Nietzsche, Friedrich - Di...
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Verhältnissmässig war nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit<br />
Luther's: ihre christliche Cultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüthe<br />
auszuschlagen, − es fehlte nur noch Eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der Allem<br />
ein Ende machte.<br />
149.<br />
Misslingen der Reformationen. − Es spricht für die höhere Cultur der Griechen selbst in<br />
ziemlich frühen Zeiten, dass mehrere Male die Versuche, neue griechische Religionen zu<br />
gründen, gescheitert sind; es spricht dafür, dass es schon früh eine Menge<br />
verschiedenartiger Individuen in Griechenland gegeben haben muss, deren<br />
verschiedenartige Noth nicht mit einem einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens<br />
abzuthun war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits viel früher<br />
die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue Religionen zu gründen; und die<br />
beiden Erstgenannten hatten so ächte Religionsstifter−Seelen und −Talente, dass man sich<br />
über ihr Misslingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Secten.<br />
Jedes Mal, wo die Reformation eines ganzen Volkes misslingt und nur Secten ihr Haupt<br />
emporheben, darf man schliessen, dass das Volk schon sehr vielartig in sich ist und sich<br />
von den groben Heerdeninstincten und der Sittlichkeit der Sitte loszulösen beginnt: ein<br />
bedeutungsvoller Schwebezustand, den man als Sittenverfall und Corruption zu<br />
verunglimpfen gewohnt ist: während er das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen<br />
der Eierschaale ankündigt. Dass Luther's Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen<br />
dafür, dass der Norden gegen den Süden Europa's zurückgeblieben war und noch ziemlich<br />
einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung<br />
Europa's gegeben, wenn nicht die Cultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine<br />
übermässige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisirt und ihres<br />
Cultur−Uebergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein<br />
Einzelner oder der Gedanke eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so<br />
niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird; während Gegenbestrebungen<br />
innere Gegenbedürfnisse verrathen, welche auch sich befriedigen und durchsetzen wollen.<br />
Umgekehrt darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Cultur schliessen, wenn mächtige<br />
und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und sectirerischen Wirkung bringen:<br />
diess gilt auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Erkenntniss. Wo geherrscht<br />
wird, da giebt es Massen: wo Massen sind, da giebt es ein Bedürfniss nach Sclaverei. Wo<br />
es Sclaverei giebt, da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die<br />
Heerdeninstincte und das Gewissen gegen sich.<br />
150.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Zur Kritik der Heiligen. − Muss man denn, um eine Tugend zu haben, sie gerade in ihrer<br />
brutalsten Gestalt haben wollen? − wie es die christlichen Heiligen wollten und nöthig<br />
hatten; als welche das Leben nur mit dem Gedanken ertrugen, dass beim Anblick ihrer<br />
Tugend einen jeden die Verachtung seiner selber anwandelte. Eine Tugend aber mit<br />
149. 94