Nietzsche, Friedrich - Di...
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Vielleicht giebt es ein Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die Sündhaftigkeit<br />
jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrösserungsglase ansehen hiess und aus dem<br />
Sünder einen grossen, unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige Perspectiven um<br />
ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes,<br />
Ganzes sehen.<br />
79.<br />
Reiz der Unvollkommenheit. − Ich sehe hier einen <strong>Di</strong>chter, der, wie so mancher Mensch,<br />
durch seine Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich<br />
unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, − ja er hat den Vortheil und den Ruhm<br />
vielmehr von seinem letzten Unvermögen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht<br />
es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte:<br />
es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: −<br />
aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben,<br />
und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und<br />
Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle "Werke"<br />
hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so,<br />
selber zu <strong>Di</strong>chtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine<br />
Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten<br />
geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und<br />
mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an's Ziel gekommen<br />
zu sein.<br />
80.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Kunst und Natur. − <strong>Di</strong>e Griechen (oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden: ja<br />
sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den<br />
Nicht−Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der<br />
Bühne, dass sie gut rede, und liessen die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit<br />
Wonne über sich ergehen: − in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und<br />
verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur<br />
Scham! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne<br />
gewöhnt, wie wir jene andere Unnatur, die singende Leidenschaft ertragen und gerne<br />
ertragen, Dank den Italiänern. − Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der<br />
Wirklichkeit nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten Lagen gut und<br />
ausführlich reden zu hören: es entzückt uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte,<br />
Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle Geistigkeit findet, wo das Leben sich<br />
den Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und gewiss die<br />
schöne Sprache verliert. <strong>Di</strong>ese Art Abweichung von der Natur ist vielleicht die<br />
angenehmste Mahlzeit für den Stolz des Menschen; ihretwegen überhaupt liebt er die<br />
Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man<br />
macht mit Recht dem dramatischen <strong>Di</strong>chter einen Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in<br />
79. 59