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HEMERA - Woran Adoleszente scheitern - Mehler-Wex

HEMERA Klinik Schönbornstraße 16 97688 Bad Kissingen www.hemera.de

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Freizeitverhalten<br />

Als weitere nicht zu unterschätzende<br />

Faktoren sind auch noch die Veränderungen<br />

im Freizeitverhalten, rasant<br />

wachsender Einfluss elektronischer<br />

Technologien und die damit verbundene<br />

Beschleunigung des Lebens sowie ein<br />

grundlegender Wertewandel zu nennen,<br />

der nicht immer die passenden Alternativen<br />

bereithält.<br />

Zeit der Entscheidungen<br />

Unter dem schulischen Leistungsdruck<br />

geschieht die berufliche Orientierung oft<br />

erst spät. Ist der Schulabschluss geschafft,<br />

bleibt oft kaum Zeit, sich eigener<br />

Stärken, Interessen oder Wünsche bewusst<br />

zu werden, oder der Weg ist durch<br />

unausgesprochene oder auch aktiv angezeigte<br />

Wünsche der Eltern bereits vorgegeben.<br />

Natürlich spielen auch ökonomische<br />

Faktoren eine wichtige Rolle, welche<br />

Ausbildung finanziell umsetzbar ist<br />

und inwieweit man sich eine Unabhängigkeit<br />

von einem lukrativen und mit<br />

Sicher heit verbundenen Berufsziel zugunsten<br />

eines Traumberufs erlauben<br />

kann. Auch besonders erfolgreiche<br />

Schulabsolventen kann aber die „Qual<br />

der Wahl“ in der Berufswelt überfordern<br />

und regelrecht lähmen. Wir haben Patienten<br />

erlebt, die trotz hervorragender<br />

Noten die Abiturprüfung nicht antraten<br />

aus Angst, sich danach aus einer überbordenden<br />

Vielfalt „richtig“ entscheiden<br />

zu müssen; der Erfolgsweg soll sich zäsurlos<br />

fortsetzen, Irrtümer oder zweite<br />

Anläufe in der Ausbildung sind mit Versagen<br />

quasi gleich zu setzen. Der Wechsel<br />

von der strukturierten, Theorie-lastigen<br />

Schulbank in das freiere Studenten-<br />

oder praktische Arbeitsleben, letzteres<br />

noch dazu ohne den lange Jahre gewohnten<br />

Kontext mit Gleichaltrigen, bedeutet<br />

ein Life-Event, das hohe Kompetenzen<br />

und Bewältigungsstrategien fordert.<br />

Soziale und zukunftsbezogene<br />

Ängste mit sozialem Rückzug, Selbstunsicherheit<br />

und Depression sind häufige<br />

Phänomene, die wir in der <strong>Adoleszente</strong>npsychiatrie<br />

im Rahmen der Verselbstständigungsprozesse<br />

erleben: Studenten,<br />

die ihre neue Wohnung bezogen haben,<br />

aber kaum verlassen und die Universität<br />

nur kurze Zeit und dann kein weiteres<br />

Mal besuchen können, Auszubildende,<br />

die sich in ihrer Unsicherheit gemobbt<br />

Fortbildung Reifungskrisen – Teil 1: Ursachen<br />

fühlen, somatische Beschwerden und affektive<br />

Syndrome entwickeln und den<br />

Arbeitsplatz nicht mehr aufzusuchen im<br />

Stande sind, Berufsschüler, die eine Ausbildung<br />

nach der anderen abbrechen<br />

und deren Versagenserwartungen immer<br />

größer werden.<br />

Lebensform<br />

Im Bezug auf die Wahl der Lebensform<br />

spielt der Wunsch nach und die Fähigkeit<br />

zu Initimität eine große Rolle [9].<br />

Wie nah darf eine Beziehung werden, inwieweit<br />

kann eine Öffnung, ein Vertrauen<br />

hergestellt werden, wie groß ist das<br />

Sicherheits- und Kontrollbedürfnis auf<br />

der anderen Seite, wodurch Distanz und<br />

berechnende Handlungsweisen im Vordergrund<br />

stehen. Frühe Bindungs- und<br />

Freundschaftserfahrungen sind wegweisend<br />

für die emotionale Sicherheit, Identitätsfindung<br />

und eigene Bindungsfähigkeit.<br />

Bevorzugt im Kontext mit Gleichaltrigen<br />

können die den Entwicklungsaufgaben<br />

zugehörigen Bewältigungsstrategien<br />

besser abgeglichen und angewandt<br />

werden, als in der Interaktion mit<br />

einer anderen Generation wie den Eltern.<br />

Reibung, grenzsetzende Erfahrungen<br />

und Vertrauensaufbau mit Gleichaltrigen<br />

unterstützen dabei, inkonsistente<br />

Elemente der eigenen Identität zu formen<br />

und letztlich zu erkennen, welche<br />

Persönlichkeiten als positiv bereichernd<br />

für das eigene soziale Umfeld empfunden<br />

werden.<br />

Partnerschaft<br />

Der gesellschaftliche Druck, ab einem<br />

gewissen Alter Partnerschaften aufzunehmen<br />

(Pubertät) oder in einer festen<br />

Partnerschaft zu leben (je nach sozialem<br />

Umfeld zum Beispiel drittes Lebensjahrzehnt)<br />

bedingt sicherlich auch das Eingehen<br />

unpassender Beziehungen: Unsichere<br />

Menschen, die sich oft selbstbewusste<br />

Partner als Vorbild suchen, zwingen<br />

sich mitunter selbst in Anpassungsprozesse,<br />

unter denen sie schon im Verlauf<br />

oder später sehr leiden, es entstehen<br />

Gefühle der Selbstverachtung („wieso<br />

habe ich das alles zugelassen“) und Hilflosigkeit,<br />

in sexuellen Zusammenhängen<br />

auch Ekel gegen den Körper. Menschen<br />

mit extravertierter Veranlagung<br />

hingegen neigen in ihren Beziehungsexperimenten<br />

möglicherweise zu pro-<br />

miskuitivem Verhalten, setzen wenig<br />

Grenzen, provozieren Extreme und geraten<br />

auf diesem Wege zu einer psychischen<br />

Destabilisierung. Auf Symptomebene<br />

besteht die Gefahr einer affektiven<br />

Erkrankung oder Essstörung, auch<br />

selbstverletzendes Verhalten kann ein<br />

Ventil sein.<br />

Begrifflichkeit „Reifungskrise“<br />

„Reifungskrise“ ist kein gültiger diagnostischer<br />

Begriff. „Krise“ leitet sich aus<br />

dem Griechischen ab und bedeutet zunächst<br />

neutral eine „entscheidende<br />

Wendung“; in unserem Sprachgebrauch<br />

schwingt bereits eine negative Bewertung<br />

mit. Man könnte unter „Reifungskrise“<br />

die nicht erfolgreiche Bewältigung<br />

der Herausforderungen der Adoleszenz<br />

subsummieren, wobei immer<br />

der gesellschaftlich-kulturelle und Altersbezug<br />

hergestellt werden muss [10].<br />

Umstritten an diesem Begriff ist die Tatsache,<br />

dass pubertätsimmanente Turbulenzen,<br />

die typisch sind für diese Altersspanne,<br />

verschwimmen mit tatsächlich<br />

pathologischen Entwicklungen. Stimmungslabilität,<br />

Verhaltensexperimente,<br />

„Unvernunft“, „Identitätsdiffusion“, antisoziale<br />

Handlungen sind physiologischer<br />

Bestandteil des Heranwachsens.<br />

Die Grenzziehung zum Psychiatrischen<br />

und die Bewertung der zum Teil extremen<br />

Phänomene auf Verhaltens-, Stimmungs-<br />

und Gedankenebene sind unklar.<br />

Drogen- oder sexuelle Experimente,<br />

Interessenfluktuation, themenbezogene<br />

Auseinandersetzungen mit den Eltern<br />

und Provokation mögen noch in die<br />

Norm fallen, wohingegen Substanzabusus,<br />

Promiskuität oder soziale Isolation,<br />

totale Opposition, Schulverweigerung,<br />

Ängste, Hoffnungslosigkeit und<br />

Selbstgefährdung die Grenzen zur Behandlungsbedürftigkeit<br />

überschreiten.<br />

Reifungskrisen könnten auch als Anpassungsstörungen<br />

gelten, die allerdings<br />

Reaktionen auf maximal sechs Monate<br />

zurück liegende Ereignisse und Gegebenheiten<br />

umschreiben und daher dem<br />

Gesamtzeitraum der Adoleszenz nicht<br />

gerecht werden können. Kritiker des Begriffs<br />

„Reifungskrise“ merken auch an,<br />

dass die eigentliche Pathologie erst beurteilt<br />

werden könne, wenn die Pubertät<br />

zu Ende sei und man das erlangte Funktionsniveau<br />

beurteilen könne. Dem wäre<br />

46 NeuroTraNsmiTTer 2013; 24 (6)

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