Nietzsche, Friedrich - Di...
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Selbstverachtung. Brutus, selbst Brutus verliert die Geduld, als der Poet auftritt,<br />
eingebildet, pathetisch, zudringlich, wie Poeten zu sein pflegen, als ein Wesen, welches<br />
von Möglichkeiten der Grösse, auch der sittlichen Grösse, zu strotzen scheint und es doch<br />
in der Philosophie der That und des Lebens selten selbst bis zur gemeinen<br />
Rechtschaffenheit bringt. "Kennt er die Zeit, so kenn' ich seine Launen, − fort mit dem<br />
Schellen−Hanswurst!" − ruft Brutus. Man übersetze sich diess' zurück in die Seele des<br />
Poeten, der es dichtete.<br />
99.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
<strong>Di</strong>e Anhänger Schopenhauer's. − Was man beider Berührung von Cultur−Völkern und<br />
Barbaren zu sehen bekommt: dass regelmässig die niedrigere Cultur von der höheren<br />
zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt, von da aus einen Reiz auf<br />
sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der angeeigneten Laster und Schwächen Etwas<br />
von der werthhaltigen Kraft der höheren Cultur mit auf sich überströmen lässt: − das kann<br />
man auch in der Nähe und ohne Reisen zu Barbaren−Völkern mit ansehen, freilich etwas<br />
verfeinert und vergeistigt und nicht so leicht mit Händen zu greifen. Was pflegen doch die<br />
Anhänger Schopenhauer's in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen? − als<br />
welche, im Vergleich zu dessen überlegener Cultur, sich barbarenhaft genug vorkommen<br />
müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fascinirt und verführt zu werden. Ist es sein<br />
harter Thatsachen−Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so<br />
englisch und so wenig deutsch erscheinen lässt? Oder die Stärke seines intellectuellen<br />
Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen aushielt und<br />
ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zu<br />
widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in <strong>Di</strong>ngen der Kirche und des christlichen Gottes?<br />
− denn hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so dass er "als<br />
Voltairianer" lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellectualität der<br />
Anschauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug−Natur des<br />
Intellects und der Unfreiheit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht und wird nicht<br />
als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten und Ausflüchte<br />
Schopenhauer's, an jenen Stellen, wo der Thatsachen−Denker sich vom eitlen Triebe, der<br />
Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess, die unbeweisbare Lehre von<br />
Eine in Willen ("alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des Willens<br />
zu dieser Zeit, an diesem Orte", der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem<br />
geringsten, ganz und ungetheilt vorhanden, so vollständig, wie in Allen, die je waren, sind<br />
und sein werden, zusammengenommen"), die Leugnung des Individuums ("alle Löwen<br />
sind im Grunde nur Ein Löwe", die Vielheit der Individuen ist ein Schein"; sowie auch die<br />
Entwicklung nur ein Schein ist: − er nennt den Gedanken de Lamarck's, "einen genialen,<br />
absurden Irrthum"), die Schwärmerei vom Genie ("in der ästhetischen Anschauung ist das<br />
Individuum nicht mehr Individuum, sondern reines, willenloses, Schmerzloses, zeitloses<br />
Subject der Erkenntniss"; "das Subject, indem es in dem angeschauten Gegenstande ganz<br />
aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst geworden"), der Unsinn vom Mitleide und der in ihm<br />
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