Nietzsche, Friedrich - Di...
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einfügen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt und fressen sich selber auf.<br />
120.<br />
Gesundheit der Seele. − <strong>Di</strong>e beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston<br />
von Chios ist): "Tugend ist die Gesundheit der Seele" − müsste wenigstens, um brauchbar<br />
zu sein, dahin abgeändert werden: "deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele". Denn<br />
eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein <strong>Di</strong>ng derart zu definiren, sind<br />
kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine<br />
Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an,<br />
um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es<br />
unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und<br />
Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der<br />
"Gleichheit der Menschen" verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer<br />
Normal−Gesundheit, nebst Normal−<strong>Di</strong>ät, Normal−Verlauf der Erkrankung unsern<br />
Medicinern abhanden kommen. Und dann erst dürfte es an der Zeit sein, über Gesundheit<br />
und Krankheit der Seele nachzudenken und die eigenthümliche Tugend eines Jeden in<br />
deren Gesundheit zu setzen: welche freilich bei dem Einen so aussehen könnte wie der<br />
Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse Frage offen,<br />
ob wir der Erkrankung entbehren könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob<br />
nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so<br />
gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein<br />
Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei.<br />
121.<br />
Das Leben kein Argument. Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben<br />
können − mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen,<br />
Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner<br />
aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument;<br />
unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.<br />
122.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
<strong>Di</strong>e moralische Skepsis im Christenthum. − Auch das Christenthum hat einen grossen<br />
Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr<br />
eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld<br />
und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine<br />
"Tugenden": es liess für immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an<br />
denen das Alterthum nicht arm war, jene populären Menschen, die im Glauben an ihre<br />
Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen<br />
in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel<br />
Seneca's und Epiktet's, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Ueberlegenheit und sind<br />
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