Nietzsche, Friedrich - Di...
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solcher Wirkung nenne ich brutal.<br />
151.<br />
Vom Ursprunge der Religion. − Das metaphysische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der<br />
Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschössling derselben. Man hat<br />
sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer "anderen (hinteren,<br />
unteren, oberen) Welt" gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung des religiösen Wahns eine<br />
unbehagliche Leere und Entbehrung, − und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine<br />
"andere Welt" heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber,<br />
was in Urzeiten zur Annahme einer "anderen Welt" überhaupt führte, war nicht ein Trieb<br />
und Bedürfniss, sondern ein Irrthum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine<br />
Verlegenheit des Intellects.<br />
152.<br />
<strong>Di</strong>e grösste Veränderung. − <strong>Di</strong>e Beleuchtung und die Farben aller <strong>Di</strong>nge haben sich<br />
verändert! Wir verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das Nächste und<br />
Häufigste empfanden, − zum Beispiel den Tag und das Wachen: dadurch, dass die Alten an<br />
Träume glaubten, hatte das wache Leben andere Lichter. Und ebenso das ganze Leben, mit<br />
der Zurückstrahlung des Todes und seiner Bedeutung: unser "Tod" ist ein ganz anderer<br />
Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein Gott glänzte aus ihnen; alle Entschlüsse<br />
und Aussichten auf die ferne Zukunft ebenfalls: denn man hatte Orakel und geheime<br />
Winke und glaubte an die Vorhersagung. "Wahrheit" wurde anders empfunden, denn der<br />
Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mundstück gelten, − was uns schaudern oder lachen<br />
macht. Jedes Unrecht wirkte anders auf das Gefühl: denn man fürchtete eine göttliche<br />
Vergeltung und nicht nur eine bürgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude in<br />
der Zeit, als man an die Teufel und die Versucher glaubte! Was die Leidenschaft, wenn<br />
man die Dämonen in der Nähe lauern sah! Was die Philosophie, wenn der Zweifel als<br />
Versündigung der gefährlichsten Art gefühlt wurde, und zwar als ein Frevel an der ewigen<br />
Liebe, als Misstrauen gegen Alles, was gut, hoch, rein und erbarmend war! − Wir haben<br />
die <strong>Di</strong>nge neu gefärbt, wir malen immerfort an ihnen, − aber was vermögen wir<br />
einstweilen gegen die Farbenpracht jener alten Meisterin! − ich meine die alte Menschheit.<br />
153.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Homo poeta. − "Ich selber, der ich höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien<br />
gemacht habe, soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral erst in's Dasein<br />
hineinknüpfte und so fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen kann, − so verlangt es ja Horaz!<br />
− ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter umgebracht, − aus Moralität! Was soll<br />
nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! − Muss ich<br />
anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?"<br />
151. 95