Nietzsche, Friedrich - Di...
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Gottheit auf Ein Mal entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und<br />
ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach ein<br />
Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, sondern weil seine Nachwirkung sanft<br />
macht. − Und nicht nur im Cultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der ältesten Zeiten<br />
ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim<br />
Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der hierbei thätig gedachten<br />
Dämonen, es macht sie willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft<br />
man handelt, hat man einen Anlass zu singen, − jede Handlung ist an die Beihülfe von<br />
Geistern geknüpft: Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein.<br />
Wenn der Vers auch beim Orakel verwendet wurde − die Griechen sagten, der Hexameter<br />
sei in Delphi erfunden −, so sollte der Rhythmus auch hier einen Zwang ausüben. Sich<br />
prophezeien lassen − das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung<br />
des griechischen Wortes): sich Etwas bestimmen lassen; man glaubt die Zukunft erzwingen<br />
zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt: er, der nach der ältesten Vorstellung<br />
viel mehr, als ein vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausgesprochen wird,<br />
buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die<br />
Erfindung Apollo's, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals<br />
binden kann. − Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des<br />
Menschen überhaupt etwas Nützlicheres, als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles:<br />
eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören;<br />
die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem<br />
Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur<br />
die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, − ohne den Vers war man Nichts,<br />
durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr<br />
völlig ausrotten, − und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung<br />
solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des<br />
Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er<br />
eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt. Ist es nicht eine<br />
sehr lustige Sache, dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit<br />
aller Gewissheit nehmen, sich auf <strong>Di</strong>chtersprüche berufen, um ihren Gedanken Kraft und<br />
Glaubwürdigkeit zu geben? − und doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der<br />
<strong>Di</strong>chter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt: Viel ja lügen die<br />
Sänger! " −<br />
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<strong>Nietzsche</strong><br />
Das Gute und das Schöne. − <strong>Di</strong>e Künstler verherrlichen fortwährend − sie thun nichts<br />
Anderes −: und zwar alle jene Zustände und <strong>Di</strong>nge, welche in dem Rufe stehen, dass bei<br />
ihnen und in ihnen der Mensch sich einmal gut oder gross, oder trunken, oder lustig, oder<br />
wohl und weise fühlen kann. <strong>Di</strong>ese ausgelesenen <strong>Di</strong>nge und Zustände, deren Werth für das<br />
menschliche Glück als sicher und abgeschätzt gilt, Sind die Objecte der Künstler: sie<br />
liegen immer auf der Lauer, dergleichen zu entdecken und in's Gebiet der Kunst<br />
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