, um damit das fremde Kind<br />

zu nähren, od6r wenigstens das Brot Zwischen beiden Kindern zu<br />

gleichen Teilen zu verteilen. Allein solch eine Folgerung erscheint<br />

mir als sehr zweifelhaft.<br />

Was immer das Wörtlein „sollte" in Verbindung mit einer solchen<br />

Situation bedeuten möge, jedenfalls wissen wir es ziemlich genau,<br />

dass solches niemals die Handlungsweise des menschlichen<br />

Lebens sein wird; wir könnten fast sagen: sein kann. Vielleicht<br />

wären wir gleichmässig berechtigt zu sagen: niemals sein „sollte"!:<br />

Denn es ist handgreiflich, dass es Vorzugserteilungen, Selektionen<br />

geben muss. Unsere Zuneigungen, Anziehungskräfte, Sympathien<br />

und Leidenschaften sind uns doch nicht gegeben für nichts und ohne<br />

Zwecke. Es ist nicht ohne bestimmten Zweck, dass jede individuelle<br />

Person, jeder Bäum, jedes Tier eine Form, eine ganz besondere<br />

eigene Form besitzt. Wäre es nicht so, dann wäre die Welt unendlich,<br />

unbegreiflich öde. Und doch, zu verlangen, dass eine Mutter<br />

in allen Fällen fremde Kinder behandeln soll, wie ihre eigenen,<br />

dass ein Mensch aus der ozeangleichen Menge keinen besonderen<br />

bevorzugten Freund sich heraussuchen dürfen, sondern alle gleichmässig<br />

lieben sollte, ist gleichbedeutend damit, zu verlangen, dass<br />

alle diese Leute in ihrer geistigen und moralischen Art werden sollten<br />

wie eine Molluskenmasse: — ohne bestimmte Form oder Zufriedenheit,<br />

weder mit sich noch mit irgend einem anderen. Tiefsinnig<br />

und unerlässlich, wie das Gesetz der Gleichheit allen menschlichen<br />

Lebens ist, also das Gesetz, dass es für alle menschlichen<br />

Wesen irgend ein Gebiet gibt, auf dem sie sich in ihrem gleichen:<br />

und gemeinschaftlichen Leben berühren, so ist auch das andere Gesetz,<br />

jenes der individuellen Auswahl, unerlässlich. Versuchten wir<br />

es, alles auf das Niveau eines einzigen Motives des Allgemeininteresses<br />

herabzumindern, wir würden vielleicht eine vollkommene<br />

Moral erhalten; doch wäre es eine Moral, die hölzern, hart und<br />

öde, ohne Form und Züge. Versuchten wir nun diesen Standpunkt<br />

aufzugeben und uns dem andern zuzuwenden, eine Gesellschaft nur<br />

auf der Grundlage individueller Affektion und Liebe, individueller<br />

Initiative, ohne Moral zu begründen — und wir würden eine fluchtartige,<br />

unbeständige Sache erhalten, ohne Beständigkeit oder<br />

Rückgrat.<br />

Meine Behauptung ist somit, dass unsere Hoffnung auf die-<br />

Zukunft sich auf die Verkörperung dieser zwei grossen Prinzipien<br />

gründet: Erstens auf die Anerkennung des Gemeinschaftslebens,,<br />

das die Grundelemente einer allgemeinen Moralität vorsieht; zweitens<br />

auf die Anerkennung individueller Affektion und ihres<br />

Ausdrucks — in einem viel höheren Grade als bislang — die die höhere<br />

Gruppierung und feineren Strukturformen des Lebens aufbauen<br />

werden. Und insofern, als die erste Grundlage uns mit


171<br />

einem solideren Moralfundament vorsieht, als wir es bislang belassen,<br />

wird es a,uch möglich sein, derem zweiten Grundprinzip<br />

eine Aktinisweite und Freiheit zu bieten, wie sie bislang weder versucht<br />

wurden noch ihnen Vertrauen entgegengebracht ward.. Gemeinsam<br />

mit der Stärkung, dieser Solidaritäts- und Affektionsprinzipien<br />

des Gesellschaftslebens muss selbstredend die Stärkung der Individualität<br />

erfolgen: das Recht und der Wunsch eines jeden Individuums<br />

seine eigene, ihm eigentümliche Gestalt oder Form zu bewahren<br />

und zu entwickeln, auf diese Weise beizutragen zum Reichtum<br />

und dem Interessanten der Gesellschaft; und dies involviert das Recht<br />

des Widerstandes und (noch einmal) die Schiebung der Widerstandslosigkeitsformel<br />

in den Hintergrund, als einer sehr schleimigschlüpfrigen<br />

Moral.<br />

Immerhin führen uns diese Erwägungen allzuweit hinweg von<br />

dem besonderen Gegenstand unserer Betrachtung. Ich führe sie<br />

hauptsächlich deshalb an, um zu zeigen, dass während wir die Moral<br />

als Grundelement der Gesellschaft betrachten, wir niemals das Moment<br />

aus dem Auge verlieren sollen, dass sie nicht das einzige Element<br />

und dass sie, die Moral, verhältnismässig sinnlos und zwecklos sein<br />

würde, wollte man sie nicht anpassen, paaren und vervollkommnen<br />

mittels der übrigen Gesellschaftselemente.<br />

Es wird somit die Methode der neuen Moral sein, sämtliche<br />

Formeln zu verwerfen — sie höchstens als Illustrationsbilder zu verwerten<br />

— die Kinder — indirekt alle Erwachsenen — zu erziehen<br />

in solchen Verhältnissen übeffliessenden Lebens und der Gesundheit,<br />

dass ihre Sympathien — natürlich überquellend für diejenigen<br />

um sie herum — sie veranlassen werden, auf die dringendste Art<br />

sich als organischen Teil eines grossen Ganzen der Gesellschaft zu<br />

betrachten. Und dies nicht so sehr als intellektuelle Theorie, mehr<br />

als gebieterische Bewusstseinsfülle und fundamentale Tatsache<br />

ihrer ganzen Existenz.<br />

Dies sollen wir als die Basis unserer Lehren nehmen! Machen<br />

wir es ihnen begreiflich — durch alle Arten von Gewohnheit und<br />

Beispiel — dass andere zu verletzen oder zu betrügen, sich selbst<br />

zu verletzen bedeutet; dass anderen zu helfen, in irgend einer Weise<br />

unser inneres Leben befriedigt und befestigt. Lassen wir sie lernen,<br />

während sie aufwachsen, alle menschlichen Wesen, ganz einerlei<br />

welcher Rasse oder Klasse, als Zwecke in und für sich selbst zu<br />

betrachten, sie nie zu werten als blosse Dinge oder leiblich geeignete<br />

Wesen, die man gebrauchen kann für eigennützige Zwecke. Mögen<br />

sie lernen, gleicherweise auf Tiere zu blicken, als auf Wesen, die<br />

ebenfalls die grosse Leiter der Schöpfung emporklimmen, Wesen,<br />

mit denen wir Menschen auch Gemeinschaftliches an Geist und<br />

Interesse besitzen. Und lassen wir sie lernen, sich selbst als wertvolle<br />

und unentbehrliche Mitglieder des grossen sozialen Körpers<br />

zu betrachten. Auf diese Art wird eine wahre Moral sich etablieren;<br />

eine Moral, die bei weitem aufspürender, andere bedenkend, an-


172<br />

schmiegungsfähiger und echter ist, als jene des heutigen Tages, eine<br />

Moral des gesunden Menschenverstandes, können wir sagen; aber<br />

auch eine Moral ohne Moralkodex, ohne bestimmte und begrenzte<br />

Formeln.*)<br />

Und sollte es abermals gesagt werden, dass eine Moral dieser<br />

Art, welche nur auf einem Prinzip, und einer geistigen Haltung beruht,<br />

eine Gefahr sei, dann wollen wir einhalten für einen Moment<br />

und betrachten, um wie viel gefährlicher eine Moral ist, die auf<br />

Formeln beruht und von ihnen abhängen soll. Wenn die Moral ohne<br />

Vorschriften eine ernste Sache, um wie viel ernster ist eine solche,<br />

die zugenagelt ist in und von den Vorschriften? Denn wenn wir zurück<br />

auf die Lehren der Geschichte blicken, dann würde es manchmal<br />

scheinen, als ob die „schwarz und weiss", die „dieses Ding ist<br />

gut, jenes schlecht"-Moral die schrecklichste Sache der Welt gewesen<br />

wäre. Diese Moral war eine Entschuldigung für alle teuflischen Taten<br />

und nur ausdenkbaren Verfolgungen. Eine Moral über den Sabbathtag<br />

eine Formel über Hexerei, eine Formel über die Ehe — ganz ungeachtet<br />

der wirklichen menschlichen Beziehungen — eine Formet<br />

über den Diebstahl — ganz ungeachtet der dringenden Dürftigkeit<br />

des Diebes — und über das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen;<br />

Hängen, Torturen ohne Gnade! Das Schreckliche dieser Rechtoder<br />

Unrechtsmoral ist nicht nur, dass sie zu solch schrecklichen.<br />

Rachetaten greift, sondern dass sie sowohl dem Opfer als auch Bedrücker<br />

die unleidige Ansicht einprägt, dass eine gewisse Sache recht<br />

oder unrecht sei, und was man tun müsse, darin bestehe, sich selbst<br />

zu retten — zwei Ansichten, die beide durch und durch direkt gegen,<br />

jede wahre Moral sind.<br />

Angenommen, ein Knabe spricht eine Lüge; vielleicht aus<br />

Furcht, vielleicht aus Unachtsamkeit. Er hat eine Formel gebrochen,<br />

übertreten und wird dafür sofort geprügelt. Die Moral: er wird<br />

sich später an wörtliche Wahrheit halten; wird, wie gemein und<br />

schädlich dasselbe auch sein möge, pharisäisch selbstzufrieden sein.<br />

Nie aber wird er begreifen lernen, dass die Wichtigkeit von Wahrheit<br />

oder Lügen nicht in Worten gelegen, sondern im Vertrauen und<br />

Gegenseitigkeitsglauben, die sie entweder erzeugen oder vernichten.<br />

Die ganz eigenartig englische Verehrung der Pflicht öffnet sich hier<br />

dem gleichen Einwurf und Vorwurf …… So prächtig der Begriff<br />

und die Praxis der Pflicht als eine sich selbst anpassende Inspiration,<br />

des Enthusiasmus ist, eine so empörende Sache wird sie,<br />

wenn sie die allzu gemeingebräuchliche Form annimmt: „Ich habe<br />

meine Pflicht getan, ich habe recht gehandelt!" „Ich werde meine<br />

Pflicht tun, was immer aus Dir auch werden mag.'' Kann man sich<br />

*) Man mag diese Moral wirklich in vielem identisch finden mit jener<br />

von Christus. Und doch, bemerkenswert genug, wurde sie niemals ernsthaft<br />

angenommen von irgend einer Kirche. Und was gar die Achtung vor Tieren<br />

als Endzwecke an und für sich anbetrifft, so verwirft, wie ich glaube, die<br />

römisch-katholische Kirche diese Anschauung ganz ausdrücklich.


173<br />

irgend etwas Zersetzenderes für die Gesellschaft vorstellen, etwas<br />

Sichereres, um sie aufzubrechen in einen Staubhaufen von selbstgefälligen<br />

Einheiten, als eine Formel dieser Art? „Es ist meine<br />

schmerzliche Pflicht, Sie zum Tod durch den Strang zu verurteilen!"<br />

sagt der Richter zu dem erbarmungswürdigen Mädchen, das in<br />

einem Wahnsinnsausbruch der Verzweiflung ihren Säugling ertränkte.<br />

Was er damit wirklich gemeint, ist, dass, während er die<br />

Ungeheuerlichkeit des Gesetzes, nach welchem Recht zu sprechen<br />

er geschworen hat, vollkommen erkennt, auch weiss, welche seelentötende<br />

Wirkung sein Urteilsspruch auf das Mädchen haben kann,<br />

er denselben dennoch fällt, um sich zu retten vor der Gefahr,<br />

oder dem Unrecht, das im Gesetzesbruch gelegen sein mag; darum<br />

ist er willenlos und bereit, seinen Urteilsspruch zu verkünden.<br />

„Es ist meine Pflicht, Dich auf dem "Scheiterhaufen zu verbrennen!"<br />

sagte der Inquisitor zu dem Ketzer; in Wahrheit ist der Hintergedanke<br />

der: „Ich fürchte, dass, wenn ich Dich nicht verbrenne,<br />

ich selbst im Jenseits schmoren werde!" —<br />

Je bälder wir dieser Sorte Moral ein Ende machen, desto besser;<br />

dieser Moral, die unter dem Mantel der öffentlichen Wohlfahrt oder<br />

des Urteiles nur an ihre eigene Selbstbeförderung, an ihr Selbstinteresse<br />

denkt, entweder für diese oder für die nächste Welt, und<br />

die in Wirklichkeit gar nicht darauf abzielt, die menschliche Solidarität<br />

zu fördern, sondern sie zu zerstören. Sie läuft und sickert<br />

durch unsere ganze moderne Gesellschaft, vergiftet die Quellen<br />

der Gefühle; sie, diese Moral, die, ihren Hausbedienten deren regulären<br />

Lohn zahlend, mit sich ganz selbstgefällig zufrieden ist und<br />

nun von ihnen ihrerseits erwartet, dass sie ihre Pflicht erfüllen<br />

würden. Die sich aber ausschweigt über die wahren Bedürfnisse<br />

und den Wohlstand dieser Diener. Die Moral, die ihre Lohnarbeiter<br />

wie blosse Maschinen zur Auspressung von Profiten behandelt, jedoch<br />

ihre Augenbrauen verwundert, überrascht hebt, wenn sie sich<br />

aufbäumen gegenüber solcher Behandlung. Die Moral, die den<br />

Verbrecher nur als Person betrachten kann, die eine Formel brach<br />

und deshalb, zurückschlagend, wieder laut einer Formel bestraft<br />

werden muss; ein Schwein als ein Tier, dem man einen Trog mit<br />

Frass vorstellte, wofür man berechtigt ist, es später aufzuessen.<br />

Diese Moral ist pharisäisch, selbstbewusst und selbstsüchtig, materialistisch<br />

bis zum letzten Grade und wirklich unsinnig in all ihren<br />

Ausblicken; diese landläufige Moral ist in der Tat und im ernstesten<br />

Sinne: eine öffentliche Gefahr ....<br />

Halte Dich innerhalb der geschriebenen Vorschriften, innerhalb<br />

der Buchstaben. Sprich stets die nominelle Wahrheit, wer immer<br />

auch darunter leiden möge. Halte die allgemein anerkannte Norm<br />

der Eheschliessung und der Geschlechtsbeziehungen aufrecht; trotzdem<br />

Herzen verbluten und untergehen mögen. Entrichte dem Eigentumsprinzip<br />

jeden Tribut usw. und Du magst die Befriedigung gemessen,<br />

als Stütze der Gesellschaft hingestellt zu werden. Obwohl


174<br />

es deshalb gar nicht weniger wahrscheinlich sein mag, dass Du das<br />

Gesellschaftsleben unterminierst und bis an die Wurzel korrumpierst.<br />

Dein Ausblick hat nur mit der Oberfläche etwas zu tun, dieweil Du<br />

ein tiefgefressenes Uebel übergehst.<br />

Allerdings ist unsere, die neue Mofal — also der Blick auf das<br />

Innere; sich zu fühlen und sich zu beziehen auf die Bedürfnisse anderer<br />

fast ebenso instinktiv als wie zu seinen eigenen; sich zu weigern,<br />

irgend eine Sache an und für sich als gut oder schlecht zu betrachten;<br />

auf alle Wesen, sich selbst eingeschlossen, als auf Endzwecke für<br />

sich selbst zu schauen, nicht als Mittel zu Gunsten persönlicher<br />

Selbstbeförderung und Verherrlichung — während sie die natürlichere<br />

ist, im gewissen Sinne auch die schwierigere, da sie keine<br />

bestimmten Musterzeichnungen oder Gesetze vorsieht. Aber gewiss<br />

— die Zeit ist gekommen für ihre Annahme! Sie ist die Moral,<br />

die die Grundlage der feineren variierten Form der Zukunftsgesellschaft<br />

bilden muss; sie ist die einzige Flucht aus der Korruption<br />

der alten Ordnung.<br />

Um besondere Beispiele zu nehmen! Die Wahrheit in Wort<br />

oder Tat ist — wir alle fühlen dies — sehr richtig und fundamental.<br />

Sie ist die Grundlage der gemeinsamen Verständigung, von<br />

der ich sprach, des Ausdruckes jeder Persönlichkeit und der Anerkennung<br />

anderer. Ein jeder, der von dem Bewusstsein des Gemeinschaftslebens<br />

tiefinnerst durchdrungen, wird notwendigerweise<br />

tiefe Achtung vor der Wahrheit hegen. Er wird gleichfalls Achtung<br />

hegen vor Leben, Eigentum, einem guten Namen, den Gefühlszartheiten<br />

usw., von anderen, wie für seine eigenen, ähnlichen Eigenschaften.<br />

Er wird nicht im Stande sein, im Sinne einer Formel zu<br />

sagen: Niemals werde ich andere betrügen oder eine Lüge sprechen;<br />

niemals werde ich das Leben eines andern Menschen oder Tieres<br />

nehmen usw. Denn er weiss, dass es Situationen gibt, in denen<br />

dieses Leben in ihm aufsteigen, er sich in absoluter Notwendigkeit<br />

befinden mag, dem Rufe nach solchen Aktionen Folge zu leisten,<br />

sie ihn zwingen werden zur Ausführung derselben. Immerhin wird<br />

er im gewöhnlichen Leben all das Ganze des Prinzips erfüllen, das<br />

dieser Formel unterliegt und wahrscheinlich weit gründlicher, als<br />

die Formeln selbst es beanspruchen.<br />

Es ist ähnlich in solchen Dingen wie geschlechtlicher Moral.<br />

Man hört oft Ausbrüche der öffentlichen Meinung wider Darstellungen<br />

des Nackten — augenscheinlich, weil die Leute es befürchten,<br />

dass diese Dinge ihre Leidenschaften erwecken konnten! Ohne<br />

Zweifel, diese Sache mag auch in dieser Richtung wirken. Aber<br />

weshalb, so fragen wir, warum .sollten Menschen sich davor entsetzen,<br />

Leidenschaften zu erwecken, die, alles in allem, die grossen<br />

Triebkräfte des menschlichen Lebens sind? Klar genug, es ist, weil<br />

sie der Meinung sind, dass die anderen Kräfte, die diese Leidenschaften<br />

geleiten, oder ihnen eine hilfreiche und nützliche Richtung<br />

bieten sollten, für diese Aufgabe zu schwach sind. In dieser letzteren


175<br />

Hinsicht sind sie ja im Rechte. Die führenden und verbietenden<br />

Mächte unserer Gegenwartsgesellschaft sind schwächlich, weil sie<br />

nur aus wenigen konventionellen, Formeln bestehen, die schnellstens<br />

unterminiert werden. Wir lassen Dampf in einem Kessel aufsteigen,<br />

der schon lange durch Rost, geborsten ist. Die Heilung<br />

dieser Krankheit liegt nicht darin, den Leidenschaften zu wehren,<br />

oder sie in schwächlicher Weise zu fürchten, sondern darin: neue,<br />

gesunde Bewegungshebel der allgemeinen Moral und des gesunden<br />

Menschenverstandes zu finden, innerhalb welchen diese Leidenschaften<br />

sich betätigen können. Und das ist es, was der freiheitliche Sozialismus<br />

wirklich erstrebt.<br />

Diese Moralität, diese organische, vitale, fast physiologische<br />

Moral des Gemeinschaftslebens — die eine rasche Beantwortung<br />

der Bedürfnisse eines Jeden im Verhältnis zu den Bedürfnissen der<br />

anderen Einzelnen, so ziemlich für den politisch-sozialen Körper<br />

wie für den physischen Körper bedeutet — muss all den Assoziationen<br />

gesellschaftlichen Lebens der Zukunft zu Grunde liegen und<br />

ihre Basis sein. Einmal in solcher Gestalt etabliert, wird es, wie ich<br />

bereits sagte, nicht nur möglich sein, überall um uns herum einen<br />

stärkeren Ausdruck der Individualität erstehen, sondern auch ein<br />

höheres und variativeres, dankerfüllteres Leben für persönliche Gefühlselemente<br />

erstehen zu lassen, das heute, allerdings, wie ein verwundeter<br />

und deshalb toter Organismus daliegt. Die Etablierung<br />

dieser Moral wird, dies ist meine Meinung, das Heraufsteigen einer<br />

Gesellschaftsordnung bedeuten, die die persönlichen Affekte und die<br />

Liebe befreit; die Kräfte befreien wird, die bislang künstlich verkrüppelt<br />

wurden, da ihre Befreiung unsere landläufige Moral von<br />

Formelkram in Fetzen gerissen hätte. Sie bedeutet, so glaube ich, das<br />

Emporsteigen einer Gesellschaft, deren Hauptmotiv nicht länger der<br />

Kampf ums Brot — da dieser ausgeschieden ist durch die enorme<br />

Entwicklung unserer Reichtum erzeugenden Mächte — sondern der<br />

Wunsch der Zufriedenstellung des Herzens sein wird; also, ohne<br />

Zweifel, neue und unvorhergesehene Schwierigkeiten und Leiden<br />

verbreitend, dennoch das Leben erfüllend mit solch schönen Elementen,<br />

dass die Triebkräfte der Geldgier und des sogenannten Gelderwerbes,<br />

die heute die Welt belasten, nur noch wie ein böser<br />

Nachttraum der Vergangenheit sein werden, von dem die Dämmerung<br />

des Morgens uns erlöste.<br />

Der Zweck des Lebens.<br />

I.<br />

Die Frage nach dem Zweck des Lebens ist nicht neu. Sie ist<br />

schon früh im Herzen der Menschheit entstanden. Und dass sie


darin emporkam, ist vollkommen erklärlich. Denn, was liegt näher,<br />

als dass der Mensch, so bald er zu denken anfängt, — hier genommen<br />

im Sinne der primitiv-philosophischen Denkungsart — sich u.<br />

a. auch mit dieser Frage beschäftigt. Eines der ersten Probleme,<br />

die der Mensch sich gestellt haben wird, wird wohl dieses gewesen<br />

sein, das sich noch irrlmer vor das Kind stellt, sobald es anfängt zu<br />

denken; also das Problem hinsichtlich des Ursprungs der Dinge.<br />

„Woher/kommt alles?" so fragt das Kind; so. aber hat auch die<br />

Menschheit gefragt im frühesten Stadium ihrer Entwicklung. Daneben<br />

jedoch wurde bald nachgedacht über den Grund, den Zweck<br />

des Daseins. Es scheint mir, dies alles musste stattfinden und war<br />

gänzlich unvermeidlich. Und wir finden denn auch überall die Spuren<br />

und die Beweise dieser Fragen.<br />

„Wofür bin ich da, und wozu lebe ich?" Man kann nicht anders;<br />

ob denkendes Tier oder Mensch — diese Frage muss gestellt<br />

werden. Und der Mensch wird umsomehr zu dieser Frage gebracht,<br />

je nachdem er mehr oder weniger mit Schwierigkeiten und<br />

Beschwerden zu kämpfen hatte im Leben, und es ihm lästig, ja.<br />

bisweilen unmöglich war, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wird<br />

ihm Enttäuschung zu Teil, hat er mit Hungersnöten zu kämpfen, sieht<br />

er seine Ernte vom Hagelschlag zerstört, oder seine Wohnstätte von<br />

einer Flut verwüstet, trifft ihn ein schwer zu tragendes Leid, hat ei<br />

zu ringen mit furchtbaren Krankheiten und Seuchen: — immer wieder<br />

wird er getroffen werden vom Widerspruch, der da für ihn ist<br />

zwischen der peinlichen Wirklichkeit und dem, was er in sich weiss<br />

als ein lebendiges Bedürfnis, das Verlangen nach Glück. Wir dürfen<br />

nicht aus den Augen verlieren, dass der Mensch danach strebt,<br />

glücklich zu sein; dies ist, was ihm die Hauptsache bildet. Vor<br />

allem können wir den Menschen nennen: „einen Glücksjäger".<br />

Nun ist es wahr, dass er das Glück oft sucht auf eine fremdartige<br />

Weise; dass er Wege betritt, die zu seinem Verderben führen.<br />

Dies nimmt jedoch nichts von dem Umstand, dass, wo mit einigem<br />

Bewusstsein gelebt wird, das Streben nach Glück eine alles andere<br />

überragende Rolle im Leben spielt.<br />

Freilich verknüpft sich nun damit die ewige grosse Unzufriedenheit.<br />

Tausende von Dingen gibt es, die den Menschen hindern,<br />

die seinen Frieden zerstören. Dazu kommt, dass, wenn er schon<br />

meinte, sich das Glück erobert zu haben, neue Bedürfnisse bei ihm<br />

emporkommen und damit verhältnismässig neue Wünsche erwachten<br />

und sein Gleichgewicht wieder zerschmettert, die Harmonie zerstört<br />

wurde, somit das Glück verschwunden ist. Und die Ahnung erwachte<br />

dann, dass das vollendete Glück für den armen Streber nicht<br />

zu finden ist. Was war nun mehr auf der Hand liegend, als dass er<br />

fragen würde: „Wozu lebe ich eigentlich? "<br />

„Was ist der Grund<br />

meines Daseins? "<br />

176<br />

„Warum finde ich das Glück nicht?"<br />

Die ersten Antworten auf diese Fragen verlieren sich im<br />

grauen Altertum, aber dass sie überhaupt gestellt wurden, können


177<br />

wir darum für gewiss halten, weil wir überall bei den Menschen<br />

mehr oder weniger präzise ausgeführte Himmelsbetrachtungen finden.<br />

Und wie können solche entstanden oder wenigstens solche<br />

ausgearbeitet worden sein, ohne dass es ejnen mittelbaren. Rückschlag<br />

auf das sich unbefriedigt fühlende Glücksbedürfnis gegeben<br />

hätte?. Der verwunderte Mensch wollte Gewissheit haben über<br />

sein Glück; jenem Abenteurer sollte es gelingen,, wo nicht in diesem,<br />

wohlan, dann in einem anderen Leben; ein Leben, das anbrechen<br />

würde nach dem Tode in einem, himmlischen Orte, oder,<br />

wie andere es sich dachten, in einer weiten Zukunft, die sich auf<br />

Erden verwirklichen würde.<br />

So haben,die ältesten Skandinavier geträumt von einer neuen<br />

Erde, einer Art zweitem Paradies, wo die Menschheit, durch das<br />

Feuer erneut, glücklich und in Gemeinschaft mit den Göttern lebt; so<br />

hofften die alten Griechen auf eine neue Erde, auf der die Menschheit<br />

leben würde, weit von allem Unglück, sobald dem Reiche des<br />

Zeus und der Olympier ein Ende gemacht und Prometheus entfesselt<br />

sein würde; so glaubte der Parsi, dass ein goldenes Zeitalter<br />

auf Erden anbräche, hervorgegangen aus dem tausendjährigen<br />

Reiche des Hushedar-mah. Während dieses tausendjährigen Reiches<br />

würden die Menschen zurückkehren zur Natürlichkeit des ersten<br />

Menschenpaares. Danach kommt der Erlöser und alle Toten, vom<br />

Protoplasten Gayomard an bis zu dem ersten Menschenpaare Mashya<br />

und Mashyoi herab, werden erweckt. Nach einer absoluten<br />

Läuterung leben alle Menschen auf der Erde in reinem und ungestörtem<br />

Glück.<br />

Reden diese Vorstellungen alle von einer Zukunft, des Heils auf<br />

Erden, so finden wir daneben oft in denselben Religionen andere,<br />

die sie ergänzen und sich beziehen auf das einzelne und, persönliche<br />

Schicksal der Menschen nach dem Tode. Die Griechen hatten ihre<br />

elysäischen Felder; die Skandinavier ihre Valhöll und Folkwang;<br />

die Zarathustrier ihr Garodh-mono, die Wohnung des Ahura-Mazda;<br />

die Indianer ihre seligen Jagdgründe; die Egypter ihre Aussicht auf<br />

Gemeinschaft mit dem Sonnengotte. Was die alten Juden betrifft,<br />

erwähnt das alte Testament kaum ein überirdisches Leben; es legt<br />

Nachdruck auf die Zukunft des Volkes, aber bald, zeigt es sich,<br />

dass auch die Juden an ein individuelles Fortleben nach dem Tode gedacht<br />

haben. Männer wie Henoch, Moses, Elias, gehen schnurrstracks<br />

nach Johve. Bei den Mohamedanern finden wir im Koran<br />

die Betrachtung, dass die Frommen als Lohn nach ihrem Tode in<br />

das Paradies einkehren werden; in jenem Paradies werden sie in<br />

seidenen Kleidern auf Hochzeitsbetten liegen. Sie werden, nichts<br />

mehr wissend von Sonnenglut oder bitterer Kälte, im Schatten inmitten<br />

von Ueberfluss und Früchten leben.<br />

Diese Aufzählungen können bis ins Unendliche fortgesetzt werden.<br />

Aber wir können es füglich sein lassen. Ueberau, bei Völkern<br />

mit am meisten auseinander laufenden Entwicklungskodexen


178<br />

— sowohl bei wilden wie bei zivilisierten Völkern — finden wir den<br />

Unsterblichkeitsglauben; zwar verschieden, jedoch immer mit der<br />

damit verbundenen Idee über ein besseres, glücklicheres, ja, vollkommen-glückliches<br />

Leben.<br />

Verschiedene Elemente mögen diesen Glauben bewirkt haben.<br />

Vielleicht ist daran viel Wahres, was Prof. Tiele, jener ausgezeichnete<br />

Kenner der allgemein-religiösen Erscheinungen, ehemals über die<br />

Unsterblichkeits- und Unendlichkeitsidee schrieb, darauf hinweisend,<br />

dass diese Idee zum eigentlichen Wesen des Menschen gehört, ihn<br />

beherrscht. Jene Idee geht der des Endlichen voraus; denn dieses<br />

(d. h. das Endliche), lernt er allein durch sinnliche Beobachtung kennen,<br />

und setzt es erst später, durch logische Folgerung, in einen<br />

allgemeinen Begriff um. Weder durch Beobachtung noch durch<br />

Nachdenken wird die Idee der Unendlichkeit erhalten, wenn sie auch<br />

schon in psychologischen Beobachtungen, eine Stütze findet, dann<br />

ein Gegenstand des Nachdenkens wird. Dem kindlichen Menschen<br />

kommt das Endliche, wie er es beobachtet, überraschend und widernatürlich<br />

vor. Auch bei Kindern können wir beobachten, dass sie<br />

sich vom Tod keine Idee machen können. So ist es gleichfalls mit<br />

naiven, primitiven Völkern. Wie der Autor der Paradieserzählung<br />

in Genesis gehen sie alle aus von der Ueberzeugung, dass der<br />

Mensch von Natur aus unsterblich ist und nicht die Unsterblichkeit<br />

bewiesen, sondern den Tod erklärt haben soll.<br />

Wie immer diese Idee aber auch entstanden, hiernach erkennen<br />

wir jedenfalls, dass mit diesem Glauben eine grosse Beschwerde<br />

aufgehoben wurde, die für den Menschen bis dann bestanden hatte;<br />

die grosse Beschwerde, die wir da eben erwähnten, uns als notwendig<br />

darstellen mussten. Es mochte denn wahr sein, dass das<br />

Leben keine Befriedigung gibt. Nun gab es also weiter nichts Beunruhigendes<br />

mehr; dieses irdische Moment konnte höchstens eine<br />

vorläufige Täuschung genannt werden. Jetzt — so sagten sich die<br />

Menschen — kann man sich selbst Schweigen über das ausgestandene<br />

Unglück auferlegen, und sagen: Man lebt nicht, um glücklich<br />

zu sein in diesem Leben, sondern um glücklich zu werden im folgenden,<br />

das nach dem Tode anbrechen wird.<br />

Aber wie? Wird denn dieses Glück unbedingt Allen zu Teil?<br />

Wird keiner davon ausgeschlossen sein?<br />

Mich will dünken, dass es höchst wahrscheinlich in den primitiven<br />

Vorstellungen keine Ausschliessung gab. Aber so blieb es<br />

jedenfalls nicht! Dafür sorgten die Priester. Der Priester, in welcher<br />

Form er auftrat, und welchen Namen er auch annahm, er sollte<br />

derjenige sein, der sich das ausschliessliche Recht anmasste, zu bestimmen,<br />

wer des Glückes nach dem Tode teilhaftig werden solle.<br />

Er greift die Unsterblichkeitsidee und die Himmelerwartung an,<br />

wirft sich als deren Meister auf, da er darin das beste Mittel erblickt<br />

hat, um seinen Herrscherneigungen genügen zu können. Er allein<br />

ist bald im Stande zu sagen, welcher Weg in den Himmel führt —


179<br />

und als notwendiger Zusatz dazu kommt jetzt auch der Glaube<br />

an die Hölle auf, die der Ort des Entsetzens und der Peinigung ist.<br />

gung führt.<br />

Diese Hölle wird nun ausgemalt als ein Ort ewigen heftigen<br />

Leidens. Sie flösst Schrecken und Angst in die Seelen, der Menschen,<br />

der Masse, die meistens einfältig ist und nicht weiter denkt.<br />

Und es ist dieser" Schrecken, diese Angst und schaudernde Furcht,<br />

die die Masse unter die Macht des Priestertums beugt, zu dem sie<br />

ängstlich die Augen emporhebt, damit es ihr doch zeige einen Weg<br />

der Entrinnung.<br />

Kann es wohl anders sein? Musste der Schwerpunkt des Lebens<br />

in die Eroberung des stark begehrten Glückes nach der irdischen<br />

Existenz gelegt werden?<br />

Das Eine wird nun doch wohl für jedermann klar und deutlich<br />

sein: je fester sich diese Auffassung in dem Menschen festsetzte, desto<br />

mehr wurde auch dadurch das Denken, sein ganzes Sein beherrscht.<br />

Diese Lehre des Priestertums hat Meere des Elends über die<br />

Menschheit gebracht.<br />

Man führt gegen diese Behauptung an, dass sie denn doch<br />

auch reich an Trost, besonders für Arme und Elende, für Leidende<br />

und Geschlagene gewesen sei. War es nicht eine Erquickung für sie<br />

aus des Priesters Munde die freudige Versicherung zu hören, dass<br />

für sie, nach dem kurzen irdischen Leben, nun ein Leben unaussprechlichen<br />

Glückes anbrechen werde? Lag darin nicht für die<br />

Armen eine Versöhnung mit all den Entbehrungen und all dem Elend<br />

des irdischen Daseins? Gewiss; ein Trost ist sie gewesen, diese<br />

Lehre, aber ... ein betrügerischer und falscher, mit dem auf geschickte<br />

Art Missbrauch getrieben wurde von Seiten Aller, die herrschen und<br />

gross sein wollten auf Kosten ihrer Mitmenschen. Sie ist ein Trost<br />

von der Art gewesen, die der Arzt gibt, wenn er zu einem Patienten<br />

von Genesung spricht, trotzdem er weiss, dass dieser unwiderruflich<br />

zum Tode bestimmt ist.<br />

Und wir staunen immer wieder über die Einfältigkeit, die in dieser<br />

Hinsicht von Armen und Elenden, von Sklaven und Geknechteten<br />

an den Tag gelegt wird. Noch gibt es Tausende und Abertausende,<br />

die noch immer derartigen morphinistischen Priesterworten<br />

willig lauschen.<br />

Ein römisch-katholischer Arbeiter, der in ein Gespräch kam<br />

mit einem seiner Mitarbeiter, beklagte sich diesem gegenüber über<br />

das traurige Schicksal der Arbeiter in der heutigen Gesellschaft; er<br />

liess sich folgendermassen aus: „Was gibt Ihnen denn dieses Leben<br />

gar so viel zu schaffen? Ich weiss sehr wohl, dass wir es nicht<br />

gut haben, dass wir ja vieles entbehren müssen, aber ist das so<br />

schlimm? Unser irdisches Dasein dauert ja nur kurze Zeit; es ist<br />

nichts im Vergleich mit dem ewigen Leben, das da kommt. Wie<br />

werden wir es dann haben? Das ist die Hauptfrage. Und ich, als<br />

römischer Katholik, ich komme durch den Beistand der Kirche


180<br />

in den Himmel, in ein niemals endendes, vollkommenes Glück. Warum<br />

soll ich mir also so viel Kopfzerbrechen machen über dieses<br />

irdische Leben?"<br />

In diesem Sinne sprach der Arbeiter in seiner naiven Einfältigkeit.<br />

Als es mir mitgeteilt wurde, war es mir, wie wenn ich zu<br />

gleicher Zeit den Priester gellend lachend hörte und einen Glanz<br />

erfreulicher Zufriedenheit sich über das Antlitz all dessen, was lebt<br />

und geniesst, von der Beraubung der Mitmenschen lebt, legen sähe.<br />

Wenn der Zweck des Lebens die Jagd nach dem Glücke in einer<br />

andern Welt wird, dann vergisst man das Glück in diesem Leben.<br />

Die grosse Mehrzahl der Leute wird unter die Macht der Wenigen<br />

gebracht, die lügend behaupten, dass nur sie das Losungswort kennen,<br />

das die Pforte des Ortes des ewigen Glückes sich öffnen macht.<br />

Und hierin liegt der grösste Fluch dieser Auffassung verborgen.<br />

II.<br />

Wie verhält sich das Christentum, die offizielle Religion der<br />

europäischen Völker zur Idee des menschlichen Glückes? Wohlan,<br />

darin tritt der Himmelsglaube gar stark in den Vordergrund, und dieser<br />

Glaube machte und macht noch immer seinen verderblichen<br />

Einfluss geltend.<br />

Die erste Konsequenz ist vor allem diese, dass der Lohnverdienst<br />

entsteht. Ich nieine hier Lohnverdienst im sittlichen, nicht<br />

im ökonomischen Sinne, d. h. die Menschen tun bestimmte Dinge,<br />

die sie als gut erachten oder vielmehr: die ihnen als gut vorgeschrieben<br />

wurden, in der Hoffnung, dafür etwas zu erlangen.<br />

Das Tun des Guten wird Prämienzahlung in der Himmelsassekuranz.<br />

Die Hölle fürchtend, nach den Genüssen des Himmels verlangend,<br />

will man alles verrichten, um jenes grosse Glück zu erreichen.<br />

Und was muss man dafür tun? Der Priester allein ist es, der auf<br />

diese Frage eine Antwort zu geben berechtigt ist, und wäre jener<br />

Priester jene ideale Figur, die Einige in ihm sehen wollen, der reine<br />

Gottesrepräsentant, der er sein möchte, so müsste er faktisch etwas<br />

anderes suchen als eigenen Ruhm oder die Gloire seiner Kirche, oder<br />

die Gloire seiner fiktiven Gottheit; besässe er nur etwas vom wahren<br />

Propheten in sich .... vielleicht hätte er der Welt seinen Segen<br />

bringen können ....<br />

Denken wir uns einmal, dass er der Welt, die da so gut gläubig<br />

zu seinen Füssen lag, emporblickte zu ihm als zu einem Orakel; denken<br />

wir uns, dass er ihr zugerufen hätte: „So ihr den Himmel verdienen<br />

wallt, lebt ein Leben brüderlicher Liebe, strebt nach innerlicher<br />

Reinheit, schafft freie Verhältnisse!" Vielleicht würden<br />

unter seinem suggestiven Einfluss manche gestrebt haben nach Läuterung<br />

des eigenen Lebens und des Zusammenlebens. Aber dies<br />

hat er nie getan oder gesprochen, es nicht zu tun gewagt; dazu<br />

war'er selbst nicht Christ genug; dazu hatte er zu wenig in sich<br />

von jenem heiligen Geiste, von dem er so gern geredet zu den<br />

Massen. Er suchte den Grossen zu Gefallen zu sein und seine


181<br />

eigene Stellung nicht zu vernachlässigen, und er predigte Unterwerfung<br />

und Gelassenheit, und verkündete keine andere Moral als jene,<br />

die sich verkörpert findet in den existierenden Missverhältnissen.<br />

Als reine Bedingung für die Eroberung des Himmels förderte er die<br />

Anerkennung eines bestimmten, von ihm festgesetzten Glaubensdogmas.<br />

Sind wir nicht eher geneigt zu sagen: Wenn da ein Himmel zu<br />

verdienen ist, so ist er zu verdienen nicht durch Tragen, Dulden,<br />

Unterwerfung, sondern durch Arbeiten, Kämpfen, Ringen, um der<br />

Welt den Segen der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Liebe zu<br />

bringen?<br />

Doch nein; daran hat das offizielle, das Kirchenchristentum<br />

nicht gedacht. Das stellt als Bedingung den gedankenlosen Glauben.<br />

Und es hat sich sogar gegenüber der Auffassung aufgepflanzt, dass<br />

das Leben in dieser Hinsicht Bedeutung haben könne. Durch das<br />

Leben ist die Seligkeit nicht zu erwerben, sagt es. Legte man nicht<br />

immer den stärksten Nachdruck auf die Unfähigkeit zu jedwedem<br />

Guten beim Menschen, der seit Adams Fall der Sünde verkauft<br />

war? Darum wurde der christliche Glaube zu einem Vermittlerglauben.<br />

Christus ward der Retter; er war der Gottessohn, der<br />

durch sein Leiden dem armen Sünder den Himmel wieder öffnete.<br />

Dazu war jedoch der Glaube, der Glaube in Jesus Christus, den<br />

Sohn Gottes, nötig.<br />

Die 29. Frage des Heidelberger Katechismus sagt: „Warum<br />

wird der Sohn Gottes Jesus, d. h. Seligmacher genannt?" Und die<br />

Antwort ist: „Weil er uns selig macht und von unseren Sünden erlöst;<br />

da obendrein bei keinem andern einige Seligkeit zu suchen oder<br />

zu finden ist." Dass es also gerade auf den Glauben ankommt, zeigt<br />

sich mit grosser Deutlichkeit u. a. auch in demselben Katechismus,<br />

wo es in der 20. Frage heisst: „Werden denn alle Menschen wieder<br />

durch das Christentum selig, wie sie durch Adam verdammt worden<br />

sind?" Worauf geantwortet wird: „Nein, allein diejenigen, welche<br />

ihm durch einen aufrichtigen Glauben einverleibt werden und alle<br />

seine Wohltaten annehmen." Dass es in der römisch-katholischen<br />

Kirche, die behauptet, dass nur sie die Seligkeit zu vergeben habe,<br />

nicht anders gemeint ist, braucht nicht weiter dargetan zu werden.<br />

Der Glaube und dann wohlgemerkt, nicht ein lebendiger, eigener,<br />

kräftiger, heiligender Glaube, sondern ein vorgeschriebener, eingeprägter,<br />

dekretierter Glaube ist es, der den Menschen finden lassen<br />

soll jenes grosse Glück, wonach er sein ganzes Leben lang auf Erden<br />

vergebens suchte.<br />

Wir sind eigentlich verblüfft über die Möglichkeit solch einer<br />

Auffassung! Denken wir daüber nüchtern und kalt nach, um uns<br />

von der wahren Bedeutung derselben einen Begriff zu bilden.<br />

Ich versuche folgendermassen eine Idee davon zu geben.<br />

Eine Vision!<br />

Vor dem heiligen Throne Gottes stehen zwei Menschen. Ueber


182<br />

sie soll geurteilt werden. Und beide verteidigen ihr gutes Recht,<br />

um teilnehmen zu können an der himmlischen Glückseligkeit. Seiner<br />

Sache gewiss redet der erste also:<br />

„Herr Gott! Ich habe auf Erden den wahren Glauben gehabt,<br />

ich habe 'meine Zuversicht in meinem Heiland gehabt, ich habe mich<br />

ihm ergeben, auf ihn mich stützend, rufe ich ihn als meinen einzigen<br />

Bürgen; sein Blut möge mich retten. Steht da nicht geschrieben in<br />

Deinem Worte, dass Christus gestorben ist, um Sünder zu erhalten<br />

und hat er nicht bezeugt, dass, wer an ihn glaubet, des ewigen Lebens<br />

teilhaftig werden wird?"<br />

Und der zweite sagt: „Herr, ich habe meinen harten Streit gestritten<br />

auf Erden; ich habe den Geknechteten Befreiung, den Armen<br />

Brot gepredigt; ich habe gefochten gegen Unrecht und Heuchelei;<br />

ich habe den Mächtigen und Grossen getrotzt; ich habe mich voll<br />

Mitleid gebeugt über die, die da litten und Schmerz empfanden; ich<br />

habe geredet von Brüderlichkeit und Liebe; ich habe gefochten gegen<br />

das Böse in mir selbst, und getrachtet, jede Selbstsucht zu zerstören.<br />

Herr, hier stehe ich, ich berufe mich auf mich selbst, wenn<br />

ich nach der Herrlichkeit Deines Himmels trachte. Ich berufe mich<br />

auf mein eigenes Leben."<br />

Und dann? Dann wird des Himmels Eintritt dem Ersten gestattet,<br />

der geglaubt hat. Und der Zweite, der da hat gearbeitet, gestritten,<br />

gelitten, geliebet — er wird abgewiesen!<br />

Und wenn wir jenen Zweiten gut betrachten, ist es uns, als<br />

zeige er die bekannten Züge „eines gewissen" Jesus von Nazareth.<br />

Zu soloher Absurdität führt uns die Auffassung, dass der Zweck<br />

des Lebens ausserhalb des Lebens liege und durch den Glauben<br />

erreicht werden könnte.<br />

Wir können nicht umhin, die Meinung zu verwerfen, dass der<br />

Zweck des Lebens, das wir hier auf Erden zu leben haben, ausser<br />

uns gelegen sei. Hiermit bestreite ich nicht die Unsterblichkeitsidee,<br />

aber wohl die Meinung, dass, auch wenn man die persönliche Unsterblichkeit<br />

annimmt, diese begleitet sein müsse von der Betrachtung,<br />

dass der Lebenszweck sich dann nur auf eine bestimmte Lage<br />

zu richten brauche, um sich die Unsterblichkeit nach dem Tode zu erobern.<br />

Der Gedanke an den Glauben allein kommt mir ungereimt vor.<br />

Ist es nicht töricht, anzunehmen, dass der Zweck eines „Etwas" ausserhalb<br />

jenes „Etwas" liegen soll?<br />

Verwerfen wir aber jene Meinung, so steigt wieder unmittelbar<br />

die Frage vor uns auf: „Was ist der Zweck des Lebens?"<br />

Oder darf diese Frage selbst vielleicht nicht gestellt werden?<br />

Gibt's überhaupt keinen Zweck, um davon zu reden in Bezug auf<br />

das Leben?<br />

Wer kann es bestimmen, was dieser Zweck genannt werden<br />

soll? Können wir anderen das vorschreiben? Und kommen wir so<br />

nicht notwendig zur Anerkennung einiger Autorität auf diesem Gebiete?<br />

Wenn jener Zweck nicht so deutlich zu Tage liegt, dass


183<br />

jeder ihn von selbst sieht, kann dann über ihn gesprochen werden?<br />

Ich antworte: Der Zweck des Lebens ist nicht verborgen, denn<br />

es ist das Leben selbst. Wir leben, um zu leben. Und darin liegt<br />

das einzige Glück, Eins dürfen wir nicht vergessen: Nur jene Antwort<br />

wird auf diesem Gebiete befriedigen können, die mit dem als<br />

etwas sehr Reellem, in jedem Menschen existierenden Glücksbedürfnis<br />

rechnet. Wohlan, glücklich ist, wer leben kann! Er allein wird<br />

sich befriedigt fühlen, er allein die Empfindung haben, dass er seinen<br />

Zweck erreicht!<br />

Deshalb: wir leben, um zu leben.<br />

Mit diesem Spruch aber kann ich der Frage nicht vollständig<br />

genügen. Manchen wird er nicht befriedigen, wenigstens nicht ohnenähere<br />

Umschreibung und Rechtfertigung.<br />

Was verstehen wir unter „Leben" ?<br />

Die Begriffe über „Leben "<br />

sind verdunkelt, lügnerisch und<br />

verschleiert. Hinter uns liegen zwei Jahrtausende, in denen fortwährend<br />

die Forderungen des Lebens verkannt wurden, nicht zum<br />

wenigsten durch die Aufforderung, den Blick fortwährend auf die<br />

gegenüberliegende Seite des Grabes zu richten. Viele gab es, die<br />

da materiell interessiert waren an der Ablenkung von dem irdischen<br />

Leben. Die Furcht vor Freiheit, der immer gelobten, dennoch immer<br />

gescheuten Göttin — hat dabei eine schädliche Rolle gespielt. Die<br />

Furcht vor der Freiheit, die sich immer auf die falsche Vorstellung<br />

begründete, dass der Mensch seiner Natur nach schlecht sei und geneigt,<br />

seine Mitmenschen zu hassen; jene Furcht vor der Freiheit<br />

musste besonders bei Mächtigen und Grossen dazu führen, das<br />

Leben, das sich äussern wölke, nieder zu drücken, zu bändigen,<br />

zu zügeln, musste zur Predigt von der Notwendigkeit sich an das<br />

Existierende anzupassen, führen, zur Predigt, sich zu unterwerfen<br />

gegenüber den Gesetzen und Vorschriften. Zur Verleugnung der<br />

freien Selbstbestimmung!<br />

Verleugnung ist die Ursache, dass Tausende zufrieden mit einer<br />

Karrikatur des Lebens sein können, dass sie sich dessen gar nicht<br />

bewusst sind, was ihnen eigentlich fehlt.<br />

Wenn wir wissen wollen, was wir unter „Leben" zu verstehen<br />

haben, so können wir, dünkt mich, nichts Besseres tun, als in<br />

die Lehre zu gehen bei der Natur. Da sind wir mitten drin im<br />

Leben, dem unverfälschten Leben. Da umgibt es uns von allen Seiten;<br />

wir spüren überall den mächtigen starken Lebensdrang.<br />

Leben will der Baum der Strauch, die Pflanze, die Blume,<br />

leben wollen sie alle, d. h. sich vollkommen entwickeln, entfalten<br />

alles, was im Keim und Anfang lag. Leben will das Tier; es nährt<br />

sich, es bewegt sich nach Neigung und Lust: es geniesst seine<br />

Freiheit, die ihm erlaubt, sich selbst zu sein. Ach, das Tier weiss<br />

ja nichts von Himmel und Hölle und Heil, es kennt keine Priester,<br />

welche ihm ihre Weisheit verkünden und ihre Lebensauffassung<br />

vorschreiben; es hat kein einziges Handbuch der Moral — noch


184<br />

ein Gesetzbuch des Straf rechts — nichts von all diesen Dingen;<br />

aber es hat etwas von unendlich grösserem Werte: Es hat ein<br />

eigenes Leben, gemäss seiner Art und seinem Wesen..<br />

Welchen anderen Zweck könnte eine Blume haben, als wachsen,<br />

blühen, Frucht geben, also leben?<br />

Woran sonst könnte ein Tier denken, als an sein Leben? Waum<br />

sollte es über sein Leben hinwegsehen? Ein anderes voraussetzen<br />

müssen? Es hat genug mit seinem Leben und wird sich gegen<br />

alles, was es in diesem Leben hindert, gegen diese Freiheitsbeschränkung<br />

widersetzen.<br />

Und der Mensch?<br />

Wie steht es mit jenem edelsten Tiere, mit jenem Herrn der<br />

Schöpfung, wie er oft sich selbst nicht ohne Stolz zu nennen pflegt?<br />

Könnte nicht auch ihm das Leben genügend sein? Aber . . . .<br />

Der Mensch ist so ganz, anders veranlagt, als das Her. In Ihm<br />

schlummern höhere Bestrebungen, in ihm ruht das Suchen nach sittlicher<br />

Grösse, nach geistigem Wuchs; er will mehr als das Tier<br />

haben, mehr als Baum und Pflanze.<br />

Gewiss, dies ist vollkommen wahr, keiner wird es wagen, dies<br />

zu verneinen. Freilich ist der Mensch so. Jenes Verlangen lebt in<br />

Wirklichkeit in ihm. Aber warum? Wo kommt dieses höhere<br />

Verlangen her? Wurde es auf die eine oder aridere mystische Art<br />

in ihn hinein eskamotiert? Nein, diese höheren Wünsche gehören<br />

z,u seiner Art, seinem Wesen. So wie es die Art des Fisches ist,<br />

im Wasser zu schwimmen; des Vogels, durch die Luft zu fliegen,<br />

so ist es die Art des Menschen, so gehört es zu seinem Wesen,<br />

mehr zu tun, als zu essen und zu trinken, d. h. auch ein geistiges<br />

Dasein zu führen. Er kann nicht anders, er muss dies tun, er wird<br />

dazu getrieben.<br />

Darum wrird er erst dann glücklich sein können, wenn er auch<br />

jene geistigen Wünsche befriedigen, sich vollkommen entfalten kann,<br />

oder anders gesagt, sich nach allen Seiten ausleben darf.<br />

(Schluss folgt.)<br />

(Vom Verfasser (freireligiöser Pastor) selbst für die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

veranlasste Uebersetzung aus dem Holländischen von D. N. Z.)<br />

Antimilitarismus und Hochverrat<br />

An das arme Dorfmädchen und an jenen Fürsten in Dostojeffkys<br />

grandiosem Werk „Der Idiot" ist man versucht zu denken. Wie das<br />

arme Mädchen von allen verfolgt wird, weil es zu lieben verstand<br />

. . . Alte und junge Dorfrangen sind hinter der Schwachen her, bewerfen<br />

sie mit Steinen, mit Kot. .Viele Male wird sie gedemütigt,<br />

überwältigt.- Bis er da kommt, als Retter, dieser angebliche „Idiot",


185<br />

sich dem Pöbel entgegenwirft, mit den lärmenden Kindern spricht,<br />

gutmütig, aber auch zornig auf sie einredet; und wie sehr bald die<br />

Stimmung umschlägt, gerade in ihr Gegenteil. Nur ihm war's zu<br />

verdanken, ihm, der es wagte, sich entgegen zu werfen und den<br />

bornierten Verfolgern die Hoheit seiner Persönlichkeit, seiner ernsten<br />

Bedenken entgegen zu schleudern ....<br />

Noch sind wir nicht so weit mit dem Antimilitarismus, aber<br />

auch Fürst Myshkin musste sich derb herumschlagen, bevor er<br />

seinen Sieg verzeichnen konnte. Der Antimilitarismus ist heute<br />

noch immer jene arme, unglückliche Dorfmaid, gegen die alle Wogen<br />

der sittlichen Empörung sich sittsam und wenig zart,<br />

wie schon die Sitte nun einmal ist, rauschend erheben.<br />

Aber wie stets die Natur gerade dann die höchsten<br />

Triumphe ihrer Tugend feiert, wenn die konventionell;.<br />

Moral kläffend ihre Zunge bewegt, so ist es an sich mit dqm<br />

Antimilitarismus. Allerdings: mit dem Antimilitarismus; nicht mit<br />

jenem der „Friedensfreunde", sondern jenem des Anarchismus und<br />

Sozialismus. Ja, der letzteren Geistesbewegungen! Es tut nichts<br />

zur Sache, dass Liebknecht den Empfindungen der alten Parteiklepper<br />

Tribut zollte und eine durchsichtig feine Unterscheidung<br />

machen wollte zwischen seinem und jenem des Anarchismus. Vielleicht<br />

richtig, dass seiner noch nicht ganz geklärt .... Hoffentlich .<br />

wird er es werden. Und um seines Leidens willen sei ihm auch dieser<br />

Versuch nachgesehen, unser, der Anarchisten Verdienst um die Propaganda<br />

des Antimilitarismus schmälern zu wollen, wie er es tat.<br />

Ist es ja doch schon allbekannt. Muss nicht G. Bruckere, den wir<br />

noch in Stuttgart fanden als Delegierten der Sozialdemokratie, es<br />

eingestehen, wenn er Liebknecht, in einer Besprechung dessen Buches<br />

tadelt, dass dieser manche seiner Ausfälle wider die Anarchisten<br />

richtete, die in Deutschland als die ersten für den Antimilitarismus<br />

Lanzen einlegten und brachen? So muss Bruckere im „Guerre<br />

Sociale" Frankreichs das historische Urteil korrigieren, das in<br />

Deutschland unbestimmt und schwankend ist, dank des Hasses der<br />

Parteien.<br />

Der deutsche Antimilitarismus lebt heute im Schweigen derer,<br />

die für ihn hinter Kerker- und Festungsmauern begraben wurden,<br />

weil sie zu warm der Menschheit Schmach gefühlt und bebend vor<br />

edler Empöiung sich mannhaft auflehnten wider die Hyäne des Militarismus;<br />

er schreitet ungebrochen und unbeugsam in jenen einher,<br />

die da fühlen, dass sie das Vermächtnis der leidenden und gequälten<br />

Brüder verwahren und grösser wieder auferstehen lassen<br />

müssen. Die zeitweise Begrabenen, die uns entrissen wurden oder<br />

noch werden für den Antimilitarismus — und dessen konsequenter<br />

Ausdruck ist Anarchismus — sie können sich in einem trösten: niemals<br />

hat eine grosse, soziale Bewegung der Arbeiterklasse das Bewusstsein<br />

aller geistig regsamen Bevölkerungsschichten so aufgerüttelt,<br />

genauer: ist so sehr geeignet, es zu tun, wie der Antimilitaris-


186<br />

mus und der historische Märtyrerkampf derer, die für seine Verbreitung<br />

und Propaganda eintreten. Es gibt leider fast keine revolutionäre<br />

Taktik, die nicht darin zweischneidig wäre, dass die breiten Massen<br />

der Bevölkerung ihre edlen und hehren Absichten, die hochfliegenden<br />

Ziele der Propagandisten nicht verstehen, nur die rauhe, äussere<br />

Form der Gewalt wahrnehmen, den Kern, der da schlummert in dieser<br />

Manifestation empordrängender Menschen, Giganten dadurch,<br />

dass sie die Kraft besassen, vieltausendjährige Geistestradition mit<br />

einem Ruck abzuschütteln, diesen Kern des Heldenmutes überhaupt<br />

nicht erblicken. Und dann kommt das Gleissnerische des Staates,<br />

.diese infame Heucheleiphysiognomie, die da immer von „Schutz",<br />

von „Sicherheit", von „Wahrung des Friedens und der Ordnung"<br />

spricht; sie erwehrt sich mit einem einzigen Schlage ungeheurer Uebermacht<br />

der Widersacher; und das Volksbewusstsein, statt das Entsetzliche<br />

des Geschehnisses zu begreifen, Einkehr zu halten über seine<br />

eigenen Verfehlungen, indem es ein für alle Mal sein Ich und seine<br />

Gesamtheit dem Staate entzöge — dieses Volksbewusstsein in seiner<br />

oftmals mit tiefstem Ingrimm erfüllenden, vergifteten Unwissenheit,<br />

jubelt oft dem Staat noch zu in seinen Missetaten wider die<br />

Apostel der Freiheit und Zukunft! Nicht weil es selbst Vorteile<br />

aus diesen Missetaten zieht, nur weil es unwissend ist und ihm die<br />

Gegenwartswelt die Gelegenheit zur Aufklärung benimmt. An dieser<br />

Unreife, Unwissenheit scheitert das Tempo aller taktischen Methoden,<br />

die wirklich vorzüglich und geeignet sind, uns rasch zur Verwirklichung<br />

unserer Ideale zu geleiten. Darum sind wir so weit<br />

entfernt von der sozialen Revolution, wie es der Fall.<br />

Und nun haben wir plötzlich das Mittel (der Staat mag machen,<br />

was er will), das in geradezu hinreissend erhebender Weise Taktik<br />

und Demonstration der Weltanschauung in einem sein kann. Wir<br />

wollen eine Gesellschaft des Friedens, darum sind wir Antimilitaristen.<br />

Sonst behauptet man, wir seien Gewaltsmenschen und<br />

müssten deshalb bewacht und verfolgt werden wie wilde Tiere.<br />

Aber kann es eine zweischneidigere Methode für den Staat geben,<br />

als diejenigen verfolgen zu müssen, die da laut protestieren und ihres<br />

Menschtums Gefühlen Ausdruck verleihen, weil sie Hasser des<br />

Krieges, Hasser des Mordes, Hasser jeder Mordtat sind? Sie<br />

wandern ins Gefängnis, die Antimilitaristen des direkten oder indirekten<br />

Anarchismus; aber glauben die, die mit Blut und Eisen dieses<br />

unwürdige System mit alt seinen Einrichtungen zu halten vermeinen,<br />

denn wirklich, dass das Volk niemals sehend werden wird?<br />

Dass die Schlachtfelder umsonst gedüngt sind von rauchendem<br />

Menschenblut und den Leichen der Millionen Väter, Brüder Verwandten;<br />

dass die Posaunenrufe jener, die da den Fluch herabgerufen<br />

auf alle Verüber dieses Menschenelends, glauben sie, dass<br />

all dies ungehört verstummen wird, wenn Menschen ins Gefängnis<br />

wanderten, weil sie riefen: „Wir wollen keinen Krieg mehr! Wir<br />

haben ihn nie gewollt, wie ihr, die ihr uns betört habt mit Wahn-


187<br />

ideen, ihr religiöse oder weltlich- staatliche Pfaffen, nur ihr habt uns<br />

zeitweise in menschliche Bestien verwandelt. Und nun seid eingedenk<br />

des einen: Wir haben euch durchschaut, |euch, Priester der<br />

Gottesgewalt und Mammons; und ehret uns dafür, dass wir nur<br />

Antimilitaristen sein wollen, denn sonst .... Hütet euch, uns zu<br />

Militaristen zu machen! ....<br />

Auch uns wird, nach tausendfacher Verfolgung und Schmach,<br />

des dunkelsten Kerkers der Morgen, dämmern, der uns einen Fürsten<br />

Myshkin bringt, auch er wird sich entgegenwerfen, als der<br />

letzte der vielen Versuche und Niederlagen, die dennoch Unvergängliches<br />

ins Buch der Geschichte eintragen — und dann wird es Tag,<br />

ein Tag in den Köpfen, Tag in der Welt. Der Antimilitarismus,<br />

dieses Mittel, das den Staat einmal dazu zwingt, sich selbst die<br />

Maske vom Antlitz zu reissen und durch seine Gewalttaten wider die<br />

Antimilitaristen deren Lehren selbst demonstrativ wirken zu lassen,<br />

wird die Waffe sein, die uns über den Tag der sozialen Revolution<br />

hinüber geleiten wird.<br />

Hochverräter sind wir! So. Aber in Wahrheit nicht<br />

nur, weil der Staat es sagt, denn seine Worte sind ja<br />

hohler Schall, wenn er nicht das Johlen der noch patriotischen<br />

Masse als Stütze und Grundlage besitzt. Begreiflich<br />

ist es ja! Noch jede neue Idee wurde verfolgt; es ist eine<br />

banale Sache geworden. Wurde nicht die sozialdemokratische Bewegung<br />

durch Verfolgungen auszurotten versucht? Was hatten die<br />

Pioniere des deutschen Anarchismus in den Anfängen der 90er Jahre<br />

zu erdulden? Was die Pioniere der Gegenwart? Sehr möglich,<br />

dass der Staat alle diese Verfolgungen in der klar und deutlich erkannten<br />

Voraussicht unternimmt, nicht ausrotten zu können, aber<br />

nur prüfen will, ob er sich wirklich ins Unvermeidliche zu fügenhabe.<br />

Die Sozialdemokraten mauserten sich, die Anarchisten errangen<br />

sich durch unaufhörliche, stets vermehrte Widersetzlichkeiten<br />

das Recht, auch in Deutschland ihre Propaganda zu entfalten. Das<br />

war und ist ein Stück echtester sozialer Macht. Und es ist nicht unrichtig<br />

gedacht, wenn wir annehmen, dass der deutsche „Rechts"staat<br />

nun wieder einmal sondiert .... Vielleicht, — so mag er<br />

sehr mit Unrecht denken — gelingt es, den Antimilitarismus zu<br />

dämmen? Wenn ja, dann ist das Ziel der Verfolgungen erreicht;<br />

wenn aber, wie wir zuversichtlich meinen, es nicht gelingt, Märtyrerblut<br />

die Saat zu düngen beginnt, dann wird auch dieser Bann gebrochen<br />

werden und Deutschland, von dem Bakunin mit Recht und<br />

klarstem Bewusstsein sagte, dass es in Wahrheit der Hort der europäischen<br />

Reaktion, einen kämpfenden Antimilitarismus haben, der<br />

wenigstens das betreiben können wird, was absolut und vor allem<br />

notwendig, gegenwärtig aber noch fast unmöglich ist: die Revolutionierung<br />

der Köpfe, der Jugend, des Volkes.<br />

Nicht für den Staat ist es eine Schmach, dass er ungestraft, den<br />

Hochverratsparagraphen anwenden darf. Schliesslich wäre hier eine


188<br />

doppelte Bejahung fast eine Verneinung, und das wollen wir nicht;<br />

was selbst Schmach, kann sich auch nicht mehr mit Schmach bedecken<br />

.. Nein, täuschen wir uns nicht. Nicht.für den Staat ist es eine<br />

Schmach, dass er Liebknecht zu 18 Monaten Festungshaft verurteilte.<br />

Es ist eine Schmach für eine Dreimillionenpartei, dass der Staat<br />

dies tun konnte. In dieser Möglichkeit birgt die Urteilsfällung eine<br />

Situation, wie man sie sich trostloser wohl kaum vorstellen kann.<br />

Und Liebknecht, Oesterreich, Paar, Kielmeyer, alle sie,<br />

die vor ihnen gingen und fielen, nach ihnen kommen werden<br />

— glaubt man vielleicht, dass man es dem Staat<br />

in die Schuhe schieben darf, was er mit ihnen tat? Keineswegs.<br />

Verlangt man von der Hyäne Mitleid, wenn man selbst<br />

in vierzig langen Jahren nicht vermochte, ihrer Gefrässigkeit<br />

die Nahrung zu entziehen? Nicht vermochte, weil man seine elementarsten<br />

Aufklärungsaufgaben nicht erfüllte und die anarchistische Propaganda,<br />

die sie leiten wollte, überall dort unterband, wo sie aufzukommen<br />

versuchte. Die ins Gefängnis wandern für den Antimilitarismus<br />

werden eigentlich nicht vom Staate verurteilt;<br />

in Wahrheit ist es die deutsche Sozialdemokratie, die ihr<br />

Urteil über sie fällt, durch ihre totale historisch gewordene<br />

Aktionslosigkeit angesichts solch abscheulicher Verurteilungen.<br />

„Noblesse oblige". Dreiundeineviertel Millionen Anhänger,<br />

solch eine Zahl von Mitarbeitern besass noch keine revolutionäre<br />

Gruppierung der Welt und historischen Vergangenheit,<br />

und eine solche Zahl verpflichtet zu etwas, wenigstens zu einem<br />

ganz kleinen Etwas .... Aber es geschah nichts, und wird nichts<br />

geschehen, wenn es vom Führertum abhängt, das materiell sattelfest<br />

in dieser bourgeoisen Gesellschaft sitzt und mit ihr den Antimilitarismus<br />

hasst. Für ein wertloses, preussisches Landtagswahlrecht<br />

opfert man das Leben demonstrierender Proletarier; gegen barbarische<br />

Justizurteile unternimmt man nichts ....<br />

O, sie irren sich, die Herren von Gottes Gnaden, wenn sie glauben,<br />

dass wir um ihrer Willkür und Ungerechtigkeit willen unseren<br />

Apostelgesang idealer Ideen einstellen werden! Kann schwarz dem<br />

sehenden Auge je als weiss erscheinen? Nimmer. Und<br />

kann uns, die wir den heutigen Staat durchschauen bis<br />

auf den Grund seines Knochengerippes, kann uns der Militarismus<br />

als ideales System erscheinen, weil er uns quält<br />

und schlägt? Nimmer! Ja, wenn er wirklich diente als Kulturzweck,<br />

als epochales Mittel der Schutzwehr. Aber dies ist er nicht, kann<br />

er nicht sein; uns ist er nur die selbstgeschmiedete Fessel, die uns<br />

schmerzlich drückt, die quälend uns ins Fleisch schneidet. Und sie<br />

sollen wir jemals achten lernen? Die Achtung vor ihr lehren?<br />

Warum, wozu? Damit ihr uns noch mehr zu Sklaven macht? Darum<br />

sei es gesagt und verraten: Der Antimilitarismus in Deutschland<br />

wird sich nicht legen, nicht mausern; und je mehr seine Agitatoren<br />

ins Gefängnis wandern müssen, wider ihren Willen in die Armee ein-


189<br />

gereiht werden, er so selbst in die Kaserne gebracht wird, desto unvermeidlicher<br />

ist seine Propaganda und Verbreitung. Allerdings, eins<br />

sei eingestanden: die unrechtmässige Verfolgung, offenkundige Ungerechtigkeit<br />

führt nicht zur Vernichtung der Idee, nur von den offenen<br />

Bahnen auf jene der geheimen, die weit gefährlicher sind, als die<br />

von ehedem. Und die Tausende von Methoden und Werkzeugen<br />

finden, um das Eisen gerade dann zu bearbeiten, wenn es glühend,<br />

heiss ist, die günstigste Gelegenheit sich bietet. Indirekt dienen die<br />

Justizverfolgungen unseren Zwecken, die Propaganda wird vielseitiger<br />

und nachhaltiger.<br />

Lebt wohl, ihr Vorkämpfer der Idee, die den Ehrentitel „Hochverräter"<br />

erhielten; ein Ehrentitel für uns. Und tausendfach bestätigen<br />

wir des Kaisers Wort, wenn er uns Vaterlandslose nennt. Wir<br />

fühlen uns nicht veranlasst, wie die Vollmars und Stadthagen es in<br />

Essen im schönsten Bunde taten, dagegen zu protestieren. Wir<br />

sind und wollen vaterlandslos sein in solchem Vaterlande, wo es<br />

Unterdrücker und Unterdrückte gibt Oder richtiger, wir rufen euch<br />

zu: Auf Wiedersehen, ihr Pioniere des Antimilitarismus, die die Gefängnisjacke<br />

zu Ehren bringen, um deren Schicksal sich kein „Friedensfreund",<br />

kein Regierungspazifist bekümmert, die ganz unserm<br />

treuen Gedenken und Nacheifern überlassen sind und bleiben. Eins<br />

müssen wir ihnen geben als heilige Versicherung, dass diese Idee,<br />

wo immer sie auch sein mögen, von uns gefördert, mit Auferbietung<br />

unseres ganzen Ichs verbreitet werden soll. Schon darum, weil der<br />

Antimilitarismus ein Geschoss der Revolution und des Friedens ist,<br />

das ebenso unbesiegbar, wie es das Schiesspulver vor den Rüstungen<br />

der ritterlichen Faust des Mittelalters war. Wir lassen ihn nicht fallen,<br />

denn er ist jene Brücke, die man über den gähnenden Abgrund der<br />

Klassenkämpfe legen kann, um nach der anderen Seite zu gelangen.<br />

Nur durch ihn können wir die Küsten jener Zukunft erreichen,<br />

von denen uns der Dichter spricht:<br />

„Ein Vogel ruft im Holz,<br />

Ein anderer noch; aus allen Nestern<br />

Wird froh der Tag begrüsst, der sich erneut.<br />

Begehrend drängt das Leben sich zum Heut,<br />

Fern liegt das Gestern!<br />

Wohl ist es opferreich, das Leben und Kämpfen des Antimilitarismus.<br />

Doch es scheint, dass diese taktisch schärfste Massenmethode<br />

des Anarchismus durch die Metamorphose des „Hochverrats"<br />

zu gehen hat, um wirklich das Friedensideal der Freiheit erreichen<br />

zu dürfen. So sei es denn! Begehen wir den „Hochverrat"<br />

an dem, was uns nicht wie ein Vaterland behandelt; und es wird die<br />

Zeit kommen, wo diese „Hochverräter" sich ein neues Vaterland erobert<br />

haben werden, eine neue Heimat und väterliche Erde —<br />

die Welt der Freiheit, die da mit allen ihren Schätzen gehört der<br />

Menschheit!<br />

Pierre Ramus.


190<br />

Philosophie und Kultur.<br />

Es ist eine hübsche lange Zeit her, seitdem die Menschheit die<br />

Kulturstufe des prähistorischen Barbaren überwunden hat und in die<br />

Epoche der Philosophie, der höchsten geistigen Kulturstufe eingetreten<br />

ist, die das unendliche Bewusstsein von dem lichtleeren Zeitalter<br />

des vorgeschichtlichen menschlichen Lebens trennt. Es entstand<br />

mit diesem neuen Kulturleben das Sokratische Problem:<br />

„Mensch, erkenne dich," das noch immer ungelöst in seiner uralten<br />

Form dasteht. Weder Sokrates, noch die Modernen haben das<br />

Innenleben des Menschen und in dieser Innerlichkeit das unendliche<br />

Weltall schauen können. Verständnislos stehen sie diesem Innen-<br />

Gesetz, der konkreten Auffassung des Vernunftlichtes gegenüber,,<br />

wo sie es doch selbst erleben, weil dasselbe ihr eigenes ursprüngliches<br />

Leben ist. Es fehlt diesen Philosophen die Einsicht in den<br />

Sachverhalt der wahren Erkenntnis; sie suchen das unendliche Weltall,<br />

die ewige Zeit und den grenzenlosen Raum in der äusseren physischen<br />

Welt und sind mit diesem sinnlich-endlichen Leben ganz verwoben.<br />

—<br />

Schon dadurch, ohne weitere Erläuterungen könnten wir die kulturelle<br />

Nichtigkeit der Philosophie konstatieren, da eine einseitige<br />

und ungewisse Lehre kein Kulturproblem positiv zu lösen imstande<br />

ist. Nun haben wir noch weitere schlagende Argumente, welche die<br />

sophistische Tendenz dieser Geistesentwicklung beweisen und dazu<br />

beitragen, die Philosophie in den Hintergrund zu rücken.<br />

Im Laufe der Kulturgeschichte und noch vor unseren Augen<br />

stritten miteinander zwei verschiedene Grundanschauungen der Philosophie,<br />

die idealistische und realistische. Für die erste sind die<br />

sinnlichen Gegenstände ungewisse Traumbilder, Reflexe der abstrakten<br />

Idee. Nur das versteckte Nuancen, Ding an sich ist die wahrhafte<br />

und in jeder Beziehung reale Existenz. Der Materialismus<br />

dagegen will dieses Gespenst, dies Sein in der Materie finden und<br />

die Gedanken als Schattenbilder der Substanz, der äusseren Natur<br />

erklären, die in den äusseren begrenzten Ganglienzellen sich abbilden.<br />

Es wird so das Unendliche in die äussere, physische Welt projiziert<br />

und zum nichtigen Schatten, der zum Gedankenphantom verarbeitet,<br />

denn in dieser Aeusserlichkeit hat noch niemand die Materie ab<br />

ein unbegrenztes Sein sinnlich wahrgenommen.<br />

Es sieht daher die Philosophie dort draussen, ausserhalb des<br />

geistigen Ich ein Wesen, um aus demselben die Erscheinungen zu<br />

erklären. Nur diese Substanz ist die ewige Wirklichkeit, der gegenüber<br />

die Phänomene, welche unseren Sinnen in ganz flüchtiger Weise<br />

erscheinen, Nicht-Realitäten sind. Das Ansich der Dinge steckt hinter<br />

den Erscheinungen, die ihren ursprünglichen Grund im Sein<br />

finden.<br />

Betrachten wir näher die einzelnen Erscheinungen, so finden<br />

wir, dass sie keine Manifestationen und Ausflüsse des Urprinzipismus,<br />

sondern an sich reale Wirklichkeiten sind, welche die Existenz nicht<br />

ausserhalb ihres Seins im abstrakt Aetherischen zu suchen haben,


191<br />

weil sie selbst existieren und tatsächlich erscheinen. Ohne Existenz<br />

ist keine Erscheinung, und es ist kein Erscheinen ohne ein reales<br />

Leben. Die Realität ist eins mit den Erscheinungen und dieser Tatbestand<br />

ist identisch mit den Erlebnissen, d. h. die Erscheinungen<br />

existieren so, weil wir sie erleben und durchleben sie so, wie sie<br />

erscheinen. Was uns nicht zur Erscheinung gelangt, und was wir<br />

nicht erleben, hat für uns keine Bedeutung und Existenz. Nur<br />

ein Etwas, also ein Existierendes können wir erleben und schauen,<br />

nicht aber ein Illusorisches, ein Nichts, was einfach sinnlos wäre,<br />

denn Existenzerscheinungen sind Tatsachen, Tätigkeitsformen, die<br />

wir in allen ihren Phasen als originale Daseinsformen erleben. Es<br />

ist die molekulare und materielle Welt eine ebensolche Realität, wie<br />

das Intellektualreich des Menschen; nur die äussere objektive Welt<br />

interessiert allerdings das praktische Leben, lässt aber das tatsächliche<br />

Vorhandensein des Erlebnisses unberührt. —<br />

Nun gehen wir zur kulturellen Erklärung der Philosophie über.<br />

Es ist zur Evidenz gebracht worden, dass die Gedanken eine unumstössliche<br />

Realität besitzen, unendlich sind, und dass wir dies Unendliche,<br />

weil wir Eins mit dem Universalen sind. Wenn dem nun<br />

so ist, so leuchtet in jedem Mensch dies ätherische Licht, nur können<br />

die meisten Wesen es nicht intensiv und konkret schauen,<br />

wiewohl es jedermann hinieden gegeben ist. Es kann daher mit Gewissheit<br />

konstatiert werden, dass die Erkennenden, die in jeder Intelligenz<br />

diesen gewaltlosen Lichtpunkt schauen, auch im praktischen<br />

Leben dem Sozialismus und Kommunismus zusteuert: Es bedeutet<br />

diese höhere Erkenntnis die unbedingte Verfeinerung des sozialen<br />

Lebens. Es ist bei diesen Menschen das anarchistisch-kommunistische<br />

Ideal à priori festgesetzt, weil die höhere Kultur die gesellschaftliche<br />

Freiheit schon in sich schliesst. Ein Blick in das innere<br />

Wesen der Philosophie zeigt uns aber, dass ihre Kultur eigentlich<br />

eine Pseudokultur ist, indem die verschiedenen Kategorien derselben<br />

im Menschen nur das endliche Sein, das Tierische schauen, das nur<br />

sein persönliches Ich in den Vordergrund stellt und alles nach dem beurteilt,<br />

was seine körperliche Individualität interessiert. So entsteht<br />

der Kampf um den Lebensunterhalt, der zu einem Streit um die<br />

Macht ausartet, zumal doch der Staubmensch kein anderes Interesse<br />

und Ziel auf Erden hat.<br />

Das Zeitalter der Philosophie ist eine Entwicklungsstufe der<br />

verhüllten Geheimkultur, die eine Grundursache alles sozialen Uebels<br />

ist. Allerdings beeinflussen auch die ökonomischen Verhältnisse<br />

und der Entwicklungszustand der Technologie das soziale und kulturelle<br />

Leben und determinieren die Ideologie in ihrer Entwicklung.<br />

Aber zu beachten ist, dass die heutige tiermenschliche Weltanschauung<br />

die Fesseln der Welt überhaupt nicht überwinden und den Ethos<br />

nicht zur Geltung kommen lassen kann. Nur eine geistige Revolution,<br />

ein gewaltiger Sprung in der Erkenntnis, die ätherische Weltansicht<br />

des „Uebermenschen" wird die inneren Fesseln und alle<br />

Ketten der rohen philosophischen Selbsterkenntnis zerschmettern,<br />

und nur dies Erkennen wird die Umwandlung und Ueberwindung der


192<br />

heutigen, in eine Demoralisierung, Unterdrückung und Ausbeutung<br />

ausgearteten Lebensformen bewirken und das gebundene Leben frei<br />

machen.<br />

Wenn Genosse M. Kaufer meint, dass ohne Philosophie keine<br />

Kultur möglich ist, so antworte ich ihm, dass ohne Selbsterkenntnis<br />

keine Kultur, kein freies Leben möglich ist. Nur das klare Sonnenlicht<br />

des Erkennens kann die Kultur aus dem Sumpfe der heutigen<br />

Aera herausheben und zum Leben bringen. Julius Skall.<br />

Aus dem Tagebuch eines Propagandisten.<br />

Der kommende Sonntag war uns allen ein Galatag; für mich<br />

ein doppelter. Vormittags war ich durch Reichmann einem italienischen<br />

Genossen vorgestellt worden, dessen Liebherzigkeit und<br />

genössische Solidarität einen vorzüglichen Eindruck bei mir hinterlassen<br />

haben. Wie fast alle italienischen Genossen — nennen<br />

wir ihn C. — ist C. ein Anarchist vom Kopf bis zu den Füssen, wenn<br />

ich mich so — verzeihet mir den harten Ausdruck — ausdrücken<br />

darf. Dabei besitzt er dasjenige in unvermindertem Masse, was<br />

den meisten von uns leider im Laufe der Jahre abhanden kommt:<br />

C. hat sich ganz seine Innigkeit des Gemütes bewahrt, die zu den<br />

lieblichsten Eigenschaften seiner ganzen Rasse gehört, bei ihm aber<br />

den harmonischsten Ausklang findet. Sein Verhältnis zu seiner<br />

Freundin, einer schwarzäugigen, zart-schönen, italienischen Genossin,<br />

seine Sanftmut, sein Edelsinn, seine Solidarität einer anderen Genossin<br />

gegenüber, einer Lehrerin, die sich bei ihm aufhielt, — in den<br />

paar Stunden, die ich in dieser Wohnung eines hochgesinnten Proletarierkreises<br />

verbrachte, empfand ich in mir ein Hochgefühl jener<br />

seligen Ahnung, die uns beschleicht, wenn wir uns in die Zukunftsgemeinschaft<br />

freier Männer hinein versetzt denken ....<br />

Und nachmittags kam der zweite, allgemeine Galapunkt aufs<br />

Tapet: unsere Versammlung. Ich sprach über „Die Aktionsmittel<br />

des proletarischen Befreiungskampfes in historischer Beleuchtung".<br />

Es war ein Vortrag, der augenscheinlich einschlug, grosse Begeisterung<br />

hervorrief und die zwei Wortführer der Sozialdemokratie,<br />

die sich eingefunden hatten, mussten eingestehen, dass sie den Argumenten<br />

des Gegenstandes nicht gewachsen waren. Aus der Versammlung<br />

heraus wurde an mich das Ersuchen gerichtet, in einem<br />

Zyklus von weiteren drei Vorträgen die diversen Grundprinzipien<br />

unserer Weltanschauung eingehender darzulegen. Ich musste ablehnen<br />

— schade, dass ich es tat, der Leser weiss bereits, weshalb!<br />

— schmiedete aber das Eisen, so lange es glühend war. Und da die<br />

Brüsseler Genossen vor allen Dingen einer internen Organisation bedurften<br />

— bislang bestand sie noch nicht — begann ich mit bestem<br />

Erfolge mit dem Aufbau einer solchen. Rund 20 Genossen folgten<br />

meiner Aufforderung und konstituierten die Gruppe.<br />

(Schluss folgt.)<br />

Verantwortlicher Redakteur: Paul Nicolaus, Charlottenburg.


Durch den Verlag der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen:<br />

Der Wohlstand für Alle<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

Preis nur 1,50 Mk.<br />

Soeben ist erschienen:<br />

Revolutionäre Regierungen.<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

„Die revolutionären Regierungen" ist eine der besten Broschüren<br />

Kropotkin». Da dieselbe seit Anfang der 90er Jahre nicht<br />

mehr zu haben ist, kommen wir mit der Herausgabe den Wünschen<br />

vieler Freunde entgegen und geben wir der deutschen anarchistischen<br />

Bewegung eine wirksame Agitationsbroschüre in die Hand.<br />

Preis 5 Pfg., bei Bezug von 400 Expl., 1 Pfg. pro Exemplar.<br />

Die Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>."<br />

Brot, Müsse, Liebe<br />

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Brot, Müsse, Liebe hat in Frankreich in kurzer Zeit vier<br />

Auflagen erlebt. Sie behandelt kurz, übersichtlich und allgemeinverständlich<br />

die wichtigsten Faktoren, die zum Glücke der Menschen<br />

gehören: Brot, Müsse, Liebe.<br />

Die Broschüre ist eine Propagandaschrift im wahrsten Sinne<br />

des Wortes. Preis 10 Pfg.


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Das anarchistische Manifest<br />

Von Pierre Ramus.<br />

„Das anarchistische Manifest" ist eine Propagandabroschüre<br />

im wahren Sinne des Wortes. In kurzen, aber allgemeinverständlichen<br />

Worten begründet und erläutert der Verfasser die<br />

Forderungen, welche wir Anarchisten an eine menschliche, für<br />

Alle glückliche Gesellschaft stellen.<br />

Preis 5 Pfennig.<br />

Um diese Broschüre aber auch hinsichtlich des Preises zu<br />

einer Agitationsbroschüre zu machen, geben wir dieselbe bei Bezug<br />

von 400 Exemplaren mit<br />

1 Pfennig pro Exemplar<br />

ab. 400 Exemplare kosten mit Porto 4,50 Mark.<br />

Wir bitten um umgehende Bestellung<br />

Demnächst gelangt zur Ausgabe :<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Der Generalstreik.<br />

Diese Broschüre ist die 3. in unserer Serie und wird zu<br />

denselben Bedingungen wie „Das anarchistische Manifest" geliefert.<br />

Bestellungen nimmt schon jetzt entgegen<br />

Der Verlag „Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>".<br />

Druck : Buchdruckerei M. Lehmann, Berlin.


<strong>2.</strong> Band. Heft 9<br />

März 1908.<br />

Verlag H. Mertins,<br />

Berlin NW. 52, Werftstr. <strong>2.</strong>


Zur Beachtung.<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

An unsere Leser. Die Geschäftskommission.<br />

Die Kommune. Theo Heermann.<br />

Der Anfang der sozial-revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

ia Deutschland. Saul.<br />

Zur Kritik und Würdigung des Syndikalismus. Pierre Ramus.<br />

Gegenwart und Zukunft. Berthold Cahn.<br />

Kultur und Fortschritt. F. Thaumazo.<br />

Der Zweck des Lebens. N. J. C. Schermershorn.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge über sämtliche theoretische,<br />

historische, biographische und literar-künstlerische Erkenntnisse<br />

des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmäßiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Postsendung,<br />

in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Heller,<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen für die Redaktion<br />

der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre Ramus,<br />

Wien 3. Löwengasse 5, 3-10.<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche Mitteilungen<br />

sind zu richten an den Verlag: H. Mertins, Berlin NW.,<br />

Werftstr. <strong>2.</strong><br />

In London ist die ,<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch<br />

zu beziehen.<br />

B. Mandl, London N. 7<strong>2.</strong>, Beweden Str. 7<strong>2.</strong>


— 194 —<br />

Bewegung .ist und im Kampf um ihr Bestehen nicht untergehen darf.<br />

Allseitig anerkannt ist die Notwendigkeit einer deutschsprachigen Revue<br />

des Anarchismus. Ehrenpflicht eines jeden Genossen und Lesers der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" ist es, an seinem Teil nach Maßgabe seiner Kräfte beizutragen<br />

zur Unterstützung unserer, seiner Zeitschrift.<br />

Was Wenigen zur Unmöglichkeit wird, das Weiterbestehen der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" zu sichern, das wird und muß sich mit leichter<br />

Mühe ermöglichen lassen, wenn jeder sein Scherflein beiträgt Nach wie<br />

vor werden die Genossen, welche jetzt bemüht sind, die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

über alle Fährnisse, hinwegzubringen, allen Widerwärtigkeiten<br />

'Trotz bieten und mit äußerster Anspannung ihrer Kraft versuchen, ihren<br />

vorgefaßten Plan im Interesse der anarchistischen Bewegung zur.Durchführung<br />

zu bringen. Doch die Last wird den Wenigen zu schwer; darum<br />

ist es unerläßlich, daß unsere Reihen gestärkt werden durch neue Kämpfer.<br />

Keine leeren Phrasen rufen wir den Genossen zu. Bitter ernst ist<br />

die Situation. Genossen! Ihr habt es in der Hand, das Aeußerste zu<br />

verhindern. Gedenke Jeder seiner Pflicht als Leser und zahle regelmäßig<br />

sein Abonnement! Tue Jeder noch außerdem ein Uebriges und<br />

opfere eine Kleinigkeit! Ein solch geringfügiges Opfer kann und darf<br />

nicht schwer fallen; wird es doch gebracht im Interesse unseres anarchistischen<br />

Ideals! Als Ehrenpflicht muß es jeder Leser der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" betrachten, mitzuwirken und mitzuhelfen am Ausbau seiner<br />

Zeitschrift. Mitschaffen muß jeder, der es wahrhaft ernst meint mit<br />

dem Kampf um unser anarchistisches Ideal.<br />

Genossen! Wirkt nach besten Kräften für die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

Seid unermüdlich tätig» werbt neue Abonnenten und unterstützt Eure Zeitschritt<br />

durch freiwillige Beiträge! Euer Stolz muß es sein, die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" finanziell sicher zu stellen. Beweist es durch die Tat, daß<br />

Ihr nicht willens sein, Eure Zeitschrift zu Grunde gehen zu lassen.<br />

Gönnt Euren Gegnern nicht den Triumph, die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" eingehen<br />

zu lassen.<br />

Jeder ein Agitator! Zeigt, daß Ihr die Kraft habt, das einmal<br />

Geschaffene zu erhalten, trotz aller Stürme. Setzt Eure ganze Energie<br />

daran, die Summen aufzutreiben, welche zur Herausgabe der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" nötig sind.<br />

Rafft Euch auf, zeigt, daß Ihr wirklich Kämpfer seid, Kämpfer,<br />

welche gern und freudig bereit sind, für ihre Ideale Opfer zu bringen.<br />

Und wenn nur der ernste Wille vorhanden ist, dann findet sich auch<br />

ein Weg! Zaudert nicht mit Eurer Hilfe; bedenkt, daß Ihr, indem Ihr<br />

gebt, für unser Ideal, für die Anarchie wirkt!<br />

Beherzigt das Wort: Doppelt gibt, wer schnell gibt. Die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" wird nicht verfehlen, ihren Dank abzustatten, indem sie<br />

vorangehen wird im Kampfe gegen alle unsere Feinde, im Kampfe für<br />

dieses hohe Ideal: die Anarchie.<br />

Genossen! Unterstützt uns in diesem Kampf, werbt und wirkt für<br />

die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" und sendet Eure freiwilligen Spenden an die<br />

Adresse des Genossen: Herrn. Mertins, Berlin NW, Werftstraße <strong>2.</strong><br />

Die Geschäftskommission.


— 195 —<br />

Die Kommune.<br />

(Der Vergangenheit und Gegenwart gewidmet.)<br />

Zwei Büttel führten sie, — vor ihr zerteilte sich die Menge<br />

Und staute sich in Strudel hinter ihr . . .<br />

So sah ich sie auf einmal — und die Sommersonne<br />

Erblich und alles gaukelte vor mir.<br />

Zum Herzen schoß das Blut, und Mitleid und Empörung<br />

Erfaßten mich, daß mir der Atem schwand;<br />

Die Hände krampften sich, die Augen flackerten und glommen<br />

Und ins verzerrte Antlitz flog der Brand!<br />

Ich blieb in Qualen stehn und biß die Zähne auf einander<br />

Und sah ihr, heimlich stöhnend, lange nach — —<br />

Ach, keine Hand, kein Ruf erhob sich zur Befreiung, niemand,<br />

Ach niemand kam, der ihr die Gasse brach!<br />

Hier folgte ihr der Schmerz, hier hob sie staunendes Bedauern,<br />

Dort spann der Abscheu ihr schon den Garaus<br />

Und düsterte versteckter Grimm in manchem Augenwinkel,<br />

So spähte Neugier hundertäugig aus . .<br />

Die Schergen schlenderten, die Schlachtgewehre auf der Schulter,<br />

Gelangweilt hinter ihr und vor ihr hin,<br />

Sie aber schritt gesenkten Hauptes, selbstbewußt gelassen,<br />

Ein Bild der Würde, eine Königin.<br />

Sie schritt so schlicht, so rein, so unberührt vom Stadtgedränge<br />

Dahin in ihrem blauen Lenzgewand,<br />

Wie eine Fremde, deren Seele andern Welten zufliegt —<br />

Ein rotes Röslein in der Hand — — !<br />

Moskau. Theo Heermann.


— 196 —<br />

Der Anfang der sozial-revolutionären<br />

Gewerkschaftsbewegung in Deutschland.<br />

„Anarchistisch-syndikalistisch" — das war in letzer Zeit das<br />

Schreckgespenst, welches den großen und kleinen Kindern innerhalb<br />

der deutschen Gewerkschaftsbewegung bis zum Ueberdruß vorgeführt<br />

wurde. Partei- und Gewerkschaftsblätter waren in rührender<br />

Uebereinstimmung bemüht, ihren getreuen Schäflein Grauen einzuflößen<br />

vor dem schrecklichen Anarchismus und Syndikalismus.<br />

Verständlich genug ist ja das emsige Bemühen der roten Pfaffen;<br />

galt es doch, die ersten Keime einer gesunden Gewerkschaftsbewegung<br />

auszurotten, das Erwachen, das Selbständigwerden der<br />

deutschen Arbeiterschaft zu hintertreiben zum dauernden Nutzen<br />

des autokratischen Führertums.<br />

Die kleine, aber immerhin lebensfähige „<strong>Freie</strong> Vereinigung<br />

deutscher Gewerkschaften" war den berufenen<br />

Führern der sozialdemokratischen Partei und noch mehr denen der<br />

Zentralverbände längst ein Dorn im Auge. Der Generalstreikpropaganda<br />

und dem dieser entwachsenden Skeptizismus gegenüber<br />

dem Parlamentarismus mußte entgegengetreten werden, solange<br />

Dummheit und Arroganz noch machtvolle Faktoren der Arbeiterbewegung<br />

waren. So machten denn die Zentralverbandsführer<br />

mobil, um ihre bedrohte Domäne zu schützen; dabei begegneten<br />

sie dem liebevollen Verständnis der sozialdemokratischen Parteigrößen,<br />

deren Herrlichkeit gleichfalls gefährdet war. Bereits auf<br />

dem sozialdemokratischen Parteitag in Lübeck drängten die Gewerkschaftshäuptlinge<br />

zu energischem Vorgehen gegen die „lokalistischen<br />

Zersplitterer der Gewerkschaftsbewegung", ohne ihr Ziel zu erreichen.<br />

Der Parteitag nahm eine Resolution an, in welcher die Zentralverbände<br />

als beste gewerkschaftliche Organisation empfohlen und<br />

die Parteigenossen ersucht werden, aus den Lokalorganisationen<br />

auszutreten und sich den Zentralverbänden anzuschließen! Es war<br />

das erste, unerhört infame Vorgehen auf der Bahn der Einmengung<br />

der Politiker in die Kampfesangelegenheiten einer ökonomischen<br />

Bewegung.<br />

Obige Resolution fand jedoch keinerlei Beachtung, und so<br />

versuchten die Gewerkschaftsführer ihr Glück abermals auf dem<br />

Parteitag 1906 zu Mannheim. Dort erreichten sie, daß der Parteivorstand<br />

beauftragt wurde „... bis zum nächsten Parteitag<br />

den Versuch zu machen, in Verbindung mit<br />

der Generalkommission diese Frage im Sinne der<br />

Lübeckschen Resolution zu regeln..." Die Anträge,<br />

welche ein schärferes Vorgehen gegen die Lokalisten forderten,


— 197 —<br />

fanden nicht genug Gegenliebe, sodaß die Haupttreiber in dieser<br />

Angelegenheit sich mit diesem einen Erfolg begnügen mußten.<br />

In Ausführung obigen Auftrages wendete sich der Parteivorstand<br />

nun an die Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n Vereinigung<br />

deutscher Gewerkschaften", die sich dann mit den einzelnen Organisationen<br />

der „<strong>Freie</strong>n Vereinigung" in Verbindung setzte. Dieser<br />

Schritt zeitigte für die Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie<br />

einen nur minimalen Erfolg, da nur zwei Gewerkschaften sich bereit<br />

erklärten, überhaupt in Einigungsverhandlungen einzutreten. Darauf<br />

hin unternahm es der Parteivorstand, direkt an die der „<strong>Freie</strong>n<br />

Vereinigung" angeschlossenen Organisationen heranzutreten, um<br />

dieselben für die Einigung empfänglich zu machen. Dieser mit<br />

allen möglichen raffinierten Mitteln unterstützte Versuch brachte<br />

die Einigungsfreunde insofern ihrem Ziele näher, als sich nun eine<br />

ganze Reihe von Gewerkschaften der Eini ung geneigt zeigten.<br />

Allerdings war eine ganz respektable Kulissenarbeit notwendig, um<br />

die Dinge soweit zu treiben, daß die Einigungsverhandlungen in<br />

der Oeffentlichkeit fortgesetzt werden konnten.<br />

Die Zentralverbände machten „weitgehende Konzessionen",<br />

welche den Lokalisten den Uebertritt erleichtern und versüßen<br />

sollten. Zwar bedeuten diese Zugeständnisse im Grunde genommen<br />

wenig oder garnichts; den Einigungsfreunden jedoch genügten sie,<br />

um sich mit allen Kräften für das Zustandekommen der Einigung<br />

ins Zeug zu legen. Mit Hochdruck wurden die Verhandlungen<br />

betrieben, um sobald wie möglich damit zu Ende zu kommen und<br />

allen Einigungsgegnern das Wasser abzugraben. Zum Teil wurden<br />

die Mitglieder erst nach Beendigung der Verhandlungen in Kenntnis<br />

gesetzt, also vor eine vollendete Tatsache gestellt. In verhältnismäßig<br />

kurzer Zeit fanden eine Anzahl Konferenzen der die Einigung<br />

wünschenden Organisationen statt, trotzdem diese kurz zuvor dem<br />

Parteivorstand geantwortet hatten: „Aenderung in unserer<br />

Haltung kann uns wohl der 8. Kongreß vorschreiben;<br />

vor Stattfinden dieses Kongresses ist es uns<br />

unmöglich, eine andere als diese Antwort geben<br />

zu können."<br />

Trotz dieses Hinweises auf den 8. Kongreß der „<strong>Freie</strong>n<br />

Vereinigung hielten einige Organisationen es für angebracht, bereits<br />

vor diesem Kongreß die Einigungsverhandlungen anzubahnen und<br />

zum Teil auch zum Abschluß zu bringen.<br />

Die Vereinigung der Zimmerer beschloß bereits in den ersten<br />

Tagen des Dezember den Uebertritt mit 27 gegen 22 Stimmen.<br />

Eine auch aus dem Stimmenverhältnis ersichtliche sehr starke Opposition<br />

stand der Einigung feindlich gegenüber, so daß ein Uebertritt<br />

der gesamten Mitglieder nicht stattfindet.


— 198 —<br />

Der Allgemeine deutsche Metallarbeiterverband hat eine Einigung<br />

abgelehnt; jedoch sind innerhalb dieser Organisation neuerdings<br />

Zwistigkeiten entstanden, welche wahrscheinlich eine Spaltung<br />

herbeiführen werden. Hier spielt der Verbands-Vorsitzende Wiesenthal<br />

eine sehr bedenkliche Rolle, um die ihn wohl kein anständiger<br />

Mensch beneiden wird, die aber dem Charakter des sattsam bekannten<br />

Herrn durchaus entspricht.<br />

Die Schiff- und Bootsbauer, welche als die ersten „Geeinigten"<br />

angesehen wurden, konnten auf ihrer Ende Dezember stattfindenden<br />

Konferenz die Uebertrittsbedingungen nicht akzeptieren und lehnten<br />

daher die Einigung mit 18 gegen 5 Stimmen ab, trotzdem sich<br />

der Vorsitzende sowohl als die Vertreter des Schiffszimmerer-Verbandes<br />

die denkbar größte Mühe gaben, den Delegierten die Suppe<br />

möglichst schmackhaft zu machen.<br />

Die Maurer- und die Bauarbeiter-Organisationen beschlossen<br />

auf ihren Konferenzen, den Uebertritt zu vollziehen. Bei den<br />

letzteren war gleichfalls eine ansehnliche Minderheit gegen die<br />

Einigung vorhanden.<br />

Bei allen diesen Konferenzen wurde von den Einigungsfreunden<br />

stets das gleiche Argument für die Einigung geltend gemacht:<br />

„Die „<strong>Freie</strong> Vereinigung" ist nicht mehr sozialdemokratisch, sondern<br />

anarchistisch-syndikalistisch geworden, daher ist es uns als Sozialdemokraten<br />

unmöglich, ihr fernerhin anzugehören." Die dieses<br />

Argument anführenden Redner wußten zwar ganz genau, daß die<br />

„<strong>Freie</strong> Vereinigung" nichts weiter getan hatte, als was ihr auf dem<br />

7. Kongreß beschlossenes Programm besagte; doch es war ihnen<br />

darum zu tun, die „<strong>Freie</strong> Vereinigung" zu sprengen und die Anhänger<br />

derselben in Mißkredit zu bringen und dazu war ihnen jedes<br />

Mittel recht, sofern es Erfolg versprechend schien. Mit mehr oder<br />

minder großem Erfolg gelang es denn auch, Anarchismus und<br />

Syndikalismus als das schreckliche Etwas hinzustellen, vielmehr zu<br />

entstellen, und den geduldigen Schäflein Grauen und Entsetzen<br />

einzuflößen.<br />

Unter solchen Verhältnissen begann am 2<strong>2.</strong> Januar dieses<br />

Jahres der 8. Kongreß. Bereits zu Anfang stand es fest, daß alle<br />

Bemühungen der Einigungsfreunde nicht vermocht hatten, die<br />

Grundvesten der autonomen „<strong>Freie</strong>n Vereinigung" zu erschüttern.<br />

Zwar war der Kongreß; außerordentlich stark besucht von den an<br />

der Einigung Interessierter.; die das Fortbestehen der „<strong>Freie</strong>n<br />

Vereinigung" wünschenden Organisationen aber waren gleichfalls<br />

auf dem Posten und machten alle Pläne der Gegner zu schanden.<br />

Nach Erledigung des 1, und <strong>2.</strong> Punktes der Tagesordnung mußten<br />

die Delegierten der Organisationen, welche den Uebertritt in die<br />

Zentralverbände bereits 1<br />

beschlossen hatten, den Kongreß verlassen.<br />

Dabei ging es nicht ohne stürmische Scenen ab, aber an der Tat-


— 199 —<br />

sache, daß das Weiterbestehen der „<strong>Freie</strong>n Vereinigung" gesichert<br />

war, ließ sich trotz alledem nichts ändern.<br />

Die Einigung, wie sie von den Zentralverbänden und der<br />

sozialdemokratischen Partei gewünscht war, konnte nicht zustande<br />

gebracht werden; die Idee des Syndikalismus hat bereits zu feste<br />

Wurzeln gefaßt.. Wohl haben die Einigungsfreunde es fertig gebracht,<br />

in Verbindung mit „der berufenen Vertreterin der Arbeiterklasse",<br />

der Sozialdemokratie, einen Teil von der „<strong>Freie</strong>n Vereinigung"<br />

loszureißen. Der übriggebliebene Teil aber steht fester als<br />

vordem, denn alle zweideutigen und zweifelhaften Elemente sind<br />

untergetaucht in dem großen Sumpf der Zentralverbände, wo sie<br />

es sich Wohlergehen lassen können bei Prinzipienlosigkeit und<br />

Bömelburgscher „Ruhe".<br />

Der 8. Kongreß hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß die<br />

„<strong>Freie</strong> Vereinigung" auf syndikalistischem Boden steht und entschlossen<br />

ist, auch fernerhin syndikalistische Bahnen zu gehen.<br />

Durch die Einigungsversuche sind die Zauderer, welche doch nur<br />

hemmend auf die Entwicklung wirken konnten, abgeschüttelt worden;<br />

es wird dadurch auch in Deutschland möglich sein, die wirklich<br />

revolutionäre Gewerkschaftsbewegung vorwärts zu bringen. Den<br />

Verlust der 5000 Mitglieder wird und kann die „<strong>Freie</strong> Vereinigung"<br />

verschmerzen; hat sie doch die Gewähr, daß der festgebliebene<br />

größere Teil durchdrungen ist von der ihm zustehenden großen<br />

Aufgabe, bahnbrechend zu sein für die deutsche Arbeiterschaft.<br />

Daß bei der Lösung dieser Aufgabe die Anarchisten Deutschlands<br />

redlich ihren Mann stehen müssen, ist selbstverständlich.<br />

Für eine syndikalistische Gewerkschaftsbewegung alle Kräfte einzusetzen,<br />

stets frisch pulsierendes Leben zu wecken und entschlossen<br />

und zäh den Kampf mit dem Kapitalismus durchzufechten bis ans<br />

Ende, ist eine Arbeit, zu deren Bewältigung die Anarchisten stets<br />

bereit stehen werden.<br />

Saul.


— 200 —<br />

Zur Kritik und Würdigung<br />

des Syndikalismus.<br />

Motto:<br />

„Aus dem Mißbrauch allgemeiner Begriffe<br />

entsteht ein bloßer Wortkram: von einem solchen<br />

lehrt uns das scheußlichste Beispiel die kopfverderbende<br />

. . . . , als in welcher er bis zum<br />

baren Unsinn getrieben wird."<br />

(Aus Arthur Schopenhauers sämtl. Werken.<br />

[Brockhaus 1877] Bd. IL p. 603.)<br />

Auch Momentphasen der historischen Entwicklung können,<br />

wenn durch klare Orientierung über sie in ein richtiges Verhältnis<br />

zum allgemeinen, großen Ziel des proletarischen Emanzipationskampfes<br />

gebracht, von bedeutendem Werte für die nach idealen<br />

Zielen strebenden Menschheitsteile sein. Nur über ihre geistige<br />

Erkenntnis, nur über das Verständnis dieser Momentphasen und<br />

der ihnen entlehnten Wegweiser hinweg, führt unser Pfad zum<br />

Endziel. Eine objektive Anschauung, Erwägung und dann klare<br />

Wertschätzung solcher Momentphasen ist also schon deshalb unumgänglich<br />

notwendig, weil sie, wenn irrtümlich und oberflächlich<br />

erfaßt, leider nicht Förderungsmittel, sondern eher verwirrend wirken<br />

und Hindernisse für das von hellem Zielbewußtsein geleitete Zukunfsringen<br />

sein oder werden können. Besonders dann geschieht<br />

dies, wenn ihre Bedeutung überschätzt wird durch mangelhafte<br />

Kenntnis des wirklichen Tatbestandes, dieser überhaupt dazu dienen<br />

soll, das zeitlich vielleicht Richtige, aber ganz sicher Vergängliche,<br />

an die Stelle dessen zu- setzen, was unvergänglich richtig, unüberwindlich<br />

in der Positivität seines Strebens ist: — Das anarchistische<br />

Ideal und die ihm dienende Weltanschauung.<br />

Weltanschauungen müssen nicht notwendigerweise dogmatische<br />

Religionen sein. Wohl ist auch die Religion eine Weltanschauung,<br />

doch nicht weil sie Weltanschauung ist sie Religion. Es wäre dies<br />

ein totaler Fehlschluß. Eine Weltanschauung wird erst dann zur<br />

Religion, wenn sie gewisse, sinnlich nicht wahrnehmbare Dinge, Hoffnungen,<br />

Zielpunkte u.dgl.m., für universal giltige Dogmen<br />

erklärt, über deren Zwecke und Wesenheit hinaus es keine Entwicklung<br />

geben dürfe. Weder das anarchistische Ideal, noch die<br />

anarchische Weltanschauung können ein Dogma sein. Beide beziehen<br />

sich auf die persönliche Individualität eines jeden Einzelnen<br />

und ergeben das Gesellschaftsbild nicht in ihren allgemein giltigen,<br />

dogmatischen Grundsätzen für das Sozialleben, sondern, gerade<br />

darin durchaus antitheologisch, in einem rein individuellen Ausdruck:


— 201 —<br />

Die Anarchie ist nicht Zweck, sie ist nur ein Mittel in der Kulturentwicklung.<br />

Das Individuum schafft sich seine Gesellschaft,<br />

die Individuen schaffen sich ihre Gesellschaft. Der Anarchismus<br />

ist keine Religion, weil er kein für Alle maßgebliches Dogma<br />

anerkennt; er ist Weltanschauung, weil er in seinen Untersuchungen<br />

nicht ausgeht von imaginären, nur vielleicht zeitweise Bestand<br />

habenden Dingen, sondern von der einzelnen Individualität, ihren<br />

jeweilig besonderen Bedürfnissen, die in der anarchistischen Gesellschaft<br />

ihre besondere Befriedigung finden können müssen.<br />

Hingegen kann es in jeder Weltanschauung vorkommen, dass<br />

gewisse in ihrem Wesen liegende aktuelle Betätigungsmittel, Momentphasen<br />

des Erkennens und Tuns, daß sie eine durchaus dogmatische<br />

Religion werden und damit sehr oft vom wahren Endziel ihres<br />

eigentlichen Wesens abirren. Wir haben das im Falle der Sozialdemokratie<br />

mit dem Parlamentarismus gesehen; heute ist ihr das<br />

Endziel des Sozialismus nichts, die Momentbeteiligung des Parlamentarismus<br />

alles. Und es ist eine Erscheinung ähnlicher Tendenz<br />

in der Bewegung des Anarchismus, die mich veranlaßt, auf eine<br />

Klärung der Begriffe zu dringen und einmal mit objektiver Gründlichkeit<br />

zu untersuchen, welche Bedeutung der Syndikalismus für<br />

die anarchistische Bewegung hat, was sein Wesen und inwiefern er<br />

im Stande, demjenigen des Sozialismus und Anarchismus ein selbständiges<br />

Ideal entgegen zu stellen. Diese Untersuchung ist um<br />

so notwendiger, als bis zu einem gewissen Grade auch für die<br />

deutsche anarchistische Bewegung das Problem aktuell geworden<br />

ist; wie auch deshalb, weil wir in der Perversion des Syndikalismus,<br />

wie sie sich in dem durchaus sinnlosen Satz, er genüge<br />

für sich selbst und könne allein als einzige Kampfesbewegung die<br />

sozialen Ziele des proletarischen Befreiungskampfes erreichen, am<br />

deutlichsten darbietet, der Syndikalismus sich zu einem religiösmystischen<br />

Dogma schlimmster Art verdichtet hat.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Wie ist der Syndikalismus entstanden? Was ist der Syndikalismus?<br />

Worin liegt seine Bedeutung, sein Wesen, seine Zukunftsmöglichkeit.<br />

Die Bewegung des Syndikalismus ist keineswegs etwas Neues;<br />

neu ist heute an ihr nur eine gewisse Form, die wir später kennen<br />

lernen werden. Sonst bedeutet das französische Wort in deutscher<br />

Uebertragung etwa dasselbe wie Gewerkschaft oder Berufsgenossenschaft.<br />

In Frankreich selbst ist es in der Geschichte der Arbeiterassoziationen<br />

ein seit Buchez allgemein gebräuchliches Wort.<br />

Auch gegenwärtig wird es auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />

Frankreichs angewandt, wie diese es wieder für die gesamte<br />

Gewerkschaftsbewegung des Auslandes anwendet. Das be-


— 202 —<br />

deutendste Gewerkschaftsorgan der französischen Kameraden, die<br />

,,La voix du peuple" (,,Volksstimme"), redigiert von den Genossen<br />

Pouget, Griffelhues, Merrheim, Latapie u. a., spricht jedoch immer<br />

in einem klaren unterscheidenden Sinne von einem „revolutionären<br />

Syndikalismus", von einem „gelben Syndikalismus"<br />

(Streikbrecherorganisationen) und „reformistischen Syndikalismus"<br />

(sozialdemokratische Gewerkschaftsorganisationen). Allen aber ist<br />

eines gemeinsam: das Wort „Syndikalismus", wie es ja nur natürlich<br />

und die theoretische Kenntnis der französischen, syndikalistischen<br />

Genossen ja allerdings hinlänglich bewährt ist, um sie<br />

erkennen zu lassen, daß man einer auf was immer für Grundsätzen<br />

aufgebauten wirtschaftlichen Fachorganisationen des Proletariats den<br />

Namen Gewerkschaftsbewegung (Syndikalismus) nicht versagen<br />

kann.*)<br />

Die bedeutendste syndikalistische Bewegung Frankreichs ist<br />

diejenige, die sich gruppiert hat innerhalb der bekannten „Arbeftskonföderation",<br />

die sich einerseits aus Delegierten der diversen<br />

autonomen Gewerkschaften, wie auch anderseits der Arbeitsbörsen<br />

zusammensetzt. Sie nennt sich in ihren Organen „syndicalisme<br />

revolutionäre", und sie ist auch vollauf berechtigt, den Titel des<br />

revolutionären Syndikalismus zu führen. Für uns sind in vorliegendem<br />

Bereiche alle übrigen Gewerkschaftsbewegungen Frankreichs nebensächlich,<br />

und wir wollen, wie es gemeinhin geschieht, die revolutionäre<br />

Bewegung der „Arbeitskonföderation" etwas ausschließlich aber<br />

kurzweg Syndikalismus nennen und meinen unter diesem Namen in.<br />

der Folge nur sie.<br />

Der französische Syndikalismus ist in dieser Bedeutung eine<br />

ganz junge Bewegung. Aus seiner Entstehungsgeschichte erhellt<br />

für den schärfer Blickenden bereits Vieles, das sonst der weiteren<br />

Ausführung bedarf. Er entstand in der Mitte der 90 Jahre des<br />

vorigen Jahrhunderts. Eine anarchistische Bewegung Frankreichs,<br />

seit den Tagen der Kommune erst in den 80 Jahren wieder empor<br />

kommend, hatte gerade einen Sturmesanlauf vollendet. Es war der<br />

idealistischeste Traum, der je geträumt wurde und der in diesen<br />

Jahren zerstob ; es war der Glaube, den Triumph der anarchistischen<br />

Idee durch das individuelle Märtyrertum, durch den heroischesten<br />

Kampf und die Hinopferung der Einzelpersönlichkeit in die denkbar<br />

nächste Verwirklichungsnähe rücken zu können. Es war das<br />

optimistische Ueberschäumen einer etwa ein halbes Jahrzehnt<br />

währenden Bewegungsetappe, die markiert wird durch Namen wie<br />

Ravachol, Henry, Vaillant, Caserio, etc. Aber gerade in der Zeit<br />

des Aufkommens des Syndikalismus — nicht zufällig, wie wir sofort<br />

sehen werden! —, in die Jahre um 1895 fällt jenes jähe Erwachen der<br />

*) Vgl. u. a. Berth in Fe Mouvement Sozialist, p. 316, <strong>1907</strong>.


— 203 —<br />

französischen Bewegung, das wie mit Posaunen ihnen und oft auch<br />

uns in die Ohren schmettert: Individueller Heroismus allein erstürmt<br />

keine Welt;*) der individuelle Heroismus verliert auch jede<br />

weiter reichende Bedeutung, wenn hinter ihm sich keine bereits einigermaßen<br />

geistig gefestigte Massenminorität befindet, die fest verbunden<br />

ist im Gefühl gleichen idealistischen Strebens und des gemeinsamen<br />

Zieles. Statt einen Aufschwung zu nehmen, hatte die französische<br />

Bewegung einen Niedergang zu verzeichnen; sie verblutete sich.<br />

Eine sofortige Blutstillung war notwendig geworden, sollte die Idee<br />

nicht auf lange hinaus begraben werden unter der Indifferenz, dem<br />

Massenunverstand des Milieus und den Demagogen, die dieses<br />

Milieu zu ihrem Vorurteil ausnutzten, die Politiker, die Sozialdemokraten.<br />

Glücklicherweise fanden sich die Männer, die die nötige Erkenntnis<br />

besaßen, sich an zwei Gestalten des Anarchismus zu<br />

erinnern, die, jede für sich und bis zu einem gewissen Grad versinnbildlich<br />

wurden für das sich nun Bildende: Proudhon und<br />

Bakunin.<br />

Nicht nur die anarchistische Bewegung litt darunter, daß sie,<br />

obwohl jenes oben genannte Individualstreben ja auch einen Widerhall<br />

fand in dem beweglichen Temperament des französischen Volkes,<br />

so doch weder organisatorisch noch irgend wie anders harmonisch geeint<br />

und stark genug gewesen wäre, um die terroristischen Taten auch<br />

nachhaltig ausnützen zu können, kurz keinen Fortschritt machte;<br />

es gab auch noch eine andere Bewegung, der es, wenn auch wegen<br />

anderen Ursachen, so doch in den Wirkungen ähnlich erging. Es<br />

war das die französische Gewerkschaftsbewegung. Zerrissen durch<br />

politische Machtgier der Sozialdemokratie, hin- und hergeschleudert<br />

zwischen den fünf Parteien, denen vor allen daran lag, einen proletarischen<br />

Stützpunkt für ihre politischen Machinationen zu haben,<br />

boten die französischen Syndikate, die einstmals schon so Großes<br />

zu verkünden wußten**'), wenn sie nicht überhaupt nur auf dem<br />

Papier standen, ein Bild bejammernswürdiger Zerfahrenheit. Und<br />

hier war es, wo, ausgehend von den Ideen des Anarchismus eines<br />

Proudhon — Pelloutier blieb bis zuletzt Proudhonist — und den<br />

Ideen der bakunistischen Juraföderation der „Internationale", unsere<br />

*) Sehr klar und unwiderlegbar hat uns dies auch der vorläufige<br />

Verlauf der russischen Revolution bewiesen. Eine vorzüglich informierte<br />

Person schreibt mir aus Rußland unter dem Datum des Novembers<br />

<strong>1907</strong>: „Bei uns in Rußland muß nun die aktuelle Arbeit ganz jene<br />

Formen annehmen, wie bei Euch im Ausland: Schaffung einer theoretisch<br />

und taktisch wohl fundierten Bewegung."<br />

**) Vgl. Sigmund Engländers „Geschichte der französischen Arbeiterassoziationen",<br />

1864.


— 204 —<br />

Kameraden — die Pouget, Griffelhuis, Delesalle, Camora, Luquet<br />

u. a. m. — mit aller Macht einsetzten: Es waren die Anarchisten,<br />

die in die Syndikate mit dem ausgesprochenen<br />

Vorsatz eintraten, diese von den<br />

politischen Parteien loszureißen, sie auf wirtschaftlicher<br />

Grundlage, als kämpfende Körperschaften<br />

zu stellen und sie zu Zweckmitteln<br />

für die wirtschaftliche und soziale Erringung<br />

des Sozialismus und Anarchismus zu gestalten!*)<br />

In mehr als einem Sinne ist dies gelungen, konnten sie<br />

triumphieren. Dadurch, daß die Anarchisten in die aktive Berührung<br />

mit dem Proletariate kamen, gewannen sie denjenigen<br />

Boden unter den Füßen wieder, den sie vorübergehend, im ersten<br />

Rausche eines sehr nahe scheinenden Revolutionszieles, eingebüßt<br />

hatten. Die nächsten Jahre waren ausgefüllt von rührigster Konstruktionsarbeit.<br />

Wer sich die Mühe nimmt, die ersten Jahrgänge<br />

der „Voix du Peuple" durchzusehen, findet ein vollständig anarchistisches<br />

Organ vor sich. Die Bewegung war eben noch klein<br />

und schien, mit jedem Tage zunehmend, sich allmählich zu einer<br />

ausgesprochen Wirtschaftlichen Kampfesbewegung des Anarchismus<br />

auswachsen zu wollen. Es war dies die in einem gewissen<br />

Sinne beste Periode des Syndikalismus; von Kampf zu Kampf<br />

eilend, errang er durch die Furcht, die seine neue Erscheinung<br />

dem Unternehmertum einflößte, Sieg auf Sieg. Und trotz dieses<br />

unablässig geführten Klassenkampfes vergrößerte sich die Gruppierung,<br />

festigte sich der Organisationsbau.<br />

Darüber konnte kein Zweifel vorherrschen, daß man es hier<br />

mit einer anarchistischen Kampfesbewegung auf wirtschaftlichem<br />

Gebiet zu tun hatte, die, getreu den Lehren der jurassischen Föderation<br />

die Sozialreform zu einer praktischen, lebendigen Tatsache<br />

machte, eben durch die wirkliche, von revolutionärem Kampf abgerungene<br />

Reform außerhalb des Gesetzbuches und des Parla-<br />

*) Wie recht ich habe, und daß es sich bei dem Eintritt der<br />

Anarchisten ursprünglich nur um Förderung des grossen .Endziels<br />

handeln konnte, nicht um den Ausbau einer etwa ganz neuen Organisationsoder<br />

Bewegungsform, sondern nur um die Propaganda ganz bestimmter<br />

Ideale, beweist mir eine Broschüre von Griffelhues („Die syndikalistische<br />

Aktion"), die mir nach Abfassung dieses Aufsatzes zu Gesieht kam.<br />

Darin konstatiert der Verfasser ausdrücklich, daß die gegenwärtigen<br />

Formen der Organisation, z. B. die Arbeitsbörse von Paris und<br />

die Föderation der Börsen auch dem Wirken der Rechten und<br />

Linken des sozialdemokratischen Lagers Frankreichs, den Allemanisten<br />

und Possibilisten zu verdanken seien. Was konnten da noch die Anarchisten<br />

anderes tun als den Anarchismus einzuführen?!


— 205 —<br />

ments, im sozialen Leben, von Fabrik zu Fabrik, von Arbeitsgewerbe<br />

zu Gewerbe. So etwas wie Neutralität gab es damals<br />

noch nicht; wie es ja in Wirklichkeit so etwas nie geben kann für<br />

eine moderne Arbeiterbewegung, die sich stets auf gewisse theoretisch-prinzipielle<br />

Anschauungen stützen muß und auch unweigerlich<br />

stützt. Schon 1897 kamen die Ideen der direkten Aktion, der<br />

Sabotage, des Boykotts, des Generalstreiks in den Vordergrund<br />

der Diskussion und teilweise auch Aktion, kurz sämtliche Aktionsmittel<br />

der jurassischen Internationale, auf die diese im Gegensatz<br />

zum Parlamentarismus gewiesen hatte.*) Der Anarchismus gründete<br />

eine Bewegung, und diese lohnte es ihm, indem sie seine Lehren<br />

und Ideen im praktischen Kampf, im organisatorischen Wirken betätigte.<br />

Eine jede Kampfesbewegung, bei der es sich weniger um<br />

Ideale und theoretische Prinzipien als um Augenblicksforderungen<br />

und Methoden handelt, läuft Gefahr, sich durch Zeitereignisse in<br />

ihrem Wege beirren zu lassen. Es liegt das an der wesentlichen<br />

Eigenart der Bewegung, die genötigt ist, ihre Massen- und Kampfestaktik<br />

sehr oft an momentanen Kleindingen stumpf werden zu<br />

lassen.<br />

Die Jahre 1899 bis 1901 brachten uns den moralischen Zusammenbruch<br />

der französischen Sozialdemokratie. Das Millerandexperiment<br />

hatte ihn herbeigeführt. Und nun stand das ernstere,<br />

aber noch durchaus marxistische Element dieser Partei vor der<br />

Frage: Was nun; was tun? Die Massen wandten sich von der<br />

Sozialdemokratie ab, und die Ersteren erkannten deren vollständige<br />

Impotenz sehr wohl. Da fiel ihr Blick auf den französischen Syndikalismus,<br />

der in ihm werbenden Anarchisten; es dämmerte ihnen<br />

die Erkenntnis auf, daß diese Bewegung sehr wohl imstande, die<br />

Gegenwartsmöglichkeiten des Proletariats zu erkämpfen, überhaupt<br />

nur durch eine wirtschaftliche Aktionsbewegung der politische<br />

Faktor gestärkt werden könne, wie auch, daß sie ein integraler<br />

Bestandteil derjenigen Faktoren war, die an der Ueberwindung der<br />

bürgerlichen Weltordnung arbeiteten. Sie traten der Bewegung<br />

*) Wie lächerlich borniert und unwissend es ist, diese Aktionsmittel<br />

der gegenwärtigen syndikalistischen Bewegung Frankreichs als ein<br />

von ihr quasi Erfundenes hinzustellen und daß dieselben in ihrer Propaganda<br />

und Theorie ausschließlich im Anarchismus, lange vor der<br />

modern syndikalistischen Bewegung wurzeln, beweist u. a. auch James<br />

Guillaume, dieser noch lebende Mitbegründer der Juraföderation,<br />

der im „Bulletin" der Föderation schon in der Ausgabe vom J. November<br />

1874 diese Kampfesmethoden des Proletariats darlegte; in der<br />

Nummer des „Bulletin" vom 28. Februar 1875 propagierte auch Adhemar<br />

Schwitzguebel die direkte Aktion usw. (Vgl. „L'Action<br />

directe" 1908, Paris).


— 206 —<br />

bei. Nicht ohne ihre Bedingungen zu stellen, die, wenn auch nicht<br />

ausdrücklich, so doch indirekt gestellt wurden und in der bekannten<br />

Neutralitätsresolution von Amiens (1906) ihren Gipfelpunkt erreichten.<br />

Einer derjenigen, Hubert Lagardelle, der innerlich mit der Partei<br />

der Sozialdemokratie längst gebrochen, aber noch lange nicht Anarchist<br />

ist, stellt diese Phase sehr anschaulich und folgendermaßen<br />

dar:*)<br />

,, . . . Die Sozialdemokraten, Anarchisten und sonstige Freiheitskämpfer<br />

traten zusammen gegen den gemeinsamen Feind; es ist<br />

diese Bewegung, aus der die neue Bewegung, die man Syndikalismus<br />

nennt, geboren wurde. Und zur gleichen Zeit, als diese Bewegung<br />

sich gruppierte, veränderten sich auch die sich an ihr beteiligenden<br />

Sozialdemokraten . . . , die ihre politischen Glaubenssätze,<br />

die nicht mit den Wirklichkeiten des Momentes übereinstimmten,<br />

verwarfen, wie auch die Anarchisten . . . , die ihre Aktion<br />

modifizierten und sich außerordentlich aktiv an der methodischen<br />

Organisation der Arbeiterklasse beteiligten . . . Und es geschah<br />

in Folge dieser generellen Entwicklung, durch die fortschrittliche<br />

Fusion aller dieser Elemente im Rahmen derselben gemeinschaftlichen<br />

Aktion, durch die Ausschaltung aller Ueberbleibsel der Vergangenheit,<br />

daß im Proletariat eine neue Klassenpolitik gebildet<br />

wurde, die weder sozialdemokratisch-parlamentarisch noch anarchistisch-antiparlamentarisch,<br />

sondern einfach syndikalistisch ist;<br />

eine eigene proletarische Politik, die die Herrin über ihr eigenes<br />

Schicksal werden und endlich sagen können wird: Ich allein, und<br />

das ist genug!"<br />

Abgesehen von einigen anachronistischen und kausalen Unrichtigkeiten,<br />

stellt dies die Entwicklung des französischen Syndikalismus,<br />

bis herauf zu uns, ziemlich korrekt dar. Denn mit der<br />

Popularität des Syndikalismus, mit der steigenden Anhängerschaft,<br />

schwand für ihn die Möglichkeit, ebenso kompromißlos wie früher<br />

zu bleiben. Das Geschick aller Massenbewegungen ereilte ihn.<br />

Daß der französische Syndikalismus noch immer eine gesunde,<br />

revolutionäre Bewegung darstellt, ist weniger ihm selbst zu verdanken,<br />

als den bitteren, politischen Erfahrungen, die das französische<br />

Proletariat gemacht, und weil diejenigen noch immer an der<br />

Spitze stehen, die ihrem ganzen Wesen nach revolutionär und von<br />

der Weltanschauung des Anarchismus durchdrungen sind. Doch<br />

selbst sie können nicht mehr, wie sie eigentlich möchten, wie es<br />

uns der vollständige Mangel an Initiative der Konföderation während<br />

der Revolten der südfranzösischen Bauern im Spätsommer <strong>1907</strong><br />

bewies; wie es uns die gegenwärtige Tatenlosigkeit gegenüber der<br />

Marokkoaffaire beweist.<br />

*) „Le Mouvement Socialiste", Jahrg. 9. III. Serie, Nr. 189 und<br />

190. Die Zeitschrift ist durch und durch theoretisch-syndikalistisch.


— 207 —<br />

Es handelt sich hier nicht um eine Herab Würdigung,<br />

vielmehr um eine Würdigung des Syndikalismus. Aber jede Würdigung<br />

muß kritisch sein. Und wenn ich auch gern konstatiere und<br />

das mit größter Befriedigung, daß der Syndikalismus Frankreichs<br />

eine vorzügliche proletarische Emanzipationsbewegung, die vor<br />

allen Dingen das grandiose Verdienst besitzt, die französischen<br />

Arbeiter immer mehr von der Nutzlosigkeit des Parlamentarismus,<br />

der Notwendigkeit der ökonomischen Aktion des Generalstreiks<br />

und der politischen des Antimilitarismus zu überzeugen, so ist es<br />

dennoch wichtig, angesichts der schon angeführten Neutralitätsresolution<br />

zu konstatieren: Alle ihre guten Seiten betätigen die<br />

Syndikalisten in weitaus überwiegender Majorität nur instinktiv,<br />

mehr denn je benötigen sie jetzt, in einer Periode ihrer reißenden<br />

Zunahme, der Propaganda der Ideale und der Weltanschauung<br />

des Sozialismus und Anarchismus. Es darf nicht außer acht gelassen<br />

werden, daß jene Neutralitätsresolution — „Ich allein, und<br />

dies ist genug!" — von Griffelhues nicht etwa darum eingebracht<br />

wurde, weil er wörtlich der Meinung war, daß die syndikalistische<br />

Bewegung allein schon genüge, das soziale Welt- und<br />

Kulturproblem zu lösen. Das ist Unsinn. Es geschah dies überhaupt<br />

nicht aus theoretischen, sondern, wie immer in derlei Fällen,<br />

aus praktisch-taktischen Gründen heraus. Gegenüber den heute erneut<br />

aufstrebenden Vorstößen und Versuchen der Sozialdemokraten,<br />

die anarchistische Leitung zu überrumpeln, pochend auf die Vergeßlichkeit<br />

des Proletariats, die nun nach Hunderttausenden zählende<br />

Bewegung vielleicht wieder in die Garne des Parteipolitikantentums<br />

einspinnen zu können — gegenüber solchen gefährlichen Anschlägen<br />

mußte Griffelhues seine Neutralitätsresolution einbringen, teils um<br />

die Sozialdemokraten abzuschlagen, was denn auch vorläufig gelang,<br />

teils um ihren Versuchen einen starken Riegel vorzuschieben, und<br />

endlich weil er klar genug einsehen konnte, daß, wie immer auch<br />

der Wortlaut einer Resolution sein mochte, eine jede auf strikt<br />

ökonomischem Gebiete gehaltene Kampfesbewegung nur von<br />

anarchistischen Tendenzen, von keinen anderen inspiriert ist, trotz<br />

aller Neutralitätsresolutionen die kämpfenden Avantgarde einzig und<br />

allein des Anarchismus bilden kann.<br />

* * *<br />

(Schluß folgt.)<br />

Pierre Ramus.


— 208 —<br />

Gegenwart und Zukunft.<br />

Wir weben das Tuch<br />

Den Protzen zur Freude<br />

Und uns zum Leide —<br />

Das ist der Arbeit Fluch.<br />

Wir holen die Kohlen aus finsterem Schacht,<br />

Wir hämmern, wir feilen bei Tag und bei Nacht.<br />

Wir füllen mit Schätzen der Erde Reich,<br />

Uns färbt der Hunger die Wangen bleich.<br />

Denn frechen Blickes Gott Mammon thront<br />

Und in der Tiefe das Elend wohnt.<br />

Das Elend kennt nicht Friede noch Lust<br />

Es tötet das Kind an der Mutter Brust.<br />

Ach, die Ihr auf sonnigen Plätzen weilt<br />

Von prunkendem Glanze umflossen —<br />

Fluch stört nicht das Elend, nicht die Not,<br />

Denn die Armen, sie schaffen für euch das Brot —<br />

So emsig und unverdrossen.<br />

Das ist der Fluch, der die Armen trifft,<br />

Weil sie im Dienst der Schlemmer frohnen<br />

Und weil sie wähnen, ein düst'res Geschick<br />

Hieß sie entblößt, und verlassen vom Glück,<br />

In dumpfigen Höhlen wohnen.<br />

Doch seh' ich im Geiste die Anarchie,<br />

Die sich entledigt von Herrn und Knechte;<br />

Frei blickt der Mensch zum Menschen empor,<br />

Es schwindet der Priester heiliger Chor<br />

Mit ihrem geschriebenem Rechte!<br />

Berthold Cahn.


— 209 —<br />

Kultur und Fortschritt<br />

I.<br />

Secan: Ich bin begierig, Deinen Auseinandersetzungen zu<br />

folgen. Zweifle jedoch, daß Du imstande sein wirst, mich von dem<br />

Fortschritt, den die Menschheit mit ihrer sogenannten Kultur gemacht,<br />

zu überzeugen.<br />

Vynan: Sehr wohl. Die Aeußerungen kultureller Fortschritte<br />

sind jedoch so mannigfach, daß wir nun einen allgemeinen<br />

Ueberblick halten, die einzelnen Entwicklungen nicht Raum passieren<br />

lassen können. Das Wachstum der Kultur selbst ist eben die Geschichte<br />

der Zivilisation. Und inwieweit dieses Wachstum in seinem<br />

Fortschritt der menschlichen Glückseligkeit dienlich ist, erfüllt die<br />

Kultur einer geschichtlichen Periode ihren Zweck. Und auf diesen<br />

Punkt sollen wir am Ende unserer Diskussion zurückkommen.<br />

Secan: Recht so. Vor allen Dingen aber erkläre mir, was<br />

das für Faktoren sind, die Du für die Kulturfrage anerkennst.<br />

Vynan: Auch das nur in größeren Umrissen. Alles, was<br />

zur Förderung der körperlichen Wohlfahrt dient, veränderlich je<br />

nach Klima und Jahreswende, wie z. B. Kleidung, Wohnung, Nahrung;<br />

alles, was zur Hebung des Gesundheitszustandes, beiträgt;<br />

alles, was den geistigen Bestrebungen ein offenes Feld bereitet<br />

den Künsten, Wissenschaften und Genüssen keine Schranken setzt,<br />

oder versucht, ihnen zu ihrem Rechte zu verhelfen; alles, was den<br />

Aberglauben und das Vorurteil beseitigen hilft, die Liebe zum<br />

Leben und zur Menschheit entfacht, die geistigen Fähigkeiten stärkt<br />

und die Seele zu höheren Anschauungen erhebt, — alles das, sage<br />

ich, sind Faktoren, welche in ihren Nuanzierungen eine niedere von<br />

einer höheren Kultur unterscheiden.<br />

Secan: Willst Du die Zivilisation asiatischer Völker und<br />

früherer Jahrhunderte mit der unsrigen vergleichen?<br />

Vynan: Das läßt sich nicht mit Gerechtigkeit tun. Die<br />

Erfordernisse verschiedener Klimata bedingen andere Lebensweisen,<br />

andere Nahrung; die geographische Lage steigert und vermindert<br />

die Energie der da hausenden Menschen; ein geringerer Verkehr<br />

zwischen den Völkern hat eine Verknöcherung des Herkömmlichen<br />

im Gefolge: durch all das beeinflußt, gewinnen der Gedankengang<br />

und die Kunst ein eigenartiges Gepräge, das sich mit anderen<br />

Zivilisationen nur in geringem Maße vergleichen läßt.<br />

Secan: Wenn wir aber das Massenelend der Gegenwart<br />

in den stolzen Kulturstaaten Europas und Amerikas mit den egypti-


— 210 —<br />

schen Zuständen der Pharaohs vergleichen, müssen wir dann nicht­<br />

Rousseau Recht geben, wenn er behauptet, daß die Zivilisation<br />

eher das Elend als das Glück der Menschen herbeiführt?<br />

Vynan: Diese Behauptung hat den Anschein von Wahrheit.<br />

Wandern wir jedoch von der uns bekannten ersten geschichtlichen<br />

Periode bis zu unserer Zeit hin, so können wir nicht umhin,<br />

als einzugestehen, daß, dornig wie der Weg zum Glücke ist, wir<br />

doch den fast undurchdringlichen Wald von Unverstand, Vorurteil,<br />

Aberglauben und Furcht vor Naturgewalten und unnatürlichen<br />

Einbildungen sich allmählich lichten sehen dank dem forschenden<br />

Geiste des Menschen, Ich erkenne an, daß Rousseaus tiefes Mitgefühl<br />

eine brilliante Beredsamkeit ins Gefecht brachte, vor der<br />

allein die französische Akademie kapitulierte. Dann aber stellen<br />

wir uns auf den Standpunkt Guizots, der in kurzen und treffenden<br />

Sätzen den Unterschied der Werte von Kulturstützen zusammenfaßt:<br />

„Die Zivilisation" sagt er „mag betrachtet werden als die<br />

Vervielfältigung künstlich erzeugter Wünsche und der Mittel und<br />

Verfeinerung von physischen Genüssen. Sie kann aber auch den<br />

Stand einer körperlichen Wohlfahrt verbinden, mit einer höheren<br />

geistigen und materiellen Kultur in sich fassen. Nur im ersten<br />

Sinne kann sie als ein Uebel betrachtet werden."<br />

Secan: Du behauptest also, wenn ich Dir richtig gefolgt<br />

bin, daß die Faktoren, welche zur Hebung der Zivilisation beitragen,<br />

welche die Kultur eines Volkes oder einer Zeit pprtraitieren,<br />

zweierlei Ursprungs sind, d. h. geistiger und materieller Natur.<br />

Mit anderen Worten bedingen diese Faktoren den Fortschritt<br />

kultureller Entwickelung. Der Papst wird das gewiß bestreiten.<br />

Vynan: Und vielleicht auch andere, denen es nicht recht<br />

ist, daß wir zu immer reiferem Verständnis des Daseinszweckes<br />

oder, besser vielleicht, der jetzigen Zwecklosigkeit des Daseins<br />

kommen. Nichts destoweniger bedeutet jede Entwickelung aus<br />

unbewußten oder minder verstandenen Verhältnissen der Menschen<br />

zur Natur und zu einander in vollkommenere und sich bewußte<br />

Grade, bedeutet diese Entwickelung, sage ich, einen Fortschritt.<br />

Du hast recht, die Faktoren sind materieller und geistiger Natur.<br />

Die geographische Lage, die klimatischen Einflüsse, die Ernährung<br />

der Bevölkerung, die Berührung und Vermischung von Menschen<br />

und Rassen sind materielle, die religiösen, politischen und sozialen<br />

Ideen geistige Faktoren.<br />

Es wäre aber falsch anzunehmen, daß der eine Faktor ohne<br />

die Begleitung eines zweiten — materieller ohne geistiger Fortschritt<br />

et vice versa — lange bestehen kann. So eng gehören<br />

sie zusammen, daß sie oft von einander nicht können unterschieden<br />

werden. Weil der eine zur Entwicklung des andern bedingt ist und<br />

der Verfall einer Kultur droht, wo der eine Faktor auf Kosten des


— 211 —<br />

zweiten aufgebaut wird. Hier finde ich den scharfen Unterschied,<br />

den Guizot zwischen den Uebeln und dem Wert der Zivilisation<br />

zieht. Wenn z. B. die geographische Lage eines Landes durch<br />

reiche natürliche Verkehrsmittel (wie große Flüsse) die Verbindung<br />

zwischen Völkern erleichtert, so ist dieser materielle Faktor geeignet,<br />

durch die Annäherung verschiedener Völker mit verschiedenen<br />

Gebräuchen und Anschauungen den gegenseitigen geistigen Horizont<br />

zu erweitern. Alle alten Kulturstaaten und -Gemeinden entwickeln<br />

sich in reich bewässerten Gebieten. Hingegen sehen wir<br />

Völker und Kulturen aussterben und verderben, in ihren Gebräuchen<br />

und Anschauungen verkümmern, sobald sie sich von dem Kontakt<br />

mit andersgesitteten und andersdenkenden Menschen abgeschlossen.<br />

Europa, im Beginne seiner Kultur von verschiedensten Völkerschaften<br />

bewohnt, leicht verbunden durch eine reiche Bewässerung, — die<br />

die Energie gestählt und wachgehalten von einem günstigen Klima,<br />

— Europa ward bald ein mächtiger Faktor zur Hebung materieller<br />

und geistiger Wohlfahrt. Aber in einer Zeit, wie die unsrige, wo<br />

durch tausende Meilen entfernte Menschen sich in einigen Stunden<br />

verständigen können, in einer Zeit, wo durch Dampf und Elektrizität<br />

die räumlichen und zeitlichen Grenzen zu verschwinden scheinen,<br />

verliert die geographische Lage größtenteils ihren Wert als Kulturfaktor.<br />

Secan: Ich halte aber dafür, und Du wirst hiergegen<br />

nichts einzuwenden haben, daß Institutionen der Leibeigenschaft,<br />

der Sklaverei in irgend einer Form nicht zu den Errungenschaften<br />

der Kultur gehören, und finden wir sie doch in jeder sogenannten<br />

höchstentwickelten Kulturstufe.<br />

Vynan: Du wirst mir die Beantwortung Deines Einwandes<br />

am Schlusse meiner Auseinandersetzungen erlauben. Jetzt<br />

wirst Du Dich mit einer teilweisen Erklärung genügen müssen.<br />

Das große Hindernis, das dem Fortschritt auf allen Gebieten<br />

begegnet, bietet die Tatsache, daß der Mensch ein Gewohnheitstier<br />

ist, daß es einem Menschen und Volke schwer fällt, von Gebräuchen,<br />

die feste Wurzeln in ihrem inneren oder öffentlichen<br />

Leben geschlagen, mit endgültigem Beschlusse sich loszureißen.<br />

Das Alter und Altertum erscheint noch immer wie ehedem der<br />

Mehrzahl der Menschheit unantastbar in seiner Ehrwürdigkeit.<br />

Heiligte das Mittel den Zweck der Jesuiten, so heiligt das Alter<br />

mit dem Glorienschein des Unverstandes jedes Unrecht. Weil<br />

Jahrtausende hindurch das Institut der Sklaverei bestanden, wurde<br />

es als heilig und unantastbar erklärt. In Rußland traten sonst von<br />

fortschrittlichen Ansichten geleitete Personen für die Beibehaltung<br />

der Leibeigenschaft ein. Obschon das organisatorische Talent der<br />

Frauen erwiesen ist, ihre Bedeutung auf dem wirtschaftlichen Gebiete,<br />

immer schärfer hervortritt, gelingt es nur mit großer Mühe


— 212 —<br />

und unter Schwierigkeiten, die ihnen zukommende Stellung zu<br />

sichern. Und das Proletariat der Städte, wie des flachen Landes,<br />

ausgestattet mit dem Rüstzeug der Kulturerrungenschaften, die es<br />

an die Reklamierung des Bodens und der Produktionsmittel gemahnt,<br />

— das Proletariat hat sich noch nicht von dem Wahne<br />

befreien können, daß das Alter die bestehenden Zustände erprobt<br />

und somit geheiligt hat.<br />

Secan: Du beweisest nur meinen Standpunkt! Das Proletariat<br />

ist ein Produkt der „hohen Kultur". Und auch die Frau,<br />

nicht zum mindesten der Blaustrumpf, der auf der Stufenleiter von<br />

Notorität und Phrasenschwulstsich eine politische und soziale<br />

Stellung erringt!<br />

Vynan: Leider, leider. Du hättest ja Recht, wenn eine<br />

Kultur auf dieser Stufe stehen bliebe. So wenig ich aber schon<br />

am Ende meiner Weisheit bin, so wenig, hoffe ich, hat die Annahme,<br />

daß wir ans Ende der Kultur angelangt sind, irgend welche<br />

Berechtigung.<br />

Uebrigens ist die Behauptung nicht richtig, daß das moderne<br />

Proletariat, das, ebenso wie die egyptischen Frohnsklaven, zum<br />

Ruhm und zur Lust seiner Zwingherren die Quadersteine mit dem<br />

Aufgebote aller Kräfte und oft seiner Manneswürde zusammenträgt,<br />

sich auf derselben sozialen Stufe wie seine Brüder vor 2000 bis<br />

6000 Jahren befindet. Nicht nur ist sein geistiger Horizont überall<br />

da erweitert, wo eine materielle Verbesserung seiner Lage stattgefunden<br />

— und verbessert hat sich seine Lage je nach dem<br />

Grade der gelungenen Beschränkung der Regierungsformen, —<br />

sondern dadurch, daß mit der französischen Revolution am Ende<br />

des achtzehnten Jahrhunderts der Intellekt der Menschheit, Jahrtausende<br />

geknebelt, befreit worden ist, beginnt das modernere<br />

Proletariat eines der mächtigsten Faktoren in der Kultur zu sein<br />

und bricht für die Glückseligkeit der Menschheit eine vielversprechende<br />

Aera an.<br />

Secan: Viel zu viel Ehre. Das Proletariat hat bislang noch<br />

nichts getan, wozu es nicht mit der Peitsche getrieben ward.<br />

Seine Freunde hat es in seiner rohen Weise erst angehocht und<br />

dann aufgezogen, — nicht mit Worten oder Belehrung oder Spott,<br />

— dazu war es immer zu tölpelhaft, — sondern mit dem Strick<br />

um den Hals. Die städtischen Proletarier hat seit der gerühmten<br />

Revolution nur an Einbildung und Eitelkeit gewonnen, nicht aber<br />

an Einsicht. Wenn es ihren Führern, die rühmlicherweise in den<br />

meisten Fällen anderen Klassen entstammen, nicht gelänge, sie<br />

mit einem ungeheuren Aufwand an Zeit und Kenntnissen in Begeisterung<br />

zu hypnotisieren, das städtische Proletariat hätte schon<br />

längst das letzte Recht aufs letzte Hemd für den Handdruck mit


— 213 —<br />

einem Mächtigen und eine Prise verkauft. Daß Du vor lauter<br />

Proletariern den Pöbel nicht sehen willst!<br />

Vynan: Nicht immer grau in grau malen. Sonst siehst<br />

Du vor lauter Tusche die Konturen nicht. Wohlan, vergleichen<br />

wir mit ein paar scharfen Zügen die Arbeiter eines alten mit denen<br />

unseres Kulturzustandes. Ohne Beweise dafür zu haben, hatten die<br />

Gelehrten immer angenommen, daß Kenntnisse von der Anwendung<br />

des Hebels und der Winde bei den Babyloniern und Egyptern<br />

bestanden. Wie anders hätten die Riesen-Pyramiden und -Gebäude,,<br />

aus mächtigen Steinen zusammengesetzt, aufgeführt werden können?<br />

Wie hätte man sich sonst die Fortschaffung vom Ort des Bruches<br />

von Steinen, die 60 Fuß breit, 12 Fuß Höhe und 9 Fuß Tiefe<br />

hatten, erklären können — in Ländern, die keine anderen Lasttiere<br />

kannten als Menschen? Freilich Sklaven, welche einer roheren<br />

Behandlung ausgesetzt waren als unsere Zugtiere! Und in der<br />

Tat fand man bei der Ausgrabung von Niniveh ein bas-relief, das<br />

die Anwendung des Hebels illustriert, das zu gleicher Zeit aber<br />

auch den ungeheuren Fortschritt, den die Geschichte der Entwicklung<br />

gemacht, aufweist. Stelle Dir das Bild vor, und Du hast<br />

die Zustände der absoluten Willenlosigkeit der Arbeiter, und vergleiche<br />

es dann mit dem Arbeiter der Gegenwart, der nicht nur<br />

zu murren, zu drohen und zu rechten wagt, sondern ernstlich daran<br />

denkt, über die Zustände der Knechtung zu Gericht zu sitzen und<br />

aus allen Erfahrungen der Geschichte das Fazit zu ziehen, daß der<br />

Möglichkeit einer Vergewaltigung des einen durch den andern mit<br />

der Befreiung des Menschen von der Gier nach einflußerhöhenden<br />

Gütern und vom Wahne der Verehrung unverstandener Ueberlieferungen<br />

ein Ende bereitet werden soll.<br />

Aber stelle Dir doch das Bild vor, das aus dem bas-relief<br />

spricht: Eine kolossale Statue ruht in einem Schlitten, der von<br />

hinter ihm hergehenden Sklaven vermittelst der Gabel fortgeschoben<br />

wird. An beiden Seiten Reihen von Sklaven, die mit strammen<br />

Tauen die Statue in Position halten müssen. Voran schreiten vier<br />

Reihen von menschlichen Arbeitstieren, welche, mit festen Seilen<br />

über den gekrümmten Rücken, den Schlitten mit der Statue vorwärtsschleppen,<br />

während emsige Hände immer frische Roller unter<br />

das Gefährt werfen. Aber hier endet das Bild nicht; hier und da<br />

sinkt ein Arbeiter erschöpft nieder oder, nicht länger imstande,<br />

den Anweisungen der zahlreichen, mit Peitsche und Knüppel versehenen<br />

Aufseher gerecht zu werden, wird er zur Strafe an Ort<br />

und Stelle niedergemacht. Was immer an Erfindungen im Altertum<br />

gemacht worden waren, — das Los des Arbeiters wurde nicht<br />

leichter, sondern schwerer. Nach Beendigung eines Krieges brachten<br />

die Sieger die Reste eines Volkes, das nicht genügend abgemetzelt<br />

worden war, als Gefangene in die Heimat, und ob diese wie wilde


— 214 —<br />

Tiere gekettet durch die Straßen Roms geschleift wurden oder<br />

unter namenlosen Folterqualen Kanäle für die Wasserzufuhr nach<br />

den Städten bauen mußten, das Los dieser Arbeiter war so trostlos,<br />

daß sie kein Interesse an der Entwicklung und kein Verständnis<br />

für den Bestand der Kultur haben konnten, daß nicht der Aufbau,<br />

sondern lediglich die Zerstreuung der Kultur ihnen hätte einleuchten<br />

können, daß mit diesem interesselosen Bestandteil als Ballast die<br />

alten Schiffe jener Kulturen dem Tode geweiht waren, so bald ein<br />

in sich zusammenhängenderes Volk sie angriff.<br />

Secan: Du beweisest nur, wie Recht ich habe, wenn ich<br />

die Zivilisation samt und sonders verdamme. Ich bin dafür, daß<br />

wir zur Mutter Natur zurückkehren, weil nur an ihrem Busen wir<br />

die uns wohltuende Nahrung finden können. Füttere mich nicht<br />

mit den gewürzten Essenzen aus der schmutzigen Küche der<br />

Kultur, wenn das einzige, das mir nottut, ein krystallnes Sonnenbad<br />

auf freier Flur ist.<br />

Vynan: Mein lieber Freund, ich werde Dir noch andere<br />

Dinge zu beweisen versuchen als die Barbarei der Zivilisation. Und<br />

ich glaube, daß Du am Ende finden wirdst, daß wir dieselben<br />

Ziele verfolgen. Allerdings wirst Du dann aufgehört haben Dir<br />

einzubilden, daß das Leben ein Traum ist in einem Blumengarten<br />

voll Duft und Sonnenschein.<br />

Ich finde, daß Naturvölkern und -Menschen es natürlich erscheint,<br />

Vorgänge in der Natur auf unnatürliche Weise zu erklären<br />

und auf unnatürliche Ursachen zurückzuführen. Wehe aber jenen<br />

Völkern und Menschen, wenn inmitten ihrer Grenzpfähle das Wissen<br />

auftritt und zum Eigentum einer Klasse, sei es der Priester oder<br />

eines anderen Standes, wird! Ich brauche nicht die Tatsachen aus<br />

der Geschichte zu zitieren, um Dir das Vorkommen von Naturvölkern<br />

zu beweisen. Das ist allzu bekannt. Laß uns aber zu einem<br />

Faktor der Kultur, zur Kunst, übergehen. Hier wirst Du allerdings<br />

wieder einwenden, daß sie einesteils als Spielzeug, andernteils als<br />

Ausbeutungsobjekt dient. Das beweist aber Guizots Ausspruch<br />

von den Uebeln der Zivilisation, läßt aber den Fortschritt des<br />

menschlichen Genius an sich deutlich erscheinen. Es heißt, der<br />

König von Siam hätte einen Kragenknopf, in welchem eine Miniatur-<br />

Uhr enthalten ist, welche stündlich schlägt, und ein Arrangement<br />

enthält, vermittelst welchem die königliche Nase gekitzelt wird, wenn<br />

er geweckt sein will. Klingt unglaublich und lächerlich, Ist aber<br />

weniger unglaublich als lächerlich. Die Regierungs-Druckerei in<br />

Washington hat eine Presse, welche innerhalb einer Stunde 200 000<br />

im Oktavformat gedruckte Buchseiten auswerfen kann. Keine<br />

Seltenheit, die nicht überboten werden könnte. Wie vergleicht<br />

sich diese geniale Tätigkeit mit der Kunst der Assyrier, deren<br />

Druckmethoden ungefähr dieselben waren als die heutzutage in


— 215 —<br />

China obwaltenden, oder mit dem langsamen und mühevollen Abschreiben<br />

von Diktaten bei den Römern! Wenn die Früchte<br />

aller Erfindungen jedem Mitglied der Menschheit ganz und voll<br />

zuteil würden, die Genialität nicht zum dienerischen Wesen von<br />

Einzelnen oder Ständen gewungen wäre, welches Wissen, welches<br />

Glück brächten diese Faktoren der Kultur. Fürwahr, Guizot hat<br />

Recht!<br />

(Schluß folgt.)<br />

F. Thaumazo.<br />

Der Zweck des Lebens.<br />

(Schluß.)<br />

Schon jetzt können wir näher angeben, was wir als den<br />

Zweck des Lebens ansehen. Er liegt in dem einen: Die Eroberung<br />

des vollen Lebens. Gerade darauf müssen<br />

wir den ganzen Nachdruck legen. Es Rändelt sich um eins, um<br />

das vollständige Leben!<br />

Das Leben hat verschiedene Seiten.<br />

Wir haben erstens unser materielles Dasein. Wir haben dafür<br />

zu sorgen, daß unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden.<br />

Dafür führen wir unsern täglichen Daseinskampf, dafür vereinigen<br />

wir unsere intellektuellen und physischen Kräfte mit denen der<br />

Natur. Alles, was lebt, sowohl die Pflanze und das Tier als der<br />

Mensch, wünscht vor allem seine materielle Existenz zu bewahren.<br />

Der Organismus macht sich in dieser Hinsicht kräftig geltend;<br />

aber auch wo dies nicht der Fall wäre, das Verlangen zu leben ist<br />

allem eigen, was da lebt, wie auch nicht weniger der Drang, sich<br />

fortzupflanzen, sich zu vermannigfaltigen. Kann dieses Verlangen<br />

nicht befriedigt werden, kann diesem Drange nicht Genüge getan<br />

werden, so verbindet sich damit ein Gefühl des Mangels, der<br />

Glückszerstörung.<br />

Hieraus ist erklärlich, daß ein so ungeheures Defizit an Glück<br />

in unserer kapitalistischen Gesellschaft besteht. Ja, Tausenden,<br />

Millionen fehlt die Daseinsgewißheit ganz und gar, sie wissen heute<br />

nicht, ob sie morgen zu essen haben werden.<br />

Aber dennoch hat das Leben andere Seiten.<br />

Der Mensch will erkennen, verstehen, wissen; in ihm ist die<br />

Sehnsucht, in die Probleme einzudringen, die aus der ihn umringenden<br />

Welt zu ihm kommen. Er fühlt das Bedürfnis, seine Gaben


— 216 —<br />

und Anlagen zu entwickeln, zu entfalten. Er kennt die Begierde,<br />

sittlich zu steigen, besser zu werden, Unvollkommenheiten in sich<br />

zu überwinden, als schlecht gefühlte Neigungen zu bekämpfen.<br />

Dies alles möchte ich in diesem Einem zusammenfassen: Der<br />

Mensch will auch geistig leben!<br />

In dem einen schlummert der Künstler, in dem andern der<br />

Gelehrte; dieser hat die Anlage des Denkers, jener die Gabe, sie<br />

mitzuteilen und zu unterrichten; ein anderer kennt kein größeres<br />

Begehren, als in intimer Berührung mit der Natur zu sein usw.<br />

Ihr aller Glück ist, sich ihrem Wesen gemäß zu entwickeln;<br />

darin liegt ihr Lebenszweck.<br />

Aber, wie ist es denn mit allen jenen gewöhnlichen, einfachen<br />

Leuten — nennt sie stiefmütterlich behandelt, wenn ihr wollt —<br />

jenen Menschen, die keine besonderen Gaben oder Neigungen haben,<br />

durch den Zufall, einen Zusammenlauf der Umstände Einwirkung<br />

des Milieus, worin sie leben, in eine bestimmte Richtung getrieben<br />

werden, die irgendwie sich zurecht finden müssen, ganz unabhängig<br />

vom erkennenden Willen?<br />

Auf diese Frage antworte ich folgendermaßen:<br />

„Es gab einmal einen Menschen, der, ins Ausland reisend,<br />

seine Knechte berief und ihnen seine Habe übergab.<br />

Und gab dem einen fünf Talente, dem andern zwei, dem<br />

dritten eines, jedem nach seiner Fähigkeit, und verreiste alsobald.<br />

Der die fünf Talente bekommen, ging hin, sah sich rührig um<br />

und gewann weitere fünf. Der die zwei erhalten, gewann ebenfalls<br />

weitere zwei.<br />

Aber der das eine erhalten, ging hin, scharrte die Erde auf<br />

und vergrub das Geld seines Herrn.<br />

Lange Zeit darauf kam der Herr jener Knechte und hielt<br />

Abrechnung mit ihnen.<br />

Und der die fünf Talente erhalten hatte, kam herbei und<br />

brachte fünf weitere Talente, und sagte: „Herr, du hast mir fünf<br />

Talente übergehen; siehe, ich habe fünf weitere Talente gewonnen."<br />

Sagte sein Herr zu ihm: ,,Gut, du braver und treuer Knecht;<br />

du bist über Weniges getreu gewesen, ich will dich über Vieles<br />

hinsetzen; gehe ein zu deines Herrn Freude."<br />

Es kam auch der mit den zwei Talenten herzugelaufen und<br />

sagte: „Herr, du hast mir zwei Talente übergeben, siehe, ich<br />

habe zwei weitere Talente gewonnen."<br />

Sagte sein Herr zu ihm: „Gut, du braver und treuer Knecht,<br />

du bist über Weniges treu gewesen, ich will dich über Vieles<br />

setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude."<br />

Es kam aber auch der, welcher das eine Talent bekommen<br />

hatte, und sagte: „Herr, ich kannte dich als einen harten Mann.<br />

Willst du ernten, wo du nicht gesät und sammeln, wo du nichts


— 217 —<br />

ausgestreut hast? So fürchtete ich mich, ging hin und verbarg<br />

dein Talent in der Erde; siehe, da hast du das Deinige."<br />

Ich werde es hiermit sein Bewenden haben lassen. Die Leser<br />

haben es begriffen, das Gleichnis mit den Talenten. Vielleicht<br />

verstehen sie auch sogleich die Absicht, die ich mit dieser Erzählung<br />

habe.<br />

Es gibt nämlich Verschiedenheiten der Veranlagungen, oder,<br />

um mit dem Gleichnis zu reden, Verschiedenheiten in Talenten:<br />

dem Einen ist mehr gegeben als dem Andern. Aber keiner ist<br />

ganz ohne ein Talent. Alle haben wenigstens ein Talent. Und<br />

dieses eine Talent ist: der Keim der Menschlichkeit<br />

in uns.<br />

Dieses eine Talent ist: der Mensch im Anfang, der wachsen<br />

und geistig groß werden will. Und dieses Wachsen ist nicht abhängig<br />

von Kenntnis, Wissenschaft, Gelehrsamkeit, nein, dafür ist<br />

nur nötig die ungehinderte Freiheit und ein ernstes Wollen.<br />

Dieses eine Talent — wie wird es vernachlässigt; wie wird<br />

es verdorben; wie wird es begraben unter dicken Schichten von<br />

Konvention, Schlendrian, Gewohnheit, Dummheit, Furcht, Zwang,<br />

Konservatismus!<br />

Und doch weiß man von seiner Existenz; dennoch kommt<br />

bei jedem — weil dieses Talent nicht hinweg zu deuten ist —<br />

fortwährend wieder empor der Drang nach jener wahrhaften Menschlichkeit,<br />

jenem vollerblühten, jenem wirklichen Leben.<br />

Ist es denn verwunderlich, dass es so wenig Lebensschönheit,<br />

so wenig Lebensfreudigkeit, so wenig Glück gibt?<br />

Hier liegt die große Ursache jener Unzufriedenheit mit dem<br />

Leben: es. wird verstanden, daß der Zweck des Lebens nicht erreicht<br />

wird, daß nicht vollauf mit Bewußtheit, mit Intensität gelebt<br />

wird! Aber ist denn darin nicht sogleich das Eine gelegen: daß<br />

vor allem ein Ding wach gerufen werden muß, nämlich die<br />

Lebensleidenschaft, der Wille zum Leben?<br />

III.<br />

Aber ist dies hinreichend, wird da gefragt?<br />

Auch ernsthafte Menschen, die nicht in der Eroberung des<br />

Himmels nach dem Tode den Zweck des Lebens erblicken, hören<br />

wir über Aufgabe, Berufung und Pflicht reden. Sie sagen, daß der<br />

Zweck des Lebens der ist: nützlich sein; nützlich für die Mitmenschen,<br />

für die Gesellschaft. Und es ist gerade unsere Zeit, in<br />

der die sozialen Fragen überragend sind und jeder meint, eine<br />

Meinung über sie zu besitzen, es ist gerade unsere Zeit, welche<br />

diese Auffassung stark in den Vordergrund treten läßt.<br />

Wir müssen unsern Lebenszweck suchen, in das „nützliche<br />

Menschsein" versetzen. Ja, ja! Aber ich möchte doch fragen:


— 218 —<br />

Was ist, nützlich sein, und woraus leitet man das Recht ab, dies<br />

als Lebenszweck aufzustellen?<br />

Hinsichtlich der ersten Frage wird man folgende Antwort<br />

erteilen: „nützlich sein", bedeutet, das materielle oder geistige<br />

Wohlsein der Menschheit fördern; die Mehrung der materiellen<br />

und geistigen Güter. Wer hieran mitarbeitet, ist ein nützliches<br />

Glied der Gesellschaft. Wir haben also nach produktiver materieller<br />

oder sittlicher Arbeit, am liebsten nach beiden zu streben.<br />

Aber nun kommt die Eigentümlichkeit, daß fast alle Arbeit<br />

in unserer Gesellschaft nicht zu dem Zwecke verrichten wird, um<br />

die materiellen oder kulturellen Güter zu mehren, sondern um persönlichen<br />

Gewinnst einzuheimsen, oder wenigstens um dadurch eine Existenz<br />

zu finden. Darum wird so ungeheuer viele wertlose Arbeit getan,<br />

Tausende Menschen beschäftigen sich mit der Produktion von<br />

Dingen, die absolut überflüßig sind; tausende fabrizieren direkt<br />

schädliche Dinge. Wie oft ist es nicht äusserst schwierig, bestimmen<br />

zu können, worin der „Nutzen" vieler Arbeit besteht?<br />

Wie leicht beurteilen wir das durch eine kapitalistische Brille!<br />

Kapitalistisch gesprochen ist ein Feuersgefahr- oder Lebensversicherungsagent<br />

ein sehr nützlicher Mensch und sind alle jene<br />

ungeheure Mengen von Arbeitskraft verschlingenden Versicherungsgesellschaften<br />

ganz gut. Doch die Frage erhebt sich: was produzieren<br />

sie? Was ist z. B. der Nutzen jenes großen Heeres von<br />

Diamantenschleifern, etc. oder Alkoholbereitern; wer rühmt die<br />

Nützlichkeit von Aktieninhabern und Kommissären in Banken und<br />

Handelsinstituten; wer sieht den Nutzen der Millionen des Militarismus<br />

und alles was damit zusammenhängt; wer versteht die Bedeutung<br />

der konservativen Moralprediger, der Journalisten, Geiste<br />

liehen, um auch auf die geistig nutzlose Arbeit hinzuweisen?<br />

Ich stelle diese Fragen — die bis ins Unendliche ergänzt<br />

werden können — in der Absicht, damit die Tatsache ans Licht<br />

zu bringen, wie schwierig es ist, die Bedingungen, denen Arbeit<br />

entsprechen soll, um nützlich heißen zu können, festzustellen.<br />

Aber nun einmal angenommen, daß dies alles nützlich genannt<br />

werden soll, so stehen wir dabei noch vor dieser Tatsache,<br />

daß diese Arbeit nicht glücklich macht. Nach dieser Auffassung<br />

könnten z. B. Tausende produktive Arbeiter als „nützliche" Menschen<br />

betrachtet werden, ihren Lebenszweck erreichen und doch ....<br />

das Glück ist weit entfernt von ihnen. Dies muß verstanden<br />

werden. Denn warum leisten sie ihre Arbeit, warum tun sie sie<br />

auf Kosten ihrer Gesundheit? Weil sie unter dem Zwange der<br />

verhängnisvollen sozialen Umstände, die eine kapitalistische Gesellschaft<br />

ihnen aufbürdet, sie tun müssen. Darum ereignet sich der<br />

sonderbare Fall, daß bei all' diesem „nützlich sein", die „Nützlichen"<br />

das Glück entbehren müssen.


— 219 —<br />

Gewiß, es gibt Menschen, die wir gerne „nützlich" nennen;<br />

ich denke dabei fürs Erste an die Arbeiter des Geistes, die die<br />

Welt merkbar vorwärts bringen (um einige Großen zu nennen:<br />

Elisee Reclus, Kropotkin, Tolstoi, Darwin, Hugo de Vries). Diese<br />

werden dabei glücklich sein im Gefühl, daß sie leben und arbeiten<br />

können in der Richtung ihrer Gaben. Aber würden sie danach<br />

streben, nützlich zu sein? Oder sind ihnen ihre Arbeiten die Folge<br />

ihres Bedürfnisses zu leben?<br />

Es lautet vielleicht paradox, aber es ist richtig zu sagen:<br />

„Ich will nicht nützlich sein, ich verlange nur eines: zu leben."<br />

Und ich glaube mit Gewißheit, daß, wenn jedermann leben dürfte,<br />

könnte, wollte — selbst die Verschiedenheit der Gaben zugestanden<br />

— die Welt davon mehr wahren Nutzen erfahren würde als jetzt,<br />

wo so ungeheuer viele unnütze Arbeit getan wird von „nützlichen"<br />

Menschen, weil die Arbeit nicht verrichtet wird aus innerem Drange,<br />

freiwillig, sondern wegen eines Gewinnes, um eines Vorteiles, um<br />

des persönlichen Wohlergehen willen; wo der Nutzen der wirklich<br />

nützlichen Arbeit nicht den Gewinn Aller bildet, weil in einer<br />

kapitalistischen Gesellschaft es allenthalben Interessenkonflikte gibt.<br />

Aber genug: Ich will mich mit diesen wenigen Bemerkungen und<br />

Betrachtungen begnügen.<br />

Die zweite Frage ist die: Woraus leitet man das Recht ab,<br />

um dies — das nützlich sein — als Lebenszweck vorzuschreiben?<br />

Will man die Menschen dazu zwingen, anders zu sein und zu<br />

handeln, als sie ohne Zwang, aus eigenem, freiem Antriebe tun<br />

würden? Und wer wird jener zwingende „man" sein, oder, so man<br />

hier von „zwingen" nicht zu reden wünscht, wer wird das vorschreiben<br />

können? Das Recht dazu hat keiner. Aber ist es nicht<br />

an und für sich sonderbar, daß einem ein Lebenszweck vorgeschrieben<br />

werden sollte, daß dieser, so versteckt sei, daß er nicht<br />

für jedermann sichtbar? Mir kommt es stark vor, daß wenn die<br />

Menschen durch ihr bloßes Leben nicht „nützlich" sein können,<br />

sie es niemals sein werden. Eine verkehrte Auffassung über den<br />

ethischen Wert des „Nutzen" mag denn vielleicht von vielen gelehrt<br />

werden als Grundlage für jene obengenannte Nützlichkeitspredigt,<br />

aber sie wird das Glück nicht erhöhen.<br />

Sie wird z. B. den Fabriksklaven von seiner Nützlickeit überzeugen<br />

können, aber glücklich machen wird sie ihn nicht.<br />

Nein, das wahrhafte Glück kann nur durch das Leben selbst<br />

gefördert werden, zu seinem Rechte kommen.<br />

Der nützlichste Mensch ist derjenige, der<br />

am intensivsten lebt!<br />

Eine andere Meinung ist die, die den Lebenszweck in der<br />

Liebe erfüllt sieht. Wir leben, um uns zu lieben, so wird da<br />

gesagt.


— 220 —<br />

Ich will nun nicht an sie — vielleicht noch die übergroße<br />

Mehrheit denken, die dies behauptet und meint, daß dieses sich<br />

liebhaben nicht eine absolute Aenderung der gesellschaftlichen<br />

Organisation mit sich führen würde, gemäßigt von etwas Wohltätigkeit,<br />

etwas Freundlichkeit usw. Nein, ich will nur an die denken,<br />

die da fühlen, daß die Liebe Redlichkeit, Wahrheit, reine Solidarität<br />

einschließt.<br />

Dann tritt aber sogleich eine Frage auf: Kann solche Liebe<br />

als Lebenszweck betrachtet werden? Gewiß, Liebe ist viel, sie: erhebt<br />

den Menschen, sie gibt seinem Leben Farbe, aber sie ist nicht<br />

alles. Wenn wir hierüber gut nachdenken, müssen wir zu folgender<br />

Erwägung kommen: Von zweien eines: entweder gehört die Liebe<br />

(wahrhafte Solidarität) zum Wesen der Menschen, oder sie ist ihm<br />

fremd. Ist letzteres der Fall, so wird alle Liebespredigt sich als<br />

eitel erweisen, weil der Mensch wesensgleich bleibt und man ihm<br />

keine Eigenschaften oder Beschaffenheiten künstlich zuführen kann.<br />

Ist aber ersteres wahr, so wird sich dies bei einem wirklichen Leben<br />

ganz von selbst zeigen.<br />

Wohlan, ich bin davon überzeugt, daß der Mensch ein soziales<br />

Wesen mit sozialen Neigungen ist, dem das Solidaritätsbewußtsein<br />

wirklich innewohnt.<br />

Daraus folgt: Leben bedeutet lieben!<br />

Nicht weil es gelehrt, vorgeschrieben wird, sondern weil man<br />

innerlich dazu getrieben wird. Darum wird sich der Mensch seinen<br />

Mitmenschen widmen, sich nötigenfalls stets für sie opfern.<br />

Wir haben nicht nur das Bedürfnis, Teilnahme zu erwecken,<br />

sondern ebensosehr auch Sympathie einzuflößen. Wir wünschen<br />

nicht blos von der Hilfe, der Liebe anderer zu profitieren, wir<br />

begehren auch selbst, jene Hilfe und Liebe darzubringen.<br />

Das lebt in uns. Das stimmt uns glücklich!<br />

Damit fällt aber auch jene Liebespredigt vom „zu leben" als<br />

Zweck des Lebens.<br />

Es liegt, m. E., ein wunderlicher Reiz in unserer natürlichen<br />

Auffassung. Sie erkennt den vollen Wert eines jeden Menschen<br />

an. Sie verleiht das Gefühl des eigenen Wertes. So mancher ist<br />

geneigt zu fragen: Wozu lebe ich? Was kann ich für die Menschheit<br />

sein?<br />

Wir antworten hierauf mit diesem einem: „Lebe!"<br />

Der Mensch muß leben, alle seine Talente gebrauchen wollen,<br />

auch wenn es nur das eine wäre, das jeder besitzt.<br />

Aber ... ich höre sie schon, die Einwände, die dagegen<br />

erhoben werden.<br />

„Dies alles ist leicht gesagt." — „Leben wollen!" — Gewiß,<br />

aber da ist noch etwas anderes: das „leben können". Und es<br />

wird von den Umständen und Verhältnissen erzählt.


— 221 —<br />

Sie sind es allerdings, die das Grab bilden, in das fast ohne<br />

Unterschied die Talente gelegt werden, ohne gebraucht geworden<br />

zu sein. Die Umstände zwingen die meisten, fast an nichts anderes<br />

zu denken, als an die Mittel, um materiell nicht untergehen zu<br />

müssen. Der dämonische Einfluß des Kapitalismus ist so groß,<br />

daß an nichts anderes gedacht werden kann.<br />

Essen muß er, der Künster, und darum kann er seinem<br />

Schöpfungsdrang nicht folgen.<br />

Essen muß er, der Gelehrte, der Dichter, der Denker, der<br />

Visionär, und darum muß er sein Talent vernachlässigen und drückt<br />

einen Komptoirstuhl.<br />

Essen muß er, der Mensch, kämpfen für ein Stück Brot inmitten<br />

des Üeberflusses; und darum muß er lügen, drehen, heucheln,<br />

muß er die zartesten, reinsten Empfindungen seiner Seele zertreten,<br />

darf er nicht nach oben streben und nach dem obersten Menschendasein<br />

greifen; wohl aber sinken, sinken .... vergessen, daß da<br />

etwas in ihm ist, das sich nach Wahrheit, Recht, Liebe, nach<br />

Leben sehnt!<br />

Es lautet wie ein schmerzlicher Verzweiflungsschrei!<br />

Können wir wohl etwas anderes, als ihn ausstoßen?<br />

Doch dies wird unser letzes Wort nicht sein!<br />

Ich erkenne die fürchterliche Fatalität der Umstände, unter<br />

der wir leben und leiden. Jeden Tag sehe ich sie. Aber ich<br />

verneine es auf das Entschiedenste, daß es für uns kein Entkommen<br />

gibt! Und hierin — in dieser Verneinung — liegt der Grund<br />

meines Idealismus, ungeachtet der bitteren Wirklichkeit, die ich<br />

schauen muß. Ich glaube, nicht an die Beständigkeit der bestehhenden<br />

Verhältnisse; ich glaube nicht an die Ewigkeit des Kapitalismus.<br />

Aber versteht es sich denn nicht von selbst, daß. die uns<br />

angewiesene Aufgabe die ist: alle jene Lebensleidenschaft, von der<br />

wir sprechen, wach zu rufen, jene starke Sehnsucht, um zu gelangen<br />

zum eigenen, hochherzigen, starken Leben?!<br />

Und jene Lebensleidenschaft wird geboren werden, wenn verstanden<br />

und gefühlt wird, daß der Zweck des Lebens ist: zu<br />

leben. Und dies braucht den Menschen nicht vorgeschwätzt,<br />

noch künstlich suggeriert werden, denn es ist ihnen eigen, sowie<br />

es allen eigen ist, was lebt.<br />

Aus jener Lebensleidenschaft muß notwendiger Weise das<br />

Bedürfnis entstehen, alles, was eine Hinderung für das „Leben"<br />

ist, zu zerstören<br />

H i er setzen wir den Fuß auf den geheiligten<br />

Boden der Freiheit; hier kommen wir von<br />

selbst zum Ideal der Anarchie.<br />

Um des „Lebens" willen muß der Kampf gegen jede auferlegte<br />

Autorität, nicht allein des Gesetzes und der Gewalt, sondern


— 222 —<br />

auch der traditionellen Gewohnheit, des Schlendrian, der Konvention,<br />

der geistigen, geistlichen Beherrschung geführt werden.<br />

Ich kann mir kein schönes, volles Leben vorstellen, das beschränkt<br />

wird, fortwährend an Hindernissen anprallt. Und hierin<br />

liegt für mich die große Bedeutung von der Bekämpfung der<br />

Mißverständnisse, die es noch immer gibt hinsichtlich des Lebenszweckes;<br />

die große Bedeutung des Gedankens, daß der Zweck des<br />

Lebens im Leben selbst gelegen ist. Ohne Zweifel wird das bekannte<br />

Wort auch in dieser Hinsicht gelten: die Wahrheit wird<br />

befreien. Was in diesem Kontexte besagen will: das erhebt das<br />

Bewußtsein und das Glück — und jeder will es ja! — was nicht im<br />

Jagen nach der Erreichung eines eingebildeten Lebenszweckes besteht;<br />

so wird notwendigerweise auch das Eine klar: Wir brauchen<br />

neue Lebensbedingungen.<br />

Unsere Augen richten sich darum nicht nur auf eine Zukunft,<br />

in der es Brot für alle geben wird, aber nach einer, in der neben<br />

Brot vor allem auch Freiheit sein wird.<br />

Ich weiß, das es Leute gibt, die daran zweifeln, ob wir jemals<br />

eine derartige Zukunft erreichen werden können, die selbst die<br />

Möglichkeit ihrer Verwirklichung verneinen.<br />

Zu ihnen möchte ich dies sagen: Geht hinaus in die Natur,<br />

sehet, lernet und verstehet!<br />

Durch den harten Boden bohrt die Pflanze ihren zarten<br />

Stengel; sie überwindet jeden Widerstand, denn . . . sie will<br />

leben. Wohlan, was eine schwache Pflanze vermag, kann dies<br />

dem Menschen " ewig unmöglich sein? Ist denn der Mensch so<br />

entsittlicht, so entartet, daß er niemals verlangen wird zu leben?<br />

Das kann nicht sein!<br />

Er schläft, er wird betrogen, er ist noch nicht zu seinem Bewußtsein<br />

gekommen . . .<br />

Aber erwachen wird er! Einmal, dereinst . . .<br />

Und er wird auferstehen wie ein Heros, jung und stark: und<br />

Glückesschauder werden die Welt erfüllen, weil das Leben, das<br />

große, herrliche Leben gekommen ist.<br />

Das sei der Segen meiner vorliegenden Darlegung; daß die<br />

Erkenntnisaufgabe, der Zweck des Lebens es ist: zu leben.<br />

Rufen wir also allenthalben aus: Vor allem ist nötig:<br />

die Lebensleidenschaft! Ihr wollen wir uns<br />

weihen — sie leben!<br />

N. J. C. Schermershorn.<br />

(Vom Verfasser [freireligiöser Pastor] selbst für die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

veranlaßte Uebersetzung aus dem Holländischen von D. N. Z.)


— 223 —<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Notizen.<br />

Einer in mehrfacher Hinsicht sehr fruchtbaren Kritik wurden<br />

einige Resultate des internationalen, anarchistischen Kongresses, Früchte<br />

seiner Arbeit, unterzogen. Sowohl gegen die Form der neuen Internationale,<br />

wie auch gegen das Internationale Bureau wurden viele Aussetzungen<br />

laut. Wider ersteres erklärte sich der Genosse Domela Nieuwenhuis<br />

in einem Brief an den Genossen Armand, den das Blatt<br />

„L'Anarchie" brachte. Dasselbe Blatt Veröffentliche auch aus der Feder<br />

des Genossen Levieux einige sehr wertvolle Artikel gegen die Bureauinstitution<br />

im allgemeinen, die Befugnis derselben, aufzunehmende<br />

Genossen identifizieren zu können oder zu lassen im besonderen. Von<br />

jedem auf seine Persönlichkeit achtenden Anarchisten können seine Ausführungen<br />

wesentlich unterschrieben werden. Fast einstimmig war aber die<br />

gesamte Presse unserer französischen Bruderbewegung in der striktesten<br />

Abweisung des nur syndikalistischen oder jenes Standpunktes, der den<br />

Anarchismus auf Kosten des Syndikalismus hinopfert. Der Genosse<br />

Charles Albert veröffentlichte über dieses Thema eine außerordentliche<br />

wertvolle Studie in den „Temps Nouveaux", in der er die sämtlichen<br />

Ansätze dieser Anschauung abfertigte. Aufmerksam machen wollen wir<br />

noch, daß der Genosse Dunois es in einer Zuschrift an die „L'Anarchie"<br />

strikt abwies, der geistige Urheber jener Identifizierungsklausel in der<br />

Konstituierungsresolution für das internationale Bureau zu sein, ihre<br />

Form als keineswegs „gedeckt gegenüber der Kritik" erklärte.<br />

Da diese Resolution eine Kollektivresolution darstellt, wäre es nicht<br />

uninteressant oder unwichtig, den intellektuellen Urheber obgedachter<br />

Klausel festzustellen, da sie auch in der Zukunft noch zu zahlreichen<br />

Mißverständnissen Veranlassung geben wird.<br />

Wir entnehmen unserer amerikanischen Mitkämpferin „Mutter Erde"<br />

(redigiert von Emma Goldmann und Max Baginsky) das Folgende aus<br />

der Feder des Genossen A. Jsaak.<br />

„Die Vögel" — dies ist der Name der ersten Einrichtung des<br />

freiheitlichen Mutterschutzes, der Wartung und Aufbringung der Kinder<br />

radikaler Mütter in Amerika. Sie soll jenen Müttern dienen, die<br />

gezwungen sind, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten und für ihre<br />

Kinder sorgen zu müssen. Es war leicht, außerordentlich leicht für den<br />

Anarchisten und sozialistischen Redner, sich gegen die Ehesklaverei zu<br />

empören, der Jugend zu lehren, „unabhängig" zu bleiben, zum wenigsten<br />

von den Ehefesseln. Doch wenn man die Redner ernst nahm und die<br />

Folgen solcher „Unabhängigkeit" ernstlich erwog, dann fand sich<br />

gewöhnlich die junge, unerfahrene Mutter verlassen, besonders wenn sie<br />

genügend Charakter besaß, um sich nicht vom sogenannten Vater des<br />

Kindes beherrschen lassen zu wollen. Auch unter den Kameraden fand<br />

sie wenig der Solidarität; in ihrem Fall fand das solidarische Empfinden,<br />

das sie so oft rühmen hörte als besondere Tugend des radikalen Arbeiters,


— 224 —<br />

keine Anwendung; selbst dann nicht, wenn sie willens gewesen wäre,<br />

für die geleistete Hilfe zu bezahlen. So wurde sie gezwungen, ihre<br />

Zuflucht zu bourgeoisen Institutionen — im ärgsten Fall die Findelhäuser,<br />

im besseren das öffentliche Spital — zu nehmen, die wie Gift<br />

zu hassen und zu meiden man sie, der jungen Mutter, gelehrt hatte.<br />

Zahlreich sind die Tragödien dieser Art, viele von uns konnten<br />

nichts anderes tun. als sich zu schämen angesichts dieses Mangels an<br />

Brudergefühl und gegenseitiger Hilfe unter Kameraden. So finden wir<br />

denn genügend Ursache, über das Unternehmen der Kameraden Noémie<br />

Racovici und anderer Kinderfreunde hoch erfreut zu sein, welche die<br />

Initiative ergriffen haben zur Begründung einer diesem Uebel abhelfenden,<br />

freiheitlichen Form des Mutterschutzes. Leider sind<br />

diese Pioniere selbst arm; sie bitten darum die Genossen, die der<br />

Meinung sind, daß schon heute und in der Gegenwart Vieles geleistet<br />

werden könnte, um das Leben angenehmer und freiheitlicher zu gestalten,<br />

ihnen beizustehen in der Ausführung ihres Planes und sich nicht zu<br />

gedulden bis nach der sozialen Revolution."<br />

Auch uns freut es, wahrnehmen zu können, daß die Gedanken,<br />

der in der kleinen Broschüre über „Mutterschutz und Liebesfreiheit"<br />

ausgesprochen wurden, nicht etwa verfrüht oder unlogisch waren, sondern<br />

mit jenem Tage mehr und deutlicher ihre Bestätigung durch die aktive<br />

Tat erfahren. Erst wenn unsere Bewegung im Stande sein wird, die<br />

Konsequenzen ihrer Weltanschauung, soweit es die Gegenwart überhaupt<br />

gestattet, im steten Kampf wider den Anstürmen unserer Zeit und ihrer<br />

Vorurteile — und trotzdem — zu verwirklichen, erst dann hebt für sie die<br />

Periode ihres wirklichen Fortschrittes an.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Eine in manchen Hinsichten sehr informative Zweimonatszeitschrift<br />

ist die „Revue des Internationalismus", die in französischer,<br />

deutscher, englischer und holländischer Sprache erscheint, und zwar im<br />

Verlage von Maaß und Van Suchtelen, Amsterdam und Leipzig. Im<br />

Jahrg. I, Bd. o, befindet sich eine längere, übersichtliche Studie von<br />

Christian Cornelissen über die historische Entwicklung unserer<br />

Bewegung, die zum Amsterdamer Anarchistenkongreß führte, wie eine<br />

Würdigung derselben aus der Vogelperspektive.<br />

Briefkasten.<br />

J. P. Milw. 8,32 — M. M. New-York, 5,10 — H. Genf, 6,— erhalten.<br />

Dank und Gruß.<br />

Genossen und Freunde, die im Besitze der Hefte 2 und 8,<br />

Band I der „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" sind werden ersucht, unter Zurückerstattung<br />

der Kosten selbige an die Adresse: Herm. Mertins,<br />

Berlin NW., Werftstr. 2 zu senden!<br />

Die Geschäftskommission.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Berthold Cahn, Berlin.


Soeben ist erschienen:<br />

Revolutionäre Regierungen.<br />

Von Peter Kropotkin.<br />

"Die revolutionären Regierungen" ist eine der besten Broschüren Kropotkins.<br />

Deselbe seit Anfang der 90 er Jahre nicht mehr zu haben ist, kommen wir mit<br />

erausgabe den Wünschen vieler Freunde entgegen und geben wir der deutschen<br />

anarchistischen Bewegung eine wirksame Agitationsbroschüre in die Hand.<br />

Preis 5 Pf., bei Bezug von 400 Expl., 1 Pf. pro Exemplar<br />

Die Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>"<br />

Durch den Verlag „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" ist zu beziehen:<br />

Das anarchistische Manifest.<br />

Von PIERRE RAMUS.<br />

„Das anarchistische Manifest" ist eine Propagandabroschüre im wahren<br />

Sinne des Wortes. In kurzen, aber allgemein-verständlichen Worten<br />

begründet und erläutert der Verfasser die Forderungen, welche wir<br />

Anarchisten an eine menschliche, für Alle glückliche Gesellschaft stellen.<br />

Preis 5 Pf.<br />

Um diese Broschüre aber auch hinsichtlich des Preises zu einer Agitationsbroschüre<br />

zu machen, geben wir dieselbe bei Bezug von 400Exemplaren mit<br />

1 Pfennig pro Exemplar<br />

ab. 400 Exemplare kosten mit Porto 4,50 Mark.<br />

Wir bittten um umgehende Bestellung.<br />

Soeben erschienen:<br />

ie historische Entwicklung der Friedensidee<br />

D und des Antimilitarismus<br />

von PIERRE RAMUS.<br />

Diese Arbeit bildet ein Kapitel aus einem grösseren Gesamtwerke, dessen<br />

erweitertes Manuskript aus dem Referat des Verfassers auf dem intern.,<br />

antimil., Kongress zu Amsterdam besteht und bisher noch unveröffentlicht<br />

blieb. Obige historische Skizze ist ein Heft der Serie „Sozialer Fortschritt"<br />

und durch uns zu beziehen.<br />

Preis 20 Pf.


Demnächst erscheint:<br />

Der Freiheit entgegen!<br />

von<br />

Edward Carpenter.<br />

Uebersetzt aus dem Englischen<br />

von Lily Nadler-Nuelleus und Erwin Batthyany.<br />

Wir empfehlen den Genossen dieses herrlich schöne Werk, bestehend<br />

aus Freiheitsgesäilgen, in Prosa, auf das wärmste und angelegentlich.<br />

Dieses Buch atmet den Hauch der Zukunft, ist das Gewissen der Gegenwart<br />

und diejenigen, die es einmal gelesen, werden es lieb gewinnen<br />

und an andere weitergeben. Es ist die glänzendste Würdigung und<br />

Kundgebung unserer Ideale auf literarischem Gebiete und einzelne<br />

Perlen aus dem Werke sind unseren Lesern bereits bekannt. Von<br />

wenigen Büchern kann man es so mit Recht behaupten: dieses Buch<br />

verdient, gekauft zu werden, denn es wird für den Leser einen Hochgenuss<br />

geistiger Selbstentwickelung bilden.<br />

Regulärer Preis Mk. <strong>2.</strong>—<br />

Die Leser der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>", die ihre Bestellungen vor<br />

dem 15. April an uns gelangen lassen, erhalten das Werk für<br />

Mk. 1.50.<br />

Dieses Angebot gilt nur bis zum 15. April.<br />

Durch uns zu beziehen:<br />

William Godwin,<br />

der Theoretiker des Kommunistischen<br />

Anarchismus.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Preis Mk. 1.50, (mit Porträt Godwins) Mk. 1.75.<br />

Druck von C. Kielmeyer, Berlin SO. 26.


<strong>2.</strong> Band. Heft 10<br />

April 1908.<br />

Verlag H. Mertins,<br />

Berlin NW. 52, Werftstr. <strong>2.</strong>


Zur Beachtung.<br />

Inhaltsverzeichnis.<br />

An unsere Leser Die Geschäftskommission.<br />

Sozialdemokratischer und anarchistischer Antimilitarismus Domela Nieuwenhuis.<br />

Zur Kritik und Würdigung des Syndikalismus . . . . Pierre Ramus.<br />

Meine Beziehungen zu Mateo Morral F. Ferrer Cuardia.<br />

Kultur und Fortschritt F. Thaumazo.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" bringt Beiträge -über sämtliche theo­<br />

retische, historische, biographische und literar-künstlerische Erkennt­<br />

nisse des Anarchismus und Sozialismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich einmal und zwar<br />

am fünfzehnten eines jeden Monats. Bei unregelmäßiger Zusendung<br />

wolle man sich an den Verlag wenden.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" kostet pro Einzelnummer, inkl. Post­<br />

sendung, in Deutschland 25 Pfg., in Oesterreich-Ungarn 25 Heller,<br />

Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes, in England 3 Pence,<br />

in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch-, und Rezensionssendungen für die Re­<br />

daktion der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre Ramus,<br />

Wien 14. Goldschlagstr. 90. (Österreich.)<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche Mitteilungen<br />

sind zu richten an den Verlag: H. Mertins, Berlin NW.,<br />

Werftstr. <strong>2.</strong><br />

In London ist die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch<br />

zu beziehen.<br />

B. Mandl, London N. 7<strong>2.</strong>, Beweden Str. 7<strong>2.</strong>


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band <strong>2.</strong> April 1908. Heft 10.<br />

Zur Beachtung!<br />

Diejenigen Genossen, die sich für die Herausgabe einer übersichtlichen<br />

„Geschichte der anarchistischen Bewegung während der Jahre 1904—<strong>1907</strong>"<br />

in deutscher Sprache interessieren, werden ersucht, zwecks Ermöglichung<br />

raschester Drucklegung des teilweise schon vorliegenden Manuskriptes eventl.<br />

Geldunterstützungen an H. Mertins, Berlin NW. 52, Werftstr. 2, zu senden. Nur<br />

Geldmangel verhindert die Publikation dieses hochinteressanten und wichtigen<br />

Werkes. Wir ersuchen um die Unterstützung der Genossen.<br />

An unsere Leser.<br />

Das 6.—8. Heft der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" erschien als Doppelnummer<br />

für Dezember-Januar-Februar. Trotz aller Bemühungen war es<br />

unmöglich, die Gelder aufzubringen, welche erforderlich sind, das regelmäßige<br />

Erscheinen der Revue zu sichern. Der Kredit ist erschöpft,<br />

und Barmittel fehlen gänzlich. Selbst nach Ausfall der Dezember- und<br />

Januar-Nummer ist das Defizit keineswegs beseitigt; im Gegenteil —<br />

dringend Not tut der Kasse eine Auffrischung, denn wir sitzen vollkommen<br />

auf dem Trocknen.<br />

Wohl ist ein kleiner Kreis von Genossen bemüht, die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" über Wasser zu halten; aber leider, leider sind sie durchweg<br />

Proletarier; kein einziger Kapitalist befindet sich darunter. Wohl<br />

tut jeder sein Möglichstes, jeder gibt, so viel er entbehren kann. Aber<br />

das beste Wollen hat seine Grenze und scheitert an der Unmöglichkeit,<br />

von dem knappen Arbeitsverdienst noch größere Aufwendungen für die<br />

„<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" machen zu können.<br />

Um das fernere regelmäßige Erscheinen der Revue zu sichern, ist<br />

es unbedingt erforderlich, den Kreis tatkräftiger, opferwilliger Genossen<br />

zu vergrössern.<br />

Wir fordern daher alle Genossen, denen die Existenz der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" am Herzen liegt, auf, ihr Interesse zu betätigen durch freiwillige<br />

Spenden. Jeder Zuschuß, auch der kleinste, ist willkommen und<br />

wird dankbar entgegengenommen.<br />

Genossen! Freunde! Wir wissen, dass Ihr alle mit den Widerwärtigkeiten<br />

des Lebens schwer zu kämpfen habt; wir wissen, daß keiner<br />

von Euch überflüssige Reichtümer sein eigen nennen kann. Dennoch<br />

treten wir an Euch heran und rufen Euch auf zur Unterstützung der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>", die ja Euch gehört, die ein Teil der anarchistischen


— 226 —<br />

Bewegung ist und im Kampf um ihr Bestehen nicht untergehen darf.<br />

Allseitig anerkannt ist die Notwendigkeit einer deutschsprachigen Revue<br />

des Anarchismus. Ehrenpflicht eines jeden Genossen and Lesers der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" ist es, an seinem Teil nach Maßgabe seiner Kräfte beizutragen<br />

HUT Unterstützung unserer, seiner Zeitschrift<br />

Was Wenigen zur Unmöglichkeit wird, das Weiterbestehen der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" zu sichern, das wird und muß sich mit leichter<br />

Mühe ermöglichen lassen, wenn Jeder sein Scherflein beiträgt Nach wie<br />

vor werden die Genossen, welche jetzt bemüht sind, die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

über alle Fährnisse hinwegzubringen, -allen Widerwärtigkeiten<br />

Trotz bieten und mit äußerster Anspannung ihrer Kraft versuchen, ihren<br />

vorgefaßten Plan im Interesse der anarchistischen Bewegung zur Durchführung<br />

zu bringen. Doch die Last wird den Wenigen zu schwer; darum<br />

ist es unerläßlich, daß unsere Reihen gestärkt werden durch neue Kämpfer.<br />

Keine leeren Phrasen rufen wir den Genossen zu. Bitter ernst ist<br />

die Situation. Genossen! Dir habt es in der Hand, das Aeußerste zu<br />

verhindern. Gedenke Jeder seiner Pflicht als Leiser, und zahle regelmäßig<br />

sein Abonnement! Tue Jeder noch außerdem ein Uebriges und<br />

opfere eine Kleinigkeit! Ein solch geringfügiges Opfer kann und darf<br />

nicht schwer falten; wird es doch gebracht im Interesse unseres anarchistischen<br />

Ideals! Als Ehrenpflicht muß es jeder Leser der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" betrauten, Mitzuwirken und mitzuhelfen am Ausbau seiner<br />

Zeitschrift. Mitschaffen muß Jeder, der es wahrhaft ernst meint mit<br />

dem Kampf um unser anarchistisches Ideal.<br />

Genossen! Wirkt flach besten Kräften ffir die »<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

Seid unermüdlich tatig, werfet neue Abonnenten und unterstützt Eure Zeitschrift<br />

durch freiwillige Beiträge! Euer Stolz muß es sein, die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" finanziell sicher zu stellen. Beweist es durch die Tat, daß<br />

Ihr nicht willens sein, Eure Zeitschrift zu Grunde gehen zu lassen.<br />

Gönnt Euren Gegnern nicht den Triumph, die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong> 41<br />

geben zu lassen.<br />

Jeder ein Agitator! Zeigt, daß Ihr die Kraft habt, das einmal<br />

Geschaffene zu erhalten, trotz aller Stürme. Setzt Eure ganze Energie<br />

daran,. die Summen aufzutreiben, welche zur Herausgäbe der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>" nötig sind.<br />

Rafft Euch auf, zeigt, daß Ihr wirklich Kämpfer seid, Kämpfer,<br />

Welche gern und freudig bereit sind, für ihre Ideale Opfer zu bringen.<br />

Und wenn nur der ernste Wille vorhanden ist, dann findet sich auch<br />

ein Weg!, Zaudert nicht mit Eurer Hilfe; bedenkt, daß Ihr, indem Ihr<br />

gebt, für unser Ideal, für die Anarchie wirkt!<br />

Beherzigt das Wort: Doppelt gibt, wer schnell gibt. Die „<strong>Freie</strong><br />

<strong>Generation</strong>" wird nicht verfehlen, ihren Dank abzustatten, indem sie<br />

vorangehen wird im Kampfe gegen alle unsere Feinde, im Kampfe für<br />

dieses hohe Ideal: die Anarchie.<br />

Genossen! Unterstützt uns in diesem Kampf, werbt und wirkt für<br />

die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" und sendet Eure freiwilligen Spenden an die<br />

Adresse des Genossen: Herm. Mertins, Berlin NW, Werftstraße <strong>2.</strong><br />

Die Geschäftskonimission.<br />

ein


— 227 —<br />

Sozialdemokratischer und anarchistischer<br />

Antimilitarismus.<br />

Vorbemerkung.<br />

In seinem Buche über den „Militarismus und Antimilitarismus"<br />

hat Dr. Liebknecht sich in längeren, teils offenen teils<br />

versteckten Angriffen wider unseren holländischen Genossen Domela<br />

Nieuwenhuis gewandt. Derselbe veröffentlichte seine Antwort in<br />

der vlämischen Monatsschrift „Ontwaking", die Liebknecht zugesandt<br />

wurde, lange bevor er seine Festungsstrafe antrat. Unserem Wunsche<br />

und unserer Bitte um eine Uebersetzung dieser Antwort hat der Genosse<br />

N. entsprochen, und wir bieten sie in Nachfolgendem dem deutschen<br />

Leser dar; mit einigen Erweiterungen, welche N. für die Veröffentlichung<br />

in der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" besonders hinzufügte. Noch sei<br />

bemerkt, daß L. auf diese Antwort niemals reagierte. Die Red.<br />

Der Antimilitarismus genießt die große Ehre, von den Mächtigen<br />

und Tonangebenden der Gesellschaft am meisten gehaßt und verfolgt<br />

zu werden. Wer den Militarismus angreift, der — das fühlen<br />

sie — greift die Fundamente der modernen Gesellschaft an. Man<br />

scheint es genugsam zu begreifen, daß diese unmöglich weiter<br />

bestehen kann ohne des Militarismus, darum der große Haß,<br />

welchen der Antimilitarismus erweckt. Anderseits hat er zur Folge,<br />

daß selbst die Sozialdemokratie sich gezwungen sieht, Stellung zu<br />

ihm zu nehmen, wenn anders sie nicht jeden Einfluß auf die Arbeiter<br />

verlieren will, besonders auf die jugendlichen Kräfte. Die<br />

beliebte Universalformel, nach welcher alles zur Privatsache gemacht<br />

wird, wagte man nicht, auch hier zu applizieren.<br />

Sind die Sozialdemokraten keine Antimilitaristen ? Sie beantworten<br />

selbst diese Frage. Bebel sagte auf einem der Parteikongresse,<br />

daß es „keine sozialdemokratische Partei<br />

in der ganzen Welt gebe, die soviel gegen den<br />

Militarismus kämpfe, wie die deutsche Sozialdemokratie!"<br />

Leider ist dies nur ein Selbstlob, denn in allen anderen<br />

Ländern beschuldigt man diese Partei, den Militarismus nur sehr<br />

schwach und mit schwächlichen Mitteln zu bekämpfen. Wohl<br />

stemmt man sich gegen das Budget des Krieges und der Marine,<br />

übt Kritik an den diversen Auswüchsen des Militarismus, doch<br />

man greift ihn nicht in seinem Wesen an. Tatsächlich tut man<br />

dasselbe mit der Religion, Regierungsform, Prostitution, dem<br />

Alkoholismus usw. indem man sie alle als die Folgen des Kapitalismus<br />

hinstellt, welche mit dessen Sturz selbst verschwinden würden.<br />

Allerdings ist dieses nicht ganz unwahr; gewiß ist aber auch, daß<br />

die spezielle Bekämpfung all dieser Dinge das Ihrige dazu beiträgt,<br />

um den Zusammensturz des Kapitalismus zu beschleunigen.


— 228 —<br />

In den letzten paar Jahren fingen auch die Sozialdemokraten<br />

notgedrungen damit an, sich mit dem Antimilitarismus zu beschäftigen;<br />

trotz aller Anfeindungen der Bebel und Vollmar hat Dr. Liebknecht<br />

diese Frage nicht ruhen lassen und als Frucht seines Wirkens das<br />

Werkchen über den „Militarismus und Antimilitarismus" herausgegeben.<br />

Diese Broschüre ist so eigenartig für die Sozialdemokratie,<br />

daß es sich wohl verlohnt, sie etwas gründlicher zu besprechen,<br />

besonders dorten, wo sie Bezug nimmt auf die Anarchisten und<br />

den anarchistischen Antimilitarismus; dann auch noch insbesondere<br />

auf mich.<br />

Das Büchlein ist natürlich deutsch geschrieben, will heißen:<br />

hochwissenschaftlich und gediegen; alles Nichtdeutsche ist selbstverständlich<br />

oberflächlich. So konstatiert es an einer Stelle, daß<br />

die deutsche Sozialdemokratie ihre Pflicht in Sachen des Antimilitarismus<br />

getan habe, an anderer wieder, daß sie an besonderer<br />

propagandistischer Tätigkeit, die sich speziell an die künftigen<br />

Wehrpflichtigen wendet, „fast noch nichts" getan hat. Wenn<br />

wir aber genau zusehen, werden wir finden, daß die Sozialdemokratie,<br />

gleich einer Natter im Grase, die antimilitaristische Propaganda nur<br />

deshalb aufnimmt, „um den anarchistischen Antimilitarismus . . .<br />

im Keime zu ersticken".<br />

Doch was ist solch ein Antimilitarismus? Manchen werden<br />

diese Fragen verblüffen, aber die Antwort lautet doch: Ja! Man<br />

muß sich eben allmählich daran gewöhnen, den Unterschied<br />

zwischen Anarchismus und Sozialdemokratie nicht nur im<br />

praktischen, sondern auch in allen prinzipiellen Fragen zu erblicken.<br />

Liebknecht konstatiert ihn wie folgt:<br />

,,Die sozialdemokratische Auffassung (des Antimilitarismus) ist<br />

geschichtlich-organisch; die anarchistische willkürlich-mechanisch."<br />

Wohl lese ich diese Gelehrsamkeit mit andächtigem Staunen,<br />

nur ist und bleibt es ein Unglück, daß man auch durch Gelehrsamkeit<br />

die Unwahrheit nicht wahr machen kann. Hören wir<br />

ihn weiter:<br />

„Der Anarchismus arbeitet in erster Linie mit ethischem Enthusiasmus<br />

. . . kurz mit allerhand Impulsen auf den Willen ..."<br />

Liebknecht verwirft dies nicht unbedingt; denn er sagt weiter:<br />

„Gewiß, sie — die Sozialdemokratie — verwendet auch ethische<br />

Argumentationen, das ganze Pathos des kategorischen Imperativs . . .<br />

Das spielt hingegen hier nur eine sekundäre Rolle ..."<br />

Gemach, Herr Kritiker und trösten Sie sich: Auch bei<br />

Anarchisten! Sonst aber würde es gerade aus Liebknechts<br />

Darstellung folgen, daß beide Strömungen mit denselben Mitteln<br />

arbeiten, wenigstens dasselbe wollen. Somit kein Unterschied und<br />

dennoch ein Unterschied. Wie vollbringt der Verfasser dieses<br />

gedankliche Kunststück? Durch folgende Leistung:


— 229 —<br />

„Für den Anarchismus ist die Beeinflussung des Willens die einzig<br />

wesentliche Voraussetzung des Erfolges; für die Sozialdemokratie<br />

kommt sie neben der objektiven wirtschaftlichen Entwicklungsstufe,<br />

von denen keine, auch nicht durch den besten Willen der Massen<br />

und einer Klasse, übersprungen werden kann, nur sekundär in<br />

Betracht.."<br />

Sehr gut. Nur einen Fehler hat diese Umschreibung, nämlich<br />

daß sie vollständig unrichtig ist. Kann man es bei einigem<br />

guten Willen annehmen, daß die Anarchisten so dumm sind, nicht<br />

zu wissen, daß man mit den ökonomischen Verhältnissen zu rechnen<br />

hat? Lassen wir das Wort „objektiv" beiseite; es ist schlecht<br />

gewählt, da wir die Dinge stets mit unseren subjektiven<br />

Sinnesorganen wahrnehmen. Mechanisch ist jene Auffassung, laut<br />

welcher die Dinge „ganz von selbst" kommen müssen, und der<br />

Mensch eigentlich nur ein willenloses Werkzeug, ein kleines Rad<br />

an einer großen Maschine des Geschehens ist. Liebknecht belehrt<br />

uns weiter:<br />

„Auch darin zeigt sich der grundsätzliche Unterschied beider<br />

Grundauffassungen, daß es der Anarchismus für möglich hält, durch<br />

ein kleines, entschlossenes Häuflein alles zu vollbringen . . . Gewiß<br />

ist auch der Sozialismus der Ansicht, daß eine gut qualifizierte, entschlossene<br />

und zielklare Minderheit, die Massen in entscheidenden<br />

Augenblicken mit sich fortreißend, einen wichtigen Anstoß ausüben<br />

kann. Der Unterschied ist jedoch der: ob man, wie es der Sozialismus<br />

tut, einen solchen Einfluß nur in dem Sinne erstrebt und für möglich<br />

hält, daß jene Minderheit nur Erwecker und Vollstrecker des Willens<br />

der Masse ist, desjenigen Willens, den diese vermöge der besonderen<br />

Situation als ihren sozialen Willen zu entfalten reif und fähig ist, oder<br />

in dem Sinne, daß ein entschlossenes Häuflein Handstreichler Vollstrecker<br />

nur eines eigenen Willens und sich der Massen nur als<br />

Werkzeug zu diesem seinem Zwecke bedient, wie es der Anarchismus<br />

als ein wahrer aufgeklärter Despotismus tut."<br />

Es ist auch sonst sehr begreiflich, aber stets ein Beweis wohl erkannter<br />

eigener Schwäche, wenn man, um seinen Standpunkt zu wahren,<br />

die Meinung des Gegners durchaus falsch darstellen muß. Es<br />

würde mich tatsächlich interessieren, zu erfahren, wo Liebknecht<br />

diese Anschauung des Anarchismus entdeckt hat. Daß die<br />

Blanquisten solche Gedanken hegten, die Sozialdemokraten mit<br />

ihrer „Diktatur des Proletariats" naturnotwendig dazu gelangen<br />

müssen, da sie doch niemals das Gesamtproletariat gewinnen<br />

können — das ist bekannt. Vom Anarchismus wissen wir aber,<br />

daß es sich bei ihm nicht darum handelt, die Macht zu erringen,<br />

sich selbst an deren Stelle zu setzen. Er weiß im Gegenteil sehr wohl,<br />

daß jede Bewegung mißlingen muß, die nicht genügend im Volke<br />

wurzelt.<br />

Herr Liebknecht will seinen Lesern auch einreden, daß die<br />

Anarchisten den Militarismus als etwas Selbständiges bekämpfen


— 230 —<br />

und glaubten, ihn ohne den Kapitalismus abschaffen zu können.<br />

Haben wir es bei einer solchen Behauptung mit Unwissenheit oder<br />

bewußter Verdrehung zu tun? Die Anarchisten haben es stets<br />

betont, daß der Militarismus nicht ganz beseitigt werden kann, so<br />

lange der Kapitalismus ungeschmälert besteht. Aber der Unterschied<br />

zwischen den Sozialdemokraten und uns ist in Wahrheit<br />

darin gelegen, daß wir Anarchisten wohl wissen, daß mit der<br />

Beseitigung desKapitalismus, deshalb und damit<br />

der Militarismus noch nicht beseitigt ist. Hier<br />

liegt die Kernfrage des ganzen Problems, wir wiederholen es.<br />

Die Sozialdemokraten wollen den Militarismus nicht an der<br />

Wurzel treffen; sie wollen bloss ein Volksheer, ähnlich<br />

demjenigen der Schweiz, statt des bestehenden Heeressystems.<br />

Sie wollen nur eine Form- keine Wesensänderung. Was die<br />

Sozialdemokraten Antimilitarismus nennen, sind in Wahrheit Reformen<br />

im Heere, z. B., die Aufbesserung der Besoldung, der Verpflegung,<br />

Bekleidung, der Kasernen, Behandlung, Diensterleichterung, Bekämpfung<br />

der Soldatenmißhandlungen etc. etc., kurz, das, was auch<br />

radikale Bourgeois wollen. Die Sozialdemokratie ködert während<br />

den Wahlen nach der Unterstützung sowohl der Soldaten wie auch<br />

des Offizierstandes; sie greifen den Militarismus nicht als<br />

I n s t i t u t i o n an.<br />

Nur wir „dummen" Anarchisten sagen: Selbst wenn alle<br />

diese Forderungen ganz hinlänglich und redlich befriedigt werden<br />

könnten — selbst dann werden wir noch immer Antimilitaristen<br />

sein!<br />

Erkennt man nun den Unterschied? Wir sind prinzipielle<br />

Gegner des Militarismus in allen seinen Formen, auch in jener<br />

eines Volksheeres, selbst im sozialdemokratischen Zukunftsstaat.<br />

Sie — die Sozialdemokraten — bemängeln nur die Form<br />

des Militarismus, dessen Wesen und Existenzberechtigung überhaupt,<br />

lassen sie ganz unberührt.<br />

Liebknecht nennt die eine taktische Methode der antimilitaristischen<br />

Anarchisten, den Militärstreik zur Zeit einer Kriegsmobilisation<br />

herbeiführen zu wollen, fatalistisch und behauptet,<br />

die Anarchisten wollten einen solchen gewissermassen aus der<br />

blauen Luft hervorzaubern. Vielleicht hat er sogar recht, was<br />

Deutschland anbetrifft, denn, so führt er aus, „der antipatriotische<br />

Militarismus hat in Deutschland keinen Boden und wird keinen<br />

Boden finden." Der Mann der 3¼ Millionen Partei spottet<br />

seiner selbst und weiß gar nicht wie sehr! Denn uns, die anarchistischen<br />

Antimilitaristen treffen alle diese Hiebe nicht. Allerdings,<br />

wenn unsere Propaganda nicht fortwährend behindert werden<br />

würde von den herrschenden Gewalten und der<br />

Sozialdemokratie, manches wäre anders . . .; hätte man<br />

meinem Vorschlag zu Brüssel Folge geleistet und vor zehn Jahren


— 231 —<br />

eine konsequent antimilitaristische Propaganda in Deutschland begonnen,<br />

wir wären heute viel weiter, als wir es sind. Denn uns<br />

ist die Evolution einer Idee bekannt: erst allmählich wird sie von<br />

den Menschen begriffen. Aber vor allem muß das Pflanzen ihres<br />

Samens beginnen, dann folgt die Periode der Propaganda, welche<br />

die Geister auf- und wachrüttelt; ist der Enthusiasmus und die<br />

Erkenntnis ihrer Wesensart vorhanden, dann findet sie sich ganz<br />

allein ihren Weg, allen Anfeindungen zum Trotz.<br />

Sehr charakteristisch für den anarchistischen Antimilitarismus<br />

ist für Liebknecht meine Broschüre „Krieg dem Kriege", welche<br />

er jedoch weniger kritisiert als — abfertigt. Eine gute, ernste<br />

Kritik würde mich mit Genugtuung erfüllt haben; aher leider<br />

scheint er einer solchen nicht fähig zu sein. Lauschen wir seiner<br />

Weisheit:<br />

„Für ihn (nämlich für mich) sind zwar nicht die gekrönten Könige<br />

die Herren der Welt, aber die Bankiers, die Finanzleute, die Kapitalisten,<br />

keineswegs der Kapitalismus als organisch notwendige Gesellschaftsordnung."<br />

Vollständig unwahr! Nie habe ich dies gesagt. Ich führte<br />

im Gegenteil aus, daß die Kriege aus dem Kapitalismus hervorgehen<br />

und infolge dessen mit diesem möglich und unmöglich<br />

werden. Ist es wirklich unbedingt notwendig, die Meinung eines<br />

Gegners zu fälschen, auch wenn dieselbe sich vollständig mit dem<br />

deckt, was man selbst behauptet?! Aber hören wir ihn weiter: .<br />

„Für ihn ist die Reaktion die Partei der Autorität, die sich ausbreitet<br />

vom Papste bis zu Karl Marx."<br />

Allerdings kann ich seine bitterböse Stimmung begreifen,<br />

wenn er sieht, in welchem Zusammenhange ich den Namen Karl<br />

Marx gebrauche. Doch er zürnt leider nur dem, der die Wahrheit<br />

spricht, nicht dem, der diese unangenehme Wahrheit verursacht.<br />

Die unangenehme Wahrheit lautet hier folgendermaßen: Eine<br />

jede Partei der Autorität — und dies ist die sozialdemokratische<br />

ganz ebenso wie die konservative, verschieden nur in den Formen<br />

— muß, falls siegreich, ein Machtmittel haben, um sich<br />

behaupten zu können. Dieses Machtmittel jeder Staatsform<br />

bietet sich im Militarismus dar. Somit muß die Sozialdemokratie<br />

prinzipiell militaristisch, kann nicht antimilitaristisch sein.<br />

Sind nicht die Finanziers, die Kapitalisten die Träger des<br />

Kapitalismus? Sie sind es. Damit ist es auch ganz folgerichtig,<br />

sie mit dem Wesen des Kapitalismus selbst zu identifizieren.<br />

Haarspalterei betreiben, kann nie bedeuten, recht zu haben; man täte<br />

so manches mal besser zu schweigen.<br />

Ich sagte, sie könne nicht prinzipiell, antimilitaristisch sein.<br />

Denn der Sozialdemokratie handelt es sich in ihrem ganzen „Kampfe"<br />

gegen den Militarismus nur darum, daß dieser sich gegenwärtig


— 232 —<br />

in den Händen der herrschenden Klasse befindet und nicht in<br />

ihren eigenen! Hier ergeben sich die prinzipiellen Scheidungslinien:<br />

Die Sozialdemokraten wollen die Umgestaltung des bestehenden<br />

Heeres in ein Volksheer, die Anarchisten wollen die Ueberwindung<br />

des Militarismus überhaupt und bekämpfen ihn somit als Institution,<br />

ganz ebenso wie sie den Staat bekämpfen. Wir können vertrauensvoll<br />

in die Zukunft blicken: Die Zeit wird kommen, wo die Proletarier<br />

aller Länder die Idee begreifen werden, diese Idee des<br />

Friedens und der Kultur, die nicht zuletzt gerade von den Sozialdemokraten<br />

aufs Grimmigste bekämpft wird.<br />

Aber diese prinzipienlose Propaganda beginnt bereits, sich<br />

zu rächen. Eine so harmlose Broschüre, wie jene Liebknechts,<br />

die in einem Lande wie Frankreich als ausgesprochen reaktionär<br />

erscheinen würde, sie sogar ist sofort unterdrückt, ihr Verfasser —<br />

wegen Hochverrat angeklagt worden! Allen diesen flagranten<br />

Uebergriffen des deutschen Staates steht die Dreimillionenpartei<br />

machtlos gegenüber, sie kann Liebknecht nicht beistehen, sie wird<br />

ihn ruhig, ohne revolutionären Protest ins Gefängnis ziehen lassen.<br />

Das ist der Fluch der bösen Tat der Sozialdemokratie, die<br />

aus der Arbeiterbewegung eine Karrikatur gemacht hat. Wir Anarchisten<br />

sind es, die wir sie, wie auch den Antimilitarismus davor<br />

bewahren müssen, eine Karrikatur auf ihre wahren Prinzipien zu<br />

sein. Der Antimilitarismus darf keine Karrikatur werden, an uns<br />

ist es, für ihn eine gesunde und kämpfende Bewegung zu begründen,<br />

die wahrhaft antimilitaristisch sein soll.<br />

Domela Nieuwenhuis.<br />

Zur Kritik und Würdigung<br />

des Syndikalismus.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Nachdem wir somit einen kurzen Ueberblick über die Entstehung<br />

des Syndikalismus geworfen, handelt es sich darum, seinen<br />

Prinzipien und theoretischen Grundanschauungen näher zu treten.<br />

Syndikalismus diese französische Wortabart einer international<br />

auftretenden Erscheinung, ist nichts Arbeiterbewegung<br />

im wirtschaftlich einfachsten Sinn des Wortes! Es sind stets überwiegend<br />

ökonomische Motive, die gestaltend einwirken auf die Begründung<br />

und Entwicklung einer Arbeiterbewegung. Diese selbst


— 233 —<br />

stellt das soziale Denken und Ringen der arbeitenden Klasse um<br />

bessere Lebensbedingungen dar und erschöpft sich in dem Daseinskampf<br />

der Interessenbehauptung der überwiegenden Gesellschaftsmajorität<br />

— also des Proletariats — gegenüber der winzigen<br />

Minorität. So entsteht das, was wir soziales Denken, Kämpfen<br />

nennen. In diesem Sinne haben wir eine echte Arbeiterbewegung<br />

etwa seit den Auslaufen der grossen, französischen Revolution. Sie<br />

offenbarte sich in den einfachsten Bildungsbestrebungen der Arbeiter,<br />

in ihren sehr frühen konsumativen wirtschaftlichen Vereinigungen,<br />

in ihren Kämpfen um das Organisationsrecht, in ihren Gegenseitigkeitsinstituten.<br />

Diese Art der Entwicklung und der proletarischen<br />

Bewegung war keineswegs stets friedlich. Dort wo wir<br />

zuerst das industrielle Proletariat oder den industrialisierten Bauer<br />

selbständig auftreten sehen in Form einer ökonomischen Bewegung<br />

für Besserstellung — in England —, sehen wir sie ausserordentlich<br />

gewalttätig auftreten. Generalstreik, Direkte Aktion — anders<br />

konnte überhaupt nichts gemacht werden — Sabotage etc. bis<br />

zum „ökonomischen Terror" treten auf und erringen all diejenigen<br />

Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse, die sie in England<br />

besitzt. Dasselbe sehen wir in mehr oder minder gleich starker<br />

Form bei den Arbeiterklassen fast aller Länder, in denen die Arbeiterbewegung<br />

heute besteht.<br />

Diese Arbeiterbewegung der Vergangenheit benützte alle genannten<br />

Mittel, ohne sie theoretisch analysiert zu kennen. Es gab<br />

einfach nichts anderes als die primitivste, einfache Form des<br />

Klassenkampfes, die seine einzig wahre Waffenaktion ist. Die Abirrung<br />

auf parlamentarische Trugwege konnte schon deshalb noch<br />

nicht sein, weil es ein allgemeines Wahlrecht im Sinne des bis heute<br />

noch überall beschränkten Wahlsystems nicht gab.<br />

Und dennoch! Was ist aus der grossen und grossartigen<br />

terroristischen Bewegung der englischen Tradeunionsbewegung<br />

geworden ; was aus jener der amerikanischen Knights of Labour ;<br />

was aus jener der übrigen europäischen Länder ? Sie sind verflacht,<br />

haben als revolutionäre Gruppierungen zum grössten Teil<br />

aufgehört zu sein, seitdem — nach dem deutsch-französischen<br />

Krieg — das politische Angesicht Europaseine bedeutende reaktionäre<br />

Veränderung erfuhr, die man im Laufe der nachsechziger Jahre<br />

kaum mehr für möglich gehalten hätte. Es entstand die Epoche<br />

der parlamentarischen Betätigung all jener Konstitutionsfreiheiten,<br />

die uns seit anno 1848 als unser Schein glück<br />

beschert wurden. Und die Gewerkschafts- also die Arbeiterbewegung<br />

fiel darauf hinein. Die Sozialdemokratie entstand, wuchs<br />

heran als von der Reaktion klüglich durchschaute und vielfach<br />

begünstigte legitimistische Partei, die einerseits eine Ablenkung<br />

des Proletariats vom urwüchsigen Klassenkampf des täglichen Arbeitsfeldes,<br />

des Klassenkampfes in seiner revolutionären, sozialen Art,


— 234 —<br />

anderseits eine Aera der sog. Sozialreform und staatlichen Fürsorge<br />

bewirken sollte. Und sie wurde es vorschriftsmässig ; wo sie es<br />

nicht war, dort wurde sie dazu geknetet, was bei den fast rein<br />

demokratischen Zielen des Staatssozialismus keine allzu schwierige<br />

Aufgabe bildete.<br />

Das Bemerkenswerteste dieses hochinteressanten Entwicklungsprozesses<br />

ist jedenfalls die Tatsache: eine ursprünglich revolutionäre<br />

Arbeiterbewegung liess sich von dem ihr Nächstliegenden ablenken<br />

und zu einem im günstigsten Fall in weiter Ferne gelegenen und<br />

dann auch nur als taktisches Mittel sich bewährenden Ziel zugeleiten:<br />

dem Wahlrecht, demokratischen Freiheiten u. dgl. m. Die Frage<br />

ist nun die : Wieso kam dies, wieso konnte solches kommen ?<br />

Eine Antwort darauf ist in den tatsächlichen Verhältnissen<br />

selbst gelegen, ferner in der Art der Betätigung. Die Arbeiterbewegung<br />

war in ihrem Anfange zum grössten Teil nur in ihren<br />

Mitteln revolutionär, nicht aber in ihren Zielen, überhaupt aber in<br />

den letzteren ganz ungenügend geklärt und erleuchtet. Wo<br />

sie die nötige Zukunftserkenntnis besass oder erlangte, gab es für<br />

sie keine Möglichkeit der Abirrung. Selbst in den späteren Epochen<br />

blieb es so, was auch zum grössten Teil auf die „Internationale" zutrifft,<br />

in der zur Zeit der Spaltung im Jahre 1872 es zwischen den beiden<br />

miteinander kämpfenden Fraktionen wohl theoretische Differenzen<br />

inbezug auf die praktische Zukunftsaktivität, aber nicht inbezug<br />

auf die momentane Betätigung gab. In letzterer Hinsicht kämpften<br />

beide — sowohl die Marxisten als auch die Bakunisten — auf dein<br />

ökonomischen Felde direkter Mittel. Nur daß die Bakunisten die<br />

Unversöhnlichen blieben, die heutige anarchistische Bewegung<br />

ergeben, die Marxisten abgelenkt werden konnten, die heutigen<br />

Sozialdemokraten sind.<br />

Noch ein zweites ist massgebend gewesen für die Ueberschlagung<br />

fast jeder ursprünglich revolutionären Arbeiterbewegung<br />

in der obigen Geschichte des Emanzipationskampfes. Fast immer<br />

wurden die idealen Endzwecke, also die wirklichen und einzigen<br />

Rechtfertigungszwecke für den Bestand der ganzen Bewegung, in<br />

den Hintergrund geschoben durch die Augenblicksforderungen, die<br />

mit ausserordentlicher Vehemenz erstrebt, mit Mitteln der revolutionärsten,<br />

direkten Aktion oftmals erkämpft, oftmals auch nicht<br />

erreicht wurden. Eine Bewegung aber, die ihr wahres Ziel nur als<br />

eine Art Programm hat, hingegen sich nur für momentane Angelegenheiten<br />

einsetzt und jenes Endziel vollständig in den Hintergrund<br />

stellt, ist ein Spielball in den Händen der stets wachen,<br />

stets möglichen Demagogen der herrschenden Mächte, die ja die<br />

Situation weit klarer überblicken, als ihre proletarischen Gegner.<br />

Auch darin haben wir eine Hauptursache für den historischen<br />

Untergang revolutionärer Epochen im Proletariat zu erblicken.<br />

Ein einigermassen weitgehendes, entweder terroristisches oder


— 235 —<br />

demagogisch-heuchelndes Entgegenkommen der Gesellschaftsmächte<br />

hat eine nur in ihren Mitteln und inbezug auf momentane Angelegenheiten<br />

revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse bisher<br />

noch stets entwurzelt.<br />

Wie unsäglich banal es somit ist, in dem französischen<br />

Syndikalismus schon an und für sich eine Bewegung zu erblicken,<br />

die ganz neuartige und eigenartige Mittel, wie auch<br />

Endzwecke besitzte, wie innerlich unwahr und von Unwissenheit<br />

strotzend solche Bewertungen sind, geht schon aus Obigem hervor.<br />

Doch es ist notwendig, an dieser Stelle zu untersuchen, ob und<br />

wieweit der Syndikalismus eine „eigene Theorie", eine „eigene<br />

Taktik" besitzt.<br />

Sozialismus-Anarchismus und Arbeiterbewegung sind organisch<br />

nicht ein und dasselbe, sondern zwei Ideengänge und Aktionsbewegungen.<br />

Sie können eins werden, müssen es sogar; aber es gab<br />

und gibt Arbeiterbewegungen, die direkt nichts zu tun haben mit<br />

diesen Idealen, die ja ihrerseits als Philosophien und Anschauungen<br />

schon bestanden, ehe es eine Arbeiterbewegung gab. Nur in dem<br />

Masse als die moderne Arbeiterbewegung die Ideen, Ideale und<br />

taktisch mit diesen zu erringenden Mittel in Anwendung und zur<br />

Auf- und Annahme bringt, wird die Arbeiterbewegung sozialistisch,<br />

und anarchistisch. Wenn nun behauptet wird, daß der Generalstreik,<br />

die direkte Aktion, ökonomischer Terror usw. rein syndikalistische<br />

Mittel und taktische Methoden des Syndikalismus sind,<br />

können wir dies bedingungslos zugestehen, insofern als wir den<br />

Syndikalismus als revolutionäre Arbeiterbewegung im wirtschaftlichen<br />

Sinn schlechthin interpretieren. Diese Mittel entspringen dem<br />

sozialen Milieu des Proletariats, sind nichts anderes als die Selbstverständlichkeiten<br />

des alltäglichen Lebens.<br />

Aber eine wesentliche Bedeutung als Kampfesmittel für eine<br />

höhere Kulturstufe der Menschheit erreichen sie erst, wenn sie in<br />

harmonischem Einklang mit bestimmten Endzwecken des proletarischen<br />

Kampfes gebracht werden. Und hier ist der springende<br />

Punkt! Wenn es solche Ideale gibt, aus denen in ungezwungenster<br />

Form die obigen Methoden sich als Taktik folgern lassen, dann<br />

hören diese taktischen Mittel, als Wesensäusserungen des<br />

Endzieles, auf, für sich allein bestehende Selbständigkeiten zu<br />

sein, werden vielmehr Faktoren, die höheren Zwecken dienen, kurz<br />

taktische Mittel und Methoden dieses Endzieles selbst, von dem<br />

getrennt sie ihre wirklich weitreichendste Bedeutung völlig einbüssen.<br />

Es ist kein Zufall, daß es stets Anarchisten waren, die die<br />

Idee der direkten Kampfesbetätigung im Proletariat zu fördern<br />

suchten und gewissermassen predigten. Die Idee der persönlichen<br />

Selbständigkeit, sozialer Freiheit und Individualfreiheit verwirft ganz<br />

von selbst jede andere Aktionsmöglichkeit und stützt sich auf das<br />

im Proletariat Naturgemässe des direkten Kampfes. Die Ideen,


— 236 —<br />

welche die Verwerflichkeit des Lohnsystems, der Ausbeutung und<br />

des Privatbesitzes an den Gesellschaftsquellen formulieren, sind<br />

vom Sozialismus und Anarchismus formuliert worden, lange ehe<br />

es eine moderne syndikalistische Bewegung gab. Das Streben<br />

nach gruppenweiser Uebernahme der Produktionsmittel ist doch<br />

nichts Syndikalistisches, sondern war so lange und seitdem es<br />

einen kollektivistischen Sozialismus gibt. Die Prinzipien des Föderalismus,<br />

der Dezentralisation sind durchaus dem Anarchismus<br />

entnommen und finden wir in ihm ihre logische Begründung und<br />

Rechtfertigung. Kurz, es gibt kein einziges Strebensziel des<br />

Syndikalismus in theoretischer Hinsicht, das nicht direkt oder<br />

indirekt vorerst von sozialistischen und anarchistischen Denkern<br />

aufgestellt wurde, die mit der heutigen französischen syndikalistischen<br />

Bewegung nicht das Mindeste zu tun hatten. Sein rein ökonomisches<br />

Programm ist darum der Sozialismus, sein politisch-soziales der<br />

Anarchismus*), ihnen beiden ist er nur Mittel.<br />

Der Syndikalismus ist die Arbeiterbewegung auf wirtschaftlichem<br />

Gebiete. Sie wird revolutionär, sobald sie über die innerhalb<br />

der bourgeoisen Welt gelegenen Möglichkeiten hinausstrebt<br />

Herr Werner Sombart sagt in Nr. 26 des „Morgen" in einem<br />

Aufsatz über die „Bedeutung der syndikalistischen Lehren", dem so<br />

ziemlich alles gründlichere Verständnis und Differenzialvermögen diesem<br />

gegenüber abgeht, u. a. folgendes: „Da möchte ich nun gleich als ein<br />

grosses Verdienst der syndikalistischen Theoretiker hervorheben: daß sie<br />

in die Schäden unserer Kultur zweifellos tiefer hinein leuchten als irgend<br />

eine andere Doktrin. Wo insbesondere der Altmarxismus Lösungen<br />

oder — gar nichts sieht, sieht der Syndikalismus erst Probleme: So<br />

wenn er die Schwächen der Demokratie und die Gefahren der Demagogie<br />

aufdeckt; wenn er auf die menschheitzerstörenden Kräfte der staatlichen<br />

Zentralisation und der Bureaukratisierung unseres gesamten Lebens hinweist<br />

und namentlich, wenn er die Kulturwidrigkeit und Menschenunwürdigkeit<br />

unseres auf Differenzierung und Integrierung der einzelnen<br />

Arbeitsleistungen aufgebauten Systems der Arbeit hervorhebt. Und zu<br />

all dieser Kritik hinzufügt: keiner dieser Uebelstände (die die traditionellen<br />

Uebelstände unseres sozialen Lebens sind) würden aus der Welt geschafft<br />

werden, auch wenn alle Produktionsmittel längst der Gemeinschaft<br />

überliefert wären, d. h. auch wenn die kapitalistische durch die<br />

sozialistische Produktionsweise (wie sie sich die Altmarxisten denken)<br />

ersetzt worden wäre."<br />

Wirklich interessant, Herr Sombart! Man könnte wahrlich leicht<br />

zu dem Glauben verführt werden, daß das Kind vor dem Vater war . . .<br />

Im Vertrauen gesagt: Wenn dieses die charakteristischen Bestandteile<br />

der syndikalistischen Theorie, erbiete ich mich, Ihnen ein Dutzend<br />

anarchistisch-sozialistische Theoretiker vorzuführen, die alle das „Verdienst<br />

der syndikalistischen Theoretiker" einheimsten, lange ehe die<br />

Hochflut der gegenwärtigen französischen syndikalistischen Bewegung<br />

hereinbrach, lange ehe die „syndikalistischen Theoretiker" existierten.


— 237 —<br />

und dem Sozialismus-Anarchismus Ziele und Methoden entlehnt.<br />

Es entsteht dann allsogleich ein inniges wechselseitiges Zusammenwirken<br />

beider — die Arbeiterbewegung wird dann getragen vom<br />

Geiste des Sozialismus und Anarchismus; sie wird die Bewegung<br />

dieser Ideale, erst durch ihre Ideale revolutionär.<br />

Gerade dies hat der Syndikalismus getan. Er hat dem<br />

freiheitlichen Sozialismus alles dasjenige entlehnt, das zu verkörpern<br />

er nicht fähig, das zu realisieren er wohl vielfach imstande sein<br />

mag. Um grosse Massen zu gruppieren, wie er es muß, hat er<br />

dem anarchistischen Sozialismus nur eine Phase, die ökonomische<br />

entlehnt und sie nicht offenherzig als das dargestellt, was sie ist: anarchistischer<br />

Kollektivismus, was aber auch viele<br />

Tausende noch Unaufgeklärte kopfscheu gemacht hätte, sondern<br />

diese Phase rein gewerkschaftlich-revolutionär verbrämt. Der<br />

Syndikalismus ist die Beschränkung auf das nurwirtschaftliche<br />

Moment des Anarchismus. Dadurch kann er der Sammelpunkt<br />

für den Mischmasch der vielfachsten Elemente und nicht nur<br />

proletarischer werden. So rinden wir im Syndikalismus denn auch<br />

die Tatsache vertreten, daß viele seiner fähigsten Wortführer Intelligenzler<br />

sind, entweder laut früher bourgeois-intellektueller Erziehung<br />

oder durch das Autodidaktentum. Ich nenne nur Sorel Hervé Berth<br />

Stackelberg, Labriola, Leonie, Pouget, Delesalle, usw. Er teilt damit<br />

das Schicksal jeder grossen, welthistorischen Bewegung. Verhängnisvoll<br />

kann ihm nur eines werden und ward es ihm bereits in<br />

manchen Teilen. Dadurch, daß er nur das ökonomische Kampfesmoment<br />

des idealen Strebens berücksichtigt, wird er — wie schon<br />

oben gezeigt, war dies seine Entstehung — der Brennpunkt, die<br />

Sammlung der verschiedensten Elemente. Es wird ihm ein klares<br />

Streben nach einem deutlich umrissenen Endziel eine Unmöglichkeit<br />

; will er die in allen nicht ökonomischen Fragen des Augenblickes<br />

vollständig heterogene und geistig keineswegs universaleinheitliche<br />

organisierte Masse nicht von vornherein verlieren, will<br />

er die Vergrösserung dieser für ihn unbedingt notwendigen Masse<br />

nicht von vornherein unmöglich machen, so ist er gezwungen, das<br />

Endziel nicht als praktisches Kampfesobjekt mit sich zu führen,<br />

seine ganze Kraft auf Momentforderungen zu verlegen. Damit<br />

aber eröffnet sich dieselbe Perspektive, die wir<br />

bei allen revolutionären Spielarten der Arbeiterbewegung<br />

gleicher Art in der Vergangenheit beobachtet<br />

haben. Schon heute ist der Syndikalismus in vieler<br />

Beziehung nichts anderes als eine Art revolutionärer Revisionismus,<br />

nicht aber das, was er sein und werden muß, will er eine Mission<br />

des Proletariats erfüllen können: die ökonomische Bewegung nicht<br />

nur der proletarischen Augenblicksforderungen, sondern die<br />

ökonomische Bewegung der Weltanschauung anarchistischer<br />

und sozialistischer Ziele.


— 238 —<br />

Einer unserer bekanntesten französischen Genossen, L. Pratelle,<br />

Anhänger auch des Syndikalismus, hat dies in einem kurzen Abriss<br />

über den „französischen Syndikalismus"†) folgendermassen<br />

ausgedrückt:<br />

„Auf dieselbe Weise wie ein brausender Sturzbach ein stiller See am<br />

Ende seines Falles wird, kann der revolutionäre Syndikalismus gemildert<br />

werden mit seiner zunehmenden Ausdehnung. Der Erfolg der<br />

Bewegung zieht eine Menge Leute an, die nur kommen, weil sie es<br />

profitabel finden, dies zu tun und weil in jüngster Zeit ein bedeutendes<br />

Interesse für den Syndikalismus sich manifestiert . . . Um nun den<br />

Syndikaten Leben einzuhauchen, zu verhindern, daß sie zu Zünften<br />

werden, dazu ist der revolutionäre Idealismus unentbehrlich.<br />

Die Arbeiter müssen verstehen, daß es noch etwas<br />

anderes gibt außer ihrer Gruppierung als Klassenpartei;<br />

daß das zu erreichende Endziel eine höhere Gesellschaftsorganisation<br />

ist, eine ohne Autorität und Grenzen, welche die Gesamtmenschheit<br />

umschließt."<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Symptomatische Aeusserungen innerhalb der internationalen,<br />

anarchistischen Bewegung machten die obigen Klarstellungen zu<br />

einer Notwendigkeit. Denn anders als Pratelle es darstellt, scheint<br />

es mit dem Syndikalismus als organische Bewegung werden zu<br />

wollen. Er versucht, das prinzipiell Anarchistische in seiner Aktion<br />

so zu beschränken, daß er in dieser nicht mehr nur eine Wesensäußerung<br />

der Gesamtphilosophie des Anarchismus erblickt, hingegen<br />

gerne diese zugunsten der direkten Aktion seiner Bewegung totschlagen<br />

möchte. Es wäre ein Unrecht, zu behaupten, daß<br />

eigentliche Syndikalisten dies tun. Nein, es geschieht direkt aus<br />

der Mitte des Anarchismus heraus, von solchen die zum größten<br />

Teil nicht Syndikalisten und in ihrer geistigen Beschränktheit<br />

sich höchstens Anarchisten nennen, es aber nicht sind vom<br />

Standpunkt der Weltanschauung des Anarchismus aus.<br />

Was wir in Deutschland von dieser Art „syndikalistischem<br />

Anarchismus" haben, der ganz frank und frei erklärt, daß Anarchismus<br />

nichts, Syndikalismus alles sei, ist ein Abhub der<br />

Kämpfe unserer französischen und italienischen Kameraden, soll<br />

erst bei uns eingeführt werden. In Frankreich, wo der Syndikalismus<br />

seinen Höhelauf genommen hat, ist er nachgerade nur in sehr<br />

geringem Maßstabe die ökonomische Avantgarde des Anarchismus<br />

geworden. Vielmehr war er der Absorbierungsboden der anarchistischen<br />

Kräfte, die das, was sie vordem vernachlässigten, nun<br />

unmässig und in nicht anarchistischem Sinne betrieben. Früher<br />

verlor man den Boden in den Massen, nun aber wurden Massen<br />

gruppiert nicht durch prinzipiell anarchistische Propaganda, sondern<br />

†) „Voice of Labour", 6. Juli <strong>1907</strong>.


— 239 —<br />

durch eine zum großen Teil aus Schlagworten bestehende, revolutionär-gewerkschaftliche<br />

Propaganda für Augenblicksforderungen;<br />

und, obwohl das Programm des Syndikalismus dem zu widersprechen<br />

scheint — hat doch auch die Sozialdemokratie ganz schöne Programmsätze<br />

—, so doch noch nur für jene. Es ist dies umso<br />

begreiflicher, je klarer man sich die obige Argumentation veranschaulicht;<br />

daß der Syndikalismus, wenn er irgendwie weitere Ziele<br />

verfolgte, sofort in interne Zwiespältigkeiten zerklüftet würde, hier<br />

Hegt das Tragische der großartigen Massengruppierung: sie gruppiert<br />

nie um eine Idee, sondern stets um ein Schlagwort, bleibt aber<br />

auch stets wirkungslos inbezug auf die vollendete Verwirklichung<br />

der Gesamtidee.<br />

Kein Land bildet für uns ein so klares Beispiel wie Spanien,<br />

das uns beweist, eine auf wie losem Flugsande gebaute Bewegung<br />

jene des Syndikalismus ist. Bekanntlich war es Spanien, das durch<br />

eine Glanzaktionen mittels des Generalstreiks in den Jahren 1901<br />

und 1902 den seitdem erfolgten internationalen Rundgang der Idee<br />

des Generalstreiks bewirkte. Dies ist das hohe Verdienst der<br />

spanischen Arbeiterklasse, der sich auch die französische als Mitwürdenträgerin<br />

beigesellt. Dabei ist die spanische Arbeiter- und<br />

Gewerkschaftsbewegung sehr stark durchsetzt von revolutionärsozialistischen<br />

und anarchistischen Elementen. Wenn wir uns<br />

aber heute, nach über fünf Jahren, nach der Bewegung umsehen,<br />

können wir nicht umhin, einen grossen Niederschlag zu verzeichnen.*)<br />

Dreierlei sind die Ursachen, die angegeben werden: 1. Die<br />

industrielle Krisis, die für Spanien eine Resultante des Verlustes<br />

seiner Kolonien bedeutete; <strong>2.</strong> die wütende staatliche und kapitalistische<br />

Verfolgung der Syndikalisten; 3. die politischen Verführungen<br />

durch die republikanischen Elemente. Wie eine monotone Bestätigung<br />

all dessen, was ich oben ausgeführt habe, lesen sich diese Ursachen. Sie<br />

bilden Belege dafür, daß der Syndikalismus, wenn er nur solcher, denselben<br />

Bedingungen des Lebens und der Existenzfähigkeit unterworfen ist, wie<br />

der konservative Tradeunionismus der englischen Arbeiter, die nur<br />

während der Hochkonjunktur industriell-kapitalistischer Prosperität<br />

streiken. Bei einer wirtschaftlich-anarchistischen Bewegung müßte<br />

es anders sein; die Periode der in Ueberfluß vorhandenen und<br />

deshalb eine soziale Depression erzeugenden Güterreichtümer könnte<br />

da unmöglich ungenützt vorübergehen und würde nicht nur nicht<br />

als Desorganisations,- sondern sich als das wirksamste Organisationsmittel<br />

erweisen.<br />

Aus allen diesen Gründen ist die Propaganda des Anarchismus<br />

und der sozialistischen Weltanschauung überhaupt die Hauptnotwendigkeit<br />

für den Syndikalismus. Durch diese Weltanschauung<br />

und als klarsehende Minorität ist er imstande, die momentanen<br />

*) Vergl. „Bulletin internationale du mouvement syndicaliste". Nr 14.


— 240 —<br />

Lebensbedingungen nicht auf Kosten des, sondern im Hinblick auf<br />

ein klares Zukunftsideal durchzusetzen. Nur als ausgesprochen und<br />

tatsächliche wirtschaftliche Bewegung des Anarchismus hat<br />

der Syndikalismus für uns Bedeutung. „ Ist er dies nicht, so ist<br />

zwischen ihm und der reformierenden Sozialdemokratie kein wesentlicher<br />

Unterschied. Im Gegenteil, er wird gefährlich, da es seine<br />

wirtschaftliche Kraftsumme ist, die es ihr gestattet und ermöglicht,<br />

sich einen freien Weg zu schaffen. Auch im Endkampfe der<br />

sozialen Evolution würde ein nicht anarchistischer Syndikalismus<br />

nur eines bedeuten: er ermöglichte es der politischen Partei, die<br />

ihn auszunützen verstünde, die gesellschaftliche Macht zu erringen,<br />

im günstigsten Falle erlangten wir nur einen Staatssozialismus,<br />

gerade das, was wir aus guten Gründen stets bekämpfen.<br />

Für uns ist der Syndikalismus eine, die wirtschaftliche<br />

Aktion des Anarchismus. Aber nicht der Syndikalismus schlechthin;<br />

sondern der anarchistische Syndikalismus allein. Sein antiparlamentarisches<br />

Prinzip darf nicht die versuchte Neutralität gegenüber<br />

allen Parteien, muß vielmehr die prinzipielle Verwerfung der politischen<br />

Aktion vom sozial-politischem Standpunkt der individuellen<br />

und kollektiven Herrschaftslosigkeit sein. In seinen Reihen, die<br />

allen intelligenten Arbeitern ohne Unterschied geöffnet sein müssen,<br />

hat die Propaganda von Ideen, der Weltanschauung des Anarchismus,<br />

des revolutionären Sozialismus stattzufinden. Wohl möglich, daß<br />

er dann es nicht über eine kleinere oder größere Minorität hinausbringen<br />

würde. Doch dies ist nebensächlich, da diese Minorität<br />

weit mehr durchsetzen könnte, als eine im Verhältnis zu ihr große<br />

Majorität, die aber nicht von weitergehenden Prinzipien erfüllt ist.<br />

Ueberdies sind wir der theoretischen Meinung, daß es Minoritäten<br />

sein werden, die die Umwandlung des Gesellschaftssystems in eine<br />

Kommunistisch-anarchistische Gesellschaft durchführen werden. Da<br />

gilt es für uns doch vor allen Dingen, die wirtschaftliche Minorität<br />

des Anarchismus zu zeugen, nicht aber eine verflachte Massenbewegung,<br />

die im Endziel vollständig unklar ist. Und nur das<br />

Endziel kann das logische Steuer für und durch die Gegenwart<br />

sein! Dasjenige, was der gegenwärtige Syndikalismus für uns<br />

bedeutet, ist nicht die wirtschaftliche Bewegung unseres Ideals,<br />

sondern höchstens eine praktische Ablenkung von der trügerisch<br />

politisch-parlamentarischen Bahn auf einen Weg des wirtschaftlichen<br />

Kampfes, der denn wirklich imstande, sozialen Wünschen zum<br />

Durchbruch zu verhelfen. Aber dabei dürfen wir nicht verweilen,<br />

dürfen wir nie vergessen, daß der ganze heutige Syndikalismus<br />

für uns erst eine im Werden begriffene Bewegung bedeuten kann,<br />

aus der sich nach und nach unsere Kampfesbewegung herausschälen<br />

wird und muß. Sagen somit auch wir: Hinein in die Gewerkschaftsbewegung<br />

und alle Augenblickskämpfe mitkämpfen! so<br />

fügen wir auch gleich und entschlossen hinzu: Eifrigste Propaganda


— 241 —<br />

unseres Ideals; damit aus dieser Aktion einmal eine solch gestaltete<br />

werden mag, die der vollständigen Befreiung des Proletariats gewachsen.<br />

Dies ist dann eine Bewegung, die den Rahmen des<br />

Syndikalismus längst wieder überschritten hat und eine ökonomische<br />

Kampfesgruppierung des Anarchismus geworden, die den Einflüssen<br />

kapitalistischer Depression nicht mehr unterworfen ist, sondern<br />

konsequenter Weise dem Endziel, dem sozialen und individuellen<br />

unserer Lehren zustrebt, eine Verkörperung, eine klar und deutlich<br />

ihre Zwecke verfolgende Bewegung unserer Weltanschauung ist.<br />

Stets waren die Anarchisten die Vorkämpfer des revolutionären<br />

Kampfes und besonders auf wirtschaftlichem Gebiet. Sehr<br />

richtig sagt der Genosse Pierrot*), einer der fähigsten Intellektuellen<br />

des Syndikalismus, ein anarchistischer Kommunist, der den Syndikalismus<br />

als taktische Methode propagiert, in einer Artikelserie über<br />

unsere taktische Methode:<br />

„Es sind die Anarchisten, die als die ersten zu den Begriffen des<br />

Generalstreiks im Sinne eines revolutionären Mittels gelangten, (vergl.<br />

„La Revolte", von 1887 bis 1888) und dessen Propagandisten wurden.<br />

Sie sind es, die öffentlich die Sabotage zu erklären und anzuempfehlen<br />

wagten, trotz des Schimpfes, auf den dieses alte Verteidigungsmittel<br />

der Arbeiter stieß.<br />

Sie sind es, die stets in den Syndikaten den Kampf leiteten und<br />

die Propaganda führten gegen den Militarismus, das Staatentum und<br />

das legale Vorurteil.<br />

Die Anarchisten waren immer bestrebt, den Arbeiterorganisationen<br />

denjenigen Elan zu bieten, der sie ermutigen würde zu handeln. Sie<br />

arbeiteten daran, der Masse des Proletariats ihre Moralanschauungen<br />

einzuflößen. Dank ihnen und dank dieser ihrer Moral konnte sich<br />

die Taktik der direkten Aktion entwickeln.<br />

Sie sind es somit, die dazu beigetragen haben, den Syndikaten<br />

ein wirkliches Kraftbewußtsein zu geben ..."<br />

Jedes dieser Worte ist wahr. Aber sie beweisen nur, daß<br />

wir als Anarchisten nie vergessen haben, daß uns der Syndikalismus<br />

nur ein Mittel, nie ein Zweck in sich selbst war noch ist. Wir<br />

haben es nie vergessen können, daß die moderne syndikalistische<br />

Bewegung nichts ist als eine fortwährende, unvermeidliche Kompromißbewegung,<br />

sowohl im Kampfe, wie auch in der täglichen<br />

Organisation**) Der Unterschied zwischen dem Syndikalismus und<br />

*) „Temps Nouveaux", <strong>2.</strong> November <strong>1907</strong>.<br />

**) Luigi Bertoni, einer unserer fähigsten anarchistischen<br />

Syndikalisten, schreibt im Genfer „Le Reveil" über diese Frage u.a.:<br />

„Ueberzeugter Anhänger des Anschlusses der Anarchisten an die Syndikate,<br />

kann ich allerdings nicht mit dem Enthusiasmus von ihnen sprechen,<br />

wie einige Genossen dies tun . . . Und ist man nach zwanzigjährigem<br />

Syndikalismus in italienischen, französischen und deutschen Ländern<br />

alles in allem nicht entmutigt, so ist es mir doch unmöglich, mich zum<br />

Apologisten zu machen . . . Wir als Anarchisten, sind keine Syndi-


— 242 —<br />

anderen Kompromissen besteht darin, daß für ihn der Kompromiß<br />

nicht die ganze Verhinderung des Kampfes, er oftmals erst durch<br />

diesen zum Kompromiß gelangen kann. Sein Kompromiß ist also<br />

geringer als jener anderer Faktoren im Gegenwartsleben. Aber es<br />

bleibt einmal ein Kompromiß und dessen vielseitige, unendlich<br />

vielseitige Betätigung kennt jeder, der einmal selbst und aktiv<br />

mitwirkte an dem Aufbau und Kampf sogar sehr revolutionärer<br />

Gewerkschaftorganisationen. Und deshalb greifen wir in die syndikalistische<br />

Bewegung nur als Anarchisten ein, müssen die verwendbaren<br />

Teile gebrauchen, um ihn für den Anarchismus zu gewinnen, was<br />

durch rastlose Propaganda für unsere Ideen geschehen kann.<br />

Anarchistische Syndikalisten — nicht umgekehrt! — gilt es<br />

zu schaffen, und diese sind denn vor allem Anarchisten und erst<br />

in zweiter Linie Syndikalisten. Menschen müssen geschaffen werden,<br />

die wissen, was sie wollen, die ohne Scheu ihr Ziel vertreten und<br />

alles einzig und allein für ihr klargeschautes Endziel erwerben.<br />

Resümieren wir kurz:<br />

1. Für uns Anarchisten ist die syndikalistische Bewegung die<br />

unmittelbare, soziale Reformaktion des Proletariats.<br />

<strong>2.</strong> Als solche ist sie ein Klassenkampfmittel der Kampfestaktik<br />

des Anarchismus, ist von dieser modern begründet, stets<br />

vertreten worden.<br />

3. Die Methoden der allgemeinen, täglichen Arbeiterbewegung<br />

finden im Syndikalismus eine Betätigung, die stets von Anarchisten<br />

propagiert wurde, da diese Methoden aus der Gesamtphilosophie<br />

des antistaatlichen Sozialismus, also Anarchismus hervorgehen.<br />

4. Der Syndikalismus als gegliederte Arbeiterbewegung besitzt<br />

als Theorie nichts anderes als das Streben nach menschenwürdigen<br />

Lebensbedingungen im Rahmen der Gegenwart.<br />

5. Der Syndikalismus kann aber eine soziale Befreiungsbewegung<br />

werden, wenn er die Ideale des Sozialismus und Anarchismus<br />

in sich aufnimmt.<br />

6. Er wird dann die wirtschaftliche Massentaktik dieser Ideale<br />

und sozialpolitischen Freiheitsideen, entwächst damit dem Rahmen<br />

des syndikalistischen Wesensbegriffes, wird die Kampfesgruppierung<br />

der sozialen Revolution, deren Ziel das anarchistische Ideal.<br />

7. Niemals kann er diese theoretischen Anschauungen ersetzen,<br />

sich selbst genügen; erst durch den sozialistischen Anarchismus<br />

kalisten aus Liebe zu den bestehenden Syndikaten,<br />

sondern weil wir dorten eine neue Kraft sich in<br />

Formation befindlich erblicken, und weil es sich<br />

darum handelt, sie nicht kapern zu lassen von den<br />

Arbeiterpolitikern- und Beamten, ja den Kapitalisten<br />

selbst."


— 243 —<br />

findet der Syndikalismus sein theoretisches Ziel, seine theoretische<br />

Berechtigung uncT Rechtfertigung.<br />

8. Der Syndikalismus muß deshalb stets und vor allem diese<br />

Ideen des sozialistischen, Anarchismus, soweit sie auf das rein wirtschaftliche<br />

Gebiet Bezug nehmen, propagieren, ihnen dienen. Dieser<br />

Propaganda muß seine soziale Aktion, als Methode und Kampfestaktik<br />

des Anarchismus, entfließen.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Man kann unmöglich revolutionärer Anarchist sein, ohne auch<br />

begeisterter Syndikalist zu sein; wohl aber kann man Syndikalist<br />

sein, ohne irgendwie und welche weiterliegende Ziele als jene des<br />

„täglichen Brotes" zu verfolgen. So unumgänglich notwendig dieses<br />

letztere ist, ist es nicht alles, haben wir als Anarchisten doch die Aufgabe,<br />

der universalen Weltanschauung zum Siege zu verhelfen. Diese<br />

bietet uns vollkommene konkrete Freiheit. Freiheit ist stets auch<br />

Brot, während Brot nicht stets Freiheit ist. Aus diesem Grunde<br />

sind wir vor allem Anarchisten, solche, die in dem Syndikalismus<br />

nur einen Ausfluß der. praktischen Philosophie des Anarchismus<br />

erblicken, den letzteren nicht durch den ersteren überwuchern<br />

lassen, was einem traurigen, verhängnisvollem Irrtum gleichkäme,<br />

vielmehr gerade diejenigen, die als Anarchisten den Syndikalismus<br />

propagieren, nicht weil er das einzige Mittel, sondern<br />

weil er eines der vorzüglichen Mittel und Methoden des Anarchismus,<br />

des Weges der Menschheit zur sozialen Herrschaftslosigkeit werden<br />

kann, ein Piedestal für die Lehre der Anarchie zu sein vermag.<br />

Meine Beziehungen zu Mateo MorraL<br />

Vorbemerkung.<br />

Pierre Ramus.<br />

In Erinnerung an das Attentat Mateo Morrals auf den spanischen<br />

König, der Wiederbelebung von Montjuich'scher Folterungen wehrloser und<br />

unschuldiger Sozialisten, Anarchisten und Gewerkschaftler, wie Freidenker,<br />

veröffentlichte unser Bruderblatt „Tribuna Libertaria" (Montevideo, Uruguay)<br />

eine besondere Ausgabe, die eine eingehende und vorzügliche Behandlung<br />

des Gegenstandes aus fachkundigen Federn brachte. Nachfolgender Aufsatz<br />

enthält so manche bisher unbekannte Seiten des Gesamtfalles, wie auch<br />

der Hauptpersönlichkeit, weshalb wir denselben in deutscher Uebertragung<br />

zum Abdruck bringen. Die Red.


— 244 —<br />

Als ich meine Escuela Moderna*) in Barcelona eingerichtet<br />

hatte und diese schon in vollem Gange war, lese ich eines Tages<br />

in der Zeitung, daß eine Versammlung einberufen werde zwecks<br />

Gründung eines Vereins zur Herausgabe und Verbreitung von<br />

rationellen Schulbüchern für weltliche Schulen. Da die Einberufer<br />

sich an alle Interessenten für Einrichtungen von weltlichen Schulen<br />

wandten, so begab ich mich an den bezeichneten Ort, wo ich bereits<br />

Personen vorfand, doch war die Versammlung noch nicht<br />

eröffnet. Von den Anwesenden kannte ich bereits drei Frauen:<br />

Teresa Claramunt, Jaime Peiro und Juan Mir y Mir, deren eine<br />

mir einen jungen Mann mit den üblichen Redensarten vorstellte,<br />

von denen ich nur zurückbehielt, daß es der Sohn eines Fabrikanten<br />

von Sabadell sei, auch blieb mir der Name Morral im Gedächtnis,<br />

da ich dies Wort zum ersten Mal als Namensbezeichnung hörte.<br />

Ich erklärte nun der Versammlung, daß meine Musterschule<br />

wohl dieselben Zwecke verfolge, die sich der Verein vorgeschlagen.<br />

habe, und daß ich mich zu ihrer Verfügung stelle, um rationelle<br />

Schulbücher herauszugeben und zu drucken, falls es dem Verein<br />

an Geldmitteln dazu mangeln sollte. Ich versprach auch, in meiner<br />

Schule jegliche rationelle Schulbücher zu verwenden, die im Verlage<br />

dieses Vereins oder anderer in Zukunft erscheinen würden,<br />

und bat um Entschuldigung, daß ich der Versammlung nicht bis zum<br />

Schlüsse beiwohnen könne, da ich noch zu einer Sonntagssitzung<br />

meiner Schule eilen müsse.<br />

Das zweite Mal sah ich Mateo Morral wenige Tage darauf in<br />

meinem Bureauraum, wohin er gekommen war, um je ein Exemplar<br />

von allen Büchern zu kaufen, die in der Escuela Moderna verwandt<br />

werden. Bei diesem Besuch hatten wir kaum ein paar Worte gewechselt,<br />

doch kam er nach Durchsicht der Bücher, mich wieder<br />

besuchen und war von deren Inhalt so begeistert, daß unsere<br />

Unterhaltung kein Ende nehmen wollte. Zum Schluß bestellte er<br />

ein Dutzend Exemplare von jeder Sorte, um sie an seine Freunde<br />

und einige weltliche Lehrer in Sacadell weiterzugeben, Er abonnierte<br />

dann auch gleich für sich und mehrere andere Personen, deren<br />

Adressen er zurückließ, auf das von unserer Schule herausgegebene<br />

Bulletin.<br />

Seit der Zeit verging keine Woche, daß Moral die Escuela<br />

Moderna nicht besucht hätte. Stets hatte er Bücher einzukaufen,<br />

und ging aus seinen Erzählungen hervor, daß er überall unermüdlich<br />

Propaganda für die rationelle Schulmethode machte. Groß war<br />

stets seine Freude, wenn er zu erfahren bekam, daß wir ein neues<br />

Buch herausgegeben haben, und hatte er mir das Wort abgenommen,<br />

daß ich ihm von jeder Neuerscheinung sofort unaufgefordert zwölf<br />

Exemplare senden müsse, obschon er regelmässig alle Montage<br />

*) Moderne Schule.


— 245 —<br />

persönlich in der Escuela Moderna vorsprach. Bei diesen Besuchen<br />

blätterte er stets in den Manuskripten, die gedruckt werden sollten<br />

oder im Druck waren, bot mir auf alle Fälle Geld zu deren Veröffentlichung<br />

an und erzählte, daß sein einziges Streben und Ehrgeiz<br />

darauf gerichtet seien, im Volke die so gebieterisch notwendige<br />

Bildung zu verbreiten, da er für seine freie Zeit keine bessere Verwendung<br />

kenne und dem Cafe-Leben, Tabakrauchen etc. abhold<br />

sei.<br />

Er machte mich bald zu seinem Vertrauten und erzählte mir<br />

alles, was seine Aufmerksamkeit oder seinen Unwillen erregt hatte.<br />

Er sprach von dem Leben der Fabrikanten in Sabadell, die<br />

für Orgien und ausschweifende Vergnügungen fabelhafte Summen<br />

fortwürfen und zu den Feiertagen nach Barcelona kämen, wohin<br />

sie die Töchter und Schwestern ihrer eigenen Arbeiter zu locken<br />

trachteten, um sie zu verführen und dann mit Hohn und Spott im<br />

Stich zu lassen.<br />

Gleiche Sachen erzählte er mir von den Fabrikanten in Tarrasa<br />

und wollte gleiches auch bei seinen Reisen in Frankreich und<br />

Deutschland beobachtet haben.<br />

Es quälte ihn, beobachten zu müssen, wie geduldig und ergeben<br />

die Arbeiterbevölkerung sich die Hungerlöhne gefallen ließ<br />

und sich die freie Zeit über in Cafes umhertrieb, statt Bildung zu<br />

suchen und sich über die Mittel Aufklärung zu verschaffen, die<br />

ihnen zu einem menschenwürdigeren Dasein verhelfen könnten.<br />

Er erzählte mir, mit welcher Vorliebe er sich mit Arbeitern<br />

unterhalte, um sie zum Studium und zur Organisierung anzuhalten,<br />

und wie schmerzlich es ihn berühre, dabei nur gar zu oft auf tiefste<br />

Ignoranz und tötlichste Gleichgiltigkeit stoßen zu müssen. Doch<br />

ließ er sich dadurch von seinem erzieherischen Eifer nicht abschrecken,<br />

denn jede neue Erfahrung stärkte ihn um so mehr in<br />

seinem Vorsatz, für rationelle Schulbildung und zielbewußte Arbeiterorganisationen<br />

Propaganda zu machen. Zwei Dinge waren ihm<br />

vor allem ans Herz gewachsen: bei seinem Vater durchzusetzen,<br />

daß seine kleine Schwester zu uns in die Schule geschickt werde,<br />

und es zu ermöglichen, daß in Sabadelle auch eine Escuela Moderna<br />

gegründet werde. Als er den ersten Wunsch erfüllt sah, bat er<br />

mich, einen ungefähren Kostenanschlag für die Schulgründung aufzustellen,<br />

da er von seinem Vater das dazu nötige Geld erhalten<br />

würde. Leider kam sein Plan nicht zur Ausführung, da es an den<br />

notwendigen Lehrkräften mangelte.<br />

Inzwischen waren wir in immer engere Beziehungen zu einander<br />

getreten. Mateo Morral nahm an den Exkursionen und anderen<br />

festlichen Veranstaltungen der Escuela Moderna teil, bei welcher<br />

Gelegenheit er uns einmal die Fabrik seines Vaters, sowohl als die<br />

Fabriken anderer Freunde von ihm, alle in Sabadell gelegen,<br />

besichtigen ließ, womit wir einen herrlichen Frühlingstag vergnügt


— 246 —<br />

und instruktiv verbrachten, Durch diesen Besuch und durch den<br />

Eintritt Adelina Morral in unsere Schule, traten wir in ein näheres<br />

Verhältnis zu dem Vater und den Brüdern Matheos, die unsere<br />

Schule ziemlich regelmässig besuchten.<br />

Im Laufe der Zeit war Matheo Morral zu einem passionierten<br />

Verfechter unseres Schulprinzips geworden, überall pries er unsere<br />

Preßerzeugnisse aus, kaufte vieles für sich persönlich und schaffte<br />

immer neue Abonnenten auf unser Bulletin heran, bis er mir Ende<br />

1905 folgende Erklärung abgab.<br />

Er begann damit, daß er mir seine beständigen Kämpfe ins<br />

Gedächtnis rief, die er mit der Arbeiterschaft von Sabadell zu<br />

führen hatte, um deren Ignoranz zu besiegen, so daß er die Arbeiter<br />

seiner eigenen Fabrik erst dazu aufwiegeln mußte, seinem Vater<br />

gerechte Forderungen zu stellen, zwecks Beseitigung von gar zu<br />

schreienden Mißständen. Er beklagte sich nicht über seinen Vater,<br />

denn er war der einzige Fabrikant in Sabadell, der stets gegen<br />

die übrigen Fabrikanten im Orte auftrat, wenn von diesen Scharfmachern<br />

Maßnahmen gegen die Arbeiterschaft beantragt wurden,<br />

doch machte er sich Gewissensbisse, in der Fabrik den engen<br />

Interessen seines Vaters zu dienen und so zum Luxus der einen<br />

und zur Verelendigung der anderen beizutragen. Die Folgen des<br />

sozialen Unrechts sich selbst zu Herzen nehmend, konnte er sich<br />

nicht entschließen, zeitlebens im Dunstkreise von Privatinteressen<br />

zu arbeiten, ohne zu der Bildung und Erziehung der Arbeiterklasse<br />

Zeit zu finden. Er erklärte mir zum Schluß, daß er von unserem<br />

erzieherischen Werk entzückt sei und daß es sein Ideal wäre, uns<br />

nachzueifern und sein Leben gleicher Arbeit zu widmen.<br />

Ich übergehe eine ganze Anzahl von Einzelheiten intimer<br />

Natur, die meine gute Meinung bestärkten, die ich Matheo Morrals<br />

ehrenhaftem und offenem Wesen beibringen mußte, und so bot ich<br />

ihm denn, seinen festen Entschluß sehend, die Mitarbeiterschaft an<br />

der Escuela Moderna an; ich schlug ihm vor, die Drucksachenabteilung<br />

zu übernehmen, wodurch ich freie Zeit gewinnen würde,<br />

um mich nach Lehrkräften umzusehen, die für die nunmehr allerorts<br />

nach unserem Muster in Gründung begriffenen Schulen benötigt<br />

wurden.<br />

Er dankte für mein Anerbieten und sagte mir seine Hilfe zu,<br />

doch beließen wir die definitive Regelung der Angelegenheit auf<br />

später, da er sich mit dem Wunsche trug, die Vertretung ausländischer<br />

Häuser zu übernehmen, um sich so seinen Lebensunterhalt<br />

zu verdienen und die nötige freie Zeit zu haben, die er dazu<br />

verwenden wollte, die Zeitschrift „El Trabajo"*) von Sabadell zu<br />

reformieren und auf die Höhe der Pariser „Voix du Peuple" zu<br />

stellen, damit die spanischen Arbeitergewerkschaften zur Föderation<br />

*) „Die Arbeit"


— 247 —<br />

schritten. Nichtsdestoweniger machte ihm mein Anerbieten große<br />

Freude und er versprach, vom ersten Januar ab alle Tage einige<br />

Stunden zu kommen, um sich in die Geschäftsführung der Druckabteilung<br />

einzuarbeiten.<br />

Mit diesem Abkommen verabschiedeten wir uns. Während<br />

der Besuche, die er mir noch vor Jahresende machte, erzählte er<br />

mir, welchen Widerstand er bei seinem Vater getroffen habe, als<br />

er auf seinen Plan zu sprechen gekommen war. Der Vater drang<br />

in ihn, die Fabrik nicht zu verlassen oder doch wenigstens so lange<br />

zu bleiben, bis er sich so eingerichtet hätte, daß der Betrieb durch<br />

seinen Weggang keine Störung erlitte. Doch bemerkte Mateo,<br />

daß sein Vater nur eins damit bezwecke, ihm seinen Weggang<br />

überhaupt auszureden und Zeit zu gewinnen, wozu er sich jedoch<br />

niemals verstanden hätte, da sein Entschluß fest stand, sein Leben<br />

der Arbeiterklasse zu widmen und nicht deren Ausbeutung.<br />

So kam der <strong>2.</strong> Januar heran; ich rief den Kameraden Batlori,<br />

der die Drucksachenabteilung bearbeitete, teilte ihm mit, daß von<br />

nun ab Morral in die Verwaltung eintrete, und bat ihn, Morral in<br />

die Geschäftsführung einzuweihen. Die ersten Tage kam Morral<br />

nur zu den Poststunden, las die Korrespondenzen durch und erledigte<br />

die einlaufenden Bücherbestellungen. Dann fing er an,<br />

schon länger da zu bleiben, sah die Druckkorrekturen durch und<br />

übernahm endlich den ganzen Verkehr mit den Papierlieferanten<br />

und Druckern, die von der Escuela Moderna beschäftigt wurden.<br />

Er fand bald ein so lebhaftes Interesse an seiner neuen Beschäftigung<br />

und brachte mir eine so große Erleichterung, daß wir beschlossen,<br />

die Drucksachenabteilung ihm ganz zu übergeben. Zum<br />

1. Juni sollte Inventur aufgenommen werden, Morral wollte den<br />

Wert der vorhandenen Drucksachen begleichen, um zukünftig ganz<br />

selbständig die wirtschaftliche Seite des Ganzen zu verwalten. Ich<br />

behielt mir jedoch das Recht vor, dem Schulzweck geeignete<br />

Bücher vorzuschlagen und gegen, ungeeignete Einspruch zu erheben.<br />

Ueber die Zahlungsweise verloren wir kaum ein paar Worte, da<br />

wir seiner Ehrenhaftigkeit vollständiges Vertrauen entgegenbringen<br />

konnten und die Geldfrage für mich so lange es sich um Schulzwecke<br />

handelte keine Bedeutung hatte, da ich über die nötigen<br />

Mittel verfügte, um meiner Idee voll nachzugehen.<br />

Mateo Moral war über alle Maßen zufrieden, als er nun tatsächlich<br />

Alleinverwalter der Drucksachenabteilung geworden war<br />

und auch die Direktion des „El Trabajo" in Sabadell so gut wie<br />

übernommen hatte; diese Zeitschrift wollte er zu einer wöchentlichen<br />

machen und ihr eine große Publizität geben, um dem Gedanken<br />

der Arbeiterassoziation und Bildung eine weite Verbreitung<br />

zu geben.<br />

Mitte Mai teilte er mir mit, daß er sich etwas krank fühle<br />

und einige Tage Erholung nötig habe. Er sah auch in der Tat


— 248 —<br />

ermüdet und übernächtigt aus. Ich bestärkte ihn deshalb in'seinem<br />

Entschluß und riet ihm, die laufenden Geschäfte dem Kameraden<br />

Bartlori zu übertragen. Er ging auch am 20. weg, mich im<br />

Glauben lassend, daß er vor Ende des Monats zurück sein würde.<br />

Er sagte mir nicht, wohin er fahre, doch wußte ich, daß ich nach<br />

Sabadell schreiben konnte, wenn ich ihn nötig gehabt hätte; da<br />

aber von ihm keine Briefe eintrafen, so erwartete ich ihn von Tag<br />

zu Tag wieder zurück — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />

(Hier folgt Ferrer's Abreise nach Frankreich und seine eilige<br />

Rückreise, als er vom Madrider Bombenattentat erfährt).— — — — — —<br />

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />

Weshalb ich so bestürzt war, als die Nachricht sich bestätigte,<br />

daß Morral die Bombe in der Calle Mayor geworfen habe? —<br />

Weil ich mich seiner als begeisterter Anhänger unserer Schulidee<br />

und als Verfechter des Assoziationsprinzips erinnerte, der seine<br />

Hoffnung auf die zielbewußte Bewegung großer Massen legte.<br />

Vom Morgen bis zum Abend des 1. Juni grübelte ieh darüber<br />

nach, wie ich dem Wesen Morrals nach die Tat begründen könnte,<br />

blieb jedoch immer im Dunkeln, denn ich mußte mich immer<br />

wieder seines Ausspruches erinnern, daß sich die Arbeiterklasse so<br />

lange nicht emanzipieren werde, bis sie sich durch geeigneten<br />

Unterricht zur Erkenntnis ihrer Kraft und Macht aufschwinge.<br />

Er war Zeuge gewesen des Generalstreiks von Barcelona und<br />

Zabadell im Februar 190<strong>2.</strong> Damals waren die Arbeiter Herren<br />

der Stadt gewesen und hatten sich auf die Zertrümmerung von<br />

ein paar Klostereinrichtungen gelegt, während die Fabrikanten<br />

schon ihre letzte Stunde gekommen glaubten und jede Forderung<br />

bewilligt hätten, um ihr vermeintlich bedrohtes Leben zu retten,<br />

denn sie glanbten sich vor der sozialen Revolution zu sehen, umsomehr<br />

als das Militär auf dem Schauplatz nicht erschien. Dies<br />

ohnmächtige Vorgehen der Arbeiterschaft hatte Morral zu der<br />

Meinung gebracht, daß Generalstreiks so lange unnütz wären, bis<br />

sich die Arbeiterschaft revolutionär organisiert hat, um dann aber<br />

nicht den Achtstundentag, sondern eine Neuordnung der Gesellschaft<br />

zu erringen.<br />

Ich erinnerte mich auch anderer Aussprüche von ihm, die<br />

alle darauf hinwiesen, daß er Anhänger des Organisationsprinzips<br />

war und nicht der sogenannten Propaganda durch die Tat.<br />

Deshalb hatte er sich auch so lebhaft meiner Schule angenommen,<br />

daraufhin hatte er auch die Organisationspropaganda des<br />

„El Trabajo" gerichtet — — was mochte nur der Grund zu<br />

seiner Bombentat gewesen sein?<br />

Ein Fingerzeig blieb mir nur übrig, was ihn nach Madrid<br />

getrieben, was ihn dort bewegt haben konnte. — — — — — — — — —


— 249 —<br />

Einige Tage vor seiner Abreise saß er in meinem Bureau in<br />

der Lektüre des „El Liberalvertieft, als er plötzlich auffuhr und<br />

mir ein Madrider Telegramm laut vorlas, das mitteilte, daß eine<br />

Marquise von Squilache 5000 Pesetas für eine Sänfte anläßlich der<br />

am 31. Mai zur Königsvermählung stattfindenden Blumenspiele<br />

zahle.<br />

Mit entrüstetem Blick und blaß vor Zorn rief er mir zu:<br />

„Ist so etwas möglich, wo Tausende von Arbeiter am Hungertuch<br />

nagen? Wie tief steht doch noch das Volk!" Zerknittert<br />

warf er die Zeitung auf den Tisch und "ging weg.<br />

Als ich am Abend des 1. Juni mich auf diese Begebenheit besann<br />

und dazu seiner stetigen Entrüstung über Luxusaufwand erinnerte,<br />

glaubte ich den Schlüssel zum Mysterium gefunden zu haben,<br />

wie ich es dem Untersuchungsrichter von Barcelona auch mitteilte.<br />

Kultur und Fortschritt<br />

(Schluß.)<br />

F. Ferrer Guardia.<br />

Secan: Es ist ersichtlich, wieviel diese Tatsachen, die aus<br />

den Ruinen ausgegraben werden, zur Glückseligkeit der Menschheit<br />

beigetragen haben!<br />

Vynan: Spotte nur. Das ficht mich durchaus nicht an.<br />

Es ist das Privilegium Unwissender und Eitler, sich über die Fragen<br />

der Zeit mit Spott hinwegzusetzen. Ihre Begattung bleibt aber<br />

unfruchtbar, weil sie an der Mutter Ueberzeugung vorübergeht.<br />

Das haben sie mit den grauen Kutten gemein, die den Intellekt<br />

aller aufstrebenden Kulturen zu kastrieren versuchten. Verschiedene<br />

Methoden, dieselben Resultate. Guck doch die Skulpturarbeiten<br />

der Egypter, Assyrier und Chaldäer an. Waren sie nicht vielversprechend<br />

in dem Anfangsstadium der Kunst, und hat die Knebelung<br />

des Intellekts nicht der Entwicklung ein Halt geboten? Die<br />

Priester setzten sich zu Meistern auf und verboten, die Figuren<br />

in anderer Form als der herkömmlichen darzustellen. Das Alte<br />

wurde geheiligt, es wurde zu einem Teile der Religion und mit<br />

dieser Religion als Richtschnur ward jede Neuerung verdammt.<br />

Die Griechen aber, Schüler der Egypter, brachten Dank des freieren<br />

Intellektes die von ihren Lehrern übernommene Kunst zu einer<br />

Vollkommenheit, die noch heute mustergültig ist. Und auch die<br />

vom Morgenlande entlehnten Wissenschaften bauten sie aus.


— 250 —<br />

Archimedes war es, der zweihundert Jahre vor Christi Geburt<br />

die mathematische Beweisführung von der Anwendung des Hebels<br />

uns überlieferte, die bis zum sechzehnten Jahrhundert der christlichen<br />

Knebelungsperiode keine Entwicklung erfuhr. Derlei ökonomische<br />

und intellektuelle Befreiungen, — wie geringfügig sie in<br />

ihren anfänglichen Stadien auch sein mögen, — tragen im Laufe<br />

der Zeit vieles zur Erleichterung des Loses der Werktätigen bei.<br />

Die Erfindung des Schornsteins ist nicht nur eine hygienische<br />

Verbesserung, sie hatte auch ein bedeutendes Maß persönlicher<br />

Freiheit zur Folge. Jene Gesetze, kraft deren in nördlichen Ländern<br />

beim Läuten der Abendglocken die Feuer in den Häusern ausgelöscht<br />

werden, und die Insassen sich schlafen legen mussten,<br />

wurden nach der Erfindung des Schornsteins (im dreizehnten Jahrhundert)<br />

aufgehoben. Mit der Hinfälligkeit von Gesetzen wächst<br />

die Persönlichkeit.<br />

Aber jetzt, da ich von der Befreiung des menschlichen Geistes<br />

zu reden begonnen, werde ich mich des längeren mit diesem Gegenstande<br />

befassen. Sobald die Erkenntnisse morgenländischer Völker<br />

zum ausschließlichen Eigentume einer Kaste, zumeist der Priester,<br />

geworden, wurde über sie die Hülle des Geheimnisvollen geworfen,<br />

und vermöge dieser überall — in Assyrien, Indien, Egypten —<br />

auftretenden Erscheinungen die Unwissenheit und der Aberglauben,<br />

ebenso wie die Ehrfurcht vor den Geheimnisträgern gefördert.<br />

Es scheint nach all dem, daß die geistigen Erzeugnisse eines<br />

Volkes, an einem gewissen Höhepunkt ihrer Vollkommenheit angelangt,<br />

dazu dienen, den Feinden einer segenbringenden Kultur<br />

die Waffen zur Unterdrückung des ökonomischen Fortschritts in<br />

die Hände zu liefern.<br />

Secan: Es scheint nicht nur, es ist so. Das hat das<br />

Christentum im Abendland glänzend bewiesen.<br />

Vynan: Das Abendland hat sich jedoch noch nicht zur<br />

Ruhe gelegt. Es ging den ganzen schweren Weg der Erfindungen<br />

durch. Was an Erfindungen verloren gegangen, hat es wieder errungen,<br />

die Wissenschaften meisterhaft ausgebaut. Wenn heute<br />

ein Einsiedler, der sich die geistigen Erkenntnisse seiner Zeit zu<br />

Nutze gemacht, eine Ziege besitzt und ein Stückchen Land, ist er<br />

imstande, sich aus der Milch nicht nur Zucker und andere Nahrung<br />

zu verschaffen, sondern Schreibfedern, Kämme und allerhand Gegenstände,<br />

deren ein Kulturmensch nicht entraten mag. Er ist imstande,<br />

dem Stückchen unfruchtbarer Erde Elemente, die vor gar nicht<br />

langer Zeit als Abfall verworfen worden, zuzuführen, die ihm reiche<br />

Ernte einbringen.<br />

Ich sehe in diesem Abendlande drei große Perioden entstehen,<br />

die je nach der Geistesströmung der Zeit auf ihre Weise beflissen<br />

sind, den unterjochten menschlichen Geist aus seinen Fesseln zu<br />

befreien. Ich sehe im Mittelalter, da die Geister in tristischen


— 251 —<br />

Uebungen rangen, Abelard, hernach Franz von Assisi unter einer<br />

Gefolgschaft enthusiastischer Männer verkünden, daß die Vernunft<br />

auch ein Geschenk Gottes sei und der Glaube nicht blind wandeln<br />

dürfe. Ich sehe aber dieses vielversprechende Erwachen der Vernunft<br />

bald hinter den grauen Kutten verschwinden und in dem<br />

Fiasko der Reformation untergehen. Und doch verlief es nicht<br />

spurlos. Das dreizehnte Jahrhundert hat den Künsten und der<br />

Forschung zum mindesten einen starken Ansporn gegeben. Die<br />

religiöse Welt brachte keine Befreiung, und das Volk wandte sich<br />

zur Verbesserung der Zustände dem politischen Wechsel zu. Und<br />

wer wagt zu behaupten, daß mit der französischen Revolution die<br />

Renaissance des menschlichen Intellekts nicht gefördert worden?<br />

Das Jahrhundert nach der Revolution, die neue Volksschichten<br />

dem Einfluß kultureller geistiger Errungenschaften zugeführt, hat<br />

eine Entfaltung des menschlichen Genies zu Wege gebracht, die<br />

alle uns bekannten Geschichten tausendjähriger Kulturen und Reiche<br />

überflügelt.<br />

Zürne dem Nebel und fluche den Morästen! Daß Du vor<br />

den Neben-Erscheinungen der Natur und der Lässigkeit der Massen<br />

die brachliegende Kraft des Bodens nicht sehen, die schlummernden<br />

Atemzüge des vielfältigen menschlichen Geistes nicht hören willst!<br />

Lieget in euren Häusern mit ewig vernagelten Fenstern und wundert<br />

euch über den üblen Geruch in den engen Stuben. Wälzt euch<br />

in Träumen auf dem faulen Pfuhl und schimpft über eure Ohnmacht.<br />

Nährt künstliche Wünsche und klagt über den Mangel an<br />

natürlicher Lebensweise. Schreibt uns Rezepte zur Pflege der<br />

Natur und Natürlichkeit und mißachtet alle Erkenntnisse der Naturforschung.<br />

Seid Meister der Lebensweisheit und leidet ewig an<br />

Griesgram. Eure Freude an der Natur ist nichts anderes als Naturonanie;<br />

sie will keine Ursachen kennen und keine Wirkungen verstehen<br />

!<br />

Secan: Ich werde gewiß der letzten einer sein, der seine<br />

Vernunft vor den Tatsachen einer glückverheißenden Wahrheit<br />

schließt. Wenn ich auch die Sprache der Natur und der Geschichte<br />

anders reden höre als Du, verneine ich Deine Behauptung, daß<br />

Ursachen und Wirkungen mir fremde Dinge seien. Daß trotz<br />

dieser Erkenntnisse das Elend nicht absehbar ist, trotz der Größe<br />

des Intellekts, trotz der teilweisen Befreiung der Persönlichkeit<br />

Hunger und Kälte, Grausamkeit und Laster, Feigheit und Falschheit<br />

ihre blutbefleckten Geißel über die Menschheit schwingen und daß<br />

fürderhin sie schwingen werden, so lange als diese Zivilisation der<br />

engen Mauern und des bleiernen Rechts besteht, — dieses ist meine<br />

Behauptung, bei der ich stehe, und mit der ich falle.<br />

Vynan: Mit der Du nicht fällst, mein Freund. Diese<br />

Behauptung ist unanfechtbar. Sie trägt Dich und mich. So wenig<br />

wie sie fallen kann, können wir mit ihr stürzen.


— 252 —<br />

Nun aber gelangen wir zu dem von Dir eingangs unserer<br />

Auseinandersetzungen gemachten Einwand, inwieweit das Ringen<br />

von Jahrtausenden die Geburt menschlicher Wohlfahrt fördern<br />

würde. Wir stimmen darin überein, daß, soweit die historischen<br />

Kenntnisse reichen, aus dem Nucleus eines idyllischen Gemeinwesens<br />

friedliche Entwickelung des Ackerbaues, Kenntnisse der Naturerscheinungen,<br />

Versuche künstlicher Nachahmung hervorsprangen,<br />

daß bald ein Zwiespalt zwischen Starken und Schwachen, Listigen<br />

und Treuherzigen stattgefunden, daß Teile der Bevölkerung von<br />

Kasten unterjocht, vermöge eines unter ihnen verbreiteten Aberglaubens,<br />

Dogmas oder einer genährten Unkenntnis in Ehrfurcht<br />

vor dem Bestehenden gehalten worden. Ueberau brachten diese<br />

Zustände dieselben Ergebnisse. Je größer die Menge der an dem<br />

Fortschritt beteiligten Bevölkerung war, desto schneller wuchsen<br />

die Erkenntnisse, desto merklicher blühte die Kultur. Je geringer<br />

der Anteil der Bevölkerung an der Nutznießung der Kulturfaktoren<br />

war, desto schneller ging die Kultur ihrem Ende entgegen, desto<br />

sicherer eilte ein Volk seinem geistigen Tode entgegen. Die gewaltigen<br />

Unterschiede können nicht lange neben einander bestehen.<br />

Die menschliche Familie ist wie der Boden, auf dem sie gewachsen<br />

ist. Das Mutterland zeitigt ohne große Anstrengungen lange Jahre<br />

die reichsten Ernten. Dann aber bedarf es der Zufuhr neuer<br />

Elemente.<br />

Der Nährboden der Kultur mag für eine Zeit glücklich von<br />

einer Kaste bestellt werden, ruft aber bald nach der Zufuhr frischer<br />

Volksschichten. Deshalb ist das Jahrhundert nach der französischen<br />

Revolution so fruchtbringend für die Entwicklung jeglichen<br />

Forschungszweiges geworden, weil es mit den Elementen immer<br />

weiterer Kreise gedüngt war. Und wenn nun wieder innerhalb der<br />

menschlichen Familie die Lebensbedingungen eingeengt, Kasten<br />

von Räubern und Priestern die Portale des Bodens und Geistes<br />

als ihr Eigentum fordern, dann gebietet die Notwendigkeit mit dem<br />

mahnenden Finger auf den Gang der Geschichte, daß die Verdrängten<br />

jene Hindernisse zum allgemeinen Wohl beseitigen, beseitigen<br />

wie die stinkenden Morästen, deren Fäulnis dem Menschen<br />

nicht nur Krankheiten bringt, sondern zu bearbeitenden Boden<br />

raubt, alle Uebel des Unverstandes erreichen, wenn das klare Auge<br />

des Fortschritts ihm nahetritt.<br />

Zitterst Du vor dem Gedanken, daß Feinde der Menschheit<br />

und Menschlichkeit, gekleidet im faltenlosen Tuch des Lehrstuhls<br />

oder in den weißen Hemdsärmeln eines Bureau, blitzend mit der<br />

Würde von goldenen Tressen; ekelt es Dich vor dem Gedanken,<br />

daß das scheinheilige Gewürm, das am Mark der Arbeitenden, an<br />

den Eingeweiden der Weiber, an dem Blute der Kinder saugt;<br />

ich sage, erfaßt Dich Zorn vor dem Gedanken, daß<br />

diese Lüge, dieser Fluch, diese Pest, mit ehernem


— 253 —<br />

Griff aus unserer Mitte gerissen werden, daß sie,<br />

ein Hindernis und eine Gefahr, vertilgt werden?<br />

Denn je größer der Flächenraum der Freiheit, desto größer<br />

die Freude am Leben, desto reicher der Boden an fruchtbringendem<br />

Element. Und je weiter wir in der Entwicklung gelangen, desto<br />

näher kommen wir der Krisis. Seien wir auf der Wacht, Freund!<br />

Verderbnis folgt den Grenzen, Glück der Befreiung. Nur wo alle<br />

Recht haben, habe ich auch recht. Wo einer rechtlos ist, gibt es<br />

kein Recht.<br />

Laß mich mit Diderot schließen: „Ich bin überzeugt" sagt<br />

er „daß es kein wahres Glück für die Menschheit gibt als blos in<br />

einem sozialen Zustand, in welchem weder ein König noch Magistrat,<br />

weder Priester noch Gesetze, weder mein noch dein, weder<br />

Eigentum an Waren noch an Land, weder Laster noch Tugenden<br />

existieren."<br />

Das aber bedeutet die dritte Periode abendländischer<br />

Entwickelung, die Periode der sozialen Revolution. Aber Du<br />

schweigst?<br />

Secan: Ich höre zu.<br />

Vynan: Gesetzt den Fall, wir lassen alle Erkenntnisse<br />

unseres Wissens, alle entstandenen Faktoren der Kultur untergehen<br />

im Nichts namenloser Empfindungen, — wie lange wird die Menschheit<br />

dieser Idylle in der Freude der Natur teilhaftig sein, wie bald<br />

wird sie wieder den grausamen Weg der Unduldsamkeit der Irrtümer,<br />

der Entbehrung, des Mords wandern, Schritt für Schritt<br />

wieder nach jahrtausendelangem Ringen dahin gelangen müssen,<br />

wo wir heute stehen? Aber die Zukunft liegt in unseren Händen,<br />

die kommenden Geschlechter atmen unsere Begeisterung, unsere<br />

Liebe ist nicht auf uns allein beschränkt. Und wir versuchen, die<br />

Erkenntnisse zum Heile Aller anzuwenden. Alles, was eine heilsame<br />

Kultur ausmacht, liegt vor uns; aber wir dürfen nicht die Hände<br />

ausstrecken, um es zu nehmen. Wir kennen die rationelle Ernährung<br />

des Körpers zur Pflege der Energie und Gesundheit; aber die<br />

Nahrung, die wir erhalten, ist oft zweckwidrig. Wir wissen, welcher<br />

Art die Wohnungen sein sollten, und bauen sie nicht. Wir haben<br />

den Eilverkehr, den schnellen Austausch der Gedanken von Völkern<br />

und Zonen, und finden, daß der Handel und der Staat sie<br />

gegen unser Interesse monopolisieren. Je nach Klima verlangen<br />

wir nach gesunder und bekannter Kleidung, und wir haben sie<br />

nicht. Die Erfindungen werden korrumpiert, Forschungen verleumdet<br />

und verfälscht, der Mut der Wahrheit gehenkt, Vorurteile<br />

und Aberglauben von Kirchen gefördert, die Mordlust an ihren<br />

geselligen Abenden mit den uniformierten Kindern großgezogen.<br />

Die Faktoren zum allgemeinen Wohl sind da: wollten wir sie ergreifen,<br />

die körperliche Wohlfahrt heben, die Sehnsucht des Intellekts<br />

befriedigen.


— 254 —<br />

Wenn das Interesse des Staates sich mit dem Interesse der<br />

Menschheit nicht verträgt, das Monopol eine ausgebeutete Bevölkerung<br />

benötigt, die Zivilisation zur Schleppträgerin Uebermütiger,<br />

Bediensteten von Ausbeutern wird, dann sind das Monopol, der<br />

Staat zu vernichten und die Zivilisation zu befreien. Hörst Du?<br />

Secan: Ich schweige.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Revue unserer Presse.<br />

In „Temps Nouveaux" veröffentlichte der Genosse Jacques Mesnil<br />

eine längere, sehr anregende Studie über „Stirner, Nietzsche<br />

und der Anarchismus", in der er neben Besprechung dieser<br />

beiden Bahnbrecher der Freiheit auch die verschiedenartige Stellung<br />

berührt, die besonders in der holländischen Bewegung ihnen gegenüber<br />

eingenommen wird. Mesnil kommt zum Schluß, daß wir in Beiden<br />

Denker des Anarchismus zu erblicken haben, deren diverse Lehren und<br />

Thesen dem Gutdünken eines jeden Einzelnen überlassen bleiben sollen,<br />

besonders in ihrer propagandistischen Nutzanwendung. — Eine glänzende,<br />

wenn auch oftmals launig gehaltene Artikelserie veröffentlicht der Genosse<br />

Jean Grave über „Die Karabinieri des Syndikalismus".<br />

Wir heben als besonders bemerkenswert hervor, daß sich dieselbe in<br />

ihren Ansichten vollständig deckt mit jenen, die der Genosse Ramus<br />

in seiner „Kritik und Würdigung des Syndikalismus" äußert. Köstlich<br />

wahr ist das folgende Fazit, das Grave über diese soziologische Sorte von<br />

Syndikalisten zieht, die da vorgeben, der Anarchismus sei veraltet und<br />

„der Syndikalismus sei seine eigene Theorie", wenn er sagt: ,, . . . Und<br />

nachdem sie also einen Syndikalismus „entdeckt" hatten, in dem nichts<br />

Mystisches enthalten, und nachdem man entdeckt hatte, wie man sich<br />

befreien konnte von den anarchistischen Theorien, überdies vom „traditionellen<br />

Anarchismus" — wandten sich diese Tüchtigen, die keine<br />

Traditionsmenschen, wieder zurück zum Evangelium von Karl Marx!<br />

Und indem man uns Meinungen unterstellte, die niemals die unserigen<br />

gewesen, Anschauungen, die wir nie hegten, zwang man einige Genossen<br />

dazu, auf diese Angriffe zu antworten; die tüchtigen Karabinieri hatten<br />

erreicht, daß die Illusion einer neuen Spaltung in der Bewegung erstand,<br />

die aber nur in ihren Behauptungen existierte. Sie hatten ein Interesse<br />

daran, daß man ihnen Glauben schenken sollte, damit man auch ihre<br />

Existenz beachte . . ."<br />

Die rein geistigen, aber dennoch höchst aktuellen Fortschritte, die<br />

der Gedanke des Sozialismus in nicht marxistischer Form in England<br />

zu verzeichnen hat, äußern sich u. a. in einer ganzen Preßkampagne


— 255 —<br />

wider ihn, die sich in gemein bürgerlichen Schmähungen über alles<br />

Sozialistische ergeht. Die Staatssozialisten Hyndmann, Blatchfort usw.,<br />

haben nicht verfehlt, darauf zu antworten. Aber sie antworteten nicht<br />

als konsequente Sozialisten, sondern als Menschen, die für ihre Wahlstimmen<br />

zittern; darum wagten sie es nicht, das Expropriationsprinzip des Sozialismus<br />

— ohne welches der Sozialismus in Utopisterei verfällt — zu<br />

betonen. In gründlicher Weise holt dies „Freedom" nach, indem es<br />

auch zugleich die Stellung des anarchistischen Kommunismus präzisierte. —<br />

„L'anarchie", dieses eigenartige Korrespondenzblatt unserer französischen<br />

Bewegung bringt einen interessanten Artikel von Louis Virieux<br />

über „Lebet die Propaganda der Tat!" Darin wird ausgeführt, daß<br />

das Ziel des Anarchisten vor allem sein muß, sein Ideal schon heute,<br />

in denkbar umfassendster Form zu leben, also im praktischen Leben<br />

zu erproben und daran seine Ueberzeugungskraft zu stählen. —<br />

Eine sehr übersichtliche Darstellung des großen Vorläufers der<br />

sozialistischen Bewegung, Charles Fourier liefert Domela Nieuwenhuis,<br />

im „Vrije Sozialist".<br />

Raummangel allein verhindert es, daß wir an dieser Stelle uns eingehender<br />

über die drei ersten Nummern des „Bulletin der anarchistischen<br />

Internationale" auslassen, die uns zugingen. Die nächste Nummer der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" soll dies nachholen; durch ein besonderes Referat<br />

über diesen Gegenstand. Unterdessen können wir die Genossen nur<br />

dringend ersuchen, sich auf das „Bulletin", des jährlich bloß 2 Mk. kostet,<br />

zu abonnieren. Man wende sich an L. Shapiro, 163 Jubilee Str., London E.<br />

England.<br />

Das mutige Blatt unseres Freundes Gustave Hervé, betitelt<br />

„Der soziale Krieg" verzeichnet gegenwärtig eine Wochenauflage von<br />

rund 26 000 Lesern. Von welch erfreulich bedeutsamen Konsequenzen<br />

dies für den Leserkreis selbst begleitet ist, lehrt u. a. der Umstand, daß die<br />

Redaktion beschlossen hat, eine monatlich erscheinende Beilage im<br />

Großumfange von 24 Seiten herauszugeben, die sich mit den theoretischen<br />

Gesichtspunkten der modernen Arbeiterbewegung befassen soll<br />

und jedem Abonnenten gratis zugeht.<br />

Als Nr. 1 dieser prächtigen Beilageneuerung haben wir ein übersichtliches<br />

Referat zu registrieren, das der revolutionäre Sozialist und<br />

Syndikalist Hubert Lagardelle über unseren großen Vorkämpfer<br />

Michael Bakunin hielt. Es ist nur natürlich, daß man gegenwärtig,<br />

nach den eingehenden Forschungen der Genossen Nettlau und Guillaume,<br />

auf diesem Gebiete nichts Neues mehr über den Lebenslauf Bakunins<br />

zu sagen vermag. Desto berechtigter ist die Hoffnung, Lagardelle etwas<br />

Selbständiges über die Beziehungen Bakunins zur heutigen Internationale<br />

der Arbeiterbewegung und ihren verschiedenen Theorien sagen zu hören.<br />

Aber in dieser Erwartung fühlt man sich ziemlich enttäuscht. Lagardelle,<br />

obwohl er in objektivster Weise vorgeht, spricht dennoch ganz offensichtlich<br />

vom Standpunkt eines Menschen, der sich vom Marxismus<br />

noch nicht endgültig losgerissen hat; wie es ja bekanntlich auch die Tatsache<br />

ist. Es wirkt ermüdend öde, Marx dadurch retten zu wollen, daß er<br />

ihn uns als Antistaatsmenschen- und Denker vorführt. Auch wir kennen<br />

diese und manche andere Stellen in Marx' Werken, die dies scheinbar


— 256 —<br />

berechtigen. Aber wirklich nur scheinbar, denn all diesen Einzelsteilen<br />

lassen sich eben so viele Pro stellen aus Marx Werken zitieren.<br />

Auch inbezug auf den Anarchismus irrt Lagardelle, wenn er meint,<br />

dieser erblicke nur den Menschen, nicht aber auch den Arbeiter.<br />

Dies ist unrichtig. Der Anarchismus kehrt sich sehr wohl und hauptsächlich<br />

an den Proletarier; nur. daß er sich nicht an dessen unentwickelte<br />

Bewußtseinselemente, sondern gerade an das Menschliche<br />

im Proletarier richtet. Von dem Tage an, da der Proletarier sein persönlich-menschliches<br />

Ich findet ynd begreift, hört das Proletariat auf zu<br />

sein und mit ihm die bourgeoise Gesellschaftsordnung.<br />

So ersichtliche Mühe sich Lagardelle gibt, Bakunin gerecht zu<br />

werden, will ihm dies nicht gelingen, denn um zu seiner Synthese,<br />

dem exklusiven Syndikalismus zu gelangen, muß er das Unmögliche<br />

möglich zu machen versuchen, Marx und Bakunin theoretisch mit einander<br />

zu verschmelzen, dazu noch die billige Draufgabe Proudhons. Aus<br />

diesem Mischmaschbrei steigt nun allerdings ein universal-synthetischer<br />

Syndikalismus empor; nur schade, daß, sobald wir ihn bei Licht besehen,<br />

Marx vollständig verblaßt, selbst Proudhon in den Hintergrund<br />

treten muß, als einziger uns Bakunin übrig bleibt und ersichtlich ist.<br />

Nur derjenige, der sich dazu bequemt, mit alten Parteibeziehungen<br />

gründlich aufzuräumen — und das müßte sich Lagardelle wohl gesagt<br />

sein lassen —, die historischen Entwicklungslinien des Staats- und des<br />

freiheitlichen Sozialismus gesondert anzuerkennen, wird einsehen lernen,<br />

daß der moderne Syndikalismus nur die taktische Methode des Anarchismus<br />

ist. Als Begründer und Haupttheoretiker dieser Reform- und<br />

Revolutionsgruppierung müssen wir Bakunin erblicken, um ihn laut<br />

Gebühr und Verdienst würdigen zu können.<br />

Die amerikanische anarchistische Bewegung hat in ihren Tendenzen<br />

besonders jene kräftig entwickelt, welche das Problem der Frauenemanzipation<br />

in einem anderen als juridisch-bürgerlichen Sinne auffaßt.<br />

Mehrere theoretische Organe verfechten den Standpunkt der freien Liebe<br />

zwischen den Geschlechtern. Wie sehr der Staat diese Bewegung und<br />

Propaganda fürchtet, geht aus den Verfolgungen hervor, denen sie ausgesetzt<br />

und denen bereits manches ihrer Organe zum Opfer gefallen ist.<br />

Neuerdings haben wir die Schriften eines erst unlängst zu dieser Bewegung<br />

gestoßenen, sehr fähigen Publizisten erhalten. Es ist dies der<br />

Rechtsanwalt Theodor Schroeder, dessen Pamphlete durch ihre<br />

Konsequenz überraschen: Ein starker individualistischer Zug herrscht<br />

in ihnen vor; man fühlt, daß es eine gediegene Persönlichkeit, ausgestattet<br />

mit reichem Wissen ist, die da schreibt. Interessenten dieser<br />

Art amerikanischer Literatur verweisen wir auf den Verfasser, dessen<br />

Adresse 63 East 56. St. New-York, N. Y. ist.<br />

Vor uns liegt das erste Vierteljahresheft der neu erstandenen<br />

schweizer Zeitschrift „Polis", die diesmal unter der Schriftleitung von<br />

U. W. Züricher zu erscheinen anhebt. Der Inhalt der Revue erschöpft<br />

sich in recht eingehenden und etwas breit vorgetragenen theoretischphilosophischen<br />

Erwägungen und Würdigungen über die abstrakt-philosophischen<br />

Themata des Sozialismus, die aber dafür hier eine tiefere<br />

als die gewöhnliche Untersuchung finden. Der Gesamteindruck ist ein<br />

guter und wünschen wir dem neuen Exponenten ein langes Leben.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Berthold Cahn, Berlin.


Soeben erschienen:<br />

Kultur und Fortschritt<br />

von F. Thaumazo.<br />

Preis 5 Pf. 400 Stück 4 Mk.<br />

„Der freie Arbeiter"<br />

Anarchistisches Wochenblatt<br />

Erscheint jeden Sonnabend<br />

Geschäftsstelle: Berlin S.O. 26, Oranienstrasse 15, Hof III.<br />

Bezugspreise:<br />

Monatlich durch Spediteur . . . 0.40 Mk.<br />

Vierteljährl. Kreuzband Berlin u.Umg. 1.50 „<br />

Vierteljährl. Kreuzband Deutschland 1.60 „<br />

Vierteljährlich Ausland 1.85 „<br />

Einzelnummer 0.10 „<br />

Soeben erschienen:<br />

Zur Kritik und Würdigung<br />

des Syndikalismus.<br />

von Pierre Ramus.<br />

Preis pro Stück 5 Pf. 100 Stück 4. Mk.


Der Revolutionär.<br />

Anarchistische Wochenschrift<br />

Redaktion und Verlag:<br />

Dragonerstr. 14. BERLIN C. Dragonerstr, 14.<br />

Bezugspreise.<br />

Vierteljährlich per Kreuzband Berlin und Umgegend Mk. 1,60<br />

Deutschland . . . . v „ 1,60<br />

Oesterreich-Ungarn . „ 1,60<br />

Luxemburg . . . „ 1,60<br />

Ausland 1,85<br />

Einzelnummer 10 Pf.<br />

Zur Propaganda!<br />

1. Gretchen und Helene 30 Exemplare<br />

<strong>2.</strong> Pariser Kommune . . . 30<br />

3. Evolution und Revolution . . 30<br />

4. Kritische Beiträge zur Charakteristik<br />

von Karl Marx . . . 30<br />

5. Das anarchistische Manifest . 50<br />

6. Revolutionäre Regierungen . . 50<br />

Zusammen 220 Exemplare<br />

Vorstehende 6 der besten Propagandabroschüren<br />

gebe ich bei Abnahme der angeführten Anzahl von<br />

220 Exemplaren, die einen Wert von 18,50 M. haben,<br />

portofrei mit<br />

5.— Mark<br />

ab, gegen Voreinsendung des Betrages oder Nachnahme.<br />

M. Lehmann, Berlin, Dresdenerstr. 88-89.<br />

Druck von C. Kielmeyer, Berlin SO. 26.


<strong>2.</strong> Band. Heft 11<br />

Mai 1908.<br />

Verlag H. Mertins,<br />

Berlin NW. 52, Werftstr. 2


Inhaltsverzeichnis.<br />

Nachträgliche 1. Mai-Gedanken. Pierre Ramus.<br />

Jules Guesde Flax.<br />

Vom Frauenstandpunkt Hertha Vesta.<br />

Philosophische Grundprinzipien des Anarchismus . . . Julius Skall.<br />

Ein Wort an die Oeffentlichkeit Eduard Joris.<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>.<br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

„Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" erscheint monatlich. Bei unregel­<br />

mäßiger Zusendung wolle man sich an den Verlag wenden. Die<br />

Einzelnummer kostet inkl. Porto in Deutschland 25 Pfg., in Oester­<br />

reich-Ungarn 25 Heller, Frankreich und in der Schweiz 30 Centimes,<br />

in England 3 Pence, in den Vereinigten Staaten 10 Cents.<br />

Alle Briefe, Tausch- und Rezensionssendungen tür die Redaktion<br />

der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind zu richten an Pierre Ramus,<br />

Wien 14. Goldschlagstr. 90. (Österreich.)<br />

Alle Geldbriefe, Bestellungen und sonstige geschäftliche Mitteilungen<br />

sind zu richten an den Verlag: H. Mertins, Berlin NW.,<br />

Werftstr. <strong>2.</strong><br />

Agentur<br />

In London ist die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" durch die General-<br />

zu beziehen.<br />

B. Mandl, 7<strong>2.</strong> Bevenden Str. N.<br />

Einzelne Exemplare zu beziehen durch:<br />

Ratschueler, 3<strong>2.</strong> Totenham Street, W.<br />

Pelletier, 56. Charlotte Street, W.<br />

Matias, 20. Little Pulteney Street, W.<br />

Ruderman, 71. Hanbury Street, E.


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band <strong>2.</strong> Mai 1908. Heft 11.<br />

Nachträgliche 1. Maigedanken.<br />

Wehmut beschleicht das Herz, wenn man dieses neunzehnten<br />

1. Mai gedenkt und sich die Gedanken vergegenwärtigt, die ihn<br />

in die Welt treten ließen und für das internationale Proletariat zu<br />

einem Hohetag seiner Solidarität machen wollten. Es ist nicht<br />

gut, Parallelen zu ziehen, denn sie fallen gewöhnlich sehr schief<br />

aus, und auch hier wäre es ja schließlich ein sehr schiefes Gleichnis,<br />

wenn man von der Begehung des 1. Mai durch die deutsche Arbeiterklasse<br />

auf die Zukunft dieser ganzen Klasse schließen wollte. Die Tat<br />

und Haltung einer bestimmten Person oder Gemeinschaft ist schließlich<br />

stets in Uebereinstimmung mit der' Reife ihrer Weltanschauung;<br />

daß die deutschen Proleten in ihrer Weltanschauung noch keinen<br />

allzu fernen Horizont geschaut, ist nicht ihre Schuld und wird<br />

nicht immer so bleiben. Kommende Zeiten und Menschen werden<br />

hier viel und gründlich verbessern, und eine Geisteserkenntnis wird<br />

erstehen, die dem sonst unbestreitbar gründlichen deutschen Geiste<br />

zur Ehre gereichen dürfte. Eine vorbereitende Anbahnung dieser<br />

Zeit erstreben die hier niedergelegten Gedanken.<br />

Der 1. Mai 1908 war für das Proletariat Deutschlands abermals<br />

nur eine Demonstration platonischester Art. Und<br />

sogar dies nicht einmal. Denn die Katzbalgereien, die kurz vor<br />

dem 1. Mai dadurch hervorgerufen wurden, daß Parteivorstand und<br />

Gewerkschaftskommission sich die einmütige Arroganz herausnahmen,<br />

das Geld der beiden respektiven Bewegungen ihren Eigentümern<br />

— den Massen der Partei und Gewerkschaftsbewegung — eigenmächtig,<br />

despotisch vorenthalten zu wollen für den Fall von Aussperrungen;<br />

sie, die Zentralisten par excellence, auf einmal zu<br />

d e zentralisierten Föderalisten wurden, die dem breiten Massenenthusiasmus<br />

für den 1. Mai die Möglichkeit der allgemeinen<br />

Solidarität verwehrten und sie auf den dürftigen Ausweg der rein<br />

lokalen Momentsammlungen verwiesen, die ja für die lokal Ausgesperrten<br />

dann ein Ding purster Unmöglichkeit sind — die Katzbalgereien,<br />

die diesem frechen Vorgehen der leitenden Persönlichkeiten<br />

folgten und sich zwischen diesen und den Massen entspannen,


— 258 —<br />

machten den diesjährigen 1. Mai dadurch nicht erquicklicher.<br />

Freilich sind sie nur die Wiederholung dessen, was wir seit 1890<br />

in unaufhörlicher Folge stets wieder erlebt haben. Es hätte dazu,<br />

um dies zu zeigen, des Buches über die Maifeier und ihre geschichtliche<br />

Entwicklung in den einzelnen gefaßten Resolutionen, das der deutsche<br />

Metallarbeiterverband publizierte, nicht bedurft. Daran, daß weder<br />

Partei noch Gewerkschaft auch nur das Wesentliche der Solidaritätsidee,<br />

die dem 1. Mai unterliegt, kennen, sind wir seit 18 Jahren<br />

gewöhnt. Und es gehört zu dem Kuriosen der ganzen Leiterwagenentwicklung-<br />

und Bewegung dieser deutschen sozialdemokratischen<br />

Partei, daß in ihr bis zum heutigen Tage keinerlei Uebereinstimmung<br />

über den Kampfes Charakter des 1. Maigedanken zu<br />

erreichen war, man nur so weit kam, aus der Kampflosigkeit<br />

und den leeren Demonstrationen des Tages etwas einigermaßen und<br />

notdürftig einheitlich Gestaltetes zu machen.<br />

So darf mit Recht behauptet werden: Noch kein einzig es<br />

Mal hat die deutsche Arbeiterklasse ihren 1. Mai<br />

im Wesen seines Charakters empfunden, ihn entsprechend<br />

begangen! Von Anfang an eine Partei der<br />

Gesetzmäßigkeit und der bürgerlichen Methoden des Parlamentarismus,<br />

konnte sie auf den eindrucksvoll, ernsten und ökonomischen Zug<br />

des 1. Mai niemals eingehen, Es war ihr stets eine lästige Sache,<br />

denn, wie immer genommen, bildet er doch stets einen undeutlichen<br />

Hinweis auf die selbständige, soziale Aktion des Proletariats, die<br />

nichts gemein hat mit dem Politikantentum, parlamentarischem<br />

Trugwahn, demagogischer Irreführung. Und deshalb ertrug ihn<br />

die Sozialdemokratie überhaupt nur als eine Demonstration für die Tatsache<br />

der grossen Gefolgschaft, deren sich die sozialdemokratischen<br />

Politiker rühmen dürfen, nie aber als eine Demonstration der<br />

sozialen Macht, die in dieser Gefolgschaft latent ruht.<br />

Dieses Jahr hatten wir die Parole und den blöden, auf Unwissende<br />

berechneten Lockruf mit dem preußischen Landtagswahlrecht, ein<br />

anderes Jahr eine andere Parole, doch stets eine nur politische<br />

Parole. Kein einziges Mal in der ganzen Geschichte der Sozialdemokratie,<br />

daß sie die Massen für ihre Sache, für die Erringung<br />

ökonomischer Lebensverbesserung in Bewegung gesetzt hätte;<br />

immer wieder geschah es zugunsten der wenigen Ehrgeizlinge, die<br />

durch die Fanatisierung eben dieser Massen mit Parlamentslorbeeren<br />

gekrönt zu werden hofften. Achtstundentag, Sozialreform etc., —<br />

lauter Dinge, die nichts anderes für sie bedeuten, als frommes<br />

Aufmarschieren ihrer Anhänger und das Legen der Rechte, somit<br />

der Macht dieser Anhänger, in die Hände ihrer parlamentarischen<br />

Vertreter — die würden es schon machen . . . Und damit ist man<br />

so weit gekommen, daß man in Deutschland parlamentarisch<br />

für einen gesetzlichen Zehnstundentag „kämpft"; ganz wie in<br />

Rußland.


— 259 —<br />

Es ist eigentlich kein Wunder, daß der Gedanke des 1. Mai<br />

in den deutschen Gewerkschaften keine Zuversicht, keinen Enthusiasmus<br />

erwecken kann. Wie sollte er, warum sollte er auch? Es<br />

handelt sich hier nicht um die klare Erkenntnis, wohl aber um ein<br />

gewisses dumpfes Empfinden der breiten Gewerkschaftsmassen,<br />

daß diese Art der Begehung des 1. Mai, wie sie in Deutschland<br />

seit 19 Jahren gepflegt wird, auch nicht den kleinsten ersprießlichen<br />

Vorteil für die Proletarier zu ergeben vermag, hingegen große<br />

Schädigung und Benachteiligung einträgt; es handelt sich hier —<br />

und die Abwiegelei der Führer ist nur das Echo der Massenempfindung,<br />

die sie beobachten — um das instinktive Gefühl,<br />

daß sie, die Massen, mißbraucht und in ihrer Energie verschwendet<br />

werden von den ehrgeizigen, eigennützigen Bestrebungen der Politiker,<br />

die solche platonische Demonstrationen als armselig unzulängliche<br />

Umkleidung ihrer sonstigen, tatsächlichen, politisch-sozialen Machtlosigkeit<br />

brauchen. Darum sind die revisionistisch-bourgeoisen<br />

Führer der Partei und Gewerkschaftsbewegung weit ehrlichere<br />

Menschen als die heuchelnden Auguren und Pfaffen des Marximus,<br />

die in ihrer „revolutionären Energie" soweit gehen, die Arbeiter<br />

einen Arbeitstag, Lohn, Sicherheit der Stellung etc verlieren zu<br />

lassen — sie, diese Politiker, riskieren nämlich gar nichts —, für<br />

die sie den arbeitenden Massen nichts anderes als Phrasen und<br />

Trughoffnungen zu bieten vermögen. Ehrlicher, gerader sind darin<br />

die Revisionisten, die sich gegen den 1. Mai als obligatorischen<br />

Streiktag deshalb kehren, weil sie wohl erkennen, daß er entweder<br />

den Proklamationstag für einen, bestimmte ökonomische Forderungen<br />

aufstellenden Generalstreik bildet, oder sonst doch<br />

gar nichts ist als eitles Geschwätz und Schädigung der Arbeiterund<br />

Organisationsinteressen. So viel haben die Bureaukraten der<br />

Gewerkschaften bereits klar erkannt: daß ihnen die ganze und auch<br />

verdreifachte sozialdemokratische Parlamentsfraktion nicht einen<br />

Pfifferling ökonomische Verbesserung bringen kann!<br />

Vor mir liegt ein altes, vergilbtes Brieffragment aus dem<br />

Jahre 1891. Das Schreiben hat Ignaz Auer zum Verfasser und<br />

ist an einen alten, revolutionären Sozialisten noch aus der Zeit der<br />

„Internationale", an Franz Sartor*) gerichtet. Bebend vor<br />

Entrüstung über die so gleich von Anfang an der Maifeier gegenüber<br />

betriebene Abwiegelei ersuchte mich der Mann schon vor Jahr<br />

und Tag, den Brief zu verwenden. Ich fand keine Gelegenheit<br />

dazu. Heute kommt er mir so recht in die Hände als eine<br />

Illustration dessen, was ich oben ausführte; nur daß er mich nicht<br />

empört sein läßt über den diplomatisch klugen Ignaz, — dem, wie allen<br />

*) Vergl. auch Franz Sartor, „Ernstes und Heiteres aus der<br />

proletarischen Sturm- und Drangperiode". Verl. „Revue; international<br />

Journal", 109 Charlotte Str., London W., England.


— 260 —<br />

tüchtigen Menschen, soeben ein Denkstein errichtet wurde —, sondern<br />

eher über diejenigen Sozialdemokraten, die diese ehrliche Offenheit,<br />

gegenüber einer mit ihrer sonstigen Aktion doch wirklich total unvereinbaren<br />

Idee und deren Ausführung nicht besitzen, sondern<br />

bemüht sind, Feuer kalt sein zu lassen, dadurch die ganze, weitreichende,<br />

tief einschneidende Kampfesidee des 1. Mai strangulierend.<br />

Das 'Brieffragment*) lautet:<br />

„Berlin S.W., den 15. Mai 1891.<br />

Katzbachstr. 9.<br />

Eine Notiz im „Briefkasten" läßt sich nicht gut auf Ihre<br />

Anfrage geben.<br />

Die Antwort hängt vom einzelnen Fall ab. Sie mußten als<br />

alter und erfahrener Arbeiter in exzeptioneller Stellung sich von<br />

der ganzen Sache fern halten. Als Werkführer lag es auf der<br />

Hand, daß, wenn Sie erst zum Feiern aufforderten, und dann<br />

die Sache schief ging, man Sie verantwortlich machen wird.<br />

Ich bin der ganzen Maifrage von Anfang an kühl gegenüber<br />

gestanden. Der Beschluß ist in Paris ohne Ueberlegung gefaßt<br />

worden, und er läßt sich auch nicht durchführen. Es ist einfach<br />

Unsinn, jedes Jahr unseren Gegnern die willkommene Gelegenheit<br />

zu geben, unter ihren Arbeitern die „Böcke" auszusondern und<br />

als Gemaßregelte auf die Straße zu werfen. Gewiß können die<br />

Bourgeois die Hühner nicht entbehren, welche ihnen die goldenen<br />

Eier legen. Aber man entläßt eben auch nicht sämtliche Arbeiter,<br />

sondern nur die „wüsten Agitatoren" unter denselben und das<br />

genügt.<br />

Ein solcher Aderlaß jedes Jahr muß auf die Dauer jede<br />

Bewegung vernichten. Man vergegenwärtige sich nur, welche<br />

Summe von Elend die dauernde Maßregelung von nur 100<br />

Arbeitern in sich schließt." — — —<br />

Hier bricht das Fragment ab, den Rest hatte Sartor im<br />

Laufe der Jahre verloren. Aber es ist ganz genug und hinreichend,<br />

um Auers und damit den Standpunkt der weitaus überragenden<br />

Partei- und Gewerkschaftsmajorität zu beleuchten.<br />

Die Extreme berühren sich oftmals! Wir, die wir kommunistische<br />

Anarchisten sind, gelangen zu ganz denselben Resultaten,<br />

*) Für die Echtheit desselben verbürge ich mich, bin gern bereit,<br />

es Sachverständigen zur Prüfung zu übermitteln. Im übrigen teile ich<br />

den Bewunderern, Biographen Auers und Parteiarchivaren auf diesem<br />

Wege mit, daß eine einigermaßen angemessene Wertentschädigung an<br />

den Preßfonds der "Fr. Gen.", mich veranlassen wird, das autographische<br />

Briefschreiben Auers an den oder die Interessenten abzutreten.


— 261 —<br />

wie die Revisionisten; in der Beurteilung des Pariser Beschlusses<br />

von 1889. Wir unterscheiden uns nur von ihnen durch die endlichen<br />

Folgerungen und die Art des Gedankenganges, wie wir zu unseren<br />

Folgerungen gelangen. Es ist wie zwei sich kreuzende geometrische<br />

Linien, die irgend einen gemeinsamen Berührungspunkt<br />

haben müssen und doch von ganz wo anders, nach ganz anderer<br />

Richtung auslaufen.<br />

Der 1. Mai als Demonstrationstag für bürgerliche Sozialgesetzgebung<br />

zugunsten des Proletariats, wie ihn der obige Pariser<br />

Kongreß gestaltete und annahm, ist dieselbe Abweichung, dieselbe<br />

Umkehrung des wirklichen Grundgedankens des 1. Mai, seiner<br />

Entstehung und geschichtlichen Entwicklung, wie es die von den<br />

sozialdemokratischen Demagogen vorgenommene Verdrehung und<br />

Korrumpierung des von anarchistisch-revolutionären Gedanken<br />

belebten Generalstreiks in jene des politischen Massenstreiks<br />

ist.<br />

Sozialdemagogen können nichts anderes tun, als die revolutionären<br />

Mittel, die das Volk aus seinem Klassenkampfe heraus mit schöpferischem<br />

Fernblick sich erobert und in eigene Erprobung, wie Betätigung<br />

entwickelt — in ihr Gegenteil verkehren; entweder sie<br />

hintertreiben die Anwendung dieser Mittel, oder sie bringen es<br />

soweit, daß diese Kampfesmittel nicht mehr den sie Gebrauchenden,<br />

sondern ihnen, der begrenzten Politiker- und Bureaukratenkaste<br />

zum Vorteil gereichen.<br />

Es gibt zwei Auffassungen des 1. Mai. Die eine greift<br />

soweit zurück, daß sie sich mit den ersten Sozialrevolutionären<br />

Aktionen der amerikanischen „Arbeitsritter" in den siebziger und<br />

achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts berührt und die den<br />

1. Mai als einen Kampfestag, als den ersten Tag eines<br />

alljährlich zu entbrennenden Generalstreiks zwecks<br />

Erkämpfung des Achtstundentags und sonstiger sozialer Verbesserungen<br />

gebrauchen will; die, sich stützend auf die Tatsache, daß<br />

der 1. Mai in dieser Weise von den „Arbeitsrittern", wie auch<br />

der anderen Gewerkschaftsbewegung Amerikas, der „Arbeitsföderation"<br />

in den siebziger und achtziger Jahren begangen ward, somit<br />

seinen echt proletarischen Charakter nur dieser Periode des direkten<br />

Kampfes entlehnte, ihn so geartet, entwickelt wissen will. Und<br />

dann gibt es noch die andere, die zweite Auffassung des 1. Mai,<br />

das ist diejenige des sozialdemokratischen Weltkongresses von<br />

1889 — der übrigens schon damals der französische Delegierte<br />

Tressaud widersprach —, nach der die 1. Maidemonstration nicht<br />

zu sein brauchte als eine eintätige Arbeitsruhe und eine, durch den<br />

Mund der gewählten Parlamentsabgeordneten ausgedrückte, „Forderung<br />

an die öffentlichen Behörden", huldvollst den Proletariern<br />

den Achtstundentag zu gewähren, den Volksfrieden zu wahren usw.


— 262 —<br />

Diese zwei Auffassungen bilden zwei unversöhnliche Gegensätze,<br />

und alle Zwistigkeiten innerhalb der sozialdemokratischen<br />

politischen wie ökonomischen Bewegung sind auf den Umstand<br />

zurückzuführen, daß die Gegner des 1. Mai seinen wirklichen<br />

Gedankengang erfassen und sich dagegen — gegen die ihm<br />

innewohnende Idee des ökonomischen Generalstreiks! — sträuben,<br />

die anderen, die für den platonischen 1. Mai eintreten, diese<br />

wirklich gewaltige Idee nicht sehen wollen, sich aber dabei doch<br />

der kolossalen Machtdemonstration des Tages nicht entäußern<br />

lassen wollen.<br />

Es muß auf das nachdrücklichste betont werden, daß nur<br />

diejenige Auffassung, die sich auf die Entstehung des proletarischen<br />

Maigedanken in den Klassenkämpfen der Arbeiterbewegung stützt,<br />

ihm gerecht wird und den 1. Mai der Arbeitsruhe würdig erweist.<br />

Sonst ist dies nicht der Fall, und die permanente Unfruchtbarkeit<br />

des 1. Mai und seiner politischen Demonstrationen hat es ja mit<br />

sich gebracht, daß er bis auf den heutigen Tag nicht imstande<br />

war, das gesamte organisierte Proletariat der Welt in Bewegung<br />

zu setzen, im Gegenteil jede revolutionäre Bedeutung eingebüßt hat,<br />

von der Bourgeoisie gar nicht mehr gefürchtet oder beachtet wird und<br />

wohl im Laufe der kommenden Jahre sanft entschlafen währe, hätte<br />

dem das französische revolutionäre Gewerkschaftsproletariat nicht,<br />

vor zwei Jahren vorgebeugt durch jene großartige Initiativproklamation<br />

des Achtstundenkampfes mit dem 1. Mai 1906.<br />

Damit war die ursprüngliche anarchistische Inspiration<br />

dieses Tages — der 11. November 1887 zeugt blutigrot für<br />

diese Inspiration! — wieder in den Vordergrund getreten. Wie<br />

mit geheimnisvoller Zaubermacht erweckte sie Begeisterung in<br />

allen Ländern, und wo man ihr nicht durch die Tat folgte, so<br />

doch sicherlich in Gedanken und durch den proletarischen Geist.<br />

Die Rückschläge der russischen Revolution liegen international<br />

wie ein Alpdruck auf dem Proletariat. Der 1. Mai hat darunter<br />

gelitten, obwohl er in Frankreich auch diesmal ökonomische Forderungen<br />

aufstellte. Dennoch, es fehlte das hinreißend Machtvolle,<br />

und der 1. Mai wurde wieder zum größten Teil als Demonstrationstag<br />

für bürgerliche Wahlrechtsangelegenheiten verzettelt und vergeudet.<br />

Und es steht zu befürchten, daß es in den nächsten Jahren weiter<br />

so sein wird, wenn hier nicht ein kräftig einsetzender und neugestaltender<br />

Faktor auftritt.<br />

Dieser muß die anarchistische Idee sein, so weit und inwiefern<br />

sie ihre ökonomische Kampfesgruppierung in der revolutionär<br />

inspirierten Gewerkschaftsbewegung erblickt. Für uns Anarchisten<br />

hat der 1. Mai nur den einen unbedingten Zweck, daß er uns ein.<br />

vorbereitender Tag sein muß für die ökonomisch-direkte Aktion<br />

des Proletariats. Aber die Zeit der nur geistig anregenden Propa-


— 263 —<br />

ganda auf diesem Gebiete wird besonders in den nächsten Jahren<br />

von der sozial geführten Massentat unterstützt werden müssen.<br />

Die großen Gewerkschaftsgruppierungen werden sich zur Aktion<br />

des 1. Mai nur dann erziehen lassen, wenn die revolutionär entschlossenen<br />

Minoritäten des Gewerkschaftkampfes sie ihnen vormachen.<br />

Dazu ist allerdings und vor allem klare Erkenntnis in<br />

den Köpfen der gewerkschaftlich Organisierten notwendig. Aber<br />

nur um sie den Massenminoritäten beibringen zu können, schließen<br />

wir als Anarchisten uns den Gewerkschaften und vornehmlich den<br />

schon vorgeschritteneren an. Es wird notwendig sein, in Zukunft<br />

agitatorisch dafür zu wirken, daß der Ausbruch der meisten partiellen<br />

Streiks auf den 1. Mai anberaumt wird. Die einzelne, zielbewußte<br />

Gewerkschaft muß hier den Anfang machen; niemals kann die<br />

Minorität in den Augenblickskämpfen eine wichtigere Rolle übernehmen,<br />

als sie unter diesen Umständen wäre. Das natürliche Anlehnungs-<br />

und Solidaritätsbedürfnis wird eine größere Agitation entfachen,<br />

die eine oder andere Gewerkschaft sich dieser Aktion anschließen<br />

— und es obliegt gar keinem Zweifel, daß die Idee des generalisierten<br />

Streikes vom 1. Mai ab sich dann siegreich Bahn brechen<br />

wird, trotz aller Politikanten-Abwehr, allein schon durch die sich<br />

entspinnende Diskussion über die neuartige Situation in der<br />

.deutschen Arbeiterbewegung.<br />

Es ist dies nur ein Fingerzeig; nicht mehr kann oder<br />

soll hier geboten werden, denn alle anderen Anknüpfungs- und<br />

Entwicklungspunkte sind Sachen der selbständig denkenden und<br />

selbständig auftretenden Agitatoren und hauptsächlich der von<br />

dieser Idee erst einmal in Bewegung gesetzten Massen. Aber in<br />

einem Lande wie Deutschland, wie Oesterreich, wo die Bewegungen der<br />

Massen so schwerfällig, unsicher und unentwickelt sind wird dies die erste<br />

Agitationsetappe der Anarchisten und in ersterem Lande besonders<br />

der <strong>Freie</strong>n Vereinigung deutscher Gewerkschaften" sein müssen, wenn<br />

sie der Idee des für ökonomische Ziele einsetzenden Generalstreiks<br />

zum Durchbruch verhelfen wollen. Gerade d i e Siege auf dem<br />

Klassenkampfesfelde, die unter diesen Umständen verfochten<br />

werden, werden eine geradezu wundervolle Wirkung auf das geistige<br />

Beschleunigungstempo des deutschen Proletariats in seinen Klassenkampfmethoden<br />

haben. Der 1. Mai wird so nicht „einfach Unsinn"<br />

sein, er wird einen materiellen Zweck und Sinn erhalten, der das<br />

schönste Piedestal bildet für die Kundgebung reiner Solidarität,<br />

die er ja auch darstellen soll. Diese Kundgebung wird dann erst<br />

wieder tiefere Bedeutung für die Bourgeoisie gewinnen, denn ihr<br />

Name lautet; Kampfesentschlossenheit!<br />

Verjüngt, wie ein Phönix, muß sich der Gedanke des 1. Mai<br />

auch für das deutsche Proletariat aus den Trümmern der Vergangenheit<br />

erheben, nämlich in seiner ursprünglichen Wesensart. So wird er<br />

den heute vorherrschenden Widersinn, den er scheinbar in sich


— 264 —<br />

selbst verkörpert, in klare Harmonie auflösen. Er wird für das<br />

Proletariat Kampfes Solidarität und Kampfes belohnung<br />

bedeuten. Kann der 1. Mai dies nicht werden, wird er untergehen;<br />

arbeiten wir daran, ihn zu erhalten, ihn zu entwickeln zum revolutionären<br />

Proklamationstag des Proletariats wider Staat, bürgerliche<br />

Gesellschaft und ihre mannigfachen, schmarotzerhaften Stützen, für<br />

die Befreiung: Kommunismus und Anarchie!<br />

Jules Guesde.<br />

Eine Charakterstudie.<br />

Motto:<br />

Pierre Ramus.<br />

„Wie die Deutschen ihren Kaiser Bebel haben,<br />

so haben die Franzosen ihren Pabst Jules Guesde."<br />

Gustave Hervé.<br />

(Intern. Kongress zu Stuttgart.)<br />

Vorbemerkung:<br />

Wir übersetzen den nachfolgenden Aufsatz aus der Serie von<br />

periodischen Monographien „Les Hornmes du jour" (3, Rue des Grands-<br />

Augustins, Paris 6e), die der Verfasser während der letzten Monate<br />

publizierte. Die Red.<br />

Es ist eine schwere Aufgabe, zeitgenössische Bilder zu entwerfen;<br />

wie undankbar wird sie aber gar dann, wenn man einen so<br />

irrlichternden, problematischen Charakter vor sich hat, wie die<br />

Person Jules Guesdes*) ihn uns bietet. Heute kann er sich als<br />

entschiedener Revolutionär aufspielen und morgen schon in der<br />

Rolle eines intriguierenden Reformisten auftreten; bald ist er<br />

Künstler, bald Apostel, bald Sektierer; bald naiv bis zur Dummheit,<br />

bald wieder abgefeimt wie ein Bube — und alles das geschieht<br />

mit so liebenswürdiger Schelmerei, mit so bewundernswerter Eregoli-<br />

Fertigkeit, daß wir uns jeglichen Urteils enthalten und diesen Verwandlungskünstler<br />

in all seinen Phasen, von all seinen Seiten<br />

betrachtet, schildern wollen; möge dann der Leser selbst zu einem<br />

Schluß kommen.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Zuerst erscheint Guesde als ein ganzer Mann, der eine Lehre,<br />

die Lehre vertritt und keine Abweichung, keine Ketzerei duldet.<br />

*) sprich: Schül Gäd.


— 264 —<br />

Von dieser Seite betrachtet, ist er ein schnautzbärtiger Unteroffizier,<br />

der blinden Kadavergehorsam verlangt, ein mittelalterlicher Barfüßermönch,<br />

der mit dogmatischem Starrsinn Religion, also hier<br />

Sozialismus predigt. Wehe dem Verblendeten, der sich in Guesdes<br />

Beisein unterfängt, zu vernünfteln, also sich anmaßt, über Prinzipien<br />

und Parteiprogramme zu diskutieren. Er wird sofort als schlimmster<br />

Ketzer gebrandmarkt, als elendes Lästermaul an den Schandpfahi<br />

genagelt. Vor dem Citoyen†) Jules Guesde, dem alleinigen Besitzer<br />

der heiligen, von Karl Marx überlieferten Lehren, muß man sich<br />

verbeugen, muß man Vernunft und kritischen Kampfsinn eindämmen,<br />

denn sonst erfolgt unweigerlich das Schreckliche: — das Blitz und<br />

Donner tragende Anathema des Pabstes Jules Guesde. Versuche<br />

es einer, sich ihm zu entziehen, sich seiner Disziplin nicht zu fügen —<br />

dem werden schon die Augen übergehen . . .<br />

Ein Savonarola des Mittelalters konnte nicht anders handeln,<br />

nnd konnte nicht leidenschaftlicher und gebietender von seinem<br />

geheimnisvollen, schreckenerregenden Gott predigen, konnte nicht<br />

eindringlicher den Triumpf seines Gottes prophezeien als es Jules<br />

Guesde mit seinem Gotte — die Revolution — tut, die in seinem<br />

Munde eben so mystisch, ebenso geheimnisvoll aussieht und deren<br />

Ankunft er alle vier bis fünf Jahre als in aller Kürze bevorstehend<br />

prophezeit. Für die kritische Vernunft eines revolutionären Sozialisten<br />

ist die soziale Revolution nur nach einer Reihe kombinierter<br />

Aktionen, wie Antimilitarismus, Antiklerikalismus, Antikapitalismus<br />

etc. denkbar. Für den citoyen Guesde existiert so etwas nicht.<br />

Diese Teilkämpfe hält er für nebensächlich, unnütz, ja sogar<br />

schädlich. Das sind für ihn lauter Verirrungen, Irrlehren. Macht<br />

jemand Front gegen den Militarismus, ruft Jules Guesde: „Verirrung!"<br />

Wendet man sich gegen den Klerikalismus: „Verirrung!"<br />

Bekämpft man den Parlamentarismus: „Verirrung!" Für ihn ist<br />

alles, alles Irrlehre. Um nicht irre zu gehen, um sich sein Anathema<br />

nicht zuzuziehen, müßte man sich überhaupt nicht rühren,<br />

sich nicht vom Flecke trauen. Nur so, wenn man keinen Lärm,<br />

keine Bewegung, kein Aufsehen macht, bleibt man gut Freund<br />

mit ihm.<br />

Unwillkürlich taucht die Frage auf: Was bedeutet denn<br />

Sozialismus? Doch verlorene Mühe, diese Frage an citoyen Guesde<br />

zu richten — er gibt keine Auskunft. Er predigt ein Etwas, das<br />

e r Sozialismus nennt, das er in sehr simple, dünne Prinzipien<br />

kleidet. Und sind einmal diese Prinzipien formuliert, so ist nur<br />

noch Gehorsam, blinder Gehorsam von nöten. Sind die Befehle<br />

auch noch so konfus, die Gebote auch noch so unklar — gehorchen<br />

und abermals gehorchen, darin liegt das Heil. Wehe dem Rebellen,<br />

dem Unabhängigen! Anathema über den Ketzer! . . .<br />

†) citoyen-Bürger, französische Anrede und Bezeichnung.


— 266 —<br />

So sieht Guesde — der Pabst aus.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Man entkleide ihn jedoch nicht seines päbstlichen Gewandes.<br />

Die Enttäuschung wäre zu niederschlagend. Man würde gewahr<br />

werden, daß der starre Dogmatismus nichts als ein dünner Firnis<br />

ist, der schon bei schwachem Nageldruck abblättert und in eitel<br />

Staub zerfällt; denn dieser Apostel, dieser Doktrinär weiß sich gar<br />

zu oft den Zeitverhältnissen und sonstigen Konstellationen am<br />

politischen Firmament anzupassen. Dieser ausgesprochene Revolutionär<br />

zeigt sich durchaus nicht abgeneigt, so ein ganz klein wenig<br />

reformistischen Dünnbiers in seinen roten Wein zu schütten. Es<br />

kommt sogar vor, daß er für bourgeoise Minister stimmt, daß er<br />

Projekte ausarbeitet, die sozialistischen Bestrebungen entschieden<br />

zuwiderlaufen, wie z. B. Einrichtung von Schiedsgerichten zur Vermeidung<br />

von Streiks, was einen Millerand später zu der bekannten<br />

Gesetzesvorlage anregte, die noch bis heute, wie ein Damoklesschwert,<br />

die französische Arbeiterbewegung bedroht.<br />

Endgültig fällt jedoch seine Maske, wenn man die Evolution<br />

oder besser gesagt den Widerspruch zwischen seinen Schriften<br />

und Reden von ehemals und von jetzt in Augenschein nimmt.<br />

Guesde war ehemals staatsfeindlicher Kollektivist, als dieses<br />

Wort noch nicht die gegenwärtige Bedeutung hatte und für<br />

Anarchisten gebraucht wurde. Damals nannten die staatlichen<br />

Sozialisten sich selbst Kommunisten. Seitdem haben ja<br />

diese Bezeichnungen den entgegengesetzen Sinn bekommen. Nun<br />

marschierte ja unser Jules Guesde zu jener Zeit unter dem Namen<br />

eines kollektivistischen Anarchisten neben Michael Bakunin<br />

und gegen Karl Marx. Zum Kongreß von Sonvillier 1871 delegiert,<br />

war er Schriftführer dieses Kongresses und gehörte zu den<br />

Unterzeichnern des berühmten antimarxistischen Manifestes, das<br />

die freie Föderation autonomer Gruppen verlangte und sich mit<br />

aller Gewalt gegen die Staatenprojektenmacher à la Marx, Engels<br />

u. s. w. erhob.<br />

Um diese Zeit herum sprach der revolutionäre Jules Guesde<br />

auch nur Gewaltmitteln das Wort, befürwortete das „Recht auf<br />

das Gewehr", während die staatlichen Sozialisten auf den legalen<br />

Weg verwiesen.<br />

Was das allgemeine, geheime und sonstige Wahlrecht anbetrifft,<br />

wollte er gar nichts davon wissen, das war nach seiner<br />

damaligen Meinung auch ein „Ködermittel", dessen Erfinder an<br />

„Kurzsichtigkeit" leiden. Der Gesetzesmaschine schenkte er keinerlei<br />

Vertrauen, weil, wie er meinte, die regierende Klasse im Besitze<br />

der Gewalt sei und auf das Volk pfeife. Eine freie Gesellschaft<br />

sei nur durch direkten Kampf zu erringen. Die Arbeiterklasse sei


— 267 —<br />

bedauerlicherweise noch immer von der Sophisterei der radikalen<br />

Bourgeoisie betört und glaube leider noch immer an die Möglichkeit<br />

seiner allmählichen, friedlichen Emanzipation etc. etc.<br />

Und nun: eins, zwei, drei, Geschwindigkeit ist keine Hexerei<br />

— über Nacht ist aus dem Schüler Bakunins ganz urplötzlich ein<br />

Marxist geworden, der seine Flinte ins Korn wirft oder vielmehr<br />

mit Stimmzetteln ladet. Da sieht man ihn auf ein paar gebrechlichen<br />

marxistischen Stelzen dahinschreiten und ein paar nebenbei hingeworfene<br />

Redensarten Marxens, die Eroberung der Straße betreffend,<br />

der „Diktatur des Proletariats" von Marx gleichsetzend und die<br />

sozialistische Partei zu letzterem Kampfe auffordern. Der enragierte<br />

Ketzerfeind suchte nun die revolutionäre Partei zu einem Stimmviehstall<br />

umzuwandeln, also eine Ketzerei zu vollbringen, deren Enormität<br />

sich der blödeste Pfaffe bewußt sein mußte. Allein dies hätte kein<br />

Guesde sein dürfen, denn dieser wurde nun als Deputierter von<br />

Lille ebenso reformistisch, wie sein Freund Millerand, der viel verschriene.<br />

Kaum wird er aber bei den nächsten Wahlen geschlagen,<br />

da ist er schon wieder Revolutionär, der das rote Gespenst wie<br />

eine Gliederpuppe verrenkt, um endlich in unseren Tagen auf dem<br />

äußersten rechten Flügel der Partei, bei den Possibilisten anzulangen,<br />

die er ehemals selbst so unerbittlich bekämpft hatte.<br />

Alles fließt!<br />

* * *<br />

Man fragt sich da mit Staunen, wie sich Guesde trotz seiner<br />

Fregoli-Künste, den Ruf und das Ansehen eines autoritären,<br />

unbeugsamen Charakters bewahren konnte. Wen das stutzig<br />

macht, der muß sich Guesde als Bühnenkünstler ansehen. Man<br />

muß gesehen haben, mit welcher Meisterschaft Jules Guesde günstige<br />

Situationen auszunützen versteht, mit welcher Gewandtheit, ja selbst<br />

augenfälliger Dreistigkeit er nach Bühneneffekten hascht und mit<br />

welch vollendeter Regiekunst er Kongresse, Gruppenversammlungen<br />

und sonstige Konzile vorzubereiten, zu beschäftigen und zu leiten<br />

versteht. Man muß ihn in Volksversammlungen in der Mitte von<br />

Bauern und Arbeitern gesehen haben, wenn dieser hohe, magere<br />

Mensch mit seinem Christusprofil und den glänzenden Seheraugen,<br />

seine langen, hageren Hände, bald geöffnet, bald zusammengekrallt<br />

emporstreckt und mit greller, ohrenzerreißender Stimme vom<br />

Ansturm der Revolution zu predigen beginnt. Seine Haltung,<br />

seine Stimme, seine Gestikulationen und sein Formelkram, der<br />

Mystizismus seiner Vortragsweise und das Verschwommene, Nebelige<br />

seiner Lehre üben einen so nachhaltigen Einfluß auf seine einfachen<br />

Zuhörer aus, daß er ihnen noch nach Jahren, ja nach Jahrzehnten<br />

wie eine Lichtgestalt erscheint; daß ihm sein Mekka-Roubaix —<br />

die Stadt seiner politischen Kandidaturen — bei seinen Reisen


— 268 —<br />

ein Ehrenspalier von der Türe bis zum Bahnhof bildet. . . .<br />

Auf der Bühne des Abgeordnetenhauses erleidet er freilich<br />

ein Fiasko; wenn er da auch anfangs die Neugier zu erwecken<br />

vermag, so muß er doch oft inmitten von Lachsalven seine grobgeschnitzten<br />

Blitz- und Donnerkeile in die Tasche stecken . . .<br />

Fahrende Leut'!<br />

*<br />

*<br />

Verborgen vor dem großen Publikum, nur dem intimeren<br />

Vertrautenkreise bekannt, ist seine Vorliebe für die schönen Künste,<br />

die sich in seiner Rezitierwut bekannter und unbekannter Verse<br />

äußert. Sein Gehirn ist mit Versen wie vollgespickt und bringt<br />

er im Rezitieren Baudelaire s, Verlaines, Richepins eine<br />

Gedächtnisstärke zutage, die in Frankreich kaum ihresgleichen hat;<br />

dafür ist er aber von geradezu verblüffender Unwissenheit auf<br />

soziologischem und sozialökonomischem Gebiete — gerade darin,<br />

wo er nicht nur alles wissen, sondern auch alles meistern müßte,<br />

weiß er auch rein gar nichts. Seine absolute Unwissenheit auf<br />

diesem Gebiete hat übrigens seine Freunde oft genug in Verzweiflung<br />

gebracht. Sein Parteigenosse, Paul Lafargue, der eine Art<br />

von Gelehrtenkauz ist, hat sich über zwanzig Jahre lang mit ihm<br />

abgegeben und doch nichts zu Wege gebracht. Oft ist es deshalb<br />

zwischen diesen beiden Oelgötzen zu Zusammenstößen gekommen,<br />

doch behielt Guesde stets die Oberhand, weil er das Geheimnis<br />

besitzt, Leute zu „charmieren".<br />

Einen ebenbürtigen Gegner soll er in dieser Hinsicht nur in<br />

dem ausgestoßenen Sozialdemokraten und jetzigen Justizminister<br />

Briand haben. Guesde ist freilich nicht ausgestoßen, sondern<br />

noch ein hochverehrter Parteigötze, er soll aber die Künste<br />

Briands auf das Gründlichste verstehen und Leuten, die er<br />

nötig hat, auf die bezauberndste Art und Weise entgegenkommen.<br />

Ueberhaupt soll Guesde nicht den großen Fehler besitzen, uneigen<br />

nützig zu sein. So behaupten wenigstens böse Zungen, daß es<br />

Guesde bei seinem Uebertritt ins marxistische Lager nicht als<br />

Uebelstand empfand, daß hier die Kasse gut gefüllt war und die<br />

Geldmittel reichlicher flossen. Es wird auch von ihm erzählt, daß<br />

er nach seiner Niederlage im Norden, als sozialdemokratischer<br />

Kandidat es nicht ungern sah, daß ihm ein Teil des entgangenen<br />

Profits durch die gewählten sozialdemokratischen Kandidaten ersetzt<br />

wurde, indem sie pro Kopf je ein parlamentarisches Tagesgehalt=25 Fr.<br />

spendierten.*) Yves Guyot veröffentlichte unter anderem auch<br />

*) Bekanntlich haben sich jetzt die französischen parlamentarischen<br />

Tagediebe — die sozialistischen mitgerechnet — ihr Tagesgehalt aus eigener<br />

Machtvollkommenheit auf 41 Fr. erhöht — — wegen den gestiegenen<br />

*


— 209 —<br />

einige an ihn gerichtete Briefe Guesdes, in denen ihm Guesde eine<br />

Liste von solchen Persönlichkeiten gibt, die man um Unterstützung<br />

angehen darf; Guesde bittet dabei gleichzeitig um Bescheid, um<br />

welche Beträge die Betreffenden erleichtert worden sind.<br />

Selbstverständlich darf diese Art der Lebensauffassung nicht<br />

übertrieben gerügt werden, denn man kann sich nicht ausgiebig<br />

der Propaganda widmen, wenn man den größten Teil des Tages<br />

zur Deckung der eigenen Bedürfnisse verzetteln muß; man ist sogar<br />

im Recht, sich erhalten zu lassen, wenn man einer Idee nützlich<br />

sein kann. Doch darf nicht außer Acht gelassen werden, daß<br />

viele Propagandisten, die vielleicht noch eifriger für die Idee arbeiten<br />

als Jules Guesde, sich dennoch uneigennütziger erweisen.<br />

*<br />

*<br />

Denn imgrunde genommen hat Jules Guesde während seiner<br />

langen sozialistischen Laufbahn gar nicht so etwas besonderes<br />

geleistet. Seine ganze Zeit hat er stets dazu verwandt, andere<br />

vom Handeln abzuhalten. Seine ganze literarische Bagage<br />

besteht in einigen Broschüren und einigen gedruckten Reden.<br />

Man fragt sich da, wieso der Mann zu einem so großen Einfluß<br />

in der Partei gelangte. Nun, das liegt in seiner großen Fertigkeit,<br />

sich eine im Parteilichte hochgeschätzte Umgebung und den<br />

Massen gegenüber einen Heiligenschein zu verschaffen. Das liegt<br />

auch an seiner Fertigkeit, sich, wo es nötig ist, beliebt zu machen<br />

und seiner rednerischen Gewandtheit, über Gemeinplätze mit Begeisterung<br />

sprechen zu können. Diesen Einfluß verdankt er auch<br />

seinem stets wachsenden Ehrgeiz und seiner Zähigkeit, mit der er<br />

rivalisierende Geister verfolgt und zähmt.<br />

Seine Anhängerschaft — die Guesdisten — kann man in drei<br />

Kategorien einteilen. Erstens diejenigen, die sich sehr gut auf<br />

ihre eigenen Geschäfte verstehen und deren Vorgeschichte Guesde<br />

ignoriert, um ihrer Schmeicheleien versichert zu sein; zweitens die<br />

gewandten Politiker des Nordens, die hier so lange und eifrig<br />

agitiert haben, bis sie die Gegend für ihren Herrn und Meister<br />

erobert hatten und schließlich, — das sind die seltensten, aber<br />

auch die für die Partei einzig wertvollen Stützen — die gelehrten<br />

Geister, wie Bracke, Lafargue etc.<br />

Lebensmittelpreisen! — Das Budget der Deputiertenkammer für 1908<br />

(administrative Unkosten und Gehälter) beträgt 11 767 660 Fr. also pro<br />

Kopf schon 55 Fr. Wie schlecht damit auszukommen ist, beweist die<br />

Sitzung vom 18. März 1908, die für das Budget von <strong>1907</strong> noch einen<br />

nachträglichen Zuschuß von 28 384 834 Fr. bewilligte, von denen zu den<br />

eigentlichen administrativen Unkosten, also Bureau uud Drucksachen,<br />

nur 63 830 Fr. zählten.<br />

*


— 270 —<br />

Jules Guesde kümmerte sich auch wenig um andere Sachen,<br />

als daß ihm reichlich Weihrauch gespendet werde; geschieht das,<br />

so ist der Rest Nebensache. Deshalb sah man ihn auch alle<br />

Hebel in Bewegung setzen, um eine Einigung der französischen Sozialdemokratischen<br />

Parteien zu hintertreiben. Er fühlte ja, daß er als<br />

Individualität in einem größeren Block verloren, daß sein Einfluß<br />

auf seine eigene Sekte dadurch leiden würde. Auf jedem Kongreß,<br />

wo er sich in der Minderheit fand, sah man ihn deshalb sich mit<br />

seiner Eskorte zurückziehen und Uneinigkeit direkt provozieren.<br />

Für Guesde gibt es deshalb auch kein Heil außerhalb seiner<br />

„Arbeiter-Partei".*) Hier ist er seines Einflusses und seiner Vorherrschaft<br />

sicher. Diese Leute lassen sich auch von ihm führen,<br />

wohin er will. So hat er es auch in seiner wechselnden Wahlpolitik<br />

zu so manchem reaktionären Wahlbündnis gebracht, das ihn<br />

der neulich mit dem Zentrum verbrüderten deutschen Sozialdemokratie<br />

oder der k. k. österreichischen ins Parlament gelangten<br />

Sozialdemokratie würdig zur Seite stellt; nur fällt bei ihm verschärfend<br />

ins Gewicht, daß er — Jules Guesde — stetiger und<br />

wütiger Verfechter der sozialen Revolution ist, während seine ausländischen<br />

Kollegen verschämt und unverschämt ihren Konservatismus<br />

eingestehen.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Nun wollen wir Jules Guesde noch die letzte Ehre erweisen<br />

und seine Lebensgeschichte schreiben — der mitleidige Leser mag<br />

dann dem Kadaver ein paar Hände voll Erde nachwerfen.<br />

Er ist in Paris am 1<strong>2.</strong> November 1845 als Sohn eines Professors<br />

geboren. Er hieß damals weder Guesde noch Jules, sondern<br />

Mathieux Basil. Er beginnt seine Karriere als Expedient im<br />

ministeriellen Preßbureau, geht dann nach Montpellier, wo er zu<br />

Yves Guyot, Brousse, Cluseret und anderen in Beziehung<br />

tritt . . . Damals war er einfach noch Republikaner und ein sehr<br />

bürgerlicher dazu. War Mitarbeiter der Zeitschrift „Menschenrechte".<br />

Am 4. September 1871 tat er sich durch seinen republikanischen<br />

Eifer hervor. Während der Kommune rückt und regt er sich<br />

nicht von Montpellier und begnügte sich damit, die Pariser von<br />

der Ferne aus immer und immer wieder zum Ausharren anzueifern!<br />

Er wird darauf zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, bekommt wegen<br />

Zeitungsartikel noch vier Jahre zudiktiert und flüchtet in die<br />

*) Der Leser möge beachten, daß die französische Sozialdemokratie<br />

aus lauter kleineren Sekten besteht, deren jede ihren eigenen Namen und<br />

Leithammel hat und alle zusammen sich auf den Namen ,,Einig" geeinigt<br />

haben, wobei aber diese „Einigkeit" so uneinig ist, daß alle Augenblicke<br />

Splitter und Spänne abfliegen, wie erst neulich wieder die neue Gruppe<br />

„Prolataire".


— 271 —<br />

Schweiz. Er schützte schon damals Krankheit vor, und so ist er<br />

auch sein ganzes Leben hindurch krank gewesen, was ihn vor so<br />

mancher „Unbesonnenheit" bewahrte. In der Schweiz wird Guesde<br />

Sozialist und schreibt eine Broschüre, die Aufsehen macht: „Das<br />

rote Buch der ländlichen Justiz". Dann geht er nach Italien und<br />

arbeitet an fortschrittlichen Zeitungen mit. Aus dieser Zeit datiert<br />

sein „Versuch eines sozialistischen Katechismus"<br />

und „Brief über das Eigentum". Er wird ausgewiesen und<br />

geht nach der Schweiz zurück. Hier erklärt er sich gegen Marx<br />

und zugunsten Bakunins. Marx hatte ihn — Jules Guesde —<br />

wegen der Ereignisse von Montpellier schon als Agent Provokateur<br />

denunziert. Die Herzen hatten sich also noch nicht gefunden . . .<br />

Da kehrte Guesde plötzlich nach Frankreich zurück und zwar<br />

in ganz neuer Gestalt — er unternimmt es, zusammen mit Lafargue<br />

und Deville, den Marxismus in Frankreich zu akklamatisieren. Er<br />

gründet die „Gleichheit" und ist emsig beschäftigt, die Arbeiter-<br />

Partei zu organisieren. Bald darauf redigiert er zusammen mit<br />

Marx das kollektivistische Programm, das er dem Kongreß von<br />

Hàvre präsentiert. 1880 provoziert er den Abfall der Possibilisten.<br />

Eine zweite Spaltung führt Guesde beim Kongreß von Saint Etienne<br />

herbei, indem er sich mit seiner Partei nach Raome zurückzieht.<br />

Er unternimmt darauf eine große Wahlkampagne, durchstreift die<br />

Provinz mit besonderer Berücksichtigung des Nordens. Er hat<br />

nun den ehemaligen Anarchisten ausgezogen und läßt nur noch<br />

Wahlzettel gelten. Endlich wird er 1893 in Lille gewählt, nachdem er in<br />

Marseille (1889) eine Schlappe erlitten hatte. Das ist sein Höhepunkt.<br />

Er fürchtet nicht, die Revolution überallhin zu verkünden,<br />

und seine Wähler erwarten von ihm nichts anderes, als daß er den<br />

bourgeoisen Deputierten den Schrecken in die Glieder jage.<br />

Diese hatten jedoch für seine Brandreden nur ein Achselzucken<br />

und ein mitleidiges Lächeln übrig. Vier Jahre darauf war Guesde<br />

geschlagen.<br />

Der Rest ist stadtbekannt: Als er im Parlament saß, hatte<br />

er sich ebenso reformistisch wie Millerand, der ausgestoßen, gezeigt,<br />

und als er nicht wieder gewählt wurde, da war er wieder revolutionär<br />

geworden und bekämpfte den Eintritt eines Sozialisten ins<br />

Ministerium. Darauf folgt trotz seines Widerspruches die Unifizierung<br />

der Parteien. Er muß ihr, der „geeinten" Partei, gegen seinen<br />

Willen, da von Vaillant geschoben, beitreten. Wieder ins Parlament<br />

gelangt, befleißigt er sich nun eines beredten Schweigens.<br />

Schon seit einem Jahrzehnt krank und geschwächt, schreibt<br />

Guesde keine Zeile mehr und nimmt das Wort nur bei ganz<br />

wichtigen Anlässen, z. B. wenn es eine „Verirrung" festzustellen<br />

gilt oder wenn Heißsporne gezügelt werden müssen. Für das<br />

Blatt „Petit Sous", das seine Mitarbeiterschaft ankündigte, hat er<br />

noch nicht ein Wort geschrieben. Seine neue Revue: „Socialisme"


— 272 —<br />

begnügt sich damit, ehemalige Artikel, die er vor 15 und 20<br />

Jahren schrieb, wieder aufzufrischen. Um vollständig zu sein,<br />

müssen wir erwähnen, daß Guesde es sich trotz seiner literarischen<br />

Untätigkeit nicht nehmen läßt, alle Monat regelmäßig b e i der<br />

Kasse der „Petit Sous" vorzusprechen.<br />

Und damit sind wir in der Gegenwart, haben unseren Beitrag<br />

zur Charakteristik von Jules Guesde erschöpft.<br />

Flax.<br />

Vom Frauenstandpunkt.<br />

Motto :<br />

„Reißt von Banden Euch freudig<br />

loß."<br />

Goethes „Faust."<br />

Ich möchte Sie fragen, haben Sie das kleine Buch der Russin<br />

Elsa Asenijef „Der Aufruhr der Weiber" gelesen? Der Titel klingt<br />

bachantisch, nicht wahr? Schadet nichts, lesen Sie es.<br />

Was mich betrifft, so stimme ich keinenfalls in allem mit der<br />

Verfasserin überein. Jedoch hat das Buch mir eine Menge Anregungen<br />

zu eigenen Ideen gegeben, die ich hier mit Ihnen<br />

besprechen möchte.<br />

Es wäre gut, wenn sich in den Blätter dieses Zeitschrift eine<br />

Diskussion über dieses Thema anregen ließe, um verschiedenste<br />

Urteile zu hören.<br />

Dies hier soll ein freies Wort einer Frau zu. Frauen und<br />

Männern sein; setzt jetzt die Vorurteile beiseite; laßt uns objektiv<br />

verfahren mit dieser größten, ernstesten, wichtigsten Frage der<br />

unser Zeitalter gegenübersteht: der Frage der Frau.<br />

Hier zuerst einige Tatsachen: — Unsere Zivilisation hat es<br />

ertig gebracht, die Frau, die Mutter der Menschheit, zum Sklaven<br />

zu machen.<br />

Dies scheint in doppelter Hinsicht ein Paradoxon zu enthalten.<br />

Erstens hatte die Frau einen hervorragenden Anteil an der<br />

Schaffung der Kultur selber, zweitens ist Mutterschaft der<br />

starke Grundpfeiler aller Gesellschaft. „Nicht ohne Erstaunen<br />

nehmen wir wahr", sagt Carpenter, „daß die Menschheit eine mit<br />

solcher Gefahr für ihre Reproduktion und Fortdauer erfüllte Periode<br />

tatsächlich überlebt hat."


— 273 —<br />

Was Asenijefs Behauptung, die Frau sei fast ausschließlich<br />

Schöpferin der Kultur, anbetrifft, so wird dieselbe hier und da auf<br />

Zweifel stoßen. Der Mann schuf die Zivilisation, sagt sie — ohne<br />

den Rat der Frau, ja oft gegen ihren Willen. Die Lage, in die<br />

uns diese Männerzivilisation gebracht hat, scheint verzweifelt: die<br />

besten Männer gehen heute daran zu Grunde.<br />

Ja, aber Asenijefs Behauptung, die Frau schuf die Kultur, ist<br />

kein Beweis, sagt Ihr. Freilich nicht. Zieht aber in Betracht, daß<br />

es der Mann war, der die Kulturgeschichte aufschrieb. Zieht in<br />

Betracht, daß die Frau von Natur zur Zurückgezogenheit und Stille,<br />

ja zur Aufopferungsfreudigkeit tatsächlich mehr neigt, als der Mann.<br />

Die Art, wie sie schafft,ist verschieden von der des Mannes.<br />

Persönliches Ansehen, Dank oder Ruhm scheinen ihr minderwertig.<br />

Für den Mann war das heisse Streben nach Ehre und Namen<br />

der stärkste Sporn zur Tat durch alle die Zeitalterhindurch.<br />

Ich behaupte nicht, daß dieser Ehrgeiz nicht etwa eine<br />

wünschenswerte Eigenschaft wäre, — hat doch das Resultat scheinbar<br />

das Gegenteil bestätigt. Wenn wir die Dinge nach ihrem Wert<br />

für die Entwicklung der Rasse abwägen, so war die allzu große<br />

Opferbereitschaft des Weibes weder wünschenswert noch vorteilhaft;<br />

sie ist ein gefährlicher Faktor in dieser menschlichen Entwicklung<br />

gewesen.<br />

Dieses schweigende Geben, das für ihre größte Tugend gehalten<br />

ward, es war für sie selber sowohl als für den<br />

Mann ein Fehler. Denn er ist unselbständig geworden, seelisch.<br />

Aber nicht nur unselbständig, sondern kraß selbstsüchtig (auf Kosten<br />

anderer) Er hat den „Egoismus" in sich anscheinend zu<br />

einem erschreckend hohen Grad entwickelt. „Der Mann weiß nichts<br />

mehr vom gegenseitigen Geben, das Nehmen ist ihm selbstverständlich<br />

geworden." Opfer kommen ihm zu, er fordert sie.<br />

Ich kenne eine ganze Anzahl ernster, denkender Männer, die<br />

mit dem hier Gesagten übereinstimmen. Wenn wir vom Egoismus<br />

sprechen, so meinen wir hier nicht Ich-Souveränität, das Zentrum<br />

der Welt — sondern Selbstsucht. Selbstsucht, diese Inquisition<br />

aller Höhenentwicklung und Freiheit!<br />

So also ist es gewesen, in all den ferneren Jahrhunderten, so<br />

also sind wir zu den Verhältnissen gekommen, wie sie heute sind,<br />

so sind wir geworden, was wir werden mußten.<br />

Die psychologischen Unterschiede zwischen Mann und Weib<br />

sind es vor allem, die uns den Schlüssel in die Hand geben, wie<br />

es möglich war, daß wir nach Carpenter „schließlich an einem<br />

Maximalpunkte der Divergenz und des absoluten Mißverständnisses<br />

anlangen konnten." Was zum Beispiel ist der Grund zu all den<br />

unglücklichen Ehen heutzutage? Ist er nicht eben in diesem tiefen<br />

Mißverstehen zu suchen, in der Tatsache, daß der Mann als sein


— 274 —<br />

Recht verlangt, was die Frau nicht mehr geben will, weil sie es<br />

als Unrecht einsieht? Daß die Frau aus der Jahrhundert langen<br />

Suggestion erwacht? Endlich? Endlich?<br />

Aber laßt uns weiter sehen.<br />

Die Wissenschaft kommt zu immer klarerer gerechterer Wertung<br />

der Entstehungsgeschichte des Menschen als Individualität wie<br />

als Gesellschaft. Ursache und Wirkung verstehen wir besser. Wer<br />

nun ist schuldig an dem Resultat heutiger Zustände, Mann oder<br />

Frau? Keiner von beiden, antwortet die Wissenschaft, — Entwicklung,<br />

Naturgesetz, das ist alles. Darum laßt uns jetzt hier<br />

nicht anklagen „warum?" sondern fragen: „wie?"<br />

Freilich werden wir dabei nicht umhin können, die tiefe<br />

Tragik zu verstehen, die der Rolle des Weibes in diesem Entwickelungsprozeß<br />

zugeteilt war. Die immerwährende Würde des<br />

Weibes wird uns nie klarer vor Augen geführt werden können,<br />

als im Stadium dieser Entwicklungsgeschichte. Seht ihre arbeitsharten<br />

Hände, seht ihre gebückte Gestalt durch die Jahrhunderte<br />

gehen, leidend, klaglos, mutig. Natur weiß, auf wessen Schultern;<br />

sie Bürden legte; das Weib, die Mutter ist es, die die Menschheit,<br />

getragen hat, ja, die Mutter ist es, der die Natur die schwerste<br />

Verantwortung übertrug, der sie ihre heiligste einzige Arbeit anvertraute,<br />

die Neuschöpfung.<br />

Das Weib ist Lebenspenderin gleich der Sonne; vom Weibe<br />

hängt es ab, was unser Geschlecht noch einmal werden soll.<br />

Warum hast du, Mann, die Quelle Deiner Inspiration, deiner<br />

Kraft, deines — Ruhmes verschwiegen, als du die Weltgeschichte<br />

machtest?<br />

Das ist, — ich muß es kleinlaut eingestehen, denn Ihr gehört<br />

zu uns und wir zu Euch, das war feige.<br />

Auch Gesetze habt Ihr gemacht —, gerade über unsere<br />

Köpfe hinweg, derweil wir Wichtigeres zu tun hatten. Eure alte<br />

sogenannte Gesetzgebung — nun sie war barbarisch und grausam.<br />

Ich weiß nicht viel davon, und ich will nicht davon reden. Aber<br />

laßt sehen, wie weit Ihr jetzt im zwanzigsten Jahrhundert damit<br />

seid. Da ist Eure Männervertretung, der Staat. Der Männerstaat.<br />

Eure gerühmte Rücksicht und Schonung für das „schwache<br />

Geschlecht", Euer romantisch-sentimentales „Ehret die Frauen" etc.<br />

scheint Ihr für den Augenblick, als Ihr ihn schuft, Euren Staat,<br />

beiseite gelassen zu haben. Wie viel feindlicher, willkürlicher steht<br />

dieser Männerstaat der Frau gegenüber da als dem Manne! Sehen<br />

wir genauer hin: sie ist absolut „rechtlos", ein Halbidiot, ein Unmündiger,<br />

ein Kind mit dem man nicht rechten kann, auf Gnade<br />

oder Ungnade dem Manne ausgeliefert, ihrem Richter . . .<br />

Gut. Nun die Konsequenzen; warum verweigert es der Männerstaat,<br />

dieselben durchzuführen? Denn sobald es sich um Ver-


— 275 —<br />

brechen handelt, werden wir plötzlich in vollverantwortliche Bürger<br />

des Gemeinwesens, vollverantwortliche Persönlichkeiten verwandelt,<br />

fähig, die ganze Strenge des Gesetzes, bis zur Todesstrafe, auf uns<br />

zu nehmen.<br />

Sollte man so mit Kindern und Unmündigen verfahren?<br />

Spätere Geschlechter werden Deiner Logik applaudieren,<br />

Männerstaat!<br />

Wenn wirs recht überlegen und bedenken, habt Ihr es eigentlich<br />

weit gebracht. — Genommen, genommen und wieder genommen<br />

— zum Teil auf der Kraft des Stärkeren fußend (es ist schlimm,<br />

Euch das zuzumuten, nicht wahr?) zum Teil auf der Tatsache, daß<br />

Eure Gefährtin großmütig war.<br />

Ihr wurdet habsüchtig, Ihr wolltet mehr, Ihr wolltet alles. Der<br />

Frau Leib und Leben nahmt Ihr. „Des Mannes wahnsinnige Gier<br />

nach Eigentum und individuellem Besitz hat ihn dazu verführt."<br />

„Seine eigene freie Gefährtin hat er zum bloßen Besitz- und Luxusgegenstand<br />

entwürdigt" — —<br />

Angehörigkeit ist Hörigkeit.<br />

Der Mann fabrizierte eine spezielle Ehre oder Moral für seine<br />

Angehörige, nebst einer dazu passenden Erziehung und Bildung.<br />

Auch einige Extra-Tugenden erfand er für sie, welche seither als<br />

die echt-weiblichen berühmt geworden sind. Die Taktik war leider<br />

erfolgreich.<br />

Der Frau starke Neigung zum Individualismus, ihr von Natur<br />

mehr eigen als dem Manne, benutzte er, sie zu isolieren. Stillschweigen<br />

nannte er ihre beste Tugend. Schlau war das, nicht<br />

wahr? Und dennoch, wie gesagt, wir wollen uns hüten, ihn schuldig<br />

zu sprechen. Sehen wir doch heute immer mehr, wie stark die<br />

Verhältnisse dem Individuum gegenüberstehen, und — war das,<br />

was er tat, wirklich Politik? Wußte er, was er tat? Ich glaube es<br />

nicht. Jedenfalls so viel ist sicher, des Resultats ist er sich<br />

heute bewußt. Wenn nicht, wollen wir es ausrufen in alle Welt,<br />

wieder und wieder bis er es hört.<br />

Der Kampf um Persönlichkeitsrecht: zwischen Mann und Frau,<br />

zwischen Arbeiter- und Arbeitgeber, zwischen Kind und Eltern ist<br />

auf der ganzen Linie entbrannt. Hier Angehörigkeit, hier Freiheit<br />

heißt die Losung!<br />

Du, Mann, sollst nicht mehr am Weib, diesem Musterstück<br />

der Natur herummodeln wollen.<br />

Viel hast Du verdorben. Ein armes, ichloses Wesen ist das<br />

Produkt Deiner Lehren, unwahr und unnatürlich. Allzuviel hat sie<br />

verlernt, allzuviel hat sie gelernt.<br />

Und dennoch, seht, sie ist Gott geblieben! Noch andere<br />

tausend Jahre Gefängnis könnten sie der ungebrochenen Kraft nicht<br />

berauben. Das ist die Siegeskraft der Natur.


— 276 —<br />

Das Weib erwacht. Jetzt aufersteht sie wieder aus der<br />

Nacht, die sie umfing, aus der langen Sklavenschaft.<br />

Sie sieht Euch an „mit den Augen der germanischen<br />

Seherin und Prophetin, den ernsten ruhigen Augen der Göttin<br />

Griechenlands" — Ihr werdet die lächerlichen Fesseln, womit Ihr<br />

sie angekettet habt, von ihr abnehmen! Ihr werdet gehorchen;<br />

nicht wie ein besiegter Tyrann, nicht wie ein erschreckter Sklave<br />

— denn auch Ihr seid sehend geworden und wißt, daß die Freiheit<br />

des Weibes die Grundlage aller menschlichen Befreiung ist. Wir<br />

wissen es, Ihr denkt nicht alle so. Gegenseitiges Mißtrauen hat in<br />

Euren und unsern Reihen Platz gefunden. Wer unsere Brüder<br />

sind, die uns helfen, die Fesseln zu entfernen?!<br />

Oder hat Elsa Asenijef recht, wenn sie mahnt: „Rechnet darauf<br />

nicht, schließt Euch zusammen, schafft Eure eigene Zivilisation!''<br />

„Wie kann sie, die Leben schafft und er, dessen vornehmste<br />

Tugend Mord heißt, gemeinsames haben?"<br />

Lassen Sie uns hier einen Augenblick verweilen. Eine Frauen-<br />

Zivilisation! Also Kampf zwischen beiden Geschlechtern. Ist das<br />

die Rettung? Hie Tyrann, hie Sklave! Wiederum die Losung? —<br />

Eine Frauen-Zivilisation wäre genau so einseitig, genau so unsittlich<br />

wie die heutige Männer-Zivilisation und genau so ungerecht.<br />

Freiheit? Schade um den schönen Enthusiasmus Asenijefs.<br />

für die schlechte Sache!<br />

Freiheit? Das — Freiheit?<br />

Ich glaube an eine freie starke Kameradschaft<br />

zwischen beiden Geschlechter. Nur der Einklang zwischen dem<br />

Verschiedenen soll uns die schönere Kultur der Zukunft bringen. —<br />

Aber jetzt bin ich von meinem Thema abgekommen. Wo<br />

sind die Männer, haben wir gefragt, die uns helfen wollen?<br />

Da sind die Konservativen. Wehe Euch, wenn Ihr an Euren<br />

Ketten rüttelt! rufen sie zurück. Da sind die Theoretiker; sie<br />

sprechen von der Notwendigkeit der Selbstbestimmung des menschlichen<br />

Geschöpfes etc. etc. Um des Himmels willen! laßt uns<br />

jetzt nicht Theorien besprechen! Im einfachen praktischen Leben<br />

müssen wir beginnen. Wollt Ihr fortfahren, Eure freie Gefährtin<br />

„Eure Frau" zu nennen? Wollt Ihr es bestimmen, wann und wie sie<br />

Leben spenden soll, wie oft sie den Schöpfertod sterben, darf —<br />

denn wißt, ein Sterben ist jedes Geborenwerden, ein Vergehen<br />

jedes Werden. — Soll „Eure Frau" wie bisher „Eure Familie"<br />

repräsentieren, Eure Ansichten, Euren Geschmack, Euer Geld?<br />

Muß sie „Euer Kind" nach Eurem Sinn erziehen? Muß sie noch<br />

ferner Puppe oder Lasttier sein?<br />

Dann hört, was der Schüler, den Ihr künstlich so lange<br />

unwissend erhielt, Euch antworten will.


— 277 —<br />

Eure Frau? Ach ja: die „Königin Eures Hauses", Eure<br />

Königin! Selbst ein Ruskin wußte Euch noch kein besseres Ideal<br />

zu geben; und auch Asenijef, eine denkende Frau, spricht von<br />

dieser Königinstellung. Freilich faßt sie dieselbe etwas anders auf<br />

als Ihr, denn sie ist eine Männerverächterin.<br />

Euer Ideal lautet — Ihr könnt mich gern unterbrechen, wenn<br />

ich nicht recht habe ungefähr so —:<br />

Die Frau ist die Königin des Hauses, der Hort, wo seine,<br />

des Mannes Seele immer und allezeit Ruhe, Harmonie, Liebe<br />

wiederfinden kann; sie ist die Hüterin seines Gewissens, sein Hafen<br />

nach der Unrast auf dem Meere des Lebens . . .<br />

Dies ihr Daseinszweck! Für ihn! Für ihn! (O, daß Ihr<br />

doch weniger Egoisten wäret!)<br />

Für sich selber wollte er die Weite der Erde zur Verfügung<br />

haben, seine Individualität soll sich ausleben, selbst wenn es durch<br />

Schiffbruch und Schuld geht:<br />

Ich bin nur durch die Welt gerannt,<br />

Ein jed' Gelüst ergriff ich bei den Haaren,<br />

Was mir nicht paßte, ließ ich fahren,<br />

Was nicht genügte, ließ ich ziehen.<br />

Ich habe nur gewünscht und nur gedacht,<br />

Und abermals gewünscht — und so mit Macht<br />

Mein Leben durchgestürmt — — —<br />

Nun wohl! Wir Frauen fordern dasselbe Recht: Wir wollen<br />

unser Leben stark und frei gestalten, wir brauchen den Kampf mit<br />

dem Leben mitten in der Welt, zur Entwicklung unserer Persönlichkeit.<br />

Wir verweigern es, in der geforderten „liebenden" Passivität<br />

dazusitzen, ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen, der unsere<br />

Harmonie stören könnte, da Er unsere Harmonie braucht.<br />

Er braucht den ruhigen Hafen, sagt er, in welchen er sich nach<br />

allen Stürmen flüchten will, in dem er sich selbst immer wieder<br />

finden will. (O, daß Er nicht so erzegoistisch wäre!?)<br />

Kain hatte Recht im gewissen Sinne: „soll ich meines<br />

Bruders Hüter sein?" Keiner kann des andern Hüter sein. Jedes<br />

freie Geschäft findet Ruhe und Halt allein im eigenen Gewissen;<br />

wenn nicht, kann kein Gott ihm helfen.<br />

„Eure Frau" — in der freien Ehe kann es kein „Mein" mehr<br />

geben. „Eure Familie" — die Welt soll der Mütterlichkeit des<br />

Weibes gehören.<br />

Haben wir die Gesetze der Entwicklung des Lebens nicht<br />

besser erforscht in den letzten Jahrzehnten? Ihr und wir sind zu<br />

einem Verstehen der Größe der persönlichen Verantwortung bei der<br />

Erzeugung neuer Wesen gelangt, wie nie eine Zeit vor uns.<br />

Der Mensch hat die Kontrolle über jene sexuale Instinkte<br />

längst verloren, sagt Ihr. So hört, im Namen des Heiligsten, das


— 278 —<br />

wir kennen, daß die Frau solche Männer nicht mehr anerkennen<br />

kann; sie gehören zu der alten Welt, ihre Ethik ist alte Ethik.<br />

Unsere Kinder müssen Väter haben, die über das Tier hinausschaffen<br />

werden. Wie anders kann auf Erden der Uebermensch<br />

geboren werden?<br />

Sind solche Männer heute nicht da — wozu dann Kinder?<br />

Laßt lieber das Geschlecht aussterben. Aber das wird es ja so wie so<br />

nicht, denn die Millionen Frauen unterwerfen sich heute noch.<br />

Die freie, wissende Frau aber will Euch nicht mehr anerkennen!<br />

Mutterrecht soll ihr Recht sein, sie — die „Arche und<br />

Wiege des Menschengeschlechts".<br />

Was nun endlich die Erziehungsfrage anbetrifft — was? ruft<br />

Ihr aus; haben wir die Verantwortung der Kindererziehung nicht<br />

immer in ihren Händen gelassen? Jetzt seid ehrlich: war das<br />

etwa in Anerkennung ihrer Mutterwürde, ihrer besseren Befähigung?<br />

Seit ehrlich! sage ich. Der Mann war ökonomisch gezwungen mehr<br />

außerhalb der Familie verweilen zu müssen, und da er nicht alles<br />

zu gleicher Zeit „selber" sein kann, blieb nichts übrig als der<br />

Mutter die Kinder — anzuvertrauen, wobei er aber nicht versäumte,<br />

seine oberste Autorität in der Erziehungsfrage als feststehend<br />

zu proklamieren.<br />

Es ist nur eine Konsequenz dieser Tatsache, wenn man<br />

heute Männer diskutieren hört, ob es nicht ratsamer sei, daß<br />

Weib möglichst unwissend zu erhalten, da ungebildete Frauen<br />

„bessere" Mütter und Erzieher wären ....<br />

Ja — „Wissen und Unabhängigkeit sind bei einem Sklaven<br />

unangenehme Eigenschaften", sagt Edward Carpenter.<br />

Soll in Zukunft nun die Frau das Recht zur Erziehung der<br />

Kinder ausschließlich für sich verlangen? Nimmermehr könnte sie<br />

das tun.<br />

Das Kind braucht Vater und Mutter zu seiner Entwicklung,<br />

und das gemeinsame Interesse an der Erziehung, der Vollendung<br />

eines Kindes, ist das starke, unzerreißbare Band zwischen Mann<br />

und Frau.<br />

Es sind grenzenlose Möglichkeiten, deren das menschliche<br />

Geschlecht entgegen geht.<br />

Laßt uns den Weg zur Höhe gemeinsam betreten. Nur<br />

gemeinsam werden wir die ewige Schönheit des Lebens ganz verstehen<br />

können!<br />

Hertha Vesta.


— 279 —<br />

Philosophische Grundprinzipien<br />

des Anarchismus.<br />

Die große Grundfrage aller, speziell der neueren wissenschaftlichen<br />

und praktischen Forschung über das Gesellschaftsleben ist<br />

die nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Je<br />

nachdem diese Frage auf die eine oder die andere Weise beantwortet<br />

wird, spalten sich die Gelehrten und ihre Anhänger in verschiedene<br />

Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Individuums<br />

hervorheben und in letzter Instanz jede Form der Regierung über<br />

das einzelne Wesen energisch ablehnen, bilden das Lager der<br />

Anarchisten.<br />

Um ins Wesen des Anarchismus einzudringen, seinen Inhalt<br />

begrifflich zu bestimmen, haben wir vorerst die Individualitätsfrage<br />

genauer zu betrachten. Es ist bekannt, wie sehr es an einer<br />

tieferen Einsicht zur Lösung dieses Kardinalproblems fehlt. Das<br />

menschliche Bewußtsein stellt im Leben des Menschen einen funktionellen<br />

Widerspruch dar und unterscheidet seine eigene geistige<br />

Existenz von jener der Leiblichkeit. Nun sind die Philosophen bis<br />

zum heutigen Tage außerstande, nachzuweisen, wie es möglich sei,,<br />

die Realität beider Lebensphären einheitlich ins Auge zu fassen<br />

und sind dadurch in Verirrungen des richtigen Gedankens total<br />

versunken, ja schweben im Aether der phantastischen Ideen. Was<br />

den größten bekannten Geistern fehlt, ist das absolute Erkennen,<br />

das Begreifen der Individualität, wie sie vom Menschen vertreten<br />

wird. Hypothesen und Hirngespinste werden erfunden, aus welchen<br />

zur Evidenz der Sache nichts hervorgeht. Es wird die Denktätigkeit<br />

als ein unendliches Wesen oder Phantom verstanden, wo doch<br />

diese Funktion das Allerrealste bedeutet, denn was die Größe<br />

dieser Tätigkeit ausmacht, ist ja das Positive ihrer Gesetzmäßigkeit.<br />

Dies Leben aber ist hier in individueller Form der Grenzenge:<br />

das geistig denkende Ich selbst.<br />

Wenn sich dies nun so verhält, so ist ohne weiteres einzusehen,<br />

daß der Individualcharakter zunächst mit der individuellen<br />

Beschaffenheit des Gehirnes, mit den von äußeren Verhältnissen<br />

bedingten Eindrücken organisch zusammenhängt, der Mensch mithin<br />

ein Wesen aus einem Guße darstellt.<br />

Aus dieser Betrachtung geht ferner hervor, daß der Mensch<br />

auch auf sozialem Gebiete nach kultureller und ökonomischer<br />

Freiheit strebt. Auf den ersten Blick erscheint es


— 280 —<br />

sonderbar, daß wir das soziale Problem in engste Verbindung<br />

mit der Ich frage bringen. Bedenkt man aber, wie die Menschen<br />

bis zur Entdeckung des Gesetzes der Selbstentwicklung in der<br />

Gesellschaft lebten, andererseits den Umstand, daß Mechanik und<br />

Technik in erster Linie nach dem Stande der Mathematik sich<br />

gestalten, so begreift man, wieso eine funktionelle Beziehung zwischen<br />

dem theoretischen und praktischen Leben möglich ist.<br />

Innerhalb der modernen Gesellschaft herrscht eine Minderheit<br />

über das Volk der Arbeiter, das in ewiger Not, Sklaverei und<br />

Verachtung seitens der Regierung und allen übrigen Machtsphären<br />

Kleidung, Nahrung und sämliche Waren, wovon die Menschen<br />

leben, produziert. Dieses kommt daher, daß, so lange der Mensch<br />

sich selbst als ein atomartiges, zusammengeschrumpftes Wesen<br />

schaut, er unter allen Umständen als den Endzweck seines Lebens<br />

die relative materielle Glückseligkeit und das sinnlich-persönliche<br />

Wohlleben betrachtet, ohne den sonderbaren Umstand zu bemerken,<br />

daß sein Wohl von anderen Persönlichkeiten abhängig ist, die aber<br />

genau dieselbe Ansicht vom Menschenleben haben und den ganzen<br />

Lebensprozess genau so sinnlos auffassen, wie er. Das ist nun<br />

der Grund für die Tatsache, daß es Menschen gibt, die sich für<br />

berufen halten, über andere Wesen zu regieren und sie im allerrohesten<br />

Kampfe mit Arbeitslasten zu überbürden. Dies ist einzig<br />

und allein die eitle Selbstbespiegelung der inneren Bewußtseinsentwicklung<br />

des Menschen und wie viel wir auch sinnen und grübeln,<br />

ist dieser von uns bisher apriori erkannte Kampf um die Macht,<br />

kein zufälliger, oder eine aus der Unnatur des Menschen folgende<br />

und auf immer feststehende Eigenschaft, sondern ein notwendiges<br />

Resultat seiner Denkart, die hier nicht mehr<br />

menschlich, sondern das Tierische des Raubtieres verkörpert.<br />

Wir haben gesehen, daß die Individualität oder die Vernunft<br />

das einzige ist, was wir unmittelbar kennen. Das Erkennen der<br />

Vernunft ist das Gesetz, nachdem das Leben innerlich und äußerlich<br />

sich vollzieht. So erscheint der Vernunftprozeß als ein fortschreitender<br />

Progreß, der alle lebenden Menschen verbindet.<br />

Für diejenigen, welche den Begriff der Entwicklung des<br />

Weltalls in ihrem Selbst erfaßt haben, kann es nicht zweifelhaft<br />

sein, daß die Menschen einer so hohen Steigerung des Selbstbewußtseins<br />

fähig sind und all das soziale Uebel unter bestimmten<br />

Voraussetzungen überwinden können, aus welchem die individuelle<br />

Willensvereinigung, die Hoffnungslosigkeit, die Halbschatten der<br />

Unsittlichkeit hervorgehen.<br />

Hier sind wir auf den Punkt gelangt, wo der Anarchismus<br />

ein historisches Element gewinnt, welches die Basis seines Bestehens<br />

und Entwickeins bilden kann. Die Konsequenz der universalen


— 281 —<br />

Betrachtung der Individualität ist zunächst die, daß wir den Nebel<br />

der alten Kultur: Die Gesamtheit menschlicher Lebensverhältnisse,<br />

vor der Sonne der Passivität aufgehen und ein neues geistiges<br />

Leben in seinen wesentlichen Zügen zur Gestaltung gelangen lassen..<br />

Und in der Tat zielt die Kulturbewegung des Anarchismus der<br />

neueren Zeit darauf hin, alle fixen Ideen der Göttlichkeit<br />

und Despotie abzuschaffen, jede Form der heute<br />

bestehenden juridischen, religiösen und politischen<br />

Einrichtungen hinwegräumen, die Waffen<br />

der physischen Gewalt und jedes Druckes, die Tyrannei<br />

des Glaubens zu bekämpfen und gegen die dogmatische<br />

Knebelung der Gedanken und Meinungen<br />

sich zu empören. Das ist es, was uns veranlaßt, auf der Basis<br />

der allgemeinen internationalen Solidarität die Produktion<br />

und Austauschweise zu ordnen und alle Machtinteressen:<br />

Staat, Militarismus, Parlamentarismus<br />

und Patriotismus zu verwerfen. Die Anarchie besteht<br />

nicht nur in der Befreiung des Einzelnen vom methaphysischen<br />

Aberglauben, von sophistischen Tüfteleien, sondern auch im Losreissen<br />

vom Joche des Kapitalismus, in der freien Vereinbarung<br />

der innerlich erlösten Individuen, im Erkennen<br />

eines höheren Solidaritätsgefühls, welches jede Staatsautorität, alle<br />

Herrschaft und Gesetze von Grund aus beseitigt. Demnach ist<br />

jedes Mittel anzuwenden, welches zur Aufklärung, Belehrung und<br />

Organisierung der Volksmassen dient, denn nur qualitativ neue<br />

Menschen, die vor der herrschenden Macht nicht in den Staub<br />

sinken, sind imstande, in einer Gemeinschaft betätigend zu sein,<br />

welche auf der Grundlage der natürlichen Sittlichkeit, des freien<br />

Zusammenlebens beruht. Es hat der Anarchismus in der Kulturgeschichte<br />

eine positive Bedeutung der Auflösung der alten überlebten<br />

Weltanschauung und ist trotz aller Verfolgung und Herabsetzung<br />

das Leuchten eines neu aufdämmernden<br />

Lebens und der Vorkämpfer einer universellen Weltepoche,<br />

unüberwindlich, was eine der höheren Kulturstufe entsprechende<br />

Quelle der welterlösenden Macht der Freiheit ist.<br />

Das kennzeichnende Merkmal, welches diese neue Welt von<br />

der alten unterscheidet, ist das potenziertere Erkennen, das Einswissen<br />

unseres Selbst mit der Allwirklichkeit und das Schauen des<br />

soliden Gedankenlichtes in jedem Einzelnen unter uns, welches<br />

alsdann einen praktischen Zweck, einen Nutzen und Gewinn für<br />

die Gesamtheit verfolgt.<br />

Wenn die Sozialdemokraten daher betonen, daß im gesellschaftlichen<br />

Leben Klassenkampf und Kultur in der Oekonomie<br />

eingeschlossen sind, so ist zuzugeben, daß die Wirtschaftslage<br />

Voraussetzung und Resonanzboden der allgemeinen Geistesexistenz


— 282 —<br />

ist, aber ihren konkreten Inhalt immerhin erst von den vorhandenen<br />

Gewaltinteressen gewinnt, welche eben im Bereiche der tiefstehenden<br />

Denktätigkeit des Menschen fundieren. Ja, wir können behaupten,<br />

daß die Produktion und der Warenaustausch, welche gesellschaftlichen<br />

Faktizitäten nach dem Marxismus das Fundament und den<br />

Ausgangspunkt für die Erklärung der Entwicklung des sozialen<br />

Standes der Kultur und Ideologie bilden, erst durch das jeweilige<br />

Rechtssystem geregelt werden und sich nicht in automatischer<br />

Weise aus den vorhergegangenen Verhältnissen heraus entwickeln,<br />

oder nach den Engelsschen Modifikationen sich nicht in letzter<br />

Instanz durch alle nebensächlichen, idealen Faktoren durchsetzen.<br />

Aus all diesen tiefgeschichtlichen Forschungen und Auffassungen<br />

der Ursachen der verschiedenen wirtschaftlichen Stufen der Produktions-<br />

und Austauschweise entspringt auch die Verschiedenheit im<br />

Ziele und Wege zu diesem zwischen den sozialistischen Richtungen,<br />

und so finden wir, daß der Anarchismus das großartige Bild eines<br />

mächtigen Kulturaufschwunges voll kräftigen Lebens bietet.<br />

„Der Anarchismus gründet seine Theorie, sein herrlich ideales<br />

Strebensziel auf das befreite Individuum, auf die freie Individualität<br />

des Menschen. Er erblickt in der gesamten Weltgeschichte, in<br />

allen Epochen staatlicher Lebensbetätigung nichts als die Verheerung<br />

und Verwüstung eben dieser menschlichen Individualität, die<br />

gewaltsame Erstickung all der erhabenen Entfaltungsmöglichkeiten,<br />

die jedem Menschen eigen sind. Jahrtausende der Gewalt haben<br />

aus dem Menschen in der Tat ein Gewaltwesen gemacht und eine<br />

Befreiung des Menschen muß somit bei dem Menschen selbst<br />

anheben: er muß sich frei machen von all den unzähligen Hüllen<br />

der Gewaltsmoral, der Autoritätsgier, den schmachvoll niederen<br />

Leidenschaften der Erwerbssucht, der kleinlichen, verkrüppelten<br />

Gesinnung, die ihn, den ganzen Menschen, als einen Krüppel im<br />

Gegensatz zu einem wahren, sich edel, voll entfaltenden Menschen<br />

erscheinen lassen.*)<br />

*) Vergl. Ramus, „Das anarchistische Manifest".<br />

Julius Skall.


— 283 —<br />

Ein Wort an die Oeffentlichkeit.*)<br />

Wie gerne hätte ich mich noch weiter in Schweigen gehüllt<br />

und vor allem der Ruhe gepflogen, um meine Gesundheit wieder<br />

zurückzugewinnen! Aber es scheint, es geht nicht an. Ich halte<br />

nicht viel von lärmenden Kundgebungen und seit meiner Ausweisung<br />

aus Constantinopel habe ich vor allem darnach getrachtet,<br />

nicht das Objekt von Reklame zu werden. So tief war der Wunsch<br />

nach Sammlung und das Verlangen nach etwas Ruhe, daß ich<br />

sogar auf viele mir sehr liebe Briefe, die mich ob meiner Befreiung<br />

beglückwünschten, nicht antwortete. Und ich glaubte, darin richtig zu<br />

handeln, denn es ist gegenwärtig für mich die Hauptsache, meine<br />

verlorenen Kräfte wieder zu gewinnen, um mich ganz und voll<br />

in die Reihen der Kämpfenden stellen zu können.<br />

Einige Kameraden dachten anders darüber, wiederholt gaben<br />

sie mir ihr Mißvergnügen über meine Zurückgezogenheit zu erkennen.<br />

Sie scheinen es nicht begreifen zu können, daß nicht jeder ein<br />

ehernes, unzerrüttbares Nervensystem besitzt, und daß der Kampf<br />

wider Krankheit und die Sorge wegen des Daseins momentan<br />

mehr als genug sind, um mich geistig zu beschäftigen. Aber ich<br />

habe mit den Kameraden nicht gerechtet und werde es auch nicht<br />

tun, da ich weiß, daß diejenigen Freunde, die mich kennen, meinen<br />

Zustand begreifen lernen werden.<br />

Allein es sind nicht nur die Freunde, die es nicht für sinnreich<br />

erachten, daß ich mit meinem ausgestandenen Leid kein<br />

großes Tamtam mache, die mich zum Auftreten anspornen wollen.<br />

Minder ehrliche Leute verlegen sich darauf, indem sie Ausdrücke<br />

gebrauchen, die in Verbindung mit der mich berührenden Angelegenheit<br />

verletzend wirken. Es geschieht dies mit dem ungeheuchelten,<br />

klaren Zwecke, nicht bloß mich — was schließlich<br />

unbedeutend wäre —, sondern vornehmlich die Sache, die ich mit<br />

meiner Persönlichkeit vertrete, zu kompromittieren. Und das<br />

Gemeinste dabei ist, daß die Menschen, die solches an Gewissenlosigkeit<br />

leisten, sich für diese kleinen Gefälligkeiten von den Handlangern<br />

des türkischen Sultan Abdul Hamid bezahlen lassen.<br />

*) Dieser Aufsatz unseres belgischen Kameraden enthält nebst rein<br />

persönlichen Angelegenheiten so viel des Aufklärenden über seine<br />

plötzliche und unerwartete Befreiung, daß wir ihn unserem deutschen<br />

Leserkreise vorlegen zu müssen glaubten. Er ist eine Uebersetzung<br />

aus der belgischen Revue „Ontwaking" und bringt des Wesentliche des<br />

Originals.


— 284 —<br />

Daß Hoflakaien wie ein Herr Nicolaides nichts Gutes über<br />

mich zu sagen haben, ist mir natürlich und ehrend. Das Blatt<br />

dieses Herrn, der Brüsseler „L'Orient" überfließt von Schmeicheleien<br />

für den Sultan und dessen Kamarilla. Bemerkenswert ist nur, daß<br />

dieser selbe Herr, der von der französischen Regierung unter der<br />

Beschuldigung ausgewiesen wurde, ein türkischer Spion zu sein,<br />

hier bei uns, im unabhängigen, „freien" Belgien ganz ungeniert<br />

sein Spiel treiben darf. Belgien legt dadurch keine besondere<br />

Ehre ein, doch dafür profitiert eine ganze Bande von Menschen<br />

aus diesem unwürdigen Zustand und schließlich war das „Geldverdienen"<br />

noch stets die Hauptsache für alle edlen Kaufleute.<br />

Dieses ganze Spionagesystem, dieses Schreiben der Publizistik<br />

im Interesse und im Einklang mit den Bedürfnissen eines asiatisch<br />

regierten Landes Europas bringt es mit sich, daß auch minder<br />

unehrliche Menschen mitgerißen werden von dem Strom der Allgemeinheit<br />

und von den Lügen dieser bezahlten Presse. So kam es<br />

auch, daß unlängst, anläßlich der Taufe eines von Stapel laufenden<br />

Schiffes, auf einem Bankett, das zu Ehren dieser Gelegenheit stattfand,<br />

ein gewisser Herr Greiner sich zu einem Toast aufschwang,<br />

der darin ausklang, daß der Sultan „ein großherziger Fürst"<br />

sei, „da er erst jüngst einen unserer Landsleute<br />

begnadigte, obwohl dieser eine solche Huld nicht<br />

verdient hatte..."<br />

Wenn es der Gesundheit des Sultan durchaus notwendig,<br />

daß über mich mit Verachtung gesprochen werde, so lasse ich es<br />

ruhig dahingehen, Abdul Hamid wird seinem Regierungssystem<br />

ja doch zum Opfer fallen und mittlerweile fühle ich mich durch<br />

solche Verachtung nur geehrt.<br />

Immerhin ist es sehr betrübend, dieses feige Treiben vom<br />

Sultan beobachten zu müssen. Hat es Herr Greiner unbedingt<br />

nötig, vor dem Sultan eine Kniebeuge zu machen? Wenn ja, dann<br />

erfüllt tiefes Mitleid mein Herz. Armer Mann, wie tief stehst Du,<br />

obwohl steinreicher Kapitalist, unter dem einfachsten Plebejer!<br />

Der Gedanke, daß dem wirklich so sein mag, benimmt mir die<br />

Lust> diesem Manne die Meinung zu sagen, ihm diejenigen Wahrheiten<br />

ins Antlitz zu schleudern, die jeder verdient, der, um seinen eigenen<br />

Vorteil zu fördern, die Gewissenlosigkeit und Selbstentehrung so<br />

weit treibt, die Ehre eines anderen, anständigen Menschen in den<br />

Staub zu treten.<br />

Ich wende mich lieber der für viele interessanteren und<br />

wichtigeren Frage zu, weshalb mich der Sultan frei ließ.<br />

Der Auslieferungsvertrag des Jahres 1838 zwischen Belgien<br />

und der Türkei ist allzubekannt, um ihn hier folgen zu lassen.<br />

Der Inhalt desselben ist so einfach und klar, daß von jedwedem<br />

juristischen Standpunkt aus betrachtet, der Sultan nicht das


— 285 —<br />

geringste Recht besaß, mich über zwei Jahre eingekerkert zu halten,<br />

ja nicht die Machtbefugnis hatte, mich irgend einem türkischen<br />

Richter vorführen zu lassen. Im Laufe der letzten Jahre ist all<br />

dies durch Vertreter der verschiedensten politischen und juridischen<br />

Richtungen dargelegt worden. Daß der Sultan dennoch im<br />

striktesten Gegensatz zu dem handelte, was man die Geistesmeinung<br />

Westeuropas nennen darf, ist nur im Einklang mit der traditionellen<br />

türkischen Politik, die da lehrt: Man darf ein den Schwachen<br />

gegebenes Wort treulos brechen, darf gewissenlos die Rechte<br />

anderer schänden, blos weil diese anderen schwach und machtlos<br />

sind ! — Und in diesem Vorgehen des Sultan fiel keine der<br />

europäischen Mächte ihm in den Arm, obwohl es eine ihrer Hauptpflichten<br />

gewesen wäre, wie sie ja auch nach dem Berliner-Verträge<br />

verpflichtet, das Los der Armenier zu schützen, zu lindern — leider<br />

aber gar nichts tun.<br />

Es muß eine ganz andere Ursache für meine Befreiung gegeben<br />

haben, als es die „Güte" und der „Edelmut" des Sultan sind!<br />

Und ohne alles das sagen zu können, was ich in Verbindung mit<br />

dieser Angelegenheit weiß, verweise ich auf das nachdrücklichste<br />

auf den Amsterdamer anarchistischen Kongreß, auf dem beschlossen<br />

wurde, daß die erste, kraftvoll und international einzusetzende<br />

Agitationssache der neuen „Internationale" jene von Joris sein sollte.<br />

Von diesem Beschlüsse des anarchistischen Weltkongresses<br />

hat der Sultan Kenntnis erhalten durch diejenigen Menschen, deren<br />

Beruf es ist, derlei Dinge an die behördlichen Orte gelangen zu<br />

lassen. Es waren nichts anderes als sehr beklemmende Gedanken<br />

und Befürchtungen, die infolge dessen den Sultan beschlichen und<br />

ihn zu meiner schleunigsten Ausweisung — denn ich bin ausgewiesen,<br />

nicht begnadigt! — veranlaßten. Und um zu beweisen,<br />

daß es nur dergleichen Momente waren, die den Sultan in seinem<br />

Tun bestimmten, biete ich hiermit einen Artikel eines geheimen<br />

jungtürkischen Blattes dar, der ein grelles Licht auf diese Sache<br />

wirft. Es handelt sich um das Parteiorgan „Mechvered" und der<br />

Artikel ist betitelt „Kaiserliche Sanftmütigkeit". Er<br />

lautet im Auszuge:<br />

„Eduard Joris, ein belgischer Untertan, der vor mehreren Jahren<br />

in dem Anschlage auf das Leben des Sultan verwickelt, zum Tode<br />

verurteilt und dann Jahre lang eingekerkert war, ist dieser Tage ein<br />

Gegenstand kaiserlicher „Großmut" geworden.<br />

Es ist nicht unsere Sache, den Anteil, den Joris am Attentat gehabt haben<br />

soll, zu untersuchen. Wir wissen nur, daß er schuldig erkannt wurde<br />

von einem Kriminalgericht zu Stambul, das Urteil jedoch nicht ausgeführt<br />

wurde. Verschiedene Personen, die als Mitschuldige Joris figurierten,<br />

wurden prozessiert und mußten entweder sterben oder wurden ins<br />

Gefängnis geworfen, wo sie noch heute schmachten.


— 286 —<br />

Dieweil nun Joris der huldvollen Großmut des Sultan teilhaftig wird,,<br />

stöhnen die übrigen noch in den Verließen und<br />

sind den geheimen Folterungen Abdul Hamids<br />

unterworfen! Warum ging er frei und sie nicht? weil sie, die<br />

Unglücklichen, ottomanische Untertanen — Armenier oder Türken —<br />

sind, unter der Blutmacht des Sultans fallen.<br />

Was Joris anbetrifft, ist es nicht allein seine glückliche Eigenschaft,<br />

ein Fremdling zu sein, die ihm seine Freilassung verschaffte. Es wurde<br />

auch bekannt, daß Joris ein Anarchist ist und Abdul Hamid, der die<br />

Literatur der Dynamit- und Bombenverfertigung genau kennt, hat es<br />

nicht gewagt, ihn zu köpfen, aus Furcht vor der Rache seiner Kameraden.<br />

Sei dem, wie ihm wolle. Eines ist gewiß: Joris kehrt nach seiner<br />

Heimat zurück, während die unglücklichen Türken und Armenier im<br />

Gefängnis schmachten. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie niemals<br />

mehr herauskommen werden, es sei denn nach dem Sturze der bestehenden<br />

Regierungsform.<br />

Dasselbe kann von 150 neuen Opfern des Sultans gesagt werden,<br />

die zu Erzerum gefangen gehalten werden. Das Verbrechen dieser<br />

tapferen Patrioten bestand darin, die Einführung einer neuen Grundund<br />

Bodenbesteuerung gefordert und dieser Idee — was man in Westeuropa<br />

Bodenreform nennt — gedient zu haben. Schon sind drei<br />

dieser edlen Soldaten höherer Menschheitspflicht — zwei Türken und<br />

ein Armenier — der barbarischen Behandlung und Folterung, der man<br />

sie unterwarf, erlegen. Doch dies wird den Freiheitsgedanken, von<br />

dem sie erfüllt sind, nicht brechen können, und die Lichtstrahlen der<br />

Seelengröße dieser Tapferen werden den Geist der breiten Massen<br />

erleuchten!"<br />

Nachdem der Sultan es während mehr als zwei Jahren hindurch<br />

mit allen erdenklichen Leiden versucht hatte, mich zu beseitigen,<br />

verging ihm schließlich die Lust dazu, und er fand es geratener,<br />

mich über die Grenze zu jagen.<br />

Die einzige Bedingung, die er mir stellte, damit ich frei<br />

werde, bestand in der Unterzeichnung eines Schriftstückes, in dem<br />

gesagt ward, daß ich mich feierlich verpflichte, mich in keiner<br />

Weise an einem Anschlag auf das sultanische Leben zu beteiligen.<br />

In diesem einen Punkte werde ich wohl mein Wort halten. Aber<br />

die Tatsache, daß er es für dringend erachtete, mich vor meiner<br />

Freilassung ein solches Schriftstück unterzeichnen zu lassen,<br />

beweist mir und allen Denkenden zur Genüge, daß der Sultan es<br />

für sehr zweckmäßig erachtete, mich schließlich auf anständige Art<br />

und Weise los zu werden, als sich den möglichen Folgen einer<br />

von der anarchistischen „Internationale" in die Wege geleiteten<br />

internationalen Agitation gegen ihn auszusetzen.<br />

Ich hoffe, daß die im Laufe dieses Aufsatzes auseinandergesetzten<br />

Umstände es deutlich genug erkennen lassen, wieso es


— 287 —<br />

kam, daß der Sultan mich „befreite" und daß über die tieferen<br />

Ursachen nun kein Schleier eines Geheimnisses mehr gelegen ist.<br />

In Wahrheit ließ er mich nicht frei — sondern ich wurde<br />

ihm eigentlich entrissen! Bis heute schmachten meine<br />

sog. „Mitschuldigen" in den türkischen Verließen. — — —<br />

In der gegenwärtigen Gesellschaft erhalten nur diejenigen ihr<br />

Recht, die die Macht besitzen, um es sich wahren zu können. In<br />

der internationalen Vereinigung der ehrlichen und freiheitliebenden<br />

Kämpfer liegt die Macht und Kraft, um allen Tyrannen entgegentreten,<br />

alle Erdrosselungen des Rechts und der Gerechtigkeit aufhalten<br />

zu können, kurz um es so weit zu bringen, daß wenigstens<br />

das einfachste, natürliche Menschenrecht von den Herrschenden in<br />

Ehrerbietung gehalten wird.<br />

Eduard Joris.<br />

(Uebersetzt aus dem Belgischen von Sergejew.)<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Wieder ist es dem amerikanischen Staat gelungen, die Zeitschrift<br />

des 80 jährigen Moses Harman (The American Journal of Eugenics),<br />

die sich vornehmlich mit Anschauungen über den von allen staatlichen,<br />

wie bürgerlich-arroganten Anmaßungen befreiten Geschlechtsverkehr beschäftigt,<br />

zu unterdrücken, indem dem Blatte von den Postbehörden der<br />

Versand unter den gewöhnlichen Zeitungsbedingungen untersagt wurde.<br />

Als Harman nach der letzten Verurteilung zu einem Jahre aus dem<br />

Gefängnis heraus kam, wandelte er die bis dahin wöchentlich erscheinende<br />

Zeitschrift in eine reguläre Monatsrevue um. Aber auch dies half nichts,<br />

denn von den erschienenen 6 bis 7 Nummern ist der Inhalt von rund<br />

4 Nummern als obscön und „unversendbar durch die Post"(!) erklärt<br />

worden. — Der gehetzte Mann will nun seine Publikationsstadt aufgeben,<br />

Chicago verlassen und im Westen, im Staate California, aufs neue die<br />

Herausgabe der Zeitschrift versuchen.<br />

Kein Land, in dem die Prostitution des Geistes und des Körpers<br />

auf allen Gebieten des bürgerlichen Erwerbes schöner gedeiht als in<br />

Amerika. Ist es vielleicht darum, weshalb diese einzig große Lüge der<br />

Demokratie die Lehre von freier Liebe und reinen menschlichen Intimitätsbeziehungen<br />

mit solcher Berserkerwut verfolgt, um die Prostitution seines<br />

eigenen Wesens zu verhüllen? Möglich; doch die Prostitution wird untergehen,<br />

damit die Liebe sich siegreich Bahn brechen, neues, unsterbliches<br />

Leben erobern kann.


— 288 —<br />

Bibliographie.<br />

In deutscher Sprache.<br />

M. W. Nowurusky. Achtzehneinhalb Jahre hinter russischen<br />

Kerkermauern. Schlüsselburger Aufzeichnungen. Verl. B.Behr, Berlin 1908.<br />

Hektor Zoccoli. Die Anarchie; ihre Verkünder, Ideen und<br />

Taten. Versuch einer systematischen und kritischen Uebersicht, sowie<br />

einer ethischen Beurteilung. 1. Lieferung, Preis 60 Pfg, Verlag Maas<br />

und van Suchtelen, Leipzig.<br />

Johann Arnos Comenius. Das Labyrinth der Welt und<br />

das Paradies des Herzens. Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena.<br />

Valerius Briussoff. Die Republik des Südkreuzes. Novellen.<br />

Verlag Hans von Weber, München.<br />

Gerard van Hulzen. Vagabunden. Novellen. Verlag Maas<br />

und van Suchtelen, Leipzig.<br />

Der Sieg bei Jena. Ein Beitrag zur Geschichte Preußen-<br />

Deutschlands. Die letzte Schlacht. Eine zukünftige Begebenheit.<br />

Verlag „Die Einigkeit", Berlin, Alte Schönhauserstr. 20, I. Beide dieser<br />

in einer Broschüre zusammengefaßten, vorzüglichen Abhandlungen<br />

wurden jüngst konfisziert.<br />

Briefkasten.<br />

Genossen und Freunde, die bei uns Broschüren und Bücher<br />

bestellen, bitten wir zu vermerken, ob per Nachnahme zu senden,<br />

andernfalls das Geld vorher einzusenden, da wir nicht so viel Geld<br />

haben um auszulegen.<br />

Genossen und Freunde, die im Besitze der Hefte 2, 5 und 7 der<br />

„<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" sind, bitten wir so bald als möglich, unter Zurückerstattung<br />

der Kosten, selbige an die Adresse:<br />

H. Mertins, Berlin N.W. 52, Werfstr. 2,<br />

zu senden.<br />

An die Leser in England.<br />

Genossen und Freunde!<br />

Durch die teilweise Nachlässigkeit, unvorhergesehene Hindernisse<br />

und „last but not loust" wegen Mangel an „Praß", durch die versäumende<br />

Berappung der Abonnementsgelder, ist das Expeditionsrad der Revue<br />

für einige Zeit zum Stillstand gekommen.<br />

Es wird jedoch in Zukunft alles angewandt werden, um Unregelmässigkeiten<br />

zu verhindern. Andererseits erwarten wir, daß. alle sympatisierenden<br />

Freunde, es nicht versäumen werden, ihr Abonnement oder<br />

freiwillige Beiträge, sobald wie möglich, zu übersenden.<br />

Mit Brudergruß<br />

B. Mandl, Sekretär.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Berthold Cahn, Berlin.


Soeben erschienen:<br />

Kultur und Fortschritt<br />

von F. Thaumazo.<br />

Preis 5 Pf. 400 Stück 4 Mk.<br />

„Der freie Arbeiter"<br />

Anarchistisches Wochenblatt<br />

Erscheint jeden Sonnabend<br />

Geschäftsstelle: Berlin S.O. 26, Oranienstrasse 15, Hof III<br />

Bezugspreise:<br />

Monatlich durch Spediteur . . . 0.40 Mk.<br />

Vierteljährl. Kreuzband Berlin u.Umg. 1.50 „<br />

Vierteljährl. Kreuzband Deutschland 1.60 „<br />

Vierteljährlich Ausland 1.85 „<br />

Einzelnummer 0.10 „<br />

Soeben erschienen:<br />

Zur Kritik und Würdigung<br />

des Syndikalismus.<br />

von Pierre Ramus.<br />

Preis pro Stück 5 Pf. 400 Stück 4.— Mk.


Redaktion und Verlag:<br />

Dragonerstr. 14. BERLIN C. Dragonerstr. 14.<br />

Bezugspreise.<br />

Vierteljährlich per Kreuzhand Berlin und Umgegend Mk. 1,60<br />

Deutschland . . . . „ 1,60<br />

„ „ Oesterreich-Ungarn . „ 1,60<br />

„ „ Luxemburg . . . . ,,1,60<br />

Ausland „ 1,85<br />

Einzelnummer 10 Pf.<br />

Zur Propaganda!<br />

1. Gretchen und Helene . 30 Exemplare<br />

<strong>2.</strong> Pariser Kommune 30<br />

3. Evolution und Revolution . . . 30<br />

4. Kritische Beiträge zur Charakteristik<br />

von Karl Marx . . . . 30<br />

5. Das anarchistische Manifest . . 30<br />

6. Revolutionäre Regierungen . . . 50<br />

Zusammen 220 Exemplare<br />

Vorstehende 6 der besten Propagandabroschüren<br />

gebe ich bei Abnahme der angeführten Anzahl von<br />

220 Exemplaren, die einen Wert von 18,50 M. haben,<br />

portofrei mit<br />

5.— Mark<br />

ab, gegen Voreinsendung des Betrages oder Nachnahme.<br />

M. Lehmann, Berlin, Dresdenerstr. 88-89.


<strong>2.</strong> Band. Heft 12<br />

Juni 1908.<br />

Verlag H. Mertins,<br />

Berlin NW. 52, Werftstr. <strong>2.</strong>


Die <strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong><br />

Dokumente zur Weltanschauung des Anarchismus.<br />

Band <strong>2.</strong> Juni 1908. Heft 1<strong>2.</strong><br />

Einen Scheidegruß<br />

entbieten wir mit dieser Nummer dem <strong>2.</strong> Jahrgang der „<strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Generation</strong>". Und mit gemischten, vielfach sehr bewegten Gefühlen<br />

blicken wir auf das soeben beendete Jahr zurück.<br />

Nicht unversehrt entrangen wir uns ihm. Zwei Nummern<br />

unserer „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" erlagen ihm, blieben auf der Strecke<br />

liegen und fehlen in dem nun vorliegenden Jahrgang. Manche<br />

Einzelnummer bietet ein klares Gepräge von der Hast und notgedrungenen<br />

Flüchtigkeit der Herstellung dar, die das Resultat von<br />

staatlicher Verfolgung, Arbeitsüberbürdung, erst im letzten Moment<br />

eingebrachter und zusammengetragener Finanzmittel war, um die<br />

Zeitschrift, die schon verloren schien, überhaupt noch herausbringen<br />

zu können. Mehr als einmal schien alles vergebens zu sein; und<br />

doch — im letzten Augenblick kam dennoch immer wieder Hilfe<br />

durch die Getreuen der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>."<br />

Was wir zu Ende des ersten Jahrganges an auserlesenen<br />

Geistesprodukten der Weltanschauung des Anarchismus versprachen,<br />

das haben wir teilweise gehalten. Allerdings, wir gestehen es gerne<br />

ein, nur teilweise und bei weitem nicht in jenem Maße, wie wir es<br />

beabsichtigten.<br />

Aber daran waren einzelne Mißstände technischer Natur schuld,<br />

die nun größtenteils behoben sind. Im übrigen dürfen wir es nie<br />

vergessen, daß die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" ein Kind unserer arg verfolgten,<br />

viel hin und hergeschleuderten Bewegung ist. Wir alle,<br />

die wir an ihrer Existenz, an dem Weitergedeihen der Weltanschauung<br />

des Anarchismus mitarbeiten, sind gleichzeitig auch Kämpfer


— 290 —<br />

in der Tagesarena des sozialen Ringens, und aus diesem Grunde<br />

muß Nachsicht geübt werden gegenüber den Recken und Kämpen<br />

unserer im Tageswirbel sich schlagenden Bewegung, eine Nachsicht,<br />

die man nicht üben müßte, wenn man es nur mit einseitigen<br />

Theoretikern, Wissenschaftlern und Gelehrten zu tun hätte.<br />

Wir aber sind vor allem Kämpfer, und so muß eben jeder<br />

unserer Wünsche nach technischer wie geistiger Vollkommenheit<br />

stets ein Fragment bleiben. Nur in den wenigen Pausen der Erholung<br />

ist uns der ungetrübte Genuß des rein wissenschaftlichen<br />

Forschens gewährt; und gerade dann drängt sich am gewaltigsten<br />

die Empfindung von dem fragmentarischen des wissenschaftlichen<br />

Schaffens eines Kämpfers auf. Wir trösten uns mit den prächtigen<br />

Worten Bakunins, die in ihrer Einfachheit all das erschütternd<br />

Wahre dessen enthalten, was wir eben ausführten: „Mein ganzes<br />

Leben ist ein Fragment ..."<br />

In einem tritt die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>" mit denkbar besserer<br />

Ausrüstung in den dritten Jahrgang ein, als es bisher jemals geschehen<br />

konnte: Sie ist nicht mehr das Produkt des Wunsches<br />

einer oder zweier Personen, eine solche Revue zu haben, die die<br />

eigentlichen Eigentümer, während alle übrigen eben nur Leser sind,<br />

die die Zeitschrift wie jede andere kaufen. Die „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>"<br />

ist erst in diesem Jahre wahres, echtes Kollektiveigentum der Bewegung<br />

geworden; erst nun scharte sich um sie, die verzweifelt<br />

von den ursprünglichen Herausgebern bereits aufgegeben war, ein<br />

Kreis von Kameraden, die ganz allein und selbständig die Zeitschrift<br />

wieder zurück ins Leben riefen und sich gelobten, getreulich<br />

auszuharren, um, vereint mit unseren übrigen Kampfesorganen,<br />

dem kämpfenden Anarchismus das zu erhalten, was ihm gerade<br />

in dieser Zeit der Gährung und des allmählichen Werdens am<br />

notwendigsten ist: einWaffenarsenal seiner historischen<br />

und philosophischen Geistes wehr.<br />

Wenn wir nun dem alten Jahr einen letzten Scheidegruß entbieten,<br />

so sind wir dessen gewiß, daß wir alle unsere Leser bis<br />

zum letzten Mann mit hinübergeleiten ins neue Jahr, als Mitkämpfer in<br />

der freien Waffengenossenschaft unserer „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>". Nicht<br />

als Mitläufer, auch nicht als Lesepublikum im guten, gebräuchlichen<br />

Sinne; ihrer bedürfen wir nicht. Was wir brauchen, das sind<br />

Frauen und Männer von Geist und Mut, ehrlicher Aufrichtigkeit


— 291 —<br />

und glühendem Begeisterungsdrang. Nur mit ihnen fühlen wir<br />

uns verwandt, als Zusammengehörende einer eigen und selbsterbauten<br />

Gemeinschaft, die eine Avantgarde bildet für jenes leuchtende<br />

Ideal der individuellen und sozialen Freiheit, die zu erstreben<br />

allein das Leben wertvoll macht und deren mühevolle Verehrung<br />

uns werden läßt zu Titanen und felsbewegenden Kräften im Reiche<br />

unserer feigen Gegenwart und niederen Schmach.<br />

Das Riesenhafte unseres Strebens trägt uns über uns selbst<br />

hinaus, wird uns unser Ziel erreichen lassen.<br />

Unbeirrt, trotz Verfolgungen, trotz international verbündeter<br />

Reaktion treten wir ein ins neue Jahr als Klarsehende, als Klarwissende,<br />

die unerschütterlich und ruhig den sich gesteckten Weg<br />

verfolgen und mit dem Dichter eins sind, wenn er sagt:<br />

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />

Noch einmal sieh' im milden Schein, der Dir zum Abschied winkt,<br />

In jene stille Welt hinein, die rückwärts untersinkt.<br />

Die Freude, die Du dort gepflückt, behalt im Herzen fest;<br />

Der Kummer, der Dich hart gedrückt, sich wohl verschmerzen läßt.<br />

Die Liebe, die uns trägt und hebt, von Zeit und Welt entfloh,<br />

In guten Menschen ewig lebt und macht die Herzen froh.<br />

Das Licht, das Dir den Geist durchdrang, die Wahrheit, die ich fand:<br />

Der Preis, nach dem mein Streben drang: nur dieses hat Bestand!<br />

Und jede eine gute Tat, in Liebeskraft genährt,<br />

Ist eine unverlor'ne Saat, ein Gut, das ewig nährt! —<br />

Die Zeit läuft ab; mit ihr verrinnt viel Leid, was sie gebar,<br />

Und eine bess're Zeit beginnt: Glück auf zum neuen Jahr!


— 292 —<br />

Die Höhlendruckerei<br />

auf dem Gute des Zaren.<br />

I.<br />

Es war Ende April 1906. Wie ein schwerer Alb lastete auf<br />

dem ganzen Lande die blutige Reaktion. Der eben noch so<br />

empfindlich gedemütigte Absolutismus begann sein Haupt immer<br />

höher und höher zu erheben, Selbst mit den Sozial-Konstitutional-<br />

Demokraten, den verschämt um Halbreförmchen bittenden, machte<br />

die zaristische Regierung kein Federlesen. Zu den alten Henkermanieren,<br />

die dem zu Teil wurden, der in die Hände der Zarenschergen<br />

fiel, gesellte sich mit frecher Stirn eine zynische Rachwut<br />

und grenzenlose Verhöhnung.<br />

Die Lage der Arbeiterschaft gestaltete sich immer entsetzlicher.<br />

Hunger, Arbeitslosigkeit und die überall wütenden kosakischen<br />

Strafexpeditionen, sowie die stetig zunehmende Ueberzeugung,<br />

daß auch nicht eine Krume Brot, keine Parzelle von Freiheit auf<br />

dem Wege friedlicher Eroberung zu erlangen sei — das war der<br />

verwunschene Kreis, in den die Mehrheit der russischen Arbeiter<br />

gelangt war. Kaum war es eben dem Feuer der Revolution gelungen,<br />

aufzuflackern, als es sich schon zugeschüttet sah, doch<br />

schwellte die innere Glut mit unverhaltener Gewalt weiter, immer<br />

frische Nahrung in dem blutigen Vorgehen des Zarismus findend.<br />

Die Unerträglichkeit der Lage machte es dem denkenden Teil der<br />

Arbeiterschaft notwendigerweise zum Bedürfnis, ein lebenswahres<br />

Programm zum radikalen und unmittelbaren Kampf gegen Hunger<br />

und Regierung zu haben.<br />

Hiermit hielt die Nachfrage nach anarchistischer Literatur<br />

Schritt, und waren wir besonders im Süden Rußlands, wo ich mich<br />

um diese Zeit aufhielt, absolut nicht imstande, dieser Nachfrage zu<br />

genügen. Die reiche Auswahl an anarchistischer Literatur, die auf<br />

dem offenen Büchermarkt erschienen war, blieb dem Arbeiter<br />

wegen des hohen Preises unzugänglich. Heimliche Literatur war<br />

dagegen in so geringen Mengen vorhanden, daß uns jeder Tag<br />

immer deutlicher die Notwendigkeit vor Augen brachte, eine eigene<br />

Druckerei einzurichten.<br />

Mit größter Aufmerksamkeit nahmen wir jede Gelegenheit<br />

wahr, die uns unserem Ziele näher bringen konnte. Da wurde<br />

von dem eben zugereisten Kameraden S. Benienko der Vorschlag<br />

gemacht, eine Druckerei in den Höhlengrotten des kaiser-


— 293 —<br />

liehen Gutes Orianda bei Jalta einzurichten. Die Idee wurde von<br />

uns für gut befunden, und ohne Aufschub fuhren wir sofort nach<br />

Jalta.<br />

In der Stadt Jalta fanden wir eine Anzahl Kameraden vor,<br />

die etwas System in die dortige Propaganda zu bringen suchten.<br />

Dadurch wurde es im Lager der Sozialisten-Revolutionäre lebendig.<br />

Einige sagten sich offen von der selbstherrlichen Parteileitung los,<br />

während es bei den übrigen gärte und brodelte. Somit fanden<br />

wir auch gleich Gelegenheit zur Propaganda vor, wenn uns von<br />

unserer Höhlenarbeit Zeit übrig bleiben sollte. Vor allem machten<br />

wir uns an die Arbeit, unsere Höhlenwohnung einzurichten und<br />

hielten in der Stadt Umschau, wo eine Druckereieinrichtung zu<br />

expropriieren wäre. Das nahm nicht lange Zeit in Anspruch. Zwei<br />

Tage nach unserer Ankunft hatten wir schon alles Nötige expropriiert<br />

und in die Höhle geschafft. Nun verbrachten wir in unserer<br />

Katakombe ganze Tage bei der Arbeit, denn es war viel fertigzustellen.<br />

Nur selten fanden wir Zeit, behufs Propaganda in die<br />

Stadt zu gehen.<br />

Am meisten hielt uns Mangel am Geld bei der Arbeit auf.<br />

Wir beschlossen uns an die Kameraden in Jekaterinoslaw zu wenden.<br />

Ich fuhr hin, fand dort zwar kein Geld, brachte aber dafür den<br />

Kameraden W. Uschakof mit.<br />

Die Arbeit ging nun rascher vor sich. Wir begannen die<br />

Broschüre „Revolutionäre Regierungen" zu setzen, und als sie gedruckt<br />

war (3700 Exemplare) brachte man uns aus Jekaterinoslow<br />

den Nachruf für den Kameraden Paul Golman zur Drucklegung.<br />

Zu gleicher Zeit bekamen wir auch die Manuskripte für die erste<br />

Nummer des „Buntar". Ein Teil der gedruckten Broschüren war<br />

schon bereits unterwegs an verschiedene Gruppen; die Druckerei<br />

begann zu florieren.<br />

Plötzlich wurde am 21. August der Kamerad Uschakof in der<br />

Asow-Don-Bank verhaftet. Es war unmöglich gewesen, ihn zu<br />

retten. Die Uebermacht war zu groß.<br />

Traurig kehrten wir nach dieser Verhaftung in unsere Höhle<br />

zurück und warfen uns mit doppelter Kraft auf die Arbeit, um so<br />

wenigstens unsern Schmerz zu betäuben. Einen Tag und eine<br />

Nacht hindurch druckten wir ohne Unterbrechung den Nachruf für<br />

Paul Golman.<br />

Mein Leben lang werde ich diese Stunden nicht vergessen . .<br />

Ich sehe noch vor mir diese düster-schweigsame Höhle, deren<br />

dreieckiger Eingang im Gewirr der Felsblöcke verschwand; das<br />

schwache Lampenlicht, das seinen flatternden Schein auf die gebeugten<br />

Gestalten der Kameraden und auf den Tisch warf, der<br />

aus rohem Stein zusammengefügt uns als Druckplatte diente; bleich,<br />

geistesabwesend, fieberhaft geschäftig schoben wir ein Blatt nach<br />

dem andern über den Tisch; wortlos, fast ohne einander anzusehen,


— 294 —<br />

ließen wir so Stunde auf Stunde in betäubender Arbeit verrinnen.<br />

Ein unerträglicher, quälender Druck hatte sich der Seele bemächtigt,<br />

ein grenzenloser Schmerz drohte das Herz zu zersprengen; die<br />

Höhle mit dem überhängenden Felsgestein schien uns erdrücken<br />

zu wollen .... Mit allen Fasern zog es uns ins <strong>Freie</strong> hinaus, in<br />

die offene Ebene .... Von Antlitz zu Antlitz dem Feinde da<br />

entgegenzutreten . . . All unseren Schmerz an ihn auszulassen . . .<br />

Zerstören und im Kampfe bis zum letzten Blutstropfen ringen . . .<br />

Das wollte das Herz ...<br />

Erst gegen 2 Uhr nachts waren wir mit dem Druck des<br />

Nachrufes fertig geworden, Mit ermatteten und zerschlagenen<br />

Gliedern zwängten wir uns aus unserm Steinsarg hinaus und begaben<br />

uns an den Fleck, der uns zum schlafen diente. Gewöhnlich<br />

schliefen wir im Walde, zwanzig Schritte von unserer Höhle entfernt.<br />

Die Aufregung der letzten Tage und die ununterbrochene<br />

24 stündige Arbeit hatten mich so ermüdet, daß ich am Boden<br />

sofort einschlief.<br />

Als ich jedoch aufwachte, da waren meine Hände schon auf<br />

den Rücken verschränkt und fest wie in einem Schraubstock gefesselt<br />

... Es war noch tiefe Dämmerung. Knapp waren die<br />

uns umgebenden Gestalten zu erkennen. Ich blickte mich nach<br />

den Kameraden um. Sie standen ebenso wie ich, noch schlaftrunken,<br />

mit auf den Rücken gefesselten Händen und von einer<br />

dichten Schar Soldaten umgeben . . . Wir wurden auf die „Zarebene"<br />

hinausgeführt, da sah ich, daß wir von zwei Abteilungen<br />

Soldaten, einer halben Schwadron Berittener und einer riesigen<br />

Meute Polizisten umringt waren. Es begann das Verhör ....<br />

Wir verweigerten die Namenangabe. Da begann aber der Polizeioffizier<br />

unsere Namen vom Blatt abzulesen. Erst machte er Fehler<br />

(es waren bei ihm 8 Namen notiert, und wir waren nur unser drei),<br />

verglich uns dann aber genauer und nannte zwei von uns beim<br />

richtigen Namen. Es wurde uns klar, daß wir verraten waren . . .<br />

Nachdem die Namensprozedur beendigt war, wurden wir aufgefordert,<br />

das Versteck unserer Druckerei zu zeigen. Zum Ueberfluß wurde<br />

uns noch unsere Parole vorgehalten und eine flüchtige Skizze mit<br />

Plan und Lage unserer Druckerei gezeigt. Ich horchte nun auf . .<br />

Augenscheinlich war dem Verräter lange nicht alles bekannt, vieles<br />

schien er überhaupt gar nicht zu wissen, und sogar die Lage der<br />

Druckerei schien er nur vom Hörensagen zu kennen. Je mehr der<br />

Rittmeister und der Polizeioffizier in uns eindrangen, desto klarer<br />

wurde mir das Dilemma, in dem wir uns befanden: entweder die<br />

Druckerei zu zeigen und damit das zu retten, was ihnen noch nicht<br />

bekannt war, was sie aber bei der Suche nach der Druckerei entdecken<br />

konnten, oder aber sie der Suche laut Skizze zu überlassen<br />

und damit alles dem Verderben preiszugeben.


— 295 —<br />

Einen Augenblick schwankte ich noch. Es tat ja auch zu<br />

weh, mit eigenen Händen das mit so vieler Gefahr und Mühe<br />

Erworbene wegzugeben. Doch was war da zu machen! Was noch<br />

ging, mußte gerettet werden . . . Ich wandte mich um und erklärte<br />

mich bereit, Führer zu sein.<br />

Die Freude dieser feigen, gedungenen Büttel läßt sich nicht<br />

beschreiben. Sie machten auch durchaus kein Hehl daraus ....<br />

Doch kaum war ich mit ihnen abseits getreten, als ein Kamerad<br />

uns nach rief: „Hütet euch! der wird es euch zeigen ..." Das<br />

wurde sofort den mich begleitenden höheren Polizeichargen rapportiert,<br />

und wieder begannen sie in hündisch feiger Weise mit mir<br />

zu verhandeln . . . Endlich machten wir uns auf den Weg. Mit<br />

heiß aufkochendem, ohnmächtigem Ingrimm, mit stechendem Weh<br />

im Herzen mußte ich nun den Schergen unser teures Geheimnis,<br />

unsern kunstvoll maskierten Zugang zur Druckerei aufdecken, denn<br />

nur ein Gedanke durfte mich leiten — die Aufmerksamkeit der<br />

Spürhunde vom übrigen Teil abzulenken . . .<br />

Mit roher Gleichgiltigkeit begannen nun die Polizeidiener in<br />

unserem Heiligtum zu hausen. Alles ohne Unterschied wurde auf<br />

einen Haufen geworfen und nach oben hinausgeschleppt. Es fielen<br />

in die Hände der Polizei: ein großes Korrekturgestell, gegen fünf<br />

Zentner Schriftsatz, zwei Satzkästen, 2000 Broschüren „Revolutionäre<br />

Regierungen" 3300 Nekrologe „Paul Golman", das Manuskript<br />

für die erste Nummer der Zeitschrift „Buntar" und ein<br />

Broschürenarchiv.<br />

Aus dem wechselnden Mienenspiel des Polizei-Hauptmannes<br />

sprach die Freude dieser Bestie über den gelungenen Fang und<br />

die zitternde Angst, die bis zum letzten Augenblick vorhaltende<br />

unsinnige Furcht vor den Leuten, die sich in Felsenhöhlen vergraben,<br />

und in ihrem Kampfe gegen die Vergewaltigung vor keinem<br />

Mittel zurückscheuen, vor keiner Gefahr zurückschrecken . . .<br />

Meine Mutmaßungen bestätigten sich in der Folge . . . Nach<br />

einer Viertelstunde war alles ausgeräumt, und wir befanden uns<br />

unterwegs zum Gefängnis.<br />

Es waren die Kameraden Mudrof, Lipowski und Fomin.<br />

II.<br />

In einer Einzelzelle des Gefängnisses von Jalta quälte sich in<br />

dieser Nacht in ohnmächtiger Verzweiflung unser Kamerad W. Uschakof.<br />

Sofort nach seiner Verhaftung wurde von ihm verlangt, anzugeben,<br />

wieviele wir sind, wo wir uns befänden und wie man unserer<br />

ohne Blutvergießen habhaft werden könne.<br />

Uschakof verweigerte die Aussage . . . Nun wurden gegen<br />

ihn Drohungen angewandt, betrunkene Polizisten mit den berüchtigten<br />

Nagaikans bewaffnet kamen in die Zelle, Doch Uschakof<br />

beharrte im Schweigen.


— 296 —<br />

Darauf wurde eine andere Taktik eingeschlagen. Den Angaben<br />

des Verräters gemäß, wurde Uschakof unser ganzes Leben<br />

vorgehalten, es wurde ihm sogar unser Aufenthaltsort angedeutet.<br />

Er sollte nur das eine sagen, wie man uns ohne Lärm fassen<br />

könne . . .<br />

Doch es kam keine Antwort ... Da rief der Polizei-Hauptmann<br />

in heller Wut: „Ich lasse jetzt Deine Zelle doppelt und dreifach<br />

überwachen und gehe sie verhaften. Doch wehe Dir, passiert<br />

mir etwas, so reißen Dich meine Freunde hier in Stücke!" . . .<br />

Wladimir blieb nun allein in seiner Zelle. Er wußte, daß<br />

jede Minute uns unseren Todfeinden näher bringt, er wußte, daß<br />

die geringste Warnung, ein kleines Wörtchen nur, schon genügten^<br />

die Druckerei und die mühevolle Arbeit langer Monate, vielleicht<br />

auch unser Leben zu retten. Doch dies Wort konnte er nicht<br />

rufen, zu fest waren die Kerkermauern, zu aufmerksam die Wachposten<br />

.... Die ganze Nacht über warf ihn die Unruhe vom<br />

Fenster zur Pritsche, von der Pritsche zum Fenstergitter. Die<br />

dicken Eisenstäbe verwehrten ihm die Aussicht, und immer schärfer,,<br />

höher stieg die Qual . . .<br />

Nur gegen Morgen wurde er aus der Ungewißheit erlöst und<br />

erfuhr unsere Ankunft, die Einzelheiten der Verhaftung, den Namen<br />

des Verräters . . .<br />

Von diesem Genossen, der zum Verräter geworden war,<br />

wissen wir wenig. Und das, was wir von ihm wissen ist so seltsam<br />

unvereinbar mit seiner Tat! ... Er hieß G. Cholopzef. Anfangs<br />

gehörte er zu der Gruppe der Sozialisten-Revolutionäre, dann<br />

brach er mit ihnen kurz vor unserer Ankunft und war mit uns als<br />

Anarchist 'tätig.<br />

Wir schätzten ihn und brachten ihm volles Vertrauen entgegen:<br />

sein Arbeitsgebiet verstand er gut, gewandt und mit Hingebung<br />

zu verwalten . . . Die Kameraden, die ihn noch vor uns<br />

kannten, empfahlen ihn als einen ehrlichen gesinnungswackeren<br />

Genossen.<br />

Seine Verhaftung war einige Tage vor derjenigen Wladimirs<br />

erfolgt; es handelte sich um eine Bagatelle; er stand im Verdacht,<br />

einen Polizeileutnant geschlagen zu haben. Wie es an den Tag<br />

gekommen war, daß er Anarchist sei, daß er mit uns verkehrt und<br />

am bewaffneten Besuch der Villa Felsemaer teilgenommen habe,<br />

bleibt uns bis heute ein Rätsel . . . Jedenfalls war ihm das von<br />

der Polizei vorgehalten worden und daraufhin muß ihn die Feigheit<br />

übermannt haben . . . Uns ist von den unmenschlichen Mißhandlungen<br />

erzählt worden, mit denen seine Aussagen erpreßt wurden.<br />

Man erzählte auch von dem unheilvollen Einfluß, den seine frühere<br />

Geliebte auf ihn ausgeübt habe, da sie in den ersten Tagen nach<br />

seiner Verhaftung zu ihm in die Zelle zugelassen wurde und sich<br />

lange bei ihm aufhalten durfte . . . Nach Einzelheiten fragten wir


— 297 —<br />

nicht, ja vermieden es überhaupt, über ihn zu reden: zu entsetzlich,<br />

zu abstoßend-eklig war sein Tun. Um durch ihn unser Nachtquartier<br />

bei den Höhlen zu erfahren, war er in Polizeikleidung gesteckt<br />

und mit einer Polizei-Patrouille auf Spionage geschickt worden.<br />

Fabrikarbeiter wollen ihn im Morgengrauen in diesem Aufzuge<br />

erkannt haben . . .<br />

Seine Verräterei gab er unumwunden zu; er hatte sogar außer<br />

uns auch noch andere Kameraden denunziert, doch sollte ihn alles<br />

das nicht retten.<br />

Er war nachdem zum Tode durch den Strang verurteilt und<br />

zur Erschießung „begnadigt" worden. Das war die Gnade, die<br />

dieser unglückliche Feigling für seine Verräterei erfuhr.<br />

Ob und wo er erschossen worden ist, ist uns nicht bekannt<br />

geworden.<br />

Wir mußten uns auch auf das Schlimmste gefaßt machen,<br />

und behielt man uns nicht lange in Jalta. Nach 5 Tagen waren<br />

wir schon in das Gefängnis von Simferopol übergeführt, und vom<br />

ersten Tage unserer Einlieferung an begannen wir mit Sorgfalt die<br />

Fluchtmöglichkeiten zu untersuchen. Der jedem Gefangenen stets<br />

innewohnende Fluchtgedanke war bei uns bis zum äussersten entwickelt,<br />

denn die Plötzlichkeit der Verhaftung, die vollkommene<br />

Wehrlosigkeit und die Verräterei hatten unsere Gemüter aufs höchste<br />

erbittert. Gleich bei unserer Ankunft fanden wir schon einen ausgearbeiteten<br />

Unterminierungsplan vor. Es sollte eine Massenflucht<br />

werden. Der Minengang war schon in Angriff genommen, doch<br />

als bereits 21 Meter gegraben waren, denunzierte jemand, und damit<br />

mißlang der Plan . . .<br />

Die Ueberwachung wurde nun strenger. Es musste wenigstens<br />

fürs erste jeder Gedanke an eine Flucht aufgegeben werden, und<br />

es zogen sich nun nicht endenwollende Tage, Wochen und Monate<br />

dahin, eine schier endlose Reihe grauer, eintöniger, einander wiederholender<br />

Stunden, die nur durch Erinnerungen an die frühere<br />

Tätigkeit und durch ein grenzenlos heftiges Sehnen nach Freiheit<br />

ausgefüllt wurden . . .<br />

So verging die Zeit bis zum April . . . Draußen war schon<br />

Frühjahrswetter . . .<br />

Und wieder huschte vor uns die Möglichkeit auf, die Freiheit<br />

zu erlangen. Ostern stand vor der Tür, und Feiertags wurde in<br />

den Gefängniswerkstätten nicht gearbeitet. Das wollten wir uns<br />

zu Nutze machen und durch die eine Werkstatt fliehen . . .<br />

Die Flucht war für den dritten Osterfeiertag angesetzt. In<br />

der Werkstatt war der Gang fertiggegraben, die Schlüssel waren<br />

zurechtgefeilt .... Da wird unser Plan am zweiten Osterfeiertag<br />

wieder durch jemand verraten. Die Obrigkeit bleibt nun auf der<br />

Hut . . . Und von neuem treten zwischen uns und die Freiheit die<br />

dichten, dunklen Kerkermauern.


— 298 —<br />

Das war unser letzter Fluchtversuch aus dem Gefängnis von<br />

Simferopol.<br />

Inzwischen war draußen in der Stadt fast kein Anarchist zu<br />

sehen. Die Ortsgruppe war durch zwei Schurken verraten worden,<br />

deren einer jetzt seinen verdienten Lohn von uns erhalten hat.<br />

Erst gegen Ende März lebte die Propaganda wieder auf. Zugereiste<br />

Kameraden organisierten eine kleine Gruppe, da aber fast<br />

keine Geldmittel vorhanden waren, mußte jeglicher Gedanke an<br />

eine fruchtbare Tätigkeit vorläufig fern bleiben.<br />

Zur Aktion mußte Literatur, Druckerei und Waffenmaterial<br />

beschafft werden — dazu war Geld nötig ... Es wurde deshalb<br />

eine Expropriation beschlossen. Am 1<strong>2.</strong> April holte sich die Gruppe<br />

aus einem geistlichen Unterstützungsverein 6996 Rubel und hinterließ<br />

den geistlichen Herren eine Bombe. Erst nach 20 Minuten<br />

erschienen am Tatort die Vertreter des Staates; das erste, was<br />

ihnen in die Augen fiel, war die Bombe, dazu noch eine solche<br />

gar seltsamer Art, wie sie solche noch nie zu Gesicht bekommen<br />

hatten. Die Zeitungen berichteten nachher: „Die Räuber haben<br />

eine „Bombe" hinterlassen, die aus einem Stöckchen mit an einem<br />

Ende befindlichen Bleistück besteht". Die Bombe wurde ins Zentralrevier<br />

geschafft, wo sich dann das „Stöckchen" Achtung verschaffte.<br />

Auf dem Revier befand sich eine ganze Anzahl Achtgroschenjungen<br />

sowie ein rühriges Mitglied des „Verbandes der<br />

Echtrussen" namens Kanaki, der als Anführer der schwarzen Banden<br />

und als Anstifter von Judenpogroms berüchtigt war; dieser begann<br />

nun über die Anarchisten zu spotten und deren lachhafte Bombe,<br />

als plötzlich ein ohrenbetäubender Krach ihm und einem anderen<br />

Spitzel den Garaus machte, während ein zweiter Spitzel und ein<br />

Uniformierter, der durch seine Mißhandlungswut bei Verhaftungen<br />

und sein brutales Auftreten bei Haussuchungen allgemein verrufen<br />

war, so schwer verstümmelt wurden, daß sie bald nachher ihren<br />

Vorgängern nachfolgten.<br />

Das geistliche Geld wurde nun dazu verwandt, um etwas<br />

Waffen, Literatur und Dynamit zu kaufen, es mußte nun auch ein<br />

guter Redner beschafft werden, die Kameraden aus Jekaterinoslaw<br />

hatten der Gruppe zwar zugesagt, einen sprechgewandten Kameraden<br />

zu schicken, doch schien etwas dazwischen getreten zu sein. Die<br />

Gruppenmitglieder suchten nun so gut wie es ging mit eigenen<br />

Mitteln zu agitieren; es wurden Arbeitergruppen mit Lesezirkeln<br />

gebildet, einige Kameraden traten auch in Gewerkschaften auf,<br />

doch da traten Ereignisse ein, die der Massenagitation, vorläufig<br />

wenigstens, entschieden Einhalt geboten.<br />

Zwei Mitglieder mußten wegen Veruntreuung von Gruppengeld<br />

erschossen werden, während ein Dritter unter Mitnahme von<br />

1080 Rubeln flüchtete. Dazu kamen noch die übrigen Ausgaben.<br />

An Hungernde und Arbeitslose 1100 Rubel, an die Gruppe von


— 299 —<br />

Jekaterinoslaw 500 Rubel, an die Gruppe von Sebastopol 200 Rubel<br />

nebst Warfen und Literatur; dann noch verschiedene Summen an<br />

die Kameraden im Gefängnis, 425 Rubel zur Organisation ihrer<br />

Flucht und dergl. mehr. Das Gruppengeld war damit erschöpft —<br />

es mußte eine neue Expropriation vorgenommen werden.<br />

Inzwischen erfolgt nun unsere Ueberführung in das Gefängnis<br />

von Sebastopol und unsere endliche Flucht.<br />

III.<br />

Am Nachmittag des 5. Mai wurden wir auf den Bahnhof geführt,<br />

um nach Sebastopol transportiert zu werden. Heißhungrig<br />

sogen unsere Lungen die herrlich duftende Sommerluft der blumenreichen<br />

Krim ein. Einen ermunternden Freiheitsgruß hauchte uns<br />

der warme Südwind zu, als wüßte er nicht, das unser wieder ein<br />

Gefängnis warte, daß wir dem Kriegsgericht und dem ominösen<br />

Paragraph 279 entgegengingen.<br />

Das prächtige Naturschauspiel ließ uns unser Schicksal vergessen,<br />

sorglos und heiter nahmen wir im Arrestantenwagen Platz<br />

— es war doch eine Abwechslung und wer weiß, was noch die<br />

unbekannte Zukunft für uns barg . . . Um Mitternacht kamen wir<br />

in Sebastopol an.<br />

Man ließ uns. die Nacht über im Polizeigewahrsam, da die<br />

Ueberführung ins Gefängnis zur Vermeidung von Fluchtversuchen<br />

am hellen Tage stattfinden sollte.<br />

In dieser Nacht bekamen wir aufs neue die Aufreizung eines<br />

Fluchtversuches zu kosten und mussten wieder den bitteren Becher<br />

der Entsagung über uns ergehen lassen.<br />

Kaum hatten wir uns mit unseren Zellengenossen bekannt<br />

gemacht, als uns schon die Mitteilung wurde, daß an der einen<br />

Außenwand gearbeitet wurde, um eine Bresche zu schaffen. Die<br />

ganze Nacht durch beteiligten wir uns am Durchbruch. Als der<br />

Morgen dämmerte, war schon der größte Teil der Oeffnung fertiggestellt,<br />

da mußte es das Mißgeschick so fügen, daß dieser Tag<br />

(es war der 6. Mai) auf einen kaiserlichen Festtag fiel und ein Aufseher<br />

in die anstoßende Rumpelkammer ging, um Flaggen zur<br />

Feier des Tages herauszuholen. Dadurch wurde unsere Arbeit<br />

entdeckt. Unverzüglich wurden wir ins Gefängnis hineingeführt.<br />

Hier bekamen wir endlich die Anklageakten zu sehen.<br />

Man beschuldigte uns: 1. eine Druckerei im Gute seiner<br />

kaiserlichen Majestät Orianda „ohne behördliche Genehmigung" eingerichtet<br />

zu haben; <strong>2.</strong> Bomben angefertigt und aufbewahrt zu<br />

haben; 3. wegen Geheimbündelei und 4. wegen Raubanfalls auf die<br />

Villa F.<br />

Die ganze Anklage fußte hauptsächlich auf den Angaben des<br />

Verräters und den Aussagen einer gemeinen Diebin, der der<br />

Gendarmerie-Rittmeister von Jalta, ihrem eigenen Eingeständnis


— 300 —<br />

gemäß, 200 Rubel für ihre Zeugenschaft versprochen hatte. Als<br />

corpus delicti figurierte ein altes Stücken Zündschnur, das durch<br />

Zufall in die Druckerei geraten war und uns nun der „Anfertigung<br />

und Aufbewahrung" von Explosivstoffen überführen sollte.<br />

Wie dem nun nicht war, der Paragraph 279 läßt von einem<br />

Kriegsgericht nichts Gutes erwarten, und somit mußten wir unbedingt<br />

etwas unternehmen, um dieser Konsequenz zu entgehen.<br />

Nach langen Beratungen einigten wir uns schließlich auf<br />

folgenden Fluchtplan: Die Außenseite des Gefängnishofes wurde<br />

nicht bewacht, das sollten draußen befindliche Freunde dazu benutzen,<br />

um eine im voraus verabredete Stelle der Hofmauer während<br />

unserer Spazierstunde zu sprengen. Vorher mußten uns schon<br />

Pistolen zugesteckt werden, damit wir im Augenblicke der Explosion<br />

Aufseher und Wachposten füsilieren konnten, um uns dann durch<br />

die Bresche zu retten. Der Plan war nicht von uns ersonnen;<br />

schon vor uns hatten ihn gefangene Sozialisten-Revolutionäre ihrer<br />

Parteileilung zur Genehmigung unterbreitet, doch war von dieser<br />

die Idee als absurd und undurchführbar zurückgewiesen worden.<br />

Das hielt uns natürlich nicht ab, denn wir brauchten keinen weltlichen<br />

Pfaffen zu gehorchen.<br />

Anfangs Juni hatten wir bereits eine Verbindung mit den<br />

Kameraden in der Stadt hergestellt, und es begannen die Vorbereitungen.<br />

Da die Flucht in Masse erfolgen und „parteilos" sein sollte,,<br />

so nahmen an den Vorbereitungen auch die Sozialisten-Revolutionäre<br />

teil. Sie mußten einen Teil der Waffen, der Schlupfwinkel und der<br />

Begleiter stellen. Unheimlich rasch, in fieberhafter Eile vergingen<br />

die Tage der Vorbereitung, fast unmerklich verstrich die Zeit, und<br />

doch sind mir diese Tage, ja fast jede Stunde tief im Gedächtnis<br />

geblieben und erstehen vor mir in lebendiger, haarscharfer Deutlichkeit<br />

. . .<br />

Die Arbeit ging flott von statten. Mitte Juni war schon<br />

alles verabredet, die Höllenmaschine fertig und die Waffen in unserem<br />

Besitz. Am 15. Juni sollte endlich die Flucht stattfinden. Die<br />

letzte Nacht wollte kein Schlaf über uns kommen. Etwas großes,<br />

unfaßbar Freudiges erweiterte die Brust gewaltsam bis zum Springen;<br />

auf der Pritsche war es nicht zum aushalten, und ruhelos maß ich<br />

die Zelle in ungezählten Schritten.<br />

Im ungestümen Wirbel rasten die aufgepeitschten Gedanken;<br />

die verlockendsten Bilder wurden in schwindliger Reihenfolge von<br />

der aufgeregten Phantasie erzeugt, mit fast greifbarer Deutlichkeit<br />

zogen sie vor den Augen vorüber, und keine Kraft war imstande,<br />

sie einzuhalten oder zu verscheuchen. Wohl gelang es momentelang,<br />

sich zur Vernunft zu rufen und auf Vernunftsgründe zu hören,<br />

denn nicht nur der Ausgang der ganzen Sache, schon das Zustandekommen<br />

allein war noch äußerst fraglich und zweifelhaft; es konnten


— 301 —<br />

ja noch hunderte von Zwischenfällen, tausende, unvorhergesehener<br />

Möglichkeiten, wie gar so oft, dazwischen treten. Einen Moment<br />

schien dann die Erregtheit zu weichen, doch nur um im nächsten<br />

Augenblicke desto ungestümer hervorzubrechen, denn das köstlichste<br />

der Menschengüter, der Grund- und Eckstein unseres ganzen<br />

Lebenskampfes, die goldene Freiheit winkte uns ja entgegen.<br />

Endlich fing es an zu tagen. Dann brach auch der Morgen<br />

an, und mit hochgeschraubten Nerven und etwas zu auffälliger<br />

Unruhe erwarteten wir das Kommanda. Es mußte noch das Signal<br />

eintreffen, daß die Flucht nicht verschoben sei. Um 10 Uhr erhielten<br />

wir es. Rasch erledigten wir noch die letzten Angelegenheiten,<br />

zogen uns die eigenen Kleider an, hielten noch einmal<br />

Umfrage, ob alle zur Flucht bereit seien . . . nur zwei zogen sich<br />

von der Teilnahme zurück; darunter der Kamerad Fomin, der<br />

minder schwere Anklage hatte. Nun blieb noch die lange Zeit bis<br />

zum Spaziergange abzuwarten. Wir wurden gruppenweise zum<br />

Spazieren geführt, und unsere Gruppe war die dritte.<br />

Es rasselten einmal die Schlüssel . . . dann das zweite Mal.<br />

Nun waren wir an der Reihe, und am meisten folterte uns in dieser<br />

letzten halben Stunde der Gedanke, ob man auch alle zur Flucht<br />

Entschlossenen zusammen hinauslassen würde, denn gewöhnlich wurden<br />

nicht mehr als 15 gleichzeitig auf den Hof geführt — wir waren<br />

aber 21.<br />

Als nun die zweite Gruppe zurückkam, nahmen wir so Aufstellung,<br />

daß die Todes- und Sibirien-Kandidaten vorne standen<br />

und die übrigen dahinter. Gegen alle Erwartung ließ man uns<br />

alle hinaus. Die allgemeine Stimmung wurde dadurch mit einem<br />

Ruck gehoben. Der hinter mir gehende Kamerad flüsterte mir<br />

noch zu: „Wie riesig wohl ist mir, daß wir hier alle sind. Welch<br />

Entsetzen hätte wohl den 15. gepackt, wenn der 16. hinter der<br />

Türe geblieben wäre."<br />

Alles ringsum war froh und scherzte und lachte, wie noch<br />

nie . . .<br />

Wir waren im ganzen 6 Anarchisten, 1 Sozialdemokrat und<br />

14 Maximalisten und Sozialrevolutionäre.<br />

Unser Signal, daß alles fertig sei, hatten wir schon abgegeben.<br />

Wir machten noch zwei Runden um den Hof und legten uns dann<br />

in Erwartung des Antwortsignals an der der verabredeten Mauer<br />

entgegengesetzten Seite nieder.<br />

Dem Aufseher schien unser enges Zusammenrücken zu beunruhigen.<br />

Denn er blickte mißtrauisch nach allen Seiten und<br />

rückte uns immer näher . . als plötzlich ein kleiner Steinsplitter<br />

in der Luft einen Bogen beschrieb und gegen unsere Wand schlug.<br />

Das war das erwartete Zeichen. Schnell öffneten wir den Mund<br />

weit auf, und es folgte ein entsetzlicher, ohrenbetäubender Krach;<br />

im selben Augenblick ging auch ein Hagel von Schüssen gegen


— 302 —<br />

Wochposten und Aufseher los. Das dauerte zusammen nicht mehr<br />

als 10—15 Sekunden.<br />

Nach einer halben Minute waren wir schon in Freiheit.<br />

Kaum war ich mit Wladimir um die Ecke des Gefängnisses<br />

gesprungen, als uns ein alter Genosse bei Namen anrief. Er brachte<br />

uns zur konspirativen Wohnung, wo wir Wladimir, der leicht verwundet<br />

war, die Wunde auswuschen und verbanden. Ich siedelte<br />

darauf in eine benachbarte, für mich bestimmte Wohnung über;<br />

ich sollte Wladimir nie mehr zu sehen bekommen.<br />

In der Nacht hörte ich einen seltsamen kurzen Schuß und<br />

lauten Lärm, dessen entsetzliche Ursache ich erst am Morgen zu<br />

erfahren bekam.<br />

Folgendes las ich in der lokalen Zeitung: „Aus unserem Gefängnis<br />

sind nach Durchbruch der Mauer 21 schwere politische<br />

Verbrecher geflüchtet. Der Wachposten ist verwundet. Der Aufseher<br />

unversehrt. Er wurde in ohnmächtigem Zustande aufgefunden<br />

Die Explosion war so stark, daß sämtliche Fenster des Gefängnisses<br />

sowie der umliegenden Häuser in Splitter fielen.<br />

Die Gefängnismauer weist eine Bresche von zwei Meter Höhe<br />

und Breite auf. Die ganze Nacht über waren von der Polizei<br />

Streifzüge organisiert. Im Hofe eines Hauses des tatarschen Viertels<br />

wurde ein Unbekannter bemerkt. Sofort umringt, wurde ihm zugerufen:<br />

„Hände hoch!" Der Unbekannte zog eine Browning-<br />

Pistole vor und erschoß sich. Ein Gefängnis-Aufseher rekognoszierte<br />

ihn als einen der Flüchtlinge, namens Wladimir Uschakof ..."<br />

Die Polizei benahm sich nun wie rasend. Es war von jemand<br />

das Gerücht lanziert worden, daß wir uns als Türken verkleidet<br />

auf den nach Konstantinopel abgehenden Schiffen flüchteten. Nun<br />

begannen schlimme Zeiten für die an allem unschuldigen Türken.<br />

Man griff sie überall auf, durchsuchte sie und behielt sie sogar oft<br />

genug längere Zeit im Polizeiarrest. Währenddem brachten wir<br />

uns einer nach dem andern in Sicherheit.<br />

Von den 21 Flüchtlingen war außer dem dahingeschiedenen<br />

Wladimir Uschakof nur einer in die Hände der Polizei gefallen.<br />

M.


— 303 —<br />

Charakteristische Lesefrüchte aus<br />

Pierre Joseph Proudhons Werken und<br />

Briefen.<br />

I.<br />

Aus „De la creation de l'ordre dans l'humanité, ou<br />

principes d'organisation politique." 1843.<br />

195. Die Ungleichheit ist immer nebensächlich und vorübergehend,<br />

die Gleichheit ist die Norm.<br />

II, 404. Ein überarbeiteter Sklave erfindet den Schläger.<br />

Der Herr erfaßt mit einem Blicke die Wichtigkeit der Erfindung.<br />

Er bemächtigt sich des Landes ... er maßt sich sogar die Idee<br />

an . . . Das Elend erfindet, das Eigentum erntet . .<br />

Ein altes Weib, die in ihrem zahnlosen Munde Körner zermalmt,<br />

bemerkt, daß der Teig sauer wird, gährt . . . Wunder! Das tägliche<br />

Brot ist entdeckt . . Ein von der Habsucht des Herrn nackt<br />

gelassenes Hirtenmädchen nimmt aus dem Gesträuch einige Flocken<br />

Wolle auf. Sie dreht diese Wolle, zieht sie in gleiche, feine Fäden<br />

aus, verbindet sie mit einer Kampa, verwebt sie und macht daraus<br />

ein geschmeidiges und leichtes Gewand .... Es ist Arachna, die<br />

Spinnerin, die dieses Wunder geschaffen hat.<br />

Was für ein Schauspiel, dieser unaufhörliche Kampf der Arbeit<br />

und des Vorrechtes, wobei jene alles aus nichts schafft,<br />

und dieses immer kommt, um zu verschlingen, was es nicht<br />

hervorgebracht hat?!<br />

* *<br />

*<br />

I, 188. Ja, man muß es sagen, trotz des modernen Quietismus<br />

ist das Leben des Menschen ein fortwährender Krieg, ein<br />

Krieg mit dem Mangel, ein Krieg mit der Natur, ein Krieg mit<br />

seinesgleichen, folglich ein Krieg mit sich selbst. Die auf Brüderlichkeit<br />

und Selbstverleugnung gegründete Theorie einer<br />

friedlichen Gleichheit ist nur eine Nachahmung der katholischen<br />

Lehre von dem Verzicht auf die Güter und Vergnügungen dieser<br />

Welt, das Prinzip der Bettelei. Der Mensch kann seinesgleichen<br />

bis zum Sterben lieben, er liebt ihn nicht bis zum Arbeiten für ihn.<br />

* *<br />

*<br />

I, 228. Nächstenliebe! Ich leugne die Nächstenliebe! Das<br />

ist Mystizismus. Vergebens sprecht ihr mir von Brüderlichkeit<br />

und Liebe; ich bleibe überzeugt, daß ihr mich nicht eben


— 304 —<br />

liebt, und ich fühle sehr wohl, daß ich euch nicht liebe. Eure<br />

Freundschaft ist nur Heuchelei, und wenn ihr mich liebt, so ist es<br />

aus Interesse. Ich verlange alles, was mir zukommt, nichts<br />

als was mir zukommt . . . Gott! Ich kenne keinen Gott. Das<br />

ist auch Mystizismus.<br />

* * *<br />

I, 333. Geht auf den Grund, und ihr werdet im Menschen<br />

überall als erste Triebfeder ein brennendes Verlangen nach Genuß,<br />

ein Bedürfnis nach Luxus, den unaufhörlich mit der Zukunft<br />

rechnenden Egoismus rinden.<br />

Aus „De la Célébration du Dimanche.<br />

II.<br />

40. Hofft also nicht, weder durch Zugeständnisse noch durch<br />

Vernunftschlüsse uns davon abzubringen, was ihr Fanatismus<br />

und Hirngespinnste nennt und was nur das Gefühl für unsere<br />

gerechten Rechte ist.<br />

Die Begeisterung, die uns besitzt, die Begeisterung der Gleichheit<br />

ist euch unbekannt. Das ist ein stärkerer Rausch als der<br />

Wein, durchdringender als die Liebe. Eine Leidenschaft oder<br />

göttliche Wut, der die Raserei der Leonidas, des heil. Bernhard<br />

oder Michel-Angelo nie gleichen kann.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

70. Was sprecht ihr jetzt von Talent und von Genie? Diese<br />

von euren sogenannten Kapazitäten mit so lächerlichen Bitten<br />

beanspruchte Vorwegnahme ist ein an dem Ertrage des Arbeiters<br />

begangener Raub, den ihr unter dem Vorwande funktioneller<br />

Minderwertigkeit in Dienstbarkeit haltet. Entwickelt diese Intelligenzen,<br />

bildet diese Organe aus, emanzipiert diese Seelen und<br />

bald, ihr vom Egoismus ausgetrocknete Menschen, werden wir<br />

sehen, worauf eure angebliche Ueberlegenheit hinausläuft . . Höret<br />

auf, für das Talent eine unwürdige Salzsteuer zu erbetteln.<br />

* * *<br />

35. Da jede soziale Verrichtung in einer guten Organisation<br />

nach Fourier leicht, nicht anstrengend und sogar anziehend sein<br />

muß, so ist jeder Arbeiter dazu imstande, und in dieser Hinsicht<br />

sind alle Fähigkeiten gleich.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

35. Ja, die Ungleichheit besteht auch in den Fähigkeiten, wie<br />

sie im Vermögen besteht, aber das sind zufällige Störungen des<br />

sozialen Gleichgewichtes, das sind keine Naturgesetze; und ebenso


— 305 —<br />

wie der Ausgleich der Lebenslagen sich durch die fortschreitende<br />

Verbesserung des Loses der Arbeiter vollzieht, und durch eine<br />

Art Erhöhung des öffentlichen Vermögens, ebenso offenbart sich<br />

unterhalb dieses Ausgleiches ein anderer, der Ausgleich, oder wenn<br />

man lieber will, das Gleichgewicht der Intelligenzen, herbeigeführt<br />

durch die unablässige Belehrung der Massen und durch die<br />

Anhäufung des allgemeinen Wissens.<br />

III.<br />

Aus „Systeme des Contradictions economiques, ou<br />

Philosophie de la Misère." 1848.<br />

I, 223. Der Vorteil jeder nützlichen Erfindung ist unvergleichlich<br />

geringer für den Erfinder, was er auch tun mag, als für die Gesellschaft<br />

. . welche an die von ihr, sei es zeitlich oder dauernd,<br />

bewilligten Privilegien auf mehrere Weisen Zurückforderungen austeilt,<br />

die das Uebermaß gewisser Privatvermögen reichlich ausgleichen<br />

und deren Wirkungen das Gleichgewicht sehr schnell<br />

wieder herstellen . . . Die Entwicklung wird durch den Aufschwung<br />

individueller Energien hervorgerufen, die Masse ist ihrer Natur nach<br />

unfruchtbar, passiv und lehnt jede Neuerung ab. Sie ist, wenn<br />

man den Vergleich gebrauchen darf, die an sich selbst aufrichtbare<br />

Gebärmutter, in der die von der Privattätigkeit, die in Wahrheit<br />

die Funktionen des männlichen Organs versieht, geschaffenen<br />

Keime sich ablagern.<br />

IV.<br />

Aus „Ideé générale de la Revolution au XIX. siècle."<br />

1851.<br />

144 und 149. Ich glaube durchaus nicht und das mit Grund<br />

an diese divinatorische Eingebung der Menge. Seit 60 Jahren<br />

üben wir Wahl- und Stimmrecht aus, was haben wir erreicht? Das<br />

Volk .... zehn Millionen Arme an Geist, die auf alle Ideale geschworen<br />

haben, die allen Programmen Beifall geklatscht haben,<br />

die auf alle Ränke hineingefallen sind, soll das ohne Schwäche das<br />

Problem der Revolution lösen? Ach, meine Herren, glauben Sie<br />

das nicht, hoffen Sie das nicht.<br />

V.<br />

Aus „De la Justice dans la Revolution et dans<br />

rEglise." 1859—1860.<br />

II, 214. Der Fehler meiner Kindheit lag nicht an meinem<br />

Herzen, sondern an dem christlichen System, das, die Nationen<br />

verderbend, die Instinkte vertrocknen läßt, den Menschen verkleidet


— 306 —<br />

und ihm an Stelle der ihm von der Natur gegebenen Empfindungen<br />

nachgemachte, auferlegt, an unserer mit Heuchelei gesättigten,<br />

angeblichen Zivilisation, die abstößt und anwidert.<br />

* * *<br />

I, 504. Zugegeben, es sei so wie man behauptet, daß die<br />

Rassen Afrikas, Amerikas und Ozeanien den Vergleich mit der<br />

kaukasischen Rasse nicht aushalten können und daß keine Kreuzung<br />

sie verbessern kann. Dann verhält es sich also mit diesen schlecht<br />

geborenen oder aus der Art geschlagenen Rassen, wie es sich in<br />

unserer zivilisierten Gesellschaft mit den leidenden, kränklichen,<br />

verunstalteten Geschöpfen, dem Gegenstand der Sorge der Familien<br />

verhält, die nichts mehr zur Bevölkerung beitragen. Sie werden<br />

absorbiert werden oder schließlich aussterben. Gleichheit oder<br />

Tod.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

I, 229. Auf dem Höhepunkt der Dunkelheit, bemerkt<br />

Aristoteles, daß die Gleichheit in der Praxis selbst nicht immer<br />

gerecht ist, ebensowenig wie die Gegenseitigkeit, daß es genauer<br />

sein würde zu sagen, das Verhältnis. Daraus sieht man, daß<br />

Aristoteles nicht zu dieser höheren Auffassung des Rechtes<br />

gelangt war, in der Gleichheit, Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit<br />

identische Ausdrücke werden.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

I, 67. Die Revolution ist der französische Name des neuen<br />

Begriffes<br />

phie ist.<br />

der Gerechtigkeit, deren deutscher Name Philoso­<br />

*<br />

*<br />

*<br />

I, 119. Die Würde beim Menschen ist eine stolze, absolute<br />

Eigenschaft, die keine Abhängigkeit und kein Gesetz duldet,<br />

das nach Beherrschung der anderen und Verschlingung der Welt<br />

strebt.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

I, 218. Die Gerechtigkeit ist weder Mitgefühl noch Geselligkeit,<br />

noch Güte, rein instinktive Gefühle, die zu pflegen nützlich<br />

und lobenswert ist, die aber aus sich selbst die Achtung der Würde<br />

bei den andern nicht erzeugen. Es gibt gesellige Tierarten, soll<br />

der Mensch zu diesen zählen? Ja und nein. Man kann ihn ebensowohl<br />

als ein Kampftier wie als ein geselliges Tier bezeichnen.


— 307 —<br />

Eine Rechtfertigung der natürlichen<br />

Gesellschaft.*)<br />

(Fortsetzung.)<br />

Ich bin fertig mit allen Regierungsformen. Man wird nicht<br />

umhin können, im Laufe meiner Beweisführung einen sehr materiellen<br />

Unterschied zwischen mir und derjenigen Beweisführung, die von<br />

den Helfershelfern der künstlich aufrechterhaltenen Gesellschaft<br />

gebraucht wird, zu finden. Diese formulieren ihre Pläne nach dem,<br />

was ihnen in ihrer Einbildung am annehmbarsten erscheint für das<br />

Befehlen über die Menschheit. Ich wieder entdecke die Fehler all<br />

dieser Pläne aus den Konsequenzen, die sie ergeben haben.<br />

Jene bedienen sich der Vernunft, um diese selbst zu bekämpfen,<br />

gebrauchen ihre ganze Kraft, um zu beweisen, daß sie ein ungenügender<br />

Führer ist in ihrer Lebensführung. Doch unglücklicherweise<br />

für uns haben sich, ganz im Verhältnis dazu, wie sehr wir<br />

von den einfachen Naturregeln abweichen, unsern menschlichen<br />

Verstand wider diesen selbst kehrten, auch unsere Unsinnigkeiten<br />

und die Elendszustände vermehrt. Je tiefer wir, also in das Labyrinth<br />

des Gekünstelten und Unnatürlichen eindringen, desto weiter entfernt<br />

finden wir uns von den Zielen, derentwillen wir eintraten.<br />

So geschah es in fast jeder Art künstlicher Gesellschaftsform und<br />

immerwährend.<br />

Man fand oder glaubte darin eine Unzweckmäßigkeit zu finden, daß<br />

jeder Mensch sein eigener Richter sein sollte, Richter seiner<br />

eigenen Sache. Aus diesem Grunde errichtete man das Richteramt,<br />

und die Richter erhielten zuerst nur beschränkte Vollmacht. Sehr<br />

bald aber erkannte man die elende Sklaverei, die darin bestand,<br />

daß er Leben und Eigentum von dem Willen eines anderen<br />

abhängig gemacht ward, abhing von der willkürlichen Entscheidung<br />

irgend eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen.<br />

Wir flüchteten nun zu Gesetzen, sie sollten das Heilmittel<br />

gegenüber diesem Uebel sein. Wir überredeten uns zu der<br />

Annahme, daß wir durch diese mit einiger Sicherheit wissen könnten,<br />

wo wir eigentlich standen, und wie es sich mit unseren Rechten<br />

verhielt. Doch siehe dal — es entstanden Meinungsverschiedenheiten<br />

über den Sinn und die Auslegung der Gesetze. Und so<br />

wurden neue Gesetze gemacht, um die alten klar zu machen;<br />

aber mit den neuen Gesetzen entstanden neue Schwierigkeiten,<br />

*) Vergl. „<strong>Freie</strong> <strong>Generation</strong>«, Bd. I Nr. 6, 7, 9, 10, Bd. II, Nr. 2,<br />

5. — Nur noch 2 Fortsetzungen im dritten Band beendigen die erste<br />

deutsche Uebersetzung dieses klassischen, ältesten Dokuments des<br />

Anarchismus.


— 308 —<br />

denn je zahlreicher an Worten die menschliche Sprache wurde,<br />

desto mehr Gelegenheit, über die neuen Gesetze zu tüfteln,<br />

boten sich.<br />

Man nahm dann seine Zuflucht zu Niederschriften, Kommentaren,<br />

Glossen, Reporten, „reposa prudentum", gelehrten Abhandlungen:<br />

ein Adler stand einem anderen gegenüber, die eine<br />

Autorität pflanzte sich auf wider eine andere Autorität. Einige<br />

Menschen ließen sich durch das Neuere begnügen, andere wieder<br />

verehrten das Althergebrachte. Die Neuen waren erleuchteter, die<br />

Alten ehrwürdiger, Einige akzeptierten den Kommentar, andere<br />

hielten an dem Text fest. Die Konfusion stieg immer höher, der<br />

Nebel ward dichter, bis man wirklich nicht mehr wissen konnte,<br />

was erlaubt, was verboten war, welche Dinge Privateigentum, welche<br />

gemeinschaftlich sein sollten. In dieser Ungewißheit — selbst den<br />

Professoren war alles ungewiß, über den Rest der Menschheit<br />

breitete sich einfach egyptische Finsternis! — wurden die in Zwist<br />

und Hader geratenen Parteien, die laut dem Gesetze einen Urteilsspruch<br />

wünschten, weit mehr ruiniert durch die notwendige<br />

unendliche Verzögerung in der definitiven Urteilsfällung, als sie<br />

selbst durch eine ungerechte Entscheidung hätten geschädigt werden<br />

können. Unsere Erbstücke sind das Opfer gelehrter Dispute<br />

geworden und Dispute, wie juridisch-legale Litigationen, sind unser<br />

Erbteil geworden. —<br />

Die Professoren des künstlichen, von Menschen gemachten<br />

Gesetzes gingen stets Hand in Hand mit den Professoren der<br />

künstlichen Theologie. Da ihr Endzweck, die einfache, klare Vernunft<br />

des Menschen zu verwirren, seine natürliche Freiheit zu<br />

beschränken, ganz derselbe und gemeinsam gleiche ist, paßten sie<br />

auch sämtliche ihrer Mittel in gleicher Weise diesem Zwecke an.<br />

Der Theologe schleudert seine Bannflüche mit mehr<br />

Lärm und Schrecken nach einem Fehltritt wider eine seiner?' positiven<br />

Institutionen, oder gegen die Vernachlässigung einer ihrer<br />

unbedeutendsten Formen, als gegen die Vernachlässigung oder den<br />

Bruch jener Pflichten der natürlichen Religion, die er gerade<br />

durch jene Formen erzwingen zu wollen vorgibt. So besitzt auch<br />

der Rechtsgelehrte, der Jurist seine bestimmten Formen, auch seine<br />

positiven Institutionen, und er schließt sich ihnen mit ganz derselben<br />

religiösen Verehrung an. Die schlechteste Sache kann einer<br />

Prozeßpartei nicht mehr schaden, wie z. B. die Unwissenheit des<br />

Advokaten inbezug auf diese Formen oder ihre Vernachlässigung.<br />

Ein Prozeß ist wie eine schlecht eingeleitete und übel arrangierte<br />

Diskussion, in der das erste und wirkliche Thema bald außer Sicht<br />

und die hadernden Parteien bei einer Sache enden, die absolut<br />

keine Verbindung oder Beziehung zu jener hat, mit der sie begonnen<br />

haben. In irgend einem Prozeß ist z. B. die Frage: wer hat ein<br />

Anrecht auf ein gewisses Haus oder ein Bauerngehöft? Diese


— 309 —<br />

Frage wird nun täglich nicht auf Grund der Rechtsbeweise entschieden,<br />

sondern auf Grund der Beobachtung oder Vernachlässigung<br />

irgend einer Wortformel, die die Herren in Talaren — unter<br />

denen in dieser Frage selbst immer Uneinigkeit herrscht — anerkennen<br />

; so daß die berufensten Veteranen des Berufs der Juristerei<br />

niemals positiv sicher sein können, ob sie nicht im Irrtum waren.<br />

Stellen wir diese gelehrten Weisheitsmenschen, diese Priester<br />

des heiligen Gerechtigkeitstempels zur Rede!<br />

Sind wir selbst die Richter über unser Eigentum? Keineswegs.<br />

Nun denn, mögen die, die eingeführt sind in die Geheimnisse der<br />

blinden Göttin, uns darüber aufklären, ob ich ein Recht dazu habe,<br />

das Brod zu essen, das ich durch die Gefährdung meines Lebens<br />

oder im Schweiße meines Angesichts verdient habe. Ein ernster<br />

Jurist antwortet bejahend; aber ein anderer vornehmer Barrister<br />

des gemeinen Rechts antwortet mit nein. Der gelehrte Herr<br />

dreht die Sache von einer Seite auf die andere und er kommt zu<br />

keinen Schlußfolgerungen. Was soll ich nun tun? Da tritt ein<br />

Gegner auf und bedrängt mich stark. Ich betrete dann die<br />

juristische Arena, nehme mir drei Juristen, um meine Sache zu<br />

verteidigen. Meine Sache, die von zwei Bauern am Pflug in einer<br />

halben Stunde hätte entschieden werden können, dauert im Gericht<br />

zwanzig Jahre. Immerhin, ich bin am Ende meiner Mühe angelangt<br />

und habe, als Belohnung für meine Arbeit und meinen<br />

Aerger, ein Urteil zu meinen Gunsten erwirkt. Aber halt! Ein<br />

scharfsinniger Rechtsvertreter von der anderen Seite hat einen<br />

Fehler in dem Verfahren und der Urteilsbegründung entdeckt.<br />

Mein Triumpf wird nun in Trauer umgewandelt. Ich habe das<br />

Wörtlein „oder", „anstatt", „und" gebraucht, oder ein anderer,<br />

dem Anschein winziger, Fehler, der nun in seinen Folgen schrecklich<br />

ist, wurde begangen. Und mein ganzer Erfolg einer zwanzigjährigen<br />

Arbeit ist verloren durch die Rekursergreifung der anderen Partei.<br />

Ich nehme nun meine Prozeßsache vor eine höhere, andere Instanz;<br />

laufe von Gericht zu Gericht, fliege vom natürlichen Rechtsgefühl<br />

zum Gesetz und vom Gesetz zum natürlichen Rechtsgefühl.<br />

Ueberau die gleiche Ungewißheit und ein Irrtum, an dessen Begehung<br />

ich keinerlei Anteil hatte, entscheidet in einem sowohl über<br />

mein Leben als Eigentum, sendet mich aus dem Gericht ins<br />

Gefängnis, verurteilt meine Familie zur Bettelei und zum Hungertod,<br />

Meine Herren — ich bin unschuldig an der Dunkelheit und<br />

Ungewißheit Ihrer Wissenschaft! Nicht ich habe sie durch absurde<br />

und widerspruchsvolle Einfälle verdunkelt; sie auch nie mit Chikane<br />

und Sophisterei verwechselt. Sie haben mich von irgendwelcher<br />

Anteilnahme an der Führung meiner Sache ausgeschlossen. Diese<br />

Wissenschaft ist zu tiefsinnig für mich; ich gab es zu. Aber sie<br />

war selbst für Sie zu tiefsinnig; Sie haben den Weg dazu so ver-


— 310 —<br />

worren gemacht, daß Sie sich selbst nicht mehr zurecht finden.<br />

Sie irren — und Sie strafen mich für Ihre Irrtümer!<br />

Die Verzögerung und Hinausschlepperei des Gesetzes ist,<br />

meinen Sie, Mylord, eine abgedroschene Sache; welche seiner Mißstände<br />

wären wohl allzustark gefühlt und empfunden worden, als<br />

daß man sich nicht beklagen dürfte?! Aber das Eigentum eines<br />

Mannes soll doch den Zwecken seines Lebensunterhaltes dienen,<br />

und darum ist die Verzögerung in der Urteilsfällung die größte<br />

Ungerechtigkeit, denn sie schneidet ja von vornherein alle die<br />

Absichten ab, die mich dazu führten, mich an das Gericht um<br />

Erleichterung aus meiner Bedrängnis zu wenden. Anders ist es<br />

freilich, wenn es sich um ein Menschenleben handelt; in diesem<br />

Falle kann eine Urteilsfällung gar nicht lange genug hinausgeschoben<br />

werden. Doch es werden hier ebenso viele Fehler und Irrtümer<br />

begangen, wie auf jedem anderen Gebiete der Justiz; und wenn<br />

gar das Urteil ein solches ist, so werden solche Fehler die unwiderruflichsten<br />

von allen. Die Herren in den Soutanen wissen das<br />

auch ganz genau, und so haben sie diesen Gedanken in einen<br />

Grundsatz gebracht? De morte hominis nulla est cunctacio longa<br />

. . . Und doch wird die Frage über Leben und Tod eines Menschen,<br />

diese Frage, in der keine Verzögerung als langweilig gelten dürfte,<br />

in rund vierundzwanzig Stunden erledigt. Es ist schließlich kein<br />

Wunder, daß Ungerechtigkeit und Absurdität so unzertrennliche<br />

Kumpane sind.<br />

Fragen Sie einmal die Politiker nach den Zwecken, um<br />

deretwillen ursprünglich Gesetze ausgearbeitet wurden. Sie werden<br />

Ihnen die Antwort geben, daß die Gesetze als eine Schutzwehr<br />

der Armen gegen die Reichen, gegen die Unterdrückung durch<br />

die Reichen und Machthaber beabsichtigt waren. Doch eines ist<br />

gewiß: keine Anmaßlichkeit kann lächerlicher sein als diese! Man<br />

könnte mir gerade so gut sagen, man habe mich entlastet, weil<br />

man meine Bürde veränderte. Wenn der arme Mann nicht imstande<br />

ist, wegen der Aergernisse und teuren Art und Weise des Gerichtsverfahrens<br />

in zivilisierten Ländern, seine Klageführung zu vertreten,<br />

hat dann nicht der Reiche denselben Vorteil, den der Starke über<br />

den Schwachen im Naturzustände besitzt?<br />

Allein wir wollen den Naturzustand, der die Herrschaft Gottes,<br />

nicht in einen Wettstreit versetzen mit der politischen Gesellschaft<br />

die die absurde Gewaltsmacherei des Menschen ist. Es ist wahr,<br />

daß im Naturzustande ein Mensch von stärkerer Kraft als ich, mich<br />

schlagen oder berauben mag; aber es ist gleicherweise wahr, daß ich<br />

dann vollkommen frei bin, mich zu verteidigen oder durch Plötzlichkeit<br />

des Angriffes es zu vergelten, was er mir zufügte; durch Verschmitztheit<br />

oder durch irgend eine andere Weise, in der ich ihm<br />

überlegen sein mag. Doch in der staatlichen Gesellschaft kann<br />

mich der reiche Mann auf irgend eine andere Art berauben. Ich


— 311 —<br />

darf mich nicht verteidigen, denn Geld ist die einzige Waffe, mit<br />

der es mir erlaubt ist, zu kämpfen. Und wenn ich es versuchen sollte,<br />

mich zu rächen, ist die gesamte Macht dieser Gesellschaft bereit,<br />

mich vollständig zu vernichten.<br />

Ein guter Prediger sagte einst, daß dort, wo das Geheimnisvolle<br />

anfange, die Religion zu Ende sein. Darf ich nicht mit<br />

wenigstens ebensoviel Richtigkeit behaupten, daß dorten, wo das<br />

Geheimnisvolle anfängt, die Gerechtigkeit aufhört?<br />

Es ist schwer zu sagen, ob die Doktoren des Gesetzes oder<br />

der Gottheit größere Fortschritte in dem einträglichen Geschäft<br />

mit dem Geheimnisvollen gemacht haben. Die Advokaten haben,<br />

ganz ebenso wie die Theologen, neben der natürlichen Vernunft<br />

eine andere Vernunft errichtet; und das Resultat war eine<br />

andere Gerechtigkeit neben der natürlichen Gerechtigkeit.<br />

Sie haben die Welt und sich selbst so verwirrt mittels bedeutungsloser<br />

Formalitäten und Zeremonien, die einfachsten Dinge so verworren<br />

gemacht durch einen metaphysischen Jargon, daß es für<br />

einen Mann außerhalb Ihres Berufes die größte Gefahr mit sich<br />

trägt, ohne ihren Ratschlag, ihre Unterstützung, auch nur einen<br />

Schritt in eigener Sache zu machen. Indem sie auf diese Weise<br />

die Kenntnis über die Grundlagen der menschlichen Rechte, Leben<br />

und das Eigentum, auf sich beschränkten, haben sie die ganze<br />

Menschheit auf das Niveau verächtlichster und dienstlicher Abhängigkeit<br />

herabgedrückt. Wir sind abhängige Mietlinge vom Willen<br />

dieser Herren in allen Dingen; ein metaphysisches Gezänk<br />

bestimmte, ob der größte Schurke das bekommen soll, was er<br />

verdient oder aber straflos entkommen kann; oder ob der beste<br />

Mensch der Gesellschaft nicht auf die niedrigste und verächtlichste<br />

Stufe herabgedrückt werden soll, die sie besitzt. Mit einem Worte,<br />

Mylord, die Ungerechtigkeit, Verzögerung, Kinderei, falsche Glätte,<br />

und angenommene Geheimnistuerei des Gesetzes sind solche<br />

Faktoren, daß viele, die unter seiner Herrschaft leben, dazu<br />

gelangen, die Flinkheit, Einfachheit und Gleichheit willkürlicher<br />

Urteile zu bewundern und zu beneiden. Ich brauche auf diesen<br />

Punkt eigentlich weniger Nachdruck zu legen, denn Sie selbst,<br />

Mylord, haben des öftern sich beklagt über die Elendszustände,<br />

die das künstliche Gesetz schafft; und ihre Offenherzigkeit ist in<br />

dieser Hinsicht umso mehr zu bewundern und zu preisen, als ihr<br />

ganzes adeliges Ahnenhaus seinen Reichtum und seine Ehre nur<br />

durch diesen Beruf des Gesetzesmacher und Juristen gewann.<br />

(Fortsetzung folgt.)<br />

Edmund Burke.


— 312 —<br />

Pablo Iglesias und die Anarchisten.<br />

Die Sozialdemokratie aller Länder hat in ihrem Kampfe<br />

wider den Anarchismus eine Reihe von Aktionen verübt, die einen<br />

späteren objektiven Historiker dieser Partei mit Wehmut und Empörung<br />

erfüllen wird. Eine Partei, die vorgibt, im Interesse des Proletariats<br />

zu wirken, darf in ihrem Kampfe gegen jene, die dem widersprechen<br />

und in ihrer theoretischen Begründung genug der Beweise<br />

erbringen, weshalb sie dies tun, ganz abgesehen von den handgreiflichen<br />

Tatsächlichkeiten historischer Erfahrung, die laut für die<br />

Philosophie und Taktik des anarchistischen Gedankens zeugen —<br />

eine solche Partei, wie die Sozialdemokratie, darf sich niemals so<br />

weit vergessen, in ihrem Hasse gegen den emporstrebenden Glutgedanken<br />

echtester Emanzipation gemeinsame Sache mit den<br />

Gegnern, dem Staate, der Polizei zu machen.<br />

Leider aber besitzen wir eine Anzahl von Vorfällen, vornehmlich<br />

in den germanischen Ländern, aber auch in den romanischen<br />

Staaten, daß die Sozialdemokratie sich in ihrem „geistigen Kampfe"<br />

gegen die anarchistische Bewegung der verwerflichsten, jesuitischen<br />

Methoden bedient hat, insbesondere oftmals die Polizei als indirekte<br />

Helfershelferin gegen den Anarchismus gebrauchte.<br />

Veranlassung zur Berührung dieses dunklen Kapitels in der<br />

Geschichte der sozialdemokratischen Partei bietet uns eine Polemik<br />

in der französischen Presse, im Hervéschen „La Guerre Sociale",<br />

in welchem Blatte unser greiser Vorkämpfer Charles Malato<br />

dem Führer der spanischen Sozialdemokratie, Pablo Iglesias, den<br />

Vorwurf machte, das heldenmütige spanische Proletariat während<br />

seines heroischen Generalstreiks im Februar des Jahres 1902 nicht<br />

nur rein theoretisch bekämpft, sondern sich auch direkt der<br />

Polizei bedient zu haben. Wie nicht anders zu erwarten war,<br />

versuchte es Iglesias, sich von dieser vernichtenden Anschuldigung,<br />

die nicht etwa von einem berufsmässigen Verleumder, sondern von<br />

einem allgemein geachteten und großen Denker der anarchistischen<br />

Philosophie ausging, zu reinigen. Aber es mißlang ihm das vollständig<br />

und eine neuerliche Entgegnung Malatos, der sich nun<br />

auch an den in London wohnenden Genossen Tarrida del<br />

Marmol gewandt hatte, bietet eine solche Fülle von unwiderlegbarem<br />

und auch international wichtigem Material gegen Iglesias und<br />

andere, daß wir es für notwendig erachten, dieses als ein historische<br />

Wichtigkeit besitzendes Dokument unseren Lesern im Auszuge zu<br />

bieten.<br />

Daß Iglesias im Jahre 1902 den Verräter gegen das spanische,<br />

in einem Kampfe auf Tod und Leben gegen die herrschenden und<br />

besitzenden Klasse befindliche Proletariat gespielt hatte, um dies<br />

zu beweisen, dazu bedurfte es keines Anarchisten. Selbst ehrliche,


— 313 —<br />

alte Sozialdemokraten waren entsetzt und empört über die von<br />

der spanischen Sozialdemokratie damals eingenommene Rolle des<br />

Streikbrechertums und der mit ihr allierten Polizei. Besonders war es<br />

die Feigheit der Partei, die dem alten Sozialisten Cipriani, eine<br />

der edelsten Gestalten des internationalen Sozialismus, Worte des<br />

entrüstetsten Protestes über die Lippen drängte, denen er auch<br />

literarischen Ausdruck gab, nämlich in einem Artikel der „Petite<br />

Republique" vom 19. März 190<strong>2.</strong> U. a. sagte er dort:<br />

„. . . Die Revolution von Barcelona war von Grund aus<br />

sozialistisch und diejenigen, die es sich leisten zu dürfen glaubten;<br />

sie zu desavouieren, haben sich selbst in den Augen der Feinde<br />

des Sozialismus verächtlich gemacht.<br />

Dies ist der Fall mit Iglesias, der sich während der Unruhen<br />

irgendwo in Madrid verkroch. Dieselbe Beschuldigung trifft die<br />

Republikaner, die dem Beispiel Iglesias folgten."<br />

Diesem Urteil über den Führer der ja glücklicherweise nur<br />

winzigen spanischen Sozialdemokratie, deren Kampf gegen die<br />

Anarchisten aber in den Augen der Inquisitions-Regierung eine<br />

solche Bedeutung gewonnen hat, daß sie Iglesias zum Mitglied des<br />

behufs Köderung der Arbeiter geschaffenen „Bureaux der Arbeiter"<br />

machte, müssen die folgenden Briefstellen hinzugefügt werden, um<br />

es zu vervollständigen.<br />

„Lieber Malato!<br />

Alle Deine Behauptungen, die Du im „Guerre Sociale" machtest<br />

inbezug auf Pablo Iglesias sind genau und richtig; höchstens vielleicht<br />

mit Ausnahme des Wortes „Gendarmen", das er gebrauchte. Ich bin<br />

nämlich dessen nicht gewiß, ob er es in jener Rede aussprach, in der<br />

er mitteilte, daß er das Mißlingen des Generalstreiks absolut machen<br />

würde. Auf jeden Fall aber hatte er die revolutionäre Arbeiterschaft<br />

Spaniens der Rache der Gendarmen und Polizisten ausgeliefert, als er<br />

in öffentlicher Versammlung die folgenden Worte aussprach: „Die<br />

sog. Libertaire sind gar nichts anderes als verkappte Anarchisten,<br />

die aber jenen Namen angenommen haben, um den Verfolgungen zu<br />

entgehen ..." Diese denunziatorische Handlungsweise ist umso verächtlicher,<br />

als gerade um jene Zeit die spanischen Regierungsautoritäten<br />

mit entsetzlichster Grausamkeit jeden verfolgten, der sich Anarchist<br />

zu nennen wagte, da sie diese Bezeichnung jener eines Dynamitarden<br />

gleichstellten. Es war also durchaus notwendig, wollte man die revolutionäre<br />

gewerkschaftliche Propaganda fortsetzen, daß die Mehrzahl der<br />

spanischen Gewerkschaftler, obwohl durchaus anarchistisch gesonnen,<br />

auch in der Taktik gegen Dynamitattentate, jenen anderen Namen<br />

adoptiere. Diese feige Denunziation von Iglesias machte diese Vorsorge<br />

wertlos und die an Macht stetig gewinnende Regional-Föderation<br />

wurde infolge dessen von der Regierung endlich aufgerieben. Es ist<br />

dies das gewesen, was dieser erbärmliche Ausbeuter des einschläfernden<br />

Parlamentssozialismus wollte.


— 314 —<br />

Doch dies ist noch nicht alles.<br />

Durch die Bemühungen einiger in England lebender Kameraden<br />

wurde die Aufmerksamkeit der englischen Gewerkschaftler auf den<br />

großartigen Generalstreikkampf zu Barcelona gelenkt. Geldsammlungen<br />

zur Unterstützung der Streikenden in großem Stil wurden veranlaßt.<br />

Da ließ Iglesias durch sein Parteifaktotum, Garcia Quejido, an<br />

den Sekretär der englischen „Föderation der Gewerkschaften einen<br />

Brief schreiben, der als Resultat den Zusammenbruch des Generalstreiks<br />

haben sollte. Diese Tatsache kann durch unumstößliche<br />

Beweise belegt werden und sollte Iglesias das leugnen, so werde ich<br />

diese unbestreitbaren dokumentarischen Belege erbringen. Ich war<br />

damals sehr erfreut darüber zu sehen, daß der Brief nichts anderes<br />

enthielt als eine Reihe der durchsichtigsten Verleumdungen und<br />

Unrichtigkeiten gegen die katalonischen Arbeiter, die mit so viel Aufopferung<br />

ihren Kampf gegen Privilegienmacht führten. Allein der<br />

englische Sekretär, Isaac Mitchell, der als Sozialdemokrat jede wirklich<br />

revolutionäre Bewegung haßte und schon zu jener Zeit seine spätere<br />

Evolution vorbereitete — er ist gegenwärtig ein hoher Staatsbeamter<br />

—, beeilte sich, dieses Verleumdungsschreiben im Bulletin der Föderation<br />

zum Abdruck zu bringen, was die Einstellung der Geldsendungen,<br />

die den Zweck hatten, die Streiker in ihrem schweren Kampfe zu unterstützen,<br />

zur Folge hatte.<br />

Es ist in gleicher Weise wahr, daß Iglesias, unterstützt durch<br />

Guesde, Volders und Bebel, es bewerkstelligte, daß Esteve und ich,<br />

trotz der Proteste der Genossen Domela Nieuwenhuis und der englischen<br />

Delegierten, nicht auf dem Brüsseler Arbeiter- und Sozialistenkongreß<br />

zugelassen wurden; man schützte vor, daß wir nur als Anarchisten<br />

da wären, obwohl wir uns durch unsere Beglaubigungsschreiben als<br />

Delegierte von 55000 spanischen revolutionär-gewerkschaftlich organisierten<br />

Arbeitern ausweisen konnten. Beiläufig bemerkt, signalisierte<br />

uns dies auch der Brüsseler Polizei, die bereits zwei Tage früher den<br />

Delegierten Merlino auf die analoge Denunziation von Volders hin<br />

ausgewiesen hatte.<br />

Im übrigen ist Iglesias das verwöhnte Kind der reaktionären, spanischen<br />

Presse, die mit ihm nicht allzu sehr zu feilschen braucht, um<br />

gegenseitige Beweihräucherungen auszutauschen. Man kann sagen,<br />

er ist ein Wachthund der spanischen Bourgeoisie insofern sie den<br />

Sozialismus für ihre eigenen Zwecke zu benützen, ihn aber vor dem<br />

revolutionären Kampf, als Strebensziel des Proletariats, zu verbergen<br />

wünscht; es ist hier ein ähnliches Verhältnis, wie es mit Castelar in<br />

den letzten Jahren seines Lebens der Fall gewesen, der ja dann<br />

auch nur ein Wachthund der Monarchie war, obwohl er unentwegt<br />

fortfuhr, sich einen Republikaner zu nennen. All das, was ich anführte,<br />

verhindert Pablo Iglesias natürlich nicht im geringsten, sich der hohen<br />

Wertschätzung aller Bonzen des internationalen Marxismus zu erfreuen,<br />

die sie ja nur für die Mitglieder ihrer eigenen kleinen Kapelle hegen,<br />

die sie zusammen bilden.<br />

Du magst von diesem Brief jeden Dir beliebigen Gebrauch machen.<br />

Mit brüderlichen Handdruck Dein<br />

Tarrida del Marmol."


— 315 —<br />

Wir glauben, dieser Brief spricht in seiner Einfachheit und<br />

Deutlichkeit mehr als Bände dies tun könnten.<br />

Was die im Laufe desselben angedeuteten dokumentarischen Beweise<br />

anbetrifft, hat Schreiber dieser Zeilen sie gesehen und gelesen und<br />

sind sie tatsächlich unwiderleglich. Sie befanden sich in den Händen<br />

des alten, seither verstorbenen englischen Kameraden Sam<br />

Mainwaring, der anno 1902 ein Mitglied des Unterstützungskomitees<br />

zugunsten der spanischen Kameraden und Kämpfer war.<br />

Die Beweise bestehen einfach aus — der ganzen Korrespondenz,<br />

die die Verräter und Verleumder mit Mitchell führten.<br />

Das obige Dokument ist eines von den vielen, die veröffentlicht<br />

werden könnten. Es wäre verfehlt, dadurch die Arbeiter, die der<br />

sozialdemokratischen Partei angehören, als solche treffen zu wollen.<br />

Sie sind Verführte. Aber desto lauter und deutlicher wird das<br />

historische Urteil über jene sprechen, die die Verführer und Führer<br />

der Sozialdemokratie sind.<br />

P. R.<br />

Eine französische Stimme<br />

über die deutsche Sozialdemokratie.<br />

„ . . . Die Sozialdemokratie, die deutsche Sozialdemokratie,<br />

ist ein eminenter, typischer, von nun an klassischer Fall, der die<br />

ganze Machtlosigkeit und intimere Armut des modernen Intellektualismus<br />

zur Schau stellt.<br />

Durch den Mund Engels erklärt sie sich als Erbin der klassischen,<br />

deutschen Philosophie, aber es scheint und erscheint mit<br />

jedem Tage deutlicher, daß sie nur wußte, wie aus dem spezifischen<br />

Hegelianismus eine selbstgefällige, abstrakte und scholastische<br />

Dialektik herauszubringen. Als Croce sein Buch über die Philosophie<br />

Hegels schrieb, versuchte er darin, die tote und die lebende<br />

Seite des Hegelianismus von einander zu scheiden; man kann sehr<br />

wohl sagen, daß die Sozialdemokratie davon nur die tote Seite<br />

annahm.<br />

Bernstein hatte Recht, als er den abscheulichen Einfluß der<br />

hegelianischen Dialektik auf den orthodoxen Marxismus verdammte,<br />

er hatte recht, als er den unberechneten und latenten Blanquismus


— 316 —<br />

in ihr verurteilte. Man weiß, wie die Sozialdemokratie Bernsteins<br />

Kritik — die Kritik eines Meisters in der Schule der Nörgelei und<br />

Maulhängerei — aufnahm, wie entrüstet sie darüber war, sich in<br />

ihrem dogmatischen Quietismus gestört zu sehen. Allein sie wußte<br />

nicht, wie die Kritik Bernsteins zu besiegen, sie zu überwinden und<br />

ihre fruchtbaren Keime zu verwerten; hartnäckig blieb sie bei dem<br />

Worte stehen, wie etwa eine alte Mamsell, ebenso starrsinnig und<br />

spröde, welche sich strikt an die Sitte des Tages hält.<br />

In dieser Hinsicht ist eine Lektüre der Kautskyschen „Neuen<br />

Zeit" stets peinlich. Sie fühlt sich schimmlig an, besitzt einen<br />

dumpfen Geruch; es ist die merkwürdige Atmosphäre einer alten<br />

Kapelle, in der nur noch einige zurückgebliebene Frömmlinge Einkehr<br />

halten, um zu beten. Für sie alle ist Marx tabu; ebenso wie<br />

ihnen die Oekonomen, Politiker oder sonstigen Philosophen verschlossen<br />

bleiben. Und die berühmte Werttheorie ruht in der<br />

Tat auf einer vollständig unbestrittenen wissenschaftlichen Wahrheitsbasis:<br />

alle die Arbeiten der modernen, zeitgenössischen Oekonomie<br />

zählen nicht für sie . . .<br />

.... Man verstehe wohl: Die Revisionisten strecken die<br />

Flagge vor dem Kapitalismus; sie nehmen dessen Geist, Anschauungen<br />

an und wollen, daß dieselben von der Arbeiterklasse angenommen<br />

werden sollen. Aber die Orthodoxen, sie sind weder<br />

Kapitalisten noch Arbeiter; als Schwärmer und Politiker wollen sie<br />

daran arbeiten, den Kapitalismus zu ruinieren und erreichen doch<br />

nur, daß die Arbeiterklasse sich heimischer fühlt im bestehenden<br />

System, diese Klasse, deren Wahlgefolgschaft sie brauchen. Auf<br />

ihrer Seite ist nur eine Politik der Mittelmäßigkeit, eine Politik der<br />

Staatserhaltung zu finden, welche den Interessen der Arbeiter ebenso<br />

zuwiderläuft, wie auch den Interessen des Kapitalisten, welch letztere<br />

jedoch den Sieg davon tragen.<br />

Angesichts all dessen, darf man sagen, daß der revolutionäre<br />

Syndikalismus, welcher als Ziel die Führung des wirtschaftlichen<br />

Klassenkampfes hat, also begründet ist auf dem sozialen Antagonismus,<br />

allumfassend die Entwicklung des Kapitalismus beschleunigt;<br />

aber er beschleunigt auch jene seiner Erbin: eine Arbeiterklasse,<br />

welche dazu fähig ist, die Fabrik und die Werkstätte selbständig<br />

zu leiten, befreit von jedweder Oberaufsicht und Herrschaft. Der<br />

revolutionäre Syndikalismus wäre somit die wahre Lösung der<br />

Krise des Bernsteinianischen Gewissens!<br />

Eduard Berth *)<br />

*) ,,Le Mouvement Socailiste". Nr. 186.


— 317 —<br />

Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes.<br />

ARTIKEL 1.<br />

Die Grundform der sozialistischen Kultur ist der Bund der<br />

selbständig wirtschaftenden, unter einander in Gerechtigkeit tauschenden<br />

Wirtschaftsgemeinden.<br />

ARTIKEL <strong>2.</strong><br />

Dieser Sozialistische Bund tritt auf den Wegen, die die Geschichte<br />

anweist, an die Stelle der Staaten und der kapitalistischen<br />

Wirtschaft.<br />

ARTIKEL 3.<br />

Der Sozialistische Bund akzeptiert für das Ziel seiner Bestrebungen<br />

das Wort Republik im ursprünglichen Sinne: die Sache<br />

des Gemeinwohls.<br />

ARTIKEL 4.<br />

Der Sozialistische Bund erklärt als das Ziel seiner Bestrebungen<br />

die Anarchie im ursprünglichen Sinne: Ordnung durch<br />

Bünde der Freiwilligkeit.<br />

ARTIKEL 5.<br />

Der Sozialistische Bund umfaßt alle arbeitenden Menschen,<br />

die die Gesellschaftsordnung des Sozialistischen Bundes wollen.<br />

Seine Aufgabe ist weder proletarische Politik noch Klassenkampf,<br />

die beide notwendiges Zubehör des Kapitalismus und des Gewaltstaats<br />

sind, sondern Kampf und Organisation für den Sozialismus.<br />

ARTIKEL 6.<br />

Die eigentliche Wirksamkeit des Sozialistischen Bundes kann<br />

erst beginnen, wenn sich ihm größere Massenteile angeschlossen<br />

haben. Bis dahin ist seine Aufgabe: Propaganda und Sammlung.


— 318 —<br />

ARTIKEL 7.<br />

Die Mitglieder des Sozialistischen Bundes wollen ihre Arbeit<br />

in den Dienst ihres Verbrauchs stellen.<br />

ARTIKEL 8.<br />

Sie vereinigen ihre Konsumkraft, um die Produkte ihrer<br />

Arbeit mit Hilfe ihrer Tauschbank zu tauschen.<br />

ARTIKEL 9.<br />

Sie schicken Pioniere voraus, die in Inlandsiedlungen des<br />

Sozialistischen Bundes möglichst alles, was sie brauchen, auch die<br />

Bodenprodukte, selbst herstellen.<br />

ARTIKEL 10.<br />

Die Kultur beruht nicht auf irgend welchen Formen der<br />

Technik oder der Bedürfnisbefriedigung, sondern auf dem Geiste<br />

der Gerechtigkeit.<br />

ARTIKEL 11.<br />

Diese Siedlungen sollen nur Vorbilder der Gerechtigkeit und<br />

der freudigen Arbeit sein; nicht Mittel zur Erreichung des Ziels.<br />

Das Ziel ist nur zu erreichen, wenn der Grund und Boden durch<br />

andere Mittel als Kauf in die Hände der Sozialisten kommt.<br />

ARTIKEL 1<strong>2.</strong><br />

Der Sozialistische Bund erstrebt das Recht und damit die<br />

Macht, im Zeitpunkt des Übergangs durch große, grundlegende<br />

Maßnahmen das Privateigentum an Grund und Boden aufzuheben<br />

und allen Volksgenossen die Möglichkeit zu geben, durch Vereinigung<br />

von Industrie und Landwirtschaft in selbständig wirtschaftenden<br />

und tauschenden Gemeinden auf dem Boden der<br />

Gerechtigkeit in Kultur und Freude zu leben.


— 319 —<br />

Archiv des sozialen Lebens.<br />

Selten wohl, daß uns eine kleine Broschürenschrift in die Hände<br />

fiel, die mit ähnlicher Glut des edelsten Idealismus verfaßt ist, wse jene<br />

unseres amerikanischen Genossen Viktor Robinson über das Verhältnis<br />

zwischen William Godwin und Mary Wollstonecraft. Die kleine, aber<br />

gediegene Schrift ist erst kürzlich erschienen und ist der Verfasser, der<br />

selbst Anarchist, wohl befähigt, über Godwin zu schreiben und zu urteilen.<br />

Als Herausgeber zeichnet eine New-Yorker Gruppe „The Altrurians"<br />

(12 Mount Morris Park West) und kündigt dieselbe eine ganze biographische<br />

Serie von ähnlichen Publikationen über Krapotkin, Ingersoll,<br />

Whitman, Reclus, Louise Michel usw., an. Wir wünschen der Schrift<br />

des Genossen Robinson, wie dem Gesamtlinternehmen viel Glück und<br />

Eindringen in die weitesten Kreise!<br />

Die individualistische Schule des Anarchismus englischer Zunge<br />

und amerikanischer Abstammung, die durch Benj. R. Tucker vertreten<br />

wird, hat in den ersten Tagen dieses Jahres das Unglück erfahren, daß<br />

der ganze reichhaltige Verlag und die Druckerei des Genannten durch<br />

eine Feuersbrunst vollständig zerstört wurden. Monate lang hörte man<br />

nichts mehr, die fällige Februarnummer die Zeitschrift „Liberty" fiel<br />

ebenfalls aus und allgemein wurde angenommen, daß ein Neuaufraffen<br />

wohl kaum in Bälde zu erwarten sei.<br />

Obwohl wir als kommunistische Anarchisten uns sehr von den<br />

einzelnen ökonomischen Theorien Tuckers unterscheiden, stehen wir<br />

doch auf sozial-ethischem Gebiete Schulter an Schulter mit ihm. Ja<br />

mehr noch: wenn das Prinzip der ökonomischen Ordnung der zukünftigen<br />

Gesellschaft als ein voluntaristisches aufgefaßt wird — und für jeden<br />

Anarchisten müßte es so sein —, trennt uns kommunistische Anarchisten<br />

von jenen der individualistischen Tendenz nur unsere Annahme einer<br />

bestimmten ökonomischen Schule des Sozialismus, sonst aber nichts,<br />

da auch Tuckers ökonomische Lehren jedem Monopol entgegen treten,<br />

somit den Kern des Sozialismus umfassen.<br />

Man wird es aus diesem Grunde begreifen können, wenn wir<br />

sagen, daß uns die nun eingetroffene Aprilnummer der wieder auferstandenen<br />

„Liberty" (Freiheit) mit zu denjenigen rechnen darf, die sich<br />

herzlich freuen über diese verhältnismäßig so rasch eingetretene Genesung<br />

von den Folgen des Unglücks. In ihr teilt Tucker mit, daß er<br />

sich im Laufe dieses Jahres nach Europa wenden und von da aus die<br />

Zeitschrift — die einmal in zwei Monaten erscheint — herausgeben<br />

und redigieren wird.<br />

Vor uns liegt die erste Nummer der „L'Ecole Rénovée" („Die<br />

renovierte Schule"). Der neubegründeten Monatsschrift unseres bewährten<br />

Vorkämpfers Francisco Ferrer, der nach dem Muster seiner in Barcelona<br />

und anderen spanischen Städten begründeten Schulstätten des freien<br />

Gedankens daran geht, diese Keimorganismen der Erziehung einer aufgeklärten<br />

Menschheit in ganz Europa zu propagieren. Zu diesem Zweck<br />

begründete er nun die „Internationale Liga behufs rationeller<br />

Erziehung in der Kindheit", (Paris, Boulevard Saint-<br />

Martin 21) und in dessen Direktorium sich namhafte Männer der Wissenschaft<br />

und des Freiheitskampfes befinden.


— 320 —<br />

Die uns vorliegende erste Nummer obiger Zeitschrift, die von<br />

Brüssel, 76 Rue de l'Orme aus redigiert wird, ist ein wahres Kulturdokument<br />

der Weltanschauung des Anarchismus und seiner Erziehungsprinzipien.<br />

Mit Stolz und innigster Freude haben wir jede Zeile gelesen,<br />

und niemals hat uns die Siegesgewißheit unserer Idee klarer vor Augen<br />

gestanden wie dann, als wir die Lektüre beendet hatten. Es war ein<br />

Geistesgenuß seltenster Güte, die Artikel F'errers über „Die Renovation<br />

der Schule", F. Domela Nieuwenhuis über „Die individuelle Pädagogik",<br />

unseres großen Denkers und Kämpfers Peter Krapotkins Briefbeitrag<br />

über die Notwendigkeit der integralen Erziehungsmethode gelesen zu<br />

haben; und wir nennen hier nur die bekannteren Mitarbeiter. Die Zeitschrift<br />

enthält aber noch andere, sehr vorzügliche Aufsätze von D. Arsac,<br />

J. F. Elslander, Roorda van Eysinger usw.<br />

Das Einzelexemplar dieser ebenso genial gedachten, wie ausgeführten<br />

Zeitschrift kostet nur 50 Centimes, und wir drängen in diejenigen unserer<br />

Genossen, die der französischen Sprache mächtig, sie sich zu beschaffen.<br />

Sie unterstützen dadurch das Auftreten jenes fröhlich-gesunden Menschenkindes,<br />

von dem uns ein Typus vorgeführt wird und der wirklich die<br />

Worte zu bestätigen wollen scheint, die unterhalb des Bildes stehen und<br />

ein ganzes Aktionsprogramm des Freiheitskampfes verkörpern:<br />

„Eine glückliche und freie Kindheit!"<br />

An die Genossen und Gesinnungsfreunde!<br />

Wir ersuchen sämtliche unserer Abonnenten und Kolporteure, die<br />

mit ihren Zahlungen im Rückstände sind, ihren Pflichten nachzukommen<br />

und uns die längst fälligen Gelder einzusenden.<br />

Ebenso bitten wir alle unsere Gesinnungsfreunde, unsere Zeitschrift<br />

durch persönliche Empfehlungen in ihren Bekanntenkreis einzuführen,<br />

wie überhaupt uns neue Leser zuzuführen, auf daß Bestand und Erweiterung<br />

der Revue ermöglicht werde.<br />

Probenummern stehen jederzeit zur Verfügung und sind wir bereit,<br />

dieselben selbst zu versenden, wenn solches Aussicht auf Erfolg verspricht.<br />

Redaktion und Geschäftskommission der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>"<br />

Briefkasten.<br />

Genossen und Freunde der „<strong>Freie</strong>n <strong>Generation</strong>" die näheres<br />

über den Sozialistischen Bund zu wissen wünschen, mögen sich<br />

direkt an die Adresse Gustav Landauer, Hermsdorf (Mark),<br />

wenden.<br />

Verantwortlicher Redakteur: Berthold Cahn, Berlin.


Soeben erschienen:<br />

Kultur und Fortschritt<br />

von F. Thaumazo.<br />

Preis 5 Pf. 400 Stück 4 Mk.<br />

„Der freie Arbeiter"<br />

Anarchistisches Wochenblatt<br />

Erscheint jeden Sonnabend<br />

Geschäftsstelle: Berlin S.O. 26, Oranienstrasse 15, Hof III.<br />

Bezugspreise:<br />

Monatlich durch Spediteur . . . 0.40 Mk.<br />

Vierteljahrl. Kreuzband Berlin u. Umg. 1.50 „<br />

Vierteljährl. Kreuzband Deutschland 1.60 „<br />

Vierteljährlich Ausland 1.85 „<br />

Einzelnummer 0.10 „<br />

Soeben erschienen:<br />

Zur Kritik und Würdigung<br />

des Syndikalismus.<br />

von Pierre Ramus.<br />

Preis pro Stück 5 Pf. 400 Stück 4. Mk.


Der Revolutionär.<br />

Anarchistische Wochenschrift<br />

Redaktion und Verlag:<br />

Dragonerstr. 14. BERLIN C. Dragonerstr.<br />

Bezugspreise.<br />

Vierteljährlich per Kreuzband Berlin and Umgegend Mk. l.60<br />

Deutschland . . . . ,. 1,60<br />

Oesterreich-Ungarn l,60<br />

„ Luxemburg . . . . „ 1,60<br />

Ausland „ l.85<br />

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Zur Propaganda!<br />

1. Gretchen und Helene 30 Exemplare<br />

<strong>2.</strong> Pariser Kommune . . . . 30<br />

3. Evolution und Revolution . . 30<br />

4. Kritische Beiträge zur Charakteristik<br />

von Karl Marx . . . 30<br />

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