Nietzsche, Friedrich - Di...
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Mutter in ihm heilig gesprochen − war, − ein Instinct der Rache von seinen Knabenjahren<br />
her, der die Stunde erwartete, die Mutter zu rächen. Und nun hatte ihn das Leben und sein<br />
Genie, und ach! am meisten wohl das väterliche Blut in seinen Adern dazu verführt, eben<br />
dieser Noblesse sich einzureihen und gleichzustellen − viele viele Jahre lang! Endlich<br />
ertrug er aber seinen eigenen Anblick, den Anblick des "alten Menschen" unter dem alten<br />
Regime nicht mehr; er gerieth in eine heftige Leidenschaft der Busse, und in dieser zog er<br />
das Gewand des Pöbels an, als seine Art von härener Kutte! Sein böses Gewissen war die<br />
Versäumniss der Rache. − Gesetzt, Chamfort wäre damals um einen Grad mehr Philosoph<br />
geblieben, so hätte die Revolution ihren tragischen Witz und ihren schärfsten Stachel nicht<br />
bekommen: sie würde als ein viel dümmeres Ereigniss gelten und keine solche Verführung<br />
der Geister sein. Aber der Hass und die Rache Chamfort's erzogen ein ganzes Geschlecht:<br />
und die erlauchtesten Menschen machten diese Schule durch. Man erwäge doch, dass<br />
Mirabeau zu Chamfort wie zu seinem höheren und älteren Selbst aufsah, von dem er<br />
Antriebe, Warnungen und Richtersprüche erwartete und ertrug, − Mirabeau, der als<br />
Mensch zu einem ganz anderen Range der Grösse gehört, als selbst die Ersten unter den<br />
staatsmännischen Grössen von gestern und heute. − Seltsam, dass trotz einem solchen<br />
Freunde und Fürsprecher − man hat ja die Briefe Mirabeau's an Chamfort − dieser<br />
witzigste aller Moralisten den Franzosen fremd geblieben ist, nicht anders, als Stendhal,<br />
der vielleicht unter allen Franzosen dieses Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen und<br />
Ohren gehabt hat. Ist es, dass Letzterer im Grunde zu viel von einem Deutschen und<br />
Engländer an sich hatte, um den Parisern noch erträglich zu sein? − während Chamfort, ein<br />
Mensch, reich an Tiefen und Hintergründen der Seele, düster, leidend, glühend, − ein<br />
Denker, der das Lachen als das Heilmittel gegen das Leben nöthig fand, und der sich<br />
beinahe verloren gab, an jedem Tage, wo er nicht gelacht hatte, − vielmehr wie ein<br />
Italiäner und Blutsverwandter Dante's und Leopardi's erscheint, als wie ein Franzose! Man<br />
kennt die letzten Worte Chamfort's: "Ah! mon ami, sagte er zu Sieyès, je m'en vais enfin<br />
de ce monde, où il faut que le cœur se brise ou se bronze −". Das sind sicherlich nicht<br />
Worte eines sterbenden Franzosen.<br />
96.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Zwei Redner. − Von diesen beiden Rednern erreicht der eine die ganze Vernunft seiner<br />
Sache nur dann, wenn er sich der Leidenschaft überlässt: erst diese pumpt genug Blut und<br />
Hitze ihm in's Gehirn, um seine hohe Geistigkeit zur Offenbarung zu zwingen. Der Andere<br />
versucht wohl hier und da das Selbe: mit Hülfe der Leidenschaft seine Sache volltönend,<br />
heftig und hinreissend vorzubringen, − aber gewöhnlich mit einem schlechten Erfolge. Er<br />
redet dann sehr bald dunkel und verwirrt, er übertreibt, macht Auslassungen und erregt<br />
gegen die Vernunft seiner Sache Misstrauen: ja, er selber empfindet dabei diess<br />
Misstrauen, und daraus erklären sich plötzliche Sprünge in die kältesten und<br />
abstossendsten Töne, welche in dem Zuhörer einen Zweifel erregen, ob seine ganze<br />
Leidenschaftlichkeit ächt gewesen sei. Bei ihm überfluthet jedes Mal die Leidenschaft den<br />
Geist; vielleicht, weil sie stärker ist, als bei dem Ersten. Aber er ist auf der Höhe seiner<br />
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