Nietzsche, Friedrich - Di...
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Vernunft und Wort verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen in der Hand<br />
zurückbehält: − so wie man mit dem Musiker der Oper unzufrieden ist, der für den<br />
höchsten Affect nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles "natürliches" Stammeln<br />
und Schreien zu finden weiss. Hier soll eben der Natur widersprochen werden! Hier soll<br />
eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen! <strong>Di</strong>e Griechen gehen auf<br />
diesem Wege weit, weit − zum Erschrecken weit! Wie sie die Bühne so schmal wie<br />
möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem<br />
Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich machen und ihn in<br />
einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz verwandeln, so haben sie auch der<br />
Leidenschaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen<br />
Rede dictirt, ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht− und<br />
mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie wollten eben nicht Furcht und Mitleid, −<br />
Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich nicht den Nagel,<br />
geschweige den Kopf des Nagels, als er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie<br />
sprach! Man sehe sich doch die griechischen <strong>Di</strong>chter der Tragödie darauf hin an, was am<br />
Meisten ihren Fleiss, ihre Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, − gewiss nicht die<br />
Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte! Der Athener gieng in's Theater,<br />
um schöne Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun! − man<br />
vergebe mir diese Ketzerei! − Sehr verschieden steht es mit der ernsten Oper: alle ihre<br />
Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein<br />
gelegentlich aufgerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu Hülfe kommen: im<br />
Ganzen muss die Situation sich selber erklären, − es liegt Nichts an den Reden! − so<br />
denken sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat<br />
es ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes ganz<br />
auszudrücken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und er hätte durchweg la−la−la−la<br />
singen lassen − und es wäre Vernunft dabei gewesen! Es soll den Personen der Oper eben<br />
nicht "auf's Wort" geglaubt werden, sondern auf den Ton! Das ist der Unterschied, das ist<br />
die schöne Unnatürlichkeit, derentwegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo secco<br />
will nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein: diese Art von Halbmusik soll<br />
vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe geben (die Ruhe von der<br />
Melodie, als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse dieser Kunst) −,<br />
aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine wachsende Ungeduld, ein wachsendes<br />
Widerstreben, eine neue Begierde nach ganzer Musik, nach Melodie. − Wie verhält es sich,<br />
von diesem Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner's? Vielleicht<br />
anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort und Musik seiner Schöpfungen vor<br />
der Aufführung auswendig gelernt haben müßte: denn ohne diess − so schien es mir − höre<br />
man weder die Worte noch selber die Musik.<br />
81.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Griechischer Geschmack. − "Was ist Schönes daran? − sagte jener Feldmesser nach einer<br />
Aufführung der Iphigenie − es wird Nichts darin bewiesen!" Sollten die Griechen so fern<br />
81. 60